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Das unverzichtbare Buch, um das moderne Leiden zu verstehen. Schwankendes Selbstwertgefühl. Die Unfähigkeit, zu arbeiten. Leben ohne Rhythmus und Horizont. Die Erniedrigung durch das Mögliche. Das Fehlen von Menschen, Bezügen, Elementen ... In »Negative Moderne« analysiert Sven Hillenkamp die Schattenseiten der Moderne und liefert außerdem eine scharfe Kritik der gängigen Sozialtheorien. »Sven Hillenkamp ist eine originelle und wichtige Stimme. Mit seltener Brillianz untersucht er die gesellschaftlichen Zustände bis in die Tiefen und Risse des Alltags hinein. Durch eine neue Kombination aus Struktur- und Erfahrungsanalyse kann Hillenkamp anschaulich zeigen, warum wir uns ohne permanente Bestätigung wertlos fühlen müssen, warum die Zeit ihre Struktur verliert, warum Menschen nicht handeln können, warum ihre Arbeit ohne Ertrag bleibt.« Eva Illouz
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Seitenzahl: 421
Sven Hillenkamp
Negative Moderne
Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts
Zwänge der FreiheitDie neuen Formen der FaktizitätBand II
Klett-Cotta
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Klett –Cotta
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© 2016 by J. G. Cotta‘sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung eines Bildes von © Dan Winters
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94738-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10946-7
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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EinsFreiheit und Erfahrung
Ökonomie, Diskurs, Technik
Erfahrene Negativität
Die Inventur des Nichts
Abgrenzungen
Die Festung der Achtsamkeit
Sturz ins Nichts
Gewöhnlichkeit
Das Ganze
Negative Moderne
Scham
Ein neuer Naturzustand?
Das Vorurteil der Positivität
Das Klischee des Zuwenig
Das Menschliche und das Unmenschliche
Strukturen der Freiheit
Strukturen der Absenz
Ich und Du
Das Soziale und das Existenziale
Ich-Maschine, Du-Maschine
Jenseits der Institution
Formen der Faktizität
Die Wahrheit der Seufzer
Wie es ist
Erforschung der Erfahrung
Ein privilegierter Zugang
Freiheit und Erfahrung
Schock und Gewöhnlichkeit
Danksagung
Theorie und Befund
ZweiDas Nichts des Wertes Vom Status zur Bestätigung
Hautlosigkeit
Liebe deinen Nächsten
Die Ontologisierung der Geschichte
Alterozentrik
Die Entdeckung des Anderen
Die Verleihung des sozialen Wertes
Gleichheit
Gemeinschaft
Objektiver und erlebter Status
Die persönliche Verletzung als Verletzung der Person
Der Ort der Wahrheit
Du-Momente
Verschiebung der Abhängigkeit
Was das Du wertschätzt
Du und Es
Levinas und Foucault
Das System der Personifizierung
Punktualität
Opazität
Infinität
Paradoxität
Absenz
Responsivität
Egalität
Tertiarität
Mobilität
Mensch frisst Mensch
»Zutiefst verletzt«
Das Du im Nazismus
Die Freiheit der Anderen
Diskurse der Fremdbezogenheit
Herrschaft mit menschlichem Antlitz
DreiDas Nichts der Zeit Jenseits von Uhr und Kalender
Die Musikalität des Seins
Der Druck der Zeit
Illusionen der Geschwindigkeit
Das Vorurteil der Fülle der Zeit
Rettung vor der Ewigkeit
Die Zeit der Arbeitslosen
Die Zeit der Frauen
Die Zeit der Alten
Die Zeit der Flüchtlinge
Die Zeit der Kranken und der »Müßiggänger«
Die Zeit der Jungen
Heterochronie
Orte des Nichts
Der eigene Raum
Maschigkeit
Kontrast
Emotionalität
Ausdehnung
Affizierte Bereiche
Handeln
Intentionalität
Fühlen und Denken
Vorwegnehmen
Erinnern
Der eigene Wert und die Zeit der Anderen
Grenzsituation und Horizontlosigkeit
VierDas Nichts der Aktivität Die Herrschaft der Gefühle
Handlungsfähigkeit
Stimmung
Eine neue Abhängigkeit
Keine Erschöpfung
Der Sinn der Therapie
Das Wovon der Entfremdung
Der Prozess der Zivilisation
Der Sinn der Diskursanalyse
Die Unaufrichtigkeit der Diskursanalyse
Das Nicht-Wollen
Unverständlichkeit
Der Widerstand
Die Flucht
Das Nichts-Wollen
Das Problem der Tätigkeit überhaupt
Das Problem der Therapie
Die Strukturen des Fühlens
Emotionale Räume
Das Nichts der Regulation
Gefühl und Zeit
Handeln und Wert
Meine Spontaneität
Die Figur des Künstlers
Die Figur des Studenten
Die Figur des Überlebenden
Der Überlebende als Künstler
FünfDas Nichts des Möglichseins Drei Unendlichkeiten
Das schon Gewusste
Die Situation der Stürzenden
Die Unendlichkeit der Kontrolle
Vertikale Unendlichkeit
Horizontale Unendlichkeit
Vornüber- und Hintenüberstürzen
Können, Wollen, Dürfen
Das uneinholbare Andere
Kierkegaard
Verzweiflung
Das Leiden
Das emotionale Potential
Abweichung von Kierkegaard
Vertikalität – Scham
Horizontalität – Sehnsucht
Liebe und Nichtliebe
Der Supermarkt als Kulisse
Einwand gegen soziologische Analysen
Vorn- und Hintenüberfallen: meine Schwäche
Man-selbst-Werden
Goethe: ungeheure Elemente
Durkheim: vergebliche Bemühungen
Tocqueville: der Wettstreit
Durkheim: Anthropologie der Begierden
Die Möglichkeit der Scheidung
Unendliche Moderne
Die Negativität von Wert, Zeit, Innerem und Anderem
SechsDas Nichts des Anderen Wenn die Welt zum Bild wird
Deprivation
Minuswerte
Die Negativität des Sozialen
Der Raum des Schmerzes
Das Nichts des Körpers
Das Nichts der Objekte
Zeitliche Objekte
Das Nichts der Elemente
Die Schlaflosigkeit
Cogito ergo sum
Meine Haftung
Schlechte Objekte
Screen Tests
Die Sexualität
Last und Entlastung
Der eigene Raum
Was fehlt
Ohne Zukunft und Vergangenheit
Ohne Gegenwart
Ohne Dauer
Ohne Sofortigkeit
Das Nichts der Wahrheit
Das Nichts des Gefühls
Passivität und Aktivität
Die Welt als Bild
Abhandenheit: Heidegger
Der fehlende Genuss: Levinas
Die fehlende Praxis: Marx
Weltlose Selbstwahrnehmung
Das Unterwassergefühl
Jenseits der Bedeutung
SiebenKritik und Katastrophe
Widerspruch
Metamorphose
Abhängigkeit und Bewegung
Dialektik der Freiheit
Die Erfahrung
Das Denken der Differenz
Jenseits der Differenz
Denkerische Intuition
Das Nichts der Methode
Die Lösung
Glaubensbekenntnis
Kritik als Affirmation
Unbändiger Hass
Freiheit als Kritik
Asymmetrie und Konzentration
Sturz ins Nichts
Katastrophen
Ermutigung
Anmerkungen
Eins
Traum und Trauma der Freiheit gehen unversehens ineinander über … Es ist unverzeihlich: Die Soziologie hat eine ganze Welt nicht gesehen. Ihr ist dann auch mit eifrigem Lesen und Kommentieren der Klassiker nicht zu helfen.
NIKLAS LUHMANN1
So vertraut und zugleich so verstörend ist der Anblick jener »Gefallenen« – Arbeitslosen, Alkoholkranken, Psychotiker, Obdachlosen – die an Werktagen, die keine Werktage, und Feiertagen, die keine Feiertage sind, in der Sonne sitzen und rauchend hinaus aufs Wasser – des Landwehrkanals, des Mälaren, des Meeres – schauen. Das verstörend Vertraute: ein vielfaches Nichts. Soziale Negativität.
Die Zeit dieser Menschen ist ein Nichts der Rhythmisierung, des Zeitdrucks, wie ein Nichts der Befristung, der Horizonte. An die Stelle von Zeitstruktur tritt ein undifferenzierter Zeitbrei, ein horizontloses Zeitmeer. Der Wert dieser von allem Privaten wie Öffentlichen, von Beruf wie Familie Abgekommenen, fällt ins Bodenlose. Das Innere ist ein Nichts der »Energie«, der Konzentration, des Willens, des Vorstellens, der Ideen und Pläne. Auch ein Nichts ausgedrückten, mitgeteilten und im Handeln erlebten Gefühls. Die Elenden haben Sonne im Gesicht – sonst nichts. Weder Angst noch Traurigkeit noch Hoffnung noch Entschlossenheit.
