Gambit - Karl Sewart - E-Book

Gambit E-Book

Karl Sewart

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Beschreibung

Ungewöhnliches geschieht da in der Titelerzählung dieses Bandes: Ein Vater versteckt seinen Sohn gegen dessen Willen in den letzten Kriegstagen in den Wäldern, um ihn vor dem Zugriff des nahenden Krieges zu retten, und der Sohn hasst deshalb seinen Vater. Gambit - das Figurenopfer im Schachspiel - wird zu einem Symbol für diese erregenden Tage, denn der Vater muss die Versäumnisse seines bisherigen Lebens mit dem Tod bezahlen. Aber das Opfer war nicht umsonst, denn der Sohn beginnt zu fragen, nach den Leuten, die ihnen das Essen herausstellten und damit nach seiner Zukunft. Diese Erzählung hat die DEFA 1978 unter dem Titel „Ich zwing dich zu leben“ verfilmt (Regisseur Ralf Kirsten). Auch in den beiden anderen Geschichten dieses Bandes geht es um das Problem der Erziehung und Selbsterziehung, freilich unter nunmehr neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten. So gewinnt ein Heimkehrer Vertrauen zu sich und zu seiner Welt, weil es ihm gelingt, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen. Und das Kind befreit sich vom Albdruck böser Erfahrungen. Mitten in der DDR-Zeit spielt die dritte Erzählung, in der die Kündigung einer Lehrerin zum Anlass für Überlegungen und Handlungen wird, die die schwierige Aufgabe des Lehrers heute bestimmen. Das Fernsehen der DDR brachte hierzu 1983 den viel diskutierten Film „Die Kündigung“ heraus (Regisseur Edgar Kaufmann). Karl Sewart erweist sich in diesem Band als ein erstaunlich reifer, psychologisch eindringlicher Erzähler, der künstlerisch originelle und zwingende Lösungen zu finden weiß und vor allem: Er hat Geschichten zu erzählen, die uns bewegen und verändern können. INHALT: Gambit Heimkehr eines Rades Die Kündigung

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Impressum

Karl Sewart

Gambit

Drei Erzählungen

ISBN 978-3-86394-441-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1972 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Gambit

1. Kapitel

Wenigstens war kein Stern zu sehen in den vier Rechtecken, den zwei oberen, kleinen, den zwei unteren, länglichen, die nur deshalb nicht schwarz waren, weil ringsum alles noch dunkler war. Aber noch immer nichts von Regen. So lange hielt es dieser bleierne Himmel aus ...

Er rollte seinen Kopf langsam nach links, zog den Arm nach. Das Kissen knisterte unterm Ohr: ein altvertrautes, doch auch schon fremdes Geräusch, wie durch den Graufilter gelegentlicher Erinnerung wahrgenommen, und einen Augenblick lang war ihm, als vernähme er das Rauschen des Waldes. Er löste sein Ohr vom Kissen. Ihr Haar hob sich kaum vom schwarzen Linnen ab, blondes, echtblondes Haar, in dem einst die Sonne gekringelt hatte, einst im Wald, in demselben Wald. Wie immer, wenn sie beieinandergelegen hatten, lag sie abgewandt von ihm. Sonst hatte sie ihm zugewandt gelegen, einen Arm nach ihm ausgestreckt, einen weißen, weichen, wachsamen Arm, und es war schwer gewesen, sich zu erheben und über die hinterhältig knarrende Diele hinauszukommen.

Er schob seinen Körper in verbissener Vorsichtigkeit Millimeter um Millimeter an den Rand des Bettes, hob die Decke geräuschlos an, glitt hinaus, verhielt kauernd. Ihr Atem ging gleichmäßig. Er erhob sich, blickte hinaus, vergeblich die Horizontlinie suchend. Die Linden hockten wie zur Erde gesunkene Wolken drohend um den Hof. Dahinter schwamm ein verschobenes, matt schimmerndes Rechteck in der zähen Tusche dieser Nacht, das, je schärfer sich sein Blick darauf richtete, desto glitschiger davonglitt - ein Dach, eines der Dächer, die eines dieser Häuser vor der Kälte und der Schwärze dieser Nächte schützten. Mit einem Mal spürte er eine lähmende Mattigkeit in seinen Gliedern, es war ihm, als lasteten auf einmal alle diese ungezählten durchwachten Nächte auf ihm und er stände wie betäubt unter dem dumpfen Himmel, aus dem es nicht regnen wollte. Er schlich den Zickzackweg hinaus, auf dem die Diele am verschwiegensten war.