Sie stürzen ins Nichts der Aktivität – also des Denkens und Handelns, also der Arbeit und Interaktion … Unendliches Möglichsein. Negative Freiheit im Sinne Isaiah Berlins: alles offen, doch keine Vermögen, keine Ressourcen, das Offene zu füllen. Dünnstes Wirklichsein: Diese Menschen stürzen auch ins Nichts jedes Anderen. Kein geistiges Objekt; weder ein intellektuelles, auf das sie sich konzentrieren, noch ein zeitliches, dem sie »entgegensehen«, auf das sie »zurückblicken« könnten. Keine Dinge, mit denen sich hantieren ließe, außer Feuerzeug und Zigarette, einer Dose, die sich öffnen, aber nicht mehr verschließen lässt, vielleicht einem Jackenzipfel, einem Reißverschluss, einem Schuhband. Trauriger Rest einer einst gefüllten, für Körper gemachten Welt.
Unangestrengt, unbewegt, ungenutzt, fällt der eigene Leib in die Körperlosigkeit, ist den Menschen auch kein Anderes mehr. Und vor allem: kein personales Gegenüber. Was ihnen statt dessen gegenüber ist: das Wasser, die Sonne, die Weite. Der »schöne Ausblick« –
Doch warum vertraut?
Die Negative Moderne, die hier untersucht wird, ist keine Epoche. Eine neue Periodisierung wird nicht gefordert. Ihr Gegenstück, die Positive Moderne, war zwar zuerst da. Doch nun »gehen sie miteinander einher« als merkwürdig ungleiches Zwillingspaar.
Unter Positiver Moderne verstehen wir eine Füllung und Überfüllung, Überdeterminierung, Überstrukturierung und Überflutung. In allem herrscht das Gesetz der Steigerung.
Wo einfache Zugehörigkeit war, entstehen Hyper-Identitäten (»Volk«, »Rasse«, »Liebespaar«). Entwertung vollzieht sich als extreme Bewertung (»das internationale Judentum«). Wo – bäuerlich, jahreszeitlich, traditionell – strukturierte Zeit war, weicht nun jede Zweideutigkeit, wird die Zeit ins Allerkleinste zerlegt und beschleunigt. Wo kollektives, organisiertes Handeln war, entstehen Massenbewegungen industriellen Handelns. Wo Wirklichkeit Notwendigkeit ist, entstehen ungeheure Wirklichkeiten – der Großstadt, des totalitären Staates, des modernen Krieges –, undurchdringlicher Zwang. Wo der primäre Weltbezug ein Hantieren mit Dingen, ein Mit-anderen-Menschen-Sein ist, entfaltet sich eine enorme Aktivität, kommt es zu einer »Bombardierung« mit Objekten, zu einer totalen Kollektivität. Wo menschliches Sein ein In-Elementen-Sein ist – in der Luft, im Geräusch, in der »Gegenwart« anderer usw. –, da entstehen ungeheure Elemente: eben der »tosenden« Stadt, der Fabrik, der fanatischen Masse, der medialen Spektakel und Aufführungen, der Installationen, der »Materialschlacht«, der »Konzentration« von Menschen in Waggon und Lager.
Die Negative Moderne, der spätere Zwilling, zweites Gesicht unserer Welt, konfrontiert uns mit ganz Anderem. Wo Fülle war, ist nun Leere – obwohl dies eigentlich eine unpassende, weil materiale Metapher ist. Wertlosigkeit, Strukturlosigkeit, Unfähigkeit, Möglichkeit, Bezuglosigkeit.
Wo Marx die neue Zeit bestimmte durch gesteigerte Produktivität, erhöhte Kommunikation, das Entstehen eines Kollektivakteurs, ist Leben hier unproduktiv, ohne Rhythmus, der Mensch isoliert, ohne sozialen Wert. Ich stürze ins Nichts –
Bevor wir eingehend fragen, was es mit diesem Nichts und mit der Negativen Moderne auf sich hat, muss der kritische Charakter der Untersuchung bekannt werden. Dieses Buch bezieht Stellung gegen viele. Zuvorderst gegen jene, die ich schätze und die wichtig für meine Arbeit waren – der Widerspruch gegen die anderen wäre Gefecht um des Gefechts willen –, unter anderem gegen Kierkegaard, Heidegger, Levinas, Foucault, gegen die philosophische Anthropologie und gegen die literarischen Deutungen der Moderne, die die eigene Situation noch ganz bei Kafka, Beckett, Sartre, Musil, Melville, Perec, Rilke usw. zu finden glauben, gegen die Theoretiker der Postmoderne und der Kontingenz, gegen Émile Durkheim, Ulrich Beck, Eva Illouz und Alain Ehrenberg, gegen die Theoretiker der Differenz und die Theoretiker der Beschleunigung, die Denker des Menschlichen und die Denker des Unmenschlichen sowie – natürlich – gegen mich selbst, gegen das bisher Gedachte, Formulierte.
Zudem kritisiert das Buch eine Kulturkritik, die selbst zum diskursiven Kern der untersuchten Freiheitsordnung gehört. Diese Kulturkritik zitiert alle gegenwärtig etablierten Theorien und Methoden – ohne diese zu prüfen –, und gelangt zu ihren Resultaten, indem sie der Realität etwas entgegenhält, was Fromm einst »Sein« genannt hat2. Es ist etwas, was der Realität nicht entgegengehalten werden kann, weil es bereits Realität ist: Forderung, Diktat. Die Reihe der Autoren reicht von Fromm selbst bis Agamben (s. vor allem Kapitel 2, 4 und 7). – Doch zunächst zu den dominanten Sozialtheorien.
Nun schon seit mehr als einem Jahrhundert wird mit drei Hämmern auf das Soziale geklopft – und ja, das Soziale zeigt die erwarteten Reflexe –: mit einem Strukturalismus der Ökonomie – was fast zwingend meint, einer Theorie des »Kapitalismus« –; mit einem Strukturalismus der Bedeutungen und der Macht – also einer Diskurstheorie, Kulturtheorie, Machttheorie, von Nietzsche bis zu Foucault u. a.; mit einem Strukturalismus der Technik und der Medien – also Theorien der Atombombe, des Fernsehens, der »Massenmedien«, des Internet, des Computers, des Mobil- und Smartphones usw.
Diese Strukturalismen haben gewisse Vorteile. Sie halten sich an das, was bereits einen Namen hat, ans Manifeste, ans Dicht-Homogene. An Unternehmen, Waren, Geld … die Sprache, Gesprochenes, Geschriebenes, Wissenschaften … Dann an Anstalten, Kliniken usw. – also an Institutionen, denen Menschen zugehören, wo sie körperlich gegenwärtig sind. Sie halten sich an industrielle Erzeugnisse, Apparate und Netze von Apparaten. Sie fangen an, wo Struktur sich selbst schon als Struktur versteht, das Soziale schon geronnen ist zur Entität.
Im Übrigen sichern sie die moralische Kongruenz von Ursache und Wirkung. Das Schlechte wird von einem ebenso schlechten »Kapital« oder »Markt« erzeugt, ebenso schlechten, ausschließenden oder formenden Diskursen, ebenso schlechten repressiven Institutionen, schlechten »sozialen Medien«, vom schlechten Fernsehen usw. Diese Kongruenz hat als Böses-verursacht-Böses-Täuschung schon oft Verdacht erregt.
Es geht gar nicht darum, die Wirklichkeit ökonomischer, diskursiver / institutioneller und technischer / medialer Strukturen zu bestreiten. Die Errungenschaften unserer theoretischen Normalbiografie – von Marxismus, Kritischer Theorie, Medientheorie, Feminismus, Diskurstheorie, der Analysen von Rassismus und Antisemitismus, von Technikphilosophie und Techniksoziologie usw. – haben nach wie vor ihren Wert. Zum Beispiel schließen Freiheitsstrukturen und »Klassenstrukturen«, Unendlichkeit und Ungleichheit sich nicht aus, erzeugen vielmehr zusammen jene Leidensformen und Leidensverhältnisse, die zu untersuchen sind (dazu siehe besonders Kapitel 2 und 5).
Das Problem ist, dass viele moderne Erfahrungen unsichtbar bleiben oder reduziert und verzerrt werden, wenn die traditionellen Werkzeuge ausschließlich zur Anwendung kommen. Wenn jede Erscheinung durchs Nadelöhr des Marktes, von Konkurrenz und Konsum, durchs Nadelöhr der Diskurse und Dispositive gezogen wird, durchs Nadelöhr einer beliebigen technischen, medialen Struktur.
Da alles in der gegebenen Welt kapitalistische Aspekte hat, diskursive Aspekte, technische / mediale Aspekte, wird man nie enttäuscht. Jedem Phänomen kann man flussabwärts folgen, den wirtschaftlichen, sprachlichen, medialen Strudeln und Stromschnellen. In den meisten theoretischen Ansätzen verbinden sich ja Kapitalismus-, Kultur- und Techniktheorien, bilden diese selbst – theoretische und methodische – Strudel, bewährte Mischungen.
Um eine neue Mischung geht es jedoch auch nicht. Es geht darum, wieder sehen zu lernen, nicht darum, Blindheiten zu addieren.
Was würde geschehen, wenn wir die drei großen Strukturalismen für eine Weile methodisch ignorierten, ausklammerten? Was würde geschehen, wenn wir versuchten, Strukturen zu identifizieren, ohne mit etwas zu beginnen, was bereits als manifeste, homogene Entität identifiziert worden ist? Was wäre, wenn es Formen des Zwangs, Formen des Leids gäbe, die von den drei großen Strukturalismen verfehlt würden, Formen, die nicht allein oder vorrangig verursacht würden von Ökonomie oder von Technik / Medien oder von Institutionen, die Zugehörigkeit und – körperliche oder auch virtuelle – Gegenwart fordern und bieten?
Diese Ausklammerung bedeutet nicht, dass Begriffe wie Diskurs oder Technik mit einem textinternen Tabu belegt würden – obwohl ein Tabu zeitweise helfen würde: Sag nicht Konsum. Sag nicht Kapitalismus. Sag nicht Internet usw. Diese Begriffe dürfen nur nicht mehr den Ausgangspunkt der Analyse bilden.
Die Negativität, die wir hier zu fassen versuchen, erscheint in der menschlichen Erfahrung als solche. Es sind die Menschen selbst, die sagen: »Ich bin nichts wert. Ich habe noch nichts erreicht. Ich bin ein Niemand. Ich bin nicht interessant, nicht attraktiv, nicht liebenswert. Ich weiß nie, woran ich bei den Anderen bin. Was ich bin, ist den Anderen nie genug. Ich fühle nicht, was ich fühlen müsste (um den Anderen zu halten). Meine Tage sind ohne Struktur. Nichts, was ich tue, hat einen klaren Horizont. Ich kann nichts tun. Entweder kann ich gar nicht arbeiten, oder meine Mühen bleiben ohne das erwünschte Ergebnis. Ich kann nicht denken. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich habe keine Energie. Ich habe keine Zuversicht. Ich habe keine Ideen. Ich sehe überall Möglichkeiten: also das, was ich nicht habe, nicht tue, nicht bin. Ich habe keine Identität. Ich bin nirgends zuhause. Mich reißt nichts von mir selbst los. Ich habe kein Gegenüber. Meine Hände haben nichts zu tun. Ich habe keine Geschichte. Ich habe keine Zukunft. Ich verstehe nicht, was mir geschieht.«
Das Nichts ist also niemals ein absolutes. Es ist immer das Ausbleiben, Verschwundensein, Unmöglichsein, Fehlen von etwas. Ein Schweigen, das keine Ansprache, keine Antwort ist. Ein Wort, das kein Lob, keine Aufforderung zu einer gemeinsamen Aktivität, keine Bezeugung von Respekt oder Liebe ist, das verletzt, weil es vorenthält oder verneint … Ein Erwartetes, das noch nicht ist. Ein Erinnertes, das nicht mehr ist. Ein Gesolltes, Gewünschtes, das nicht vermocht wird usw.
Nur wo Menschen sind, ist Negativität; auch den »leeren Weltraum« nennen nur Menschen leer. Nur ein zeitliches Wesen lebt in einer durchlöcherten Welt. Selbst Durst und Hunger wären Positivitäten, bloße körperliche Sensationen, würden sie nicht auf etwas verweisen, das aussteht, an dem es mangelt.
Im Bereich des Denkens und Handelns verrät Negativität sich durch bestimmte Wörter. Die Menschen sagen: »Ich versuche, dieses oder jenes zu tun.« Oder: »Ich kämpfe …« Sie kämpfen »jahrelang«, »mein ganzes Leben« mit etwas und für etwas. Sie sagen: »Ich will …« Sie sagen: »Mein Traum ist …«
Man sagt aber nicht: »Ich versuche, zu frühstücken.« Man sagt nicht: »Ich kämpfe dafür, zu duschen.« Man artikuliert eine solche Absicht nicht: »Heute will ich Schuhe tragen.« Man sagt nicht: »Mein Traum ist es, mich anzuziehen.«
Ein Mensch, der etwas versucht, der um und für etwas kämpft, der Absichten ausspricht, Gewolltes als Gewünschtes und »Geträumtes« benennt, weiß, dass das, worum es ihm geht, sich weitgehend entzieht. Er weiß um das Nichts seiner Kontrolle, um das Nichts seiner Macht, das zu verwirklichen, wovon die Rede ist.
So auch, wenn er sagt, dass er nun »in etwas« sei, das eine zeitliche Ordnung hat (die sich ihm entzieht): »Ich bin in einer Gewöhnungsphase … in einer Übergangszeit … in einem Trauerprozess … usw.« Man kann nicht in etwas sein und es zugleich kontrollieren (es sei denn, es handele sich um eine technische Apparatur, die Element – mich Umgebendes – und Objekt – von mir Gehandhabtes – zugleich ist: Auto, Flugzeug usw.).
Alle diese Redensarten zeigen defiziente Modi der Verwirklichung an, defizient bis zu einem Grad, dass bloß noch vom Wunsch, vom Kampf, vom Nachdenken über … die Rede ist, gar nicht mehr von der Verwirklichung.
Obwohl menschliche Erfahrung stets durchschossen ist von Negativität, weisen bewusste Wahrnehmung, bewusstes Erinnern sie häufig nicht auf.
Man fragt (sich): »Was ist passiert?« Nicht: »Was ist nicht passiert? Was ist (leider, zum Glück) ausgeblieben?« Man erzählt eher von Menschen, mit denen man umgeht, als von jenen, mit denen man nicht umgeht, Gewesenen, Möglichen, deren Abwesenheit unsere Situation im höchsten Maße prägt.
Menschen, die Memoiren schreiben, neigen dazu, aufzuschreiben, was die Mutter, der Vater gesagt und getan haben, und vergessen nahezu völlig, aufzuschreiben, sich ins Gedächtnis zu rufen, in der Fantasie durchzuspielen, was die Mutter, der Vater niemals gesagt, niemals getan haben, obwohl vielleicht das, was diese ein Leben lang unterlassen haben, zu sagen und zu tun, schwerer wiegt als alles, was sie gesagt und getan haben.
Ja, vielleicht hat uns das, was niemals geschehen ist, tiefer gezeichnet, als alles, was geschehen ist, was in Tagebüchern festgehalten, in Anekdoten wiederholt wird. Vielleicht haben alle Ereignisse, alle Positivitäten nur darum ihr Gewicht, drücken die Schale, in der sie sich häufen, herab, weil in der anderen Schale nichts ist.
Natürlich ist es immer leichter, sich an das zu erinnern, was geschehen ist, als an das, was nicht geschehen ist. Wie erinnere ich mich an nichts? Welches Gedächtnis bewahrt die Gesten, Sätze und Taten, all die Personen und Orte und Zeiten, die in meinem Leben fehlen? Welche Inventur fasst das Nichts, das ich vielleicht mehr bin als jedes Etwas? Dazu reicht es nicht, meine Wahrnehmung und Erinnerung zu analysieren. Sie liefern, wie ein Dispositiv, auf den ersten Blick lediglich Gegebenes, das lückenlos an Gegebenes anschließt. Onto-Logie.
Schon jetzt sollte deutlich geworden sein, worum es nicht geht. Es geht nicht um jene materiellen und kulturellen Negativitäten, die man unter dem Begriff der Armut zusammenfasst: kein Obdach oder nicht genug Platz, um in Würde zu wohnen, keine hinreichende Ernährung, um kräftig und gesund zu bleiben und im sozialen Ernährungsvergleich mit den Anderen zu bestehen, keine Kleider bzw. keine Kleider, die mich nicht dem Spott der Anderen preisgeben, kein Geld, keine Bildung.
Diese Negativitäten gehören ja von Beginn an zur Moderne. Sie liegen jenseits der Unterscheidung in Positive und Negative Moderne.
Es geht auch nicht um metaphysische Negativität – das Nichts Gottes, das Nichts des Sinns, das Nichts eines Telos der Geschichte, sämtliche Inkonsistenzen und Inkohärenzen –, die man, wie Georg Lukács sagte, bequem aus dem Grand Hotel »Abgrund« betrachten kann3. Und es geht nicht um jene psychologische oder spirituelle Negativität, die »innere Leere« genannt wird.
Nein, die Negativitäten, die wir hier untersuchen werden, sind als »außenweltliche« zu beschreiben wie jene, die die Armut, die soziale Ausgrenzung konstituieren. Es sind säkulare und triviale Negativitäten. Dennoch haben sie das schwer Fassbare, scheinbar Innerliche der metaphysischen und psychologischen Negativitäten. Keine »Wohnung«, kein »Essen« fehlt, also etwas, das mir zunächst äußerlich ist, sondern mir fehlt »mein Selbstwert«, »meine Zeitstruktur«, »meine Motivation«, »mein Können«, die Wirklichkeit »meiner Möglichkeiten« usw.