Die Schlüssel klirrten gedämpft aneinander, als er im Vorsaal die Hose anzog. Die Sachen mussten hier liegen, im Kalten, in der Stube störten sie ihren Schönheitssinn. Der Geruch von Kreide, vom Rauch fremder Zigaretten, von Lumpen, Knochen, Altpapier stieg aus der Hose auf, aus ihren Aufschlägen krümelten Straßenkot, Schmielgraspollen, eine Fichtennadel, halb noch grün, halb schon braun. Erst jetzt, da der Stoff seine Beine berührte, begann er zu frösteln, so lange hatte ihn eine Haut von Bettwärme umhüllt. Er nahm das Schlüsselbund heraus, ließ jeden Schlüssel einzeln durch seine Hand gleiten, besann sich, wickelte das Bund schnell in ein Taschentuch, steckte es ein. Unter dem Schrank holte er Stricke hervor. Am Braunhemd, an der schwarzsamtenen Pimpfenhose, unter dem licht gerahmten Führerbild und dem mit den Fachwerkhäusern und den samtenen Linden vorbei. Am Regal stockte er plötzlich, zog den Vorhang beiseite, suchte die Spalten zwischen den Bücherreihen ab. Seine Hand verhielt zögernd bei diesem, bei jenem Band, endlich zog sie das schmale Kästchen hervor: ein lachender, ein weinender König, ein dräuender Turm, ein zum Sprung ansetzendes Roß - Intarsienarbeit, wie neu, kaum gebraucht, zu wenig gebraucht. Zuerst behutsam, dann ruckartig die Klinke der Kammertür niedergedrückt, langsam geöffnet. Die Stricke griffbereit über der Schulter und in der linken Hand. Lauschen, an der Wand entlang tasten, da der Bettpfosten, die Decke, jetzt der Atem, warm und gleichmäßig, auf seinem Handrücken. Er verharrte, über den Schlafenden gebeugt, erschauerte unter der kaum spürbaren Luftströmung, von seiner vorgestreckten Hand kroch ein lähmendes Frösteln in sein Innerstes. Er musste plötzlich an jenen balladesken Ritt eines Vaters mit seinem Knaben im Arm denken, einen Ritt, der tödlich ausging für den Knaben. Er richtete sich auf, blickte zum Fenster, sah, als sei die Verdunklung durchsichtig, auf den schwarzen Hof hinunter, wie er oft da hinuntergeblickt, wenn der Junge unten „Dienst“ hatte, seine Augen fanatisch auf diesen pubertierenden Werwolf gerichtet waren, dessen gellende Stimme die Erlkönigweisen dieser Zeit intonierte: „... gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir ...“ - Erlkönig hatte die Rolle des Vaters an sich gerissen, den Vater in die Rolle des Erlkönigs gedrängt in der arischen Umdichtung dieser deutschen Ballade. Der Knabe würde dem Erlkönig-Vater nicht folgen, Erlkönig musste ihn holen. Wieder zum Vater werden, draußen unter den Erlen, den Fichten. Ihm ein Leids tun. Um ihn vor Leid zu bewahren. Um ihn davor zu bewahren, andern ein Leid zu tun. Dieser Knabe hier war ein deutscher Knabe dieser Zeit, und deutsche Knaben dieser Zeit erschraken nicht zu Tode, sie wurden anders zu Tode gebracht. Er hob die Bettdecke an, tastete nach den Händen des Jungen, fand sie, eingeklemmt zwischen den Oberschenkeln. Ein kleiner Strick um die Handgelenke, einer für die Füße. Die Decke vollends herunter.

Er hatte sich hier hereingeschlichen, gestern noch, die letzten Tage, wenn der Junge „Dienst“ hatte, ein Vater in die Bibliothek des Sohnes, und nachgeschlagen in Rolf Torring, Tom Shark, Bill Jenkins, in der Erlebnisbücherei ... in der Kriegsbücherei für die Deutsche Jugend, aber keine Anleitung zum Fesseln von Menschen, Jungen, Söhnen, gefunden, er hatte keinen glücklichen Griff gezeigt beim Durchforschen dieser Literatur, er, der im „Faust“, im „Tell“, im „Erlkönig“ sofort die Stellen fand, die ihm halfen, sich zu entfesseln. Ebenso erfolglos war es gewesen, sich des Auftritts eines Fesselungs- und Entfesselungskünstlers in einem drittklassigen Wanderzirkus zu entsinnen, den er vor Jahren mit dem Jungen besucht hatte; denn er hatte nicht auf die Kniffe und Erklärungen des Artisten, sondern darauf geachtet, welche Wirkung sie hervorriefen. Da war ihm als letztes sein eigener Körper geblieben, diese seinem Wesen wohl fremdeste Kunst zu erlernen.