Sogar das Andere, das fehlt, fehlt mir nicht unbedingt als Anderes – wie in der »Einsamkeit« oder in der »Langeweile«. Das Fehlen des Anderen zeigt sich zuerst und vor allem im Selben, als mein geistig-körperlicher Deprivationszustand, als Unkörperlichkeit, als Angst, als permanente, hysterische Selbstbetrachtung im Zustand des Nicht-Absorbiertseins durch Objektbeziehungen oder Elementbeziehungen, eines Für-sich-Seins.
Besonders stark ist der Kontrast zu jenem »Nichts«, das die Meditierenden suchen – vor allem, wenn dies in einem institutionellen Zusammenhang geschieht, zum Beispiel in einem buddhistischen Kloster.
Die meditierend gesuchte Negativität ist kein Nichts des Wertes. Im Gegenteil, die Praxis der Mediation, der Zusammenhang der Meditierenden und die Narrative der gesteigerten »Achtsamkeit« und »Erleuchtung« zielen darauf, den sozialen Wert des Praktizierenden und Zugehörigen zu heben.
Die gesuchte Negativität ist auch kein Nichts der Zeit. Im Gegenteil haben die Übungen eine zeitstrukturierende Wirkung. Sie haben eine vorgegebene Dauer, teilen den Tag in Davor und Danach, »verordnen« für die Dauer der Übung eine reine Gegenwart.
Die gesuchte Negativität ist auch kein Nichts des Handelns, kein Nichts des Inneren. Denn der möglichst weitgehende Verzicht auf Denken und Handeln ist ja ein selbst initiierter, selbst aufrechterhaltener und selbst wieder beendeter Verzicht. Er zeugt von Kontrolle im höchsten Maß – und der Verzicht auf Handeln ist Handeln, aktives Stillsein. Der zeitweilige Verzicht auf Konzentration – auf ein Objekt – verlangt die größte – paradoxe – Konzentration als Nicht-Konzentration, als vollständige Weitung, Öffnung des Bewusstseins, nicht als Umkreisen eines Gegenstands, sondern als »Fortschicken« jedes Gegenstands.
Die gesuchte Negativität ist auch kein Nichts der Möglichkeit – im Sinne der Erfahrung dessen, was noch nicht oder nicht mehr ist. Denn das Mögliche soll durch die Meditation ja möglichst weit abgedrängt werden, zugunsten der reinen Präsenz des »Hier und Jetzt«.
Und die gesuchte Negativität ist kein Nichts des Anderen. Denn das Andere wird ja gerade gegenwärtig gemacht: das Andere der Atmung, des Körpers, des harten Bodens, auf dem ich sitze oder liege. Es wird also ein spezielles Anderes gewählt. Kein zeitliches, kein intellektuelles, kein Ding, kein anderer Mensch, sondern das Andere, das ich an mir selbst haben kann. Dieses Andere wird, soweit es geht, intensiviert auf Kosten alles anderen Anderen wie des Nichts des Anderen.
Und schließlich: Die Negativität, die die Meditierenden suchen, ist eben eine gesuchte, freiwillig aufgesuchte und wieder zu verlassende. Dagegen mag der Sturz ins Nichts zwar auch Folge eines Suchens und Entscheidens sein, ist aber als solcher nicht beabsichtigt. Und niemandem steht es zu Gebot, die soziale Negativität wieder in Richtung einer Fülle zu verlassen.
Die wahrscheinlich wichtigste Funktion der Meditation im Verhältnis zur Positiven Moderne ist, aus der Hetze der hochstrukturierten Zeit, der Reizintensität der Städte, der Medien und dem mentalen Stress des permanenten Reflektieren- und Entscheidenmüssens hineinzufinden in eine Ruhe. Also in das Nichts der kleingehackten, beschleunigten Zeit, in das Nichts der visuellen und auditiven Reize, in das Nichts des Reflektierens und Entscheidens.
Im Kontext der Negativen Moderne ist die wichtigste Funktion wahrscheinlich eine ganz andere: nämlich, der extremen Abhängigkeit von den Anderen zu entkommen, die sich aus der Volatilität des eigenen Wertes ergibt. Es geht darum, die anderen Menschen als individuelle Wertverleihungsinstanzen für einen Moment scheinbar zu ersetzen durch das Andere des eigenen Körpers, der Atmung, des pulsierenden Blutes, der rumorenden Organe, des Juckens der Haut (und vielleicht zusätzlich durch ein spirituelles Anderes).
Die begleitenden Diskurse des In-sich-selbst-Ruhens und In-sich-selbst-Wurzelns wären gerade nicht Zeichen einer schon realisierten Selbstbezogenheit, sondern Ausdruck des Wunsches nach Selbstbezogenheit in Zeiten extremer – weil unsicherer, unsteter – Bezogenheit auf die Anderen. Das Nichts des anderen Menschen würde herbeigesehnt und -geatmet in einer Welt, in der das Ich zum Jojo des Dus geworden ist.
Leitfiguren wie Eckart Tolle vereinen in ihrer Person denn auch beide Seiten des Wunsches: einerseits den Diskurs der Unabhängigkeit von anderen Menschen, der Unberührbarkeit durch lieblose Eltern, Partner, Kollegen, der Achtsamkeit als uneinnehmbarer Festung, und andererseits die Realität des Berühmtseins, des Verehrtwerdens, des permanenten Auftretens, der Bekanntschaft mit anderen Berühmtheiten, der Talkshowpräsenz, des permanenten Interviewtwerdens, der selbstproduzierten, hunderttausendfach angeklickten Youtubefilme usw., wodurch (scheinbar) jene Wertstabilität erzeugt wird, die, in Beziehungen von Person zu Person, nicht mehr zu haben ist.
Die gleiche Dialektik aus behaupteter Unabhängigkeit und Streben nach Wertverleihung kann man im Punk – I don’t care what the people say – und in der Kunst erkennen, soweit diese Lebensformen sonst differieren.
Es wäre sogar denkbar, dass die meisten Praktizierenden der Achtsamkeit sich selbst missverstehen, dass sie, den Gemeinplätzen der Positiven Moderne folgend, sagen: »Ich achte aufs Hier und Jetzt, um der Hektik und Reizintensität des Alltags zu entkommen«, dass jedoch in Wahrheit das Bedürfnis nach einfachen Objektbezügen darum so groß ist, weil die Menschen in ihnen dem immerzu bedrohlichen Bezug zum Anderen, der nun als Du auftritt (siehe zweites Kapitel), zeitweise entkommen.
Soviel zur Abgrenzung zu anderen Formen von Negativität. Das Nichts schleppt eine immense Fülle von Konnotationen mit sich. Da sind Hegel, die Ontologie, das Existenzdenken, Adornos Kluft von Begriff und Sache. Da sind buddhistische und westliche Selbsttechniken. Da sind psychologische Redeweisen (»Ich bin leer«). Da sind Kunst- und Literaturformen sowie deren Interpretationen, denen es ums Abwesende und Unmögliche, um Unterbrechung und Pause, um das Sinn- und Heillose geht.
Wir haben es also nicht mit einer geistesgeschichtlichen Brache zu tun, sondern mit dichtbesiedeltem Terrain, und müssen, da wir am Konzept der Negativität festhalten, genau sein in der Definition.
Wir werden unterscheiden zwischen der Negativen Moderne und dem Sturz ins Nichts. Unter Letzterem sei eine typische individuelle Situation in der Moderne verstanden, in der alles, was hier unter Negative Moderne gefasst wird, zusammenkommt bzw. ursprünglich eins ist. Wertlosigkeit als Handlungsunfähigkeit als Zeitverbreiung als unendliches Möglichsein als Mangel an physischen und persönlichen Andersheiten.
Eine Veranschaulichung: Ein Mensch lebt und arbeitet allein. Er mag die Wohnung mit anderen teilen, die Ergebnisse seiner Arbeit – so es Ergebnisse gibt – anderen zukommen lassen, er mag sie anbieten, abliefern, einreichen, sie mögen von anderen bestellt gewesen sein. Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Mensch nicht mit anderen zusammenlebt, zusammenarbeitet, sondern, in seinen täglichen Vollzügen, auf sich gestellt ist, wie man sagt. Es zeigt sich nun, dass der Mensch jede Achtung für sich selbst verloren hat, dass das Arbeiten entweder unmöglich ist oder ertraglos bleibt. Es zeigt sich, dass es in seinem Leben weder Tag noch Nacht gibt, weder Werk- noch Feiertage, dass die Stunden keine Stunden, die Minuten keine Minuten sind. Wie die Metapher des Breis anzeigt, verschwindet jedes »eingezeichnete« Muster in Kürze von selbst, muss neu eingezeichnet werden. Alles gleitet ab ins Ungeschaffene.
Es zeigt sich, dass der Mensch kaum täglichen Umgang mit Dingen, kaum Sein in Elementen – natürlichen oder sozialen – kennt, in denen er sich vergisst und rettend entfremdet.
Er ist selbstverständlich noch atmender Leib, doch nichts verschafft ihm einen Körper als Andersheit. Seine Welt entsteht weder primär über »Zuhandenheit«, wie Heidegger voraussetzt4, noch über »Genuss«, wie Levinas meint5, sondern ist entfernt und »platt«, ist Bild. Die Stadt zieht vorüber. Das Schöne, das Schreckliche (und das Schöne, das schrecklich ist). Das Gefühlte ist unkommuniziert, ohne Ausdruck und Handlung, ist katatonische Gewalt oder Indolenz: »Ich fühle nichts.«
Dies ist eine gewöhnliche Situation in der Moderne. So gewöhnlich, dass dem Leser auf der Stelle ehrwürdige wie neumodische psychopathologische Etiketten einfallen, er oder sie vielleicht geneigt ist, müde abzuwinken: »Natürlich …« So gewöhnlich ist diese Situation, dass der Lesende selbst vielleicht schon einmal …, dass eine Freundin, dass die in Ruhestand gegangene Mutter …, dass er gehört hat, dass Studenten …, dass Selbständige, Arbeitslose, junge Menschen, Künstlerinnen, Künstler …, dass in den großen Städten usw.
Aber wie gewöhnlich? Diese gesamte Untersuchung – einschließlich »Das Ende der Liebe« und die kommenden Bände – ist an Quantifizierung nicht interessiert. Damit sei nichts über die Sinnhaftigkeit von Quantifizierung gesagt. Doch hier reicht die Feststellung der Gewöhnlichkeit. Die Feststellung, dass es sich nicht um eine exklusive, sondern um eine »demokratische«, eine Massenerfahrung handelt. Um zu verstehen, wie ein Gefängnis funktioniert, muss man nicht die genaue Zahl der Insassen – in einem besonderen Gefängnis oder im gesamten Gemeinwesen – kennen.
Mit der Quantifizierung entfällt die Differenzierung individueller »Stürze«. Natürlich gibt es unterschiedliche Grade der Entwertung, Wertvolatilität, der Entstrukturierung von Zeit usw. Bei manchen mag der Sturz nur Wochen, Monate dauern. Bei vielen dauert er Jahre, Jahrzehnte.
Kollegen und Studenten, die das Manuskript lasen, fragten: »Woher die Schwärze? Die Absolutheit der Verletzung und Unmöglichkeit, eines Unglücks ohne absehbares, erwartbares Ende?«
Wie in »Das Ende der Liebe« ist es nicht die Abstraktion eines Weber’schen Idealtypus, nicht die Absolutheit einer literarischen Übertreibung. Es ist gar keine Konstruktion, kein Kniff, sondern die Erfahrung selbst. Die Absolutheit der Liebesunmöglichkeit, der Beschämung, der Wertlosigkeit, der Arbeitsunfähigkeit usw. ist kein Mittel der Beschreibung. Sie ist das zu Beschreibende, zu Analysierende, zu Verstehende selbst.
Die Verallgemeinerung der Erscheinungen in Form der Mehrzahl – »die freien Menschen« oder »die Stürzenden« – soll nicht mehr anzeigen als eben die Nichtexklusivität der Erfahrung, die Gewöhnlichkeit, die Massenhaftigkeit. Dies wage ich tatsächlich zu behaupten als ein Forschender, der selbst ein gewöhnlicher Mensch ist, durchweg gewöhnliche Situationen durchläuft und in diesen anderen gewöhnlichen Menschen begegnet.
»Gewöhnlich« ist im Übrigen nicht erst, was die Mehrheit erfährt. Auch Minderheiten können Massen sein, ja die Massen – die politisch als solche mobilisierten Massen wie die soziokulturellen – eines pluralistischen Gemeinwesens sind immer Minderheiten. Jede Gewöhnlichkeit ist eine minoritäre, besondere, teilkulturelle: die Gewöhnlichkeit der Fußballfans, der Künstler, der Eigenheimbesitzer, der Rapper und Rockmusiker usw. So auch die Gewöhnlichkeit der Stürzenden.
Als Sozialwissenschaftler oder -philosoph wird man ohnehin nicht die behauptete Gewöhnlichkeit, sondern die behauptete Exklusivität für beweisbedürftig halten. Die Regel lautet ja: Was ist, das ist Geteiltes, Kollektives; auch und gerade im Fall des »Besonderen«, »Exklusiven«, »Individuellen«, »Abweichenden« …
Außerdem wage ich zu behaupten, dass die Situation und die Erfahrung, die hier mit Sturz ins (bzw. im) Nichts bezeichnet sind, in ihrer Absolutheit nicht in einem insulären Jenseits vom »Rest der Welt« angesiedelt sind, sondern es sich um eine Landzunge handelt, wir es mit einem Kontinuum zu tun haben der Wertinstabilisierung, der Zeitverbreiung, der Aktivitätsobstruktion, der Vermöglichung der Wirklichkeit, des Entzugs von Objekten und Elementen … Wie im Fall psychologischer Diagnosen (Depression, Angststörung usw.), ist auch im Weltlichen das Entstehen diskreter, vollkommen diskontinuierlicher Erfahrungen selten, vielleicht sogar unmöglich, bildet das Absolute meist den Endpunkt einer Skala.
Auch hier gilt: Erklärungsbedürftig wären eher die großen Sprünge als die Spektren, Prozesse, Steigerungen. Darum wohl wird, so die Annahme, am Absoluten auch das Relative, Graduelle zu erkennen sein, am Schlimmen das Nicht-ganz-so-Schlimme (wie im »Ende der Liebe«).
Dennoch muss vor jeder »literarischen« Leseweise gewarnt werden. Jeder Satz ist Auslegung realer Erfahrung. Das Missverständnis wäre insofern fatal, als Erfahrungsanalyse ja gerade nicht mit – literarischer oder Weber’scher – Typisierung arbeitet, sie die Genauigkeit zur einzigen Währung hat.
Der Sturz ins Nichts ist also ein ursprüngliches Ganzes, eine »Lebenssituation« mit einer spezifischen Gegenwart, die ein spezifisches (Nie-)Gewesensein und ein spezifisches (Nicht-)Künftigsein und (Nicht-)Möglichsein einschließt.
Erst die Analyse, die Sprache, ermöglicht es, das Ganze aufzulösen in Aspekte wie Wert, Zeit, Aktivität und Inneres, Möglichsein und Andersheit. Doch wie kehren wir zurück zur ursprünglichen Ganzheit des Ichs, der Situation, des Gefühls, in der alles immer schon zu einem verschmolzen ist? Hier droht die Sprache zu versagen. Denn es gibt keinen Satz, der alles sagt. Und wenn man mehr als einen Satz braucht, um alles zu sagen, reiht man wieder Aspekte aneinander und das Ganze als Ganzes bleibt ewig ungesagt.
Hier müssen wir es beim Versuch belassen, in jedem Kapitel zu zeigen, wie das, was methodisch getrennt wurde, in Wirklichkeit eins sein kann, eine Situation, eine Erfahrung, wie dieses sich in jenem zeigt, dieses als jenes und umgekehrt. In jedem Kapitel wird der Versuch unternommen, die Analyse zu vertiefen, indem die Analyse aufgehoben, das Zergliederte als Eines betrachtet wird.
Warum aber noch der Begriff der Negativen Moderne, wenn es um den Sturz ins Nichts als Situation geht? Der Begriff der Negativen Moderne erlaubt es, das, was im »Sturz« zusammenfällt, getrennt zu denken und zu beobachten.
Denn tatsächlich beschränkt sich ja das Verschwinden einer stabilen Wertverleihung und Wertordnung nicht auf jene Welten, in denen die Zeit ein Brei, das Handeln unmöglich oder ertraglos ist. Auch die unterschiedlichen Dimensionen eines unbegrenzten Möglichseins finden sich nicht allein, nicht einmal vorrangig in jenen Welten.
Ja, besonders die Volatilität des eigenen sozialen Wertes und das unendliche Möglichsein sind vereinbar mit hoher Integration des Betreffenden in ein Berufsmilieu, Freundschaften, Freizeitzusammenhänge, eine Liebesbeziehung, (mindestens) eine Familie usw.
Soziale, sensorische und praktische Deprivation wiederum muss nicht einhergehen mit einem unendlichen Möglichsein, kann auch, wie im Fall der »Isolationshaft«, einhergehen mit hermetischer Notwendigkeit, einer Verzweiflung der Notwendigkeit.
Es sind also die unterschiedlichsten Lebenssituationen, in denen der Mensch, auf die unterschiedlichste Weise, der Negativen Moderne ins Gesicht schaut. Es sind die unterschiedlichsten Gruppen, die sich in einem Punkt versammeln. So wird die Entstrukturierung der Zeit von Arbeitslosen, Hausfrauen, Flüchtlingen, Kranken, Alten, Studenten, Selbständigen und Künstlern erfahren.
Wie der erste Band »Das Ende der Liebe« ist dieses Buch nicht unwesentlich eine Studie der Beschämungen. Die Moderne ist weit davon entfernt, ein wahrhaft »schamloses Zeitalter« zu sein.