Er begann mit einer nur Stunden alten Erfahrung, das lange Stück Leine von unten nach oben um den Leib des Jungen zu winden, zu verschlingen, zu verknoten. So groß war er ihm noch nie vorgekommen und so hilflos eine Ewigkeit nicht. Deutsche Jungen sollten sein wie junge Raubtiere. Diese warme, weiche Wange, einst so oft gestreichelt mit dieser fesselnden Hand. Ein prächtiger Junge. Begabt. Zu begabt. Für alles begabt. Auch dafür, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl zu werden.

Ein lauter, tiefer Atemstoß, Strecken, Dehnen, Drehen, Stöhnen. Das Taschentuch in den Mund. Schnaufen, Aufbäumen. Licht. Im Augenblick des Hellwerdens durchzuckte ihn grell sinnlose Angst: das Fenster! Wenn es nicht verdunkelt war, wenn der Junge das Rollo hoch gelassen hatte! Erst als das Stechen im Herzen nachließ, fiel ihm ein, dass er vorhin durch die Verdunklung auf den Hof gestarrt hatte. Wie sollte er durch diesen Wald von Schwierigkeiten, durch dieses Dickicht von Kleinigkeiten kommen, wenn er nicht imstande war, zur rechten Zeit an die einfachsten Vorsichtsmaßregeln zu denken, an Selbstverständlichkeiten, die jedem Pimpf geläufig waren. Hatte er, dessen Sinne sich jahrelang auf die unverbindliche Harmonie und Schönheit der Landschaft und der Kunst ausgerichtet hatten, dessen Denken auf weltumspannende, Äonen durchmessende Zusammenhänge ausgewichen war, er, der selbst in solcher Lage über Vergleiche mit klassischen Balladen nachgrübeln musste - hatte er, mit dieser Bildung belastet, das Recht zu solcher Tat, die die scharfen Sinne eines wilden Tieres, die Gerissenheit eines Wildschützen, den Mut eines Fanatikers verlangte?

Hier stand er, Abraham, der von Gott Versuchte: „... Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija, und opfere ihn daselbst zum Brandopfer ... Und als sie kamen an die Stätte, die ihm Gott sagte, baute Abraham daselbst einen Altar und legte das Holz drauf, und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz ...“ Doch auch das war kein Beispiel. Es erschien kein Engel Gottes, er sah keinen Widder hinter sich im Gesträuch, den er hätte für seinen Sohn hinschlachten können. Auch das war kein Beispiel. Er war nicht Abraham und der Gefesselte nicht Isaak: Der Gefesselte wollte geopfert werden, musste gebunden, um nicht geopfert zu werden. Und Gott war nicht Gott, es gab keinen Gott in der arischen Umdichtung dieser biblischen Legende. Abraham glaubte an seinen Gott, glaubte an die Notwendigkeit des Opfers mehr als an die Notwendigkeit seines Sohnes, er hatte die Kraft, er hatte die Schwäche zu glauben, erhabene Erzvatergestalt ohne Anfechtung und Bedürfnis zur Meditation, einig mit Gott und Brauch seiner Zeit. Auf einen Schlag drang ihm das Beispiellose seines Tuns mit einer Wucht ins Bewusstsein, die ihn daran zweifeln ließ, er selbst zu sein.

Er schloss seine Augen vor den verwirrten Blicken dieses Jungen, der ihm mit einem Male fremder war als alle Jungen, die er sonst kannte, eine riesige Leere klaffte in ihm auf, er wandte sich hilfeflehend um nach jenen Speichern, aus denen ihm von jeher Rat und Trost gekommen war, er blickte die endlosen Hallen der Überlieferung hinab - doch sie gähnten ihn an, marmorne Abgründe, Grüfte, von kalt schillernden Marmorgötzen bevölkert, unfähig, ihm Hilfe, ihm Beispiel zu geben - ein Spiegelbild der eigenen Leere, der Ohnmacht, hinter die Wände zu schauen. Doch in der Erkenntnis der Ohnmacht glomm wieder die Hoffnung auf, es gäbe Hilfe und Beispiel für ihn jenseits der marmornen Wände, die ihn wie ein Sarg umgaben, und wenn nicht, dann müsse er selbst sich Hilfe und Beispiel schaffen, und beispiellose Zeiten erlaubten, verlangten beispielloses Tun.