Zwei Felder tun sich auf: das Feld der Beziehungen, in dem es darum geht, als Liebhaber, Lebensgefährte, Kollege, creative employee, Vorgesetzter, Freund, Sohn, Tochter, Vater, Mutter und nicht zuletzt als ein Fremder – der versucht, eine Beziehung mit einem Anderen erst zu stiften, via Ansprechen, Anrufen, Anmailen, Simsen – den vielfältigen Normen einer »echten Beziehung« gerecht zu werden. Hier kommen Bubers »Ich und Du« und die Texte von Levinas zu sich selbst als Knigge unserer Zeit, Bürgerliche Gesetzbücher, werden zu unfreiwilligen Explikationen einer gesellschaftlichen Ordnung der Beschämung.
Zumeist konflikthaft neben der Norm der Beziehung steht die Norm der Selbstverwirklichung, der ungebremsten Aktivität als einsam-schöpferischer Tätigkeit in Richtung auf Zeitstrukturierung, Herstellung von Werken und Karrieren, Kontrolle des Lebens, Beziehungsstiftung usw.
Schwingend im Feld der Beziehung wie im Feld einsam-schöpferischen Handelns hat das Individuum im Ungenügen seinen ständig umkreisten und durchkreuzten Schwerepunkt. Wenn nicht alles Schwingen aufhört und der Schwerepunkt zum Ruhepunkt wird.
Es liegt in den Normen der echten Beziehung und der einsam-schöpferischen Aktivität selbst begründet, dass ein Genügen sich nicht auf Dauer stellen lässt. Der Mensch kämpft fortwährend mit seiner »Egozentrik«, seiner Wut, seiner Abneigung bzw. seiner fehlenden Anziehung, wie er mit seiner »Lähmung« und »Unfähigkeit« kämpft.
Beide Felder entziehen sich weitgehend der Kontrolle des Subjekts. Nicht in Form des »Ausrutschers«, sondern systematisch, weil hier Inneres fehlt, das für Handeln nicht zugänglich ist. (Was die Beschämungen als widersinnig erscheinen lässt. In dieser Welt schämen die Menschen sich tatsächlich für ihre Substanz, ihre Essenz, nicht dafür, was sie tun oder lassen könnten. Insofern geht hier die Essenz der Existenz voraus.)
Nicht Selbstverwirklichung, sondern Selbstvermöglichung ist die – beschämende – Grunderfahrung der Moderne, nicht echte, tiefe, symmetrische Beziehung, sondern das – beschämende – Unvermögen zu dieser. »Unverschämt« in ihren Aggressionen und Attacken ist allein die Positive Moderne. Angesichts der Negativen Moderne senken wir beschämt den Blick.
Die Negative Moderne scheint die Theorie der klassischen Anthropologie zu bestätigen. Es ist doch die Kultur, die die Instinktlosigkeit und Mangelhaftigkeit des Menschen – also Negativität des menschlichen Wesens – auszugleichen hat. Es ist die Kultur, die – wie auch Durkheim sagt – Grenzen setzen muss, wo »der Mensch« keine Grenzen hat.6 Die Kultur muss Inhalt und Form vorgeben, weil »der Mensch« selbst inhaltlos, seine Existenz – wo keine Kultur sie formt – formlos ist. Kultur muss gewährleisten, dass dem Einzelnen ein »Selbstwert« verliehen wird, denn »der Mensch«, dem kein Wert verliehen wird, erfährt sich als wertlos. Die Kultur muss die Zeit mit Rhythmen und Horizonten strukturieren, denn »der Mensch« hat – anders als das Tier – keine intrinsische Zeitstruktur.
Die Kultur muss das menschliche Handeln motivieren und organisieren, denn der instinktlose Mensch handelt nicht aus dem Nichts heraus, bzw. im sozialen Nichts handelt er nicht. Die Kultur muss das Denken und das Fühlen, das Erinnern und das Erwarten vermitteln, sonst findet »der Mensch« sich im Nichts aller Innerlichkeit wieder. Die Kultur muss – siehe oben – das Entstehen von Unendlichkeiten verhindern, Endlichkeit erzeugen. Die Kultur muss stabile, wiederholbare Bezüge zu Anderem gewährleisten, sonst stürzt »der Mensch« ins Nichts der Beziehungen zu anderen Menschen, Objekten, Elementen, ins Nichts körperlicher und geistiger Praxis.
Nach dieser Lesart ist die Negative Moderne, ist der Sturz ins Nichts ein Rückfall – oder besser: ein Vorfall – in einen neuen Naturzustand.
Selbstverständlich ist »Naturzustand« hier ein polemischer Begriff. Er soll anzeigen, dass hier das Gegenteil dessen geschieht, was wir der Natur entgegensetzen, Gegenteil dessen, was die Kultur – nach anthropologischer Lesart – zu leisten hat.
Insofern hört die Kultur hier auf, beginnt »wieder« die Natur. Genauer: Dem Menschen, der Kultur nötig hat, stößt Natur zu bzw. eine widersinnige Kultur, die keine der Aufgaben, die der Kultur zukamen, mehr erfüllt. Um Hobbes’ Worte aufzugreifen: Es gibt keine Zeitrechnung mehr und keinen Platz für Fleiß, das Leben ist einsam, kümmerlich, in jedem Augenblick – nicht physisch, doch in jeder anderen Hinsicht – ein bedrohtes7.
Doch das ist nicht der Fall, weil ein Krieg aller gegen alle herrschte, eine wimmelnde, aggressive Positivität freier Individuen, und auch nicht, weil die Maschinerie der Positiven Moderne – Fabrik, Großstadt, Krieg – das Leben verschluckte, sondern weil »der Mensch« getroffen wird von der Gewalt des Abwesenden. Widerwärtig ist das Leben, weil man sich selbst – jenseits stabiler Wertverleihung – widerwärtig wird. Nicht das Interesse der Anderen macht uns das Leben zur Hölle, sondern – ironischerweise – ihr Desinteresse.
Problematisch an dieser anthropologischen Lesart ist zum einen, dass sie zu konservativen und autoritären Lösungen einzuladen scheint. Solche »Lösungen« erreichen nicht mehr, als Subkulturen der Bestimmtheit zu etablieren, die nie das Fundament der Negativen Moderne berühren. Außerdem schaden sie mehr als sie nutzen, da sie der Tyrannei der Negativen Moderne wieder die Tyrannei der Positiven Moderne beigesellen.
Problematisch ist zum anderen, dass hier eine überhistorische, eben anthropologische Perspektive eingenommen wird, die in jeder geschichtlichen Situation zwischen 1789 und 2015 passim behaupten könnte, nun sei das Maß überschritten, sei es Zeit, die Schrauben wieder anzuziehen. Die Freiheit-Institutionen-Debatte zwischen Adorno und Gehlen ließe sich jährlich wiederholen, ohne an Gültigkeit zu verlieren oder zu gewinnen.
Anders gesagt: Der Schematismus vom weltoffenen Menschen und der weltfüllenden, weltschließenden Kultur ist eben ein Schematismus. Zu allgemein. Er enthält keine Reflexion der eigenen, historischen Präferenzen, die ihm zugrundeliegen.
Darum scheint es besser, nah an der Erfahrung, unserer Situation zu bleiben, unseren Maßstab eben dieser Erfahrung zu entnehmen.
Fühle ich mich »wertlos«, so habe ich offenbar Wertverleihung wie – in der Folge – Wertentzug erlebt. Kann ich »meine Zeit nicht strukturieren«, kenne ich offensichtlich strukturierte Zeit, erlebe nun deren Verbreiung usw.
Dennoch scheint die Polemik, die im Begriff eines neuen Naturzustands steckt, nicht ungerechtfertigt. Die Negative Moderne bezeichnet tatsächlich Zustände, die nicht nur die modernen, sondern kulturelle, zivilisatorische Grundlagen überhaupt aushöhlen. Ein Mensch, dessen Wert keine Stabilität besitzt, dessen Zeit ohne Struktur ist, der nicht handeln kann, dessen Wirklichkeit allseits ins Mögliche zerfasert und vom Möglichen entwertet wird, und dem dinghafte, elementhafte, geistige und personale Bezüge fehlen, ist eben im Jenseits dessen angelangt, was man gemeinhin Kultur nennt.
Die Gegenüberstellung der ungleichen Zwillinge – Positive Moderne und Negative Moderne – hat auch den Sinn, das theoretisch Vernachlässigte in den Blick zu rücken.
In der Zeitforschung herrschen die Geschwindigkeits- und Beschleunigungstheoretiker allein – flankiert von einer ergebenen Ratgeberschar, den Fürsprechern und Propheten der »Langsamkeit«.
In der Wertfrage geht es deutlich mehr um die aktiven, aggressiven, ideologischen Abwertungen und Entwertungen der Positiven Moderne – Rassismus, Nationalismus, Islamismus usw. – als um den geräuschlosen Sturz in die Wertlosigkeit infolge von Nichtbestätigung.
Die Kapitalismus- und Globalisierungskritik hat die ungeheuer (destruktiv) produktive Seite der Moderne fest im Blick. Psychologen, Stressforscher, auch Soziologen sehen hinter jedem Zusammenbruch einen Burnout, eine Erschöpfung, also hinter jedem Leid ein Zuviel – eben das Zuviel der Großstadt, des Internet, der Medien, des Multitasking, der sogenannten Leistungsgesellschaft usw.
Auch Heideggers »Welt« ist immer gut gefüllt. Nachdem er die Welt Descartes’ Zweifel entzogen hatte, wollte er sie wohl nicht gleich wieder entleert wissen. Überall Zeug, Vor- und Zuhandenes, überall Mitsein. Und immerzu weiß »man«, wie zu denken und zu handeln sei. Auch die Zeit ist voll und übervoll: Lärm und Gerenne8.
Lediglich im Bereich des Sinns entsteht mal eine Lücke, ein Nichts: die »Angst«. Andere Bereiche der Negativität, wie der Bereich des sozialen Wertes, bleiben ganz im Verborgenen. Bei Heidegger herrscht durchgehend fröhliches Hämmern und Sägen, Getue und Gerede, der Konformitätsdruck des Kollektivs wie der geschmeidige Automatismus der Zuhandenheiten, die Geworfenheit in eine Fülle wie das Ent-Werfen in eine neue Fülle, uneigentliche wie eigentliche, eigene Fülle.
Soziologisch gelesen, ist Heidegger, so muss man feststellen, ausschließlich ein Analytiker der Positiven Moderne. Sie war ja seine Welt.
Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet die Diskurs- und Dispositivanalyse, der soziale Konstruktivismus, der sich anders als die Anthropologie jede Aussage über das vermeintliche Wesen des Menschen untersagt, doch die Vorstellung bzw. das Vorurteil der Anthropologie von der Kultur als Fülle teilt.
Gedacht wird Kultur stets in ihrer regelnden, beschreibenden, vorschreibenden, praktischen und Praxis ingangsetzenden, Orte und Architekturen schaffenden, sich vergegenständlichenden, den Raum mit Dingen, Aktivitäten füllenden Weise. Ein Dispositiv hat ein höheres ontologisches Gewicht als das – einmalige – Ereignis. Es ist mehr: Wiederholung, »Maschine«. Wo Dispositive walten, ist keine Leere. Gewiss, Möglichkeiten werden gedacht. Doch niemals das Nichts eines Möglichseins jenseits alles Wählbaren. Zeit ist geregelte, rhythmisierte Zeit. Das Dispositiv gibt den Takt vor und »das Ende«. Es schafft das Territorium und die Grenze. Das Dispositiv verleiht Wert und macht wertlos – ja, doch beides ein für alle Mal. Nichts und niemand stürzt.
In der Beschreibung vormoderner Ordnungen sowie der Positiven Moderne bleibt das Vorurteil der Dispositivanalyse unsichtbar. Die vorausgesetzte Fülle existiert tatsächlich. Erst im Bereich der Negativen Moderne fällt das Vorurteil auf.
Natürlich ist auch eine Kultur, die Leere produziert, eine positive – gegebene – Kultur. Sie produziert die Leere ja mittels Diskursen, Handlungen, Institutionen, Orten, Architekturen. Insofern brächte die Dispositivanalyse die gewohnte Leistung. Der Mensch ist immer »in etwas«, während er stürzt. »In diesem Sinne«, sagt Levinas, »ist das Leiden die Unmöglichkeit des Nichts«9.
Doch es gehört zur Metaphysik der Dispositivanalyse, anzunehmen, dass aus Positivität stets Positivität entsteht, dass sich Text stets in Text, Handlung in Handlung, das Regelnde in Geregeltem fortsetzt, dass Macht immer Kontrolle und Definition bedeutet, nicht Macht auch auf nichts hinauslaufen kann, ihre Gewalt in Abwesenheiten bestehen kann.
Sogar im Untersuchungsbereich des Möglichseins erkennen, analysieren Soziologie und Sozialphilosophie fast ausschließlich die Positivität von Optionen: von Produkten, die in Geschäften oder im Internet zur Wahl und zum Kauf angeboten werden; von Alternativen, mit denen uns eine Universität, ein Unternehmen, der Staat konfrontiert usw.
Als seien Freiheitsstrukturen nur annähernd mit dem Begriff der Optionalität zu erfassen. Als sei das Mögliche nicht in der Regel jenseits von Optionalität situiert: Alles, wo es um Entwicklung und Steigerung, also vertikale Unendlichkeit geht. Alles, was im Fluss der Zeit, als ein Nacheinander erscheint, sich aber im Jetzt absolut setzt, als absolute Attraktion. Die Freiheit, als etwas Selbstgewünschtes anerkannt werden zu wollen, eine Wertverleihung zu erstreben. Die Freiheit, Zeit zu strukturieren. Die Freiheit, die darin besteht, dass das eigene Handeln ans eigene Innere – der Ideen, Ziele, Meinungen, Denkweisen, Gefühle, Stimmungen usw. – gekoppelt ist und nicht ans Äußere eines organisierten Arbeitsprozesses, einer Aktionsgemeinschaft, einer Tradition, eines Rituals, einer Wert- oder Zweckrationalität, einer Natur. Die Freiheit, Beziehungen einzugehen und zu gestalten, zu Dingen, Elementen, dem eigenen Körper, anderen Menschen. – Nichts davon ist hauptsächlich Option.
Kurz, das Gesicht der Positiven Moderne ist uns viel vertrauter als jenes der Negativen Moderne – vertrauter auf der Ebene bewusster Konzepte, die Menschen auch dann benutzen, wenn diese ihre Wirklichkeit verfehlen, eine Wirklichkeit, die unter Umständen mehr in den Bereich der Negativen Moderne fällt.
Das Gesicht der Positiven Moderne ist das Klischee der Moderne. Es ist an der Zeit, das andere Gesicht dieser Welt zu betrachten.
Natürlich gibt es auch ein Klischee des Zuwenig. Die Moderne als Ort der Einsamkeit und Antriebslosigkeit. Doch wir müssen genau hinschauen. Entweder haben wir es hier mit dem alten, »existenzialistischen« Motiv der Sinnlosigkeit und Emotionslosigkeit zu tun (Bartleby der Schreiber10, Der Fremde11, Ein Mann der schläft12) – dies, das Nichts des Sinns, wäre die Domäne von Heideggers Angst. Oder es dominiert das Motiv der Armut, der materiellen Negativität und der Entwertung durch soziale Stigmatisierung, und insofern werden die Protagonisten eher zu »Außenseitern« und »Verlierern« der Positiven Moderne (Hunger13, Meine Freunde14), obwohl Merkmale der Negativen Moderne – vor allem die Wirkungen einer entstrukturierten Zeit auf die Wahrnehmung – schon erfasst werden. Zuweilen entsteht die extreme Empfindsamkeit des Protagonisten in der Konfrontation mit der industriellen Kälte und Vermassung der Positiven Moderne (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge15).
Die Erfahrungen, die wir unter Negativer Moderne fassen, aber sind nicht-existenzialistische. Die Sinnebene ist intakt. Die Gefühle sind die größten. Der Einzelne hat kein »höheres« Problem auf Menschheitsniveau, sondern wird – ohne Wert, im Zeitbrei, unfähig zur Aktivität, erniedrigt durch das Mögliche, ohne Andersheit – im Zentrum seiner Vitalität getroffen.
Während existenzialistische Helden sich durch inneres wie äußeres Désengagement auszeichnen, kämpfen die freien Menschen einen verzweifelten »Kampf mit sich selbst«. Mit dem Ziel der Bejahung durch die Anderen. Bartleby der Schreiber und Ein Mann der schläft dagegen werden auch darum zu Helden dieser Epoche ausgerufen, weil sie – wie Eckart Tolle – die Wertschätzung der Anderen nicht zu brauchen, autonom zu sein scheinen, sie darum auf berufliche, kreative Aktivität verzichten können.
Die Menschen, die wir die Stürzenden nennen, entziehen sich auch nicht aus freien Stücken einem institutionellen Rhythmus und Zeitdruck (wie Bartleby der Schreiber und Ein Mann der schläft), sondern finden sich je schon in einer entstrukturierten Zeit vor.
Das Möglichsein erfahren sie nicht als Möglichkeit der Abweichung von der Masse, Kontingenz alles Bestehenden (siehe Bartleby der Schreiber, Der Mann ohne Eigenschaften16, Der Ekel17, Ein Mann der schläft), sondern in einer Welt, in der es eine normative Einheitlichkeit der Masse gar nicht mehr gibt, damit auch nicht die Möglichkeit der Abweichung, statt dessen ausschließlich die unendliche Möglichkeit der Steigerung von Individualität, Differenz, Bekanntheit, Leistung, Schöpfung.
Das Mögliche ist also nicht nur das Nichtwirkliche, sondern das von ihnen Nichtverwirklichte. Es wird wiederum als ihre eigene Unfähigkeit, ihre Wertlosigkeit erfahren. Auch die Entstrukturierung der Zeit wird – unter der Hand – zu ihrem Unvermögen, Zeit zu strukturieren, zu ihrer Unfähigkeit, ihrer Wertlosigkeit.