In diesen Augenblicken, da er über den gefesselten Jungen gebeugt stand, vollzog sich in ihm, zusammengerafft, so, wie es von letzten Augenblicken Sterbender gesagt wird, noch einmal, was in den letzten Tagen, Wochen in ihm vorgegangen war. Er hob den Blick: Zeichnungen, Malereien über dem Brett: Panzer mit überdimensionalen Balkenkreuzen, bolschewistische Häuser und Bäume zermalmend, fliehende Feinde, Erdfontänen, Geschützrauch, stürmende Soldaten, wütende Stukas, geschützstarrende Kriegsschiffe im Einsatz ... Gewissenhaft aufgeklebte, geschickt kolorierte Zigarettenbilder, Fotos von Ritterkreuzträgern. Sein lockerer, großzügiger, eigenwilliger, durch die Dinge stoßender, zu höchsten Hoffnungen berechtigender - missbrauchter Strich. Vor Jahren, ihm schien vor Jahrzehnten, hingen hier hochtragende Ebereschen, schieferbeschlagene Fachwerkhäuser, Blumen, pflügende Bauern, Wanderer vor grünen Wäldern und blauen Bergen, noch früher das Knusperhäuschen, das Rumpelstilzchen, die Bremer Stadtmusikanten, Tischlein, deck’ dich ...

Auf dem Nachttisch, ineinander gesteckt, Ein Leutnant und zwei Mann, Sieger auf verlorenem Posten, DasTal der grauen Wölfe, der Dreißigpfennigroman - Heft 210, daraus hervorstehend, als Lesezeichen getarnt, der Frontliebchenblick Lale Andersens, säuberlich aus dem „Völkischen Beobachter“ herausgeschnitten. Zucken, Wälzen in den Fesseln. Er band ihm die Arme auf den Rücken. „Hab keine Angst. Dir geschieht nichts. Was dir geschieht, geschieht, damit dir nichts geschieht.“ Den Mantel um, den Schlafsack darüber. Wie lange hatte er ihn nicht getragen! War der Junge schwer geworden! Und er schwach. Schwach vor Unabkömmlichkeit. An der Schlafzimmertür vorbei. War das seine Wohnung, die er verließ? Seine Frau, seine Möbel? Seine Bücher? Seine Bilder? Aufzeichnungen, versteckt, verschlossen, Aphorismen eines Spätentwicklers, eines unabkömmlichen illegalen Defätisten.

Durch das völlig dunkle Treppenhaus hinunter. Mit dieser Last auf den Schultern schien er den Sinn für die ihm seit fünfundzwanzig Jahren vertraute Örtlichkeit verloren zu haben. Er ließ ab und zu die Taschenlampe aufblinken, sah seinen Schatten, einen grotesk verzerrten Atlas oder Christophorus, über die erschrockenen Wände geistern. Ein ächzender, ein schwacher Atlas.

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das Messingschild auf: Richard Heschke - Rektor, fein ziselierte Frakturbuchstaben, von diesen Händen, die jetzt die Handgelenke des Jungen umkrampften, gefällig eingraviert - eine der ersten dieser immer häufiger und umfangreicher werdenden Gefälligkeiten, anfänglich erwünscht, dann erwartet, schließlich gefordert, endlich befohlen, eine dieser Gefälligkeiten, zu deren zuletzt befohlener es nicht kommen durfte, nicht kommen würde.

Seine Rechte presste unwillkürlich den Arm des Jungen noch fester zusammen.