Somit passen die existenzialistischen Schablonen, die Außenseiter- und Individuierungsgeschichten nicht auf die Negative Moderne. Das Nichts ist ein anderes. Im Zentrum steht ein Handelnwollen, Arbeitenwollen, Verwirklichenwollen, ein Geschätztwerdenwollen, Bewundert- und Geliebtwerdenwollen, amour et ambition – also ein affirmatives Verhältnis zur Welt, ihren Forderungen und Instanzen (obgleich vermutlich hinter einer »kritischen Haltung« verborgen), das die negativen Heroen der Abweichung nicht kannten.
Das Konzept der Negativen Moderne hat auch methodische Vorteile. Spricht man vom Sturz ins Nichts, so denkt man unwillkürlich an Menschen – deren Situation, Welt und Psyche alles Genannte in sich beschließt. Indem wir über den Begriff der Negativen Moderne einzelne Kategorien, nicht Menschen und Situationsganzheiten, erfassen – und beobachten, dass auch der Wert der sozial Integrierten unausgesetzt fällt, unausgesetzt gehoben werden muss, dass auch die sozial Integrierten in einer unendlich gewordenen Welt leben, dass man Familie haben kann und dennoch – am Tag – im Zeitbrei versinken kann, dass man in einem Unternehmen angestellt sein kann und dennoch, in der eigenen Wohnung, an Feierabenden und Wochenenden, ins Nichts des Anderen stürzen kann usw. –, indem wir also auf das Einzelne blicken, ist unser Fokus, das natürliche Zentrum unserer Beobachtungen, nicht mehr der Mensch, sondern die Sache, die Struktur.
Die soziologische Naivität der Phänomenologie, die jedes Etwas, das sie beobachtet, nur beobachtbar machen kann in Bezug zu einem menschlichen Bewusstsein, einer Psyche, einem Leib, können wir möglicherweise ausgleichen durch einen Strukturalismus, der dieses Etwas beobachtbar macht in Bezug zu sich selbst, eben als Wertverleihungsstruktur, Ermöglichungsstruktur usw.
Es ist banal, dass eine Methode, die am Menschen klebt, nicht wagt, sich für eine Weile von ihm zu entfernen, die Eigengesetzlichkeit und Komplexität moderner sozialer Wirklichkeit nicht erfassen kann.
Foucault glaubte noch, wir hätten nur die Wahl zwischen dem Menschlichen – dem Subjekt, dem transzendentalen Bewusstsein, dem Dasein – und dem Unmenschlichen – den Strukturen, Relationen. Dies sind Skylla und Charybdis des modernen Denkens.
Die eine Faszination bestand darin, dass das Menschliche tatsächlich menschlich ist (Kierkegaard, Lebensphilosophie, Daseinsanalytik, Existenzialismus), die andere Faszination darin, dass das Menschliche »in Wahrheit« unmenschlich ist: Dialektik, Kapital, Diskurs, Maschine, System, Neurostruktur, »Gehirn« …
Stets besteht die Gefahr, auf einen der Gravitationspole zuzufallen, hinein in die Fülle der Existenz, hinein in die Fülle der Strukturen. Schwierig scheint es, jenseits dieser Pole und über diese Pole hinaus zu navigieren, nicht einen Mittelweg zu nehmen, sondern ein Drittes zu erreichen.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war – und bis heute ist – der Sog der Charybdis stärker. Es kann uns ein Schwindel befallen, eine seltsame Übelkeit, wenn wir nur die Wörter Kapitalismus, Diskurs, Internet, System usw. hören. Nicht, wie gesagt, weil alles Chimäre wäre, was sie subsumieren sollen, sondern weil wir das gesamte spätmoderne Denken in ihren Strudeln versinken sehen.
Der Mensch dagegen ist ausgewandert in die Psychologie. Doch auch dort hat das Unmenschliche ihn längst niedergerungen, das Gehirn und die Black Box des Behaviourismus.
Meine Hypothese lautet: Es gibt einen Weg jenseits der Wahl zwischen dem Menschen und dem Unmenschlichen. Es ist das Denken von Strukturen, die zwar nicht menschlich sind, existenzial, psychisch, leiblich, die aber im Menschlichen, als Menschliches operieren, sich nicht als Unmenschliches isolieren lassen.
Ich spreche – semantisch paradox – von Freiheitsstrukturen. Denn die Freiheit ist zugleich Faktizität, sie ist nicht konfrontiert mit Faktizität. Die Faktizität ist nicht der oft ungeliebte Tennispartner der Freiheit wie in Heideggers »Geworfenheit« und in Sartres »Situation«, sondern das Wesen der Freiheit. Das Eröffnen von Räumen geht einher mit unbezwinglich-zwingenden Kräften, vampirisch-lebenaussaugenden Deprivationen, ungeheuren Positivitäten und Negativitäten.
Freiheit wird also nicht im Sinne Hegels, Kierkegaards oder Sartres als innere Fähigkeit zur Negation (und zur Negation der Negation) verstanden, als Musil’scher Möglichkeitssinn, und auch nicht als Bedingung der Möglichkeit tatsächlicher Veränderungen der Welt und meiner Situation in ihr, sondern ausschließlich als weltliche Struktur selbst.
Abgrenzungen sind allerdings auch hier nötig. Freiheit wird nicht begriffen als Struktur »postmoderner Beliebigkeit«. »Anything goes« ist gerade keine Formel für Unendlichkeit, sondern eine Formel der Begrenzung. Alles darf kombiniert werden aus dem Fundus der Vergangenheit. Postmoderne ist Aufhebung von Grenzen innerhalb der Grenzen des Gehabten und Gewesenen, eine Art, sich zu erinnern, keine Art, sich zu überschreiten. Die Freiheit der Postmoderne ist Wahlfreiheit im Reich des Schonfertigen. Wie ein Jugendlicher 60er- und 70er-Jahre-Kleider kombiniert, wie ein Hund herumtollt im umzäunten Viereck des Vorgartens, so bedeutet »anything goes« die Geborgenheit im Gehege. Postmoderne ist scheinbare Horizontentgrenzung durch faktische Horizontschließung.
Freiheit wird auch nicht verstanden als (sexueller) Markt, als Kampfzone und Darwin’scher Daseinskampf. Wo nur die »Verlierer« leiden – wie die Hässlichen bei Houellebecq –, die »Gewinner« dagegen nicht. Wo die »Mächtigen« auf Kosten der »Ohnmächtigen« das Leben genießen und skrupellos ihre Ziele verfolgen – wie die Eltern bei Houellebecq, die auf Kosten ihrer Kinder leben.
Das hieße, im Neuen ausschließlich das Alte zu erkennen, Freiheitsstrukturen allein machttheoretisch oder kapitalismustheoretisch zu interpretieren und nicht zu begreifen, was die Gewinner verlieren, wo die Mächtigen ohnmächtig sind. Houellebecqs Beobachtungen haben ihre Gültigkeit – wie viele Macht- oder Kapitalismusanalysen –, doch gleichzeitig verfälschen sie die Wirklichkeit durch Verengung des Blicks.
Dann wende ich mich gegen den Wahn, Freiheit erfordere vor allem Reflexion und Entscheidung. Hier sind sich die Theoretiker der Postmoderne, der Individualisierung wie Systemtheoretiker einig.
Es entsteht die Illusion, die Welt struktureller Freiheit sei eine gravitationslose Welt der »Unbestimmtheit« und »Kontingenz«, wo sich vieles anbiete, was »nicht notwendig« sei, weshalb das Subjekt »verwirrt« und »desorientiert« wirke. Die Freiheitswelt gliche einem Supermarkt, in dem der Mensch nicht wisse, was kaufen – hier kommt wieder der Kapitalismus ins Spiel. Theorien der Modernisierung und Individualisierung setzen an die Stelle von traditionalen Strukturen leere Entscheidungsräume, reine Kontingenz, unschuldige »Wahlmöglichkeiten«.
Wie dieses Buch sich gegen die drei großen Strukturalismen richtet, die Muster von Hierarchisierung, Beherrschung und Determination variieren, so richtet es sich gegen die herrschenden Modernisierungs- und Freiheitstheorien, die behaupten, das größte Problem struktureller Freiheit sei Kontingenz, der Mensch leide vor allem darunter, entscheiden zu müssen und es nicht zu können bzw. »erschöpfe sich« in seiner Autonomie selbst18, da er sich – wie schon bei Kierkegaard – in Möglichkeiten müde zappelt19.
Gegen diese Theorie der Freiheit als eines schwachen Feldes setzt dieses Buch eine Theorie der Freiheit als eines starken Feldes, in dem Entscheiden nicht (viel) hilft, in dem Wertlosigkeit, Zeitverbreiung, Deprivationen wie die klassischen Zwänge »ins Fleisch schneiden« – mit dem feinen Unterschied selbstredend, das der Geschnittene zu jedem Messer Ich sagt.
Nicht einmal die sozialen Strukturen der Ermöglichung haben ja jene Luftigkeit, die das innere