Ein matt schimmerndes, längliches Viereck schwamm in der Finsternis vorüber, die Glastür des Rektorenzimmers. Sie war aufgegangen - wann war das? - Vor zwei Tagen -, die Goldzähne funkelten, der Kneifer flimmerte, die doppelläufige Jagdbüchse über dem Schreibtisch glänzte, die joviale Stimme: „Bitte, auf einen Moment, Kollege!“ - Etwas ganz Seltenes, dass der Rektor im Rektorenzimmer war anstatt im Gemeindeamt, beim Ortsgruppenleiter, in der Jugendherberge, wo ihn rundliche, freigebige Küchenfrauen empfingen. Da gab es wieder einen Auftrag, dessen Erledigung „seine“ Schule an der Spitze des Kreises halten, den Vorsprung vor den anderen ausbauen sollte. Es war ein solcher Auftrag, eine solche befohlene Gefälligkeit, erteilt unter dem Führerbild und der Doppelläufigen mit Zielfernrohr. Die Milchglastür war wieder auf-, wieder zugegangen hinter ihm, und drinnen tobte dieses goldzahnige, pangermanische Rumpelstilzchen, das zum ersten Mal beim Namen genannt worden war. Es stampfte wütend auf mit seinen verwachsenen Füßen, doch es riss sich noch nicht mitten entzwei, es hielt sein Zipfelchen Macht noch in seinen Spinnenfingern und rief um Hilfe, rief mächtigere Zauberer und Unholde dieses entsetzlich wahren Märchens herbei.

Unter dem riesigen Führerbild vorüber, von ihm, dem Vater, ausgesucht, eingekauft und unter ehrfürchtigen Schauern an würdigster Stelle befestigt - wann hatte es begonnen, wann hatte sich der König der Arier für ihn in einen Rattenfänger, ein Rumpelstilzchen verwandelt, wann in diesen Wochen?

Vorbei an den Klassenzimmertüren. Grell aufblitzend, Sprüche an der Wand: Führer befiel, wir folgen dir! - Deutsche Jungen sollen sein wie junge Raubtiere - flink wie Windhunde, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, von seiner, des Vaters Hand in edelster Antiqua geschrieben, von Kindern anderer Väter gehorsam interpretiert, in seinem Schönschreibunterricht von unschuldigen Kinderhänden in geduldige Hefte geschrieben, er übermüdet, zerfahren, zerschlagen von diesen Nächten - er lebte in der Nacht, um tags zu sterben -, hinterm Pult das Richtige für sich aufschreibend, für den Jungen, für später, in den höheren Klassen Schwatzen, Kichern, Gespött über ihn, der sie hätte das Richtige lehren können, der nur den einen Ausweg sah: den eigenen Unterricht zu sabotieren, den Geist, der hier nur zum Bösen gedeihen konnte, auf geduldigem, ungefährlichem Papier zu konservieren. Und zwei Treppen höher, hinter der Fassade der erwünschten, erlaubten Titel der ins Dritte Reich eingemeindeten Klassiker die Verbotenen, des Nachts gelesen und interpretiert, dazu genutzt, auch die Vornstehenden ungehorsam zu interpretieren, zuerst aus nachpubertärem Abenteurertum, aus knabenhaftem Trotz gegen das Verbot, ehemals angeschafft aus spießerhaftem Sammlertrieb, aus verschrobenem Interesse an allem Papierenen.

Da, diese Mauern, dieses Gebäude, durch das er mit seiner lebenden Bürde schlich, hatte er außen und innen mit selbst entworfenen und -gemalten Plakaten geschmückt: eine riesige deutsche Bauerngestalt vor einem burgartigen Gehöft - deutsches Blut - deutscher Boden - Erbhofbauer, schütze deine Heimat! Zwei blonde Recken, Schulter an Schulter, der eine die Hand am Pflug, der andere mit Lineal und Bleistift - Arbeiter der Stirn - Arbeiter der Faust - treu verbunden im deutschen Land! Das flammende Hakenkreuz, der Reichsadler, der stilisierte, zum Cäsarenhaupt veredelte Gefreitenschädel - Karl Eugen 1936. Er hatte gern gezeichnet, es war ihm leichtgefallen, und es war leicht gewesen, sich loben zu lassen, ein pflichtbewusster Deutscher zu sein, man brauchte nur ein bisschen mitzumachen und war schon ein gemachter Mann. Heschke, Stellvertretender Bürgermeister und Schulzellenobmann, wurde für die hervorragende Ausgestaltung des Schulhauses und den daraus resultierenden Wahlerfolg im Ort zum Rektor ernannt, er selbst zum Stellvertretenden Rektor - dem Pflichtgefühl schien Genüge getan, dem Bedürfnis nach Sicherheit und Erfolg im Beruf, mehr wollte er nicht, er hatte vertan, hatte noch andere Steckenpferde im Stall. So wurde man unabkömmlich, unabkömmlich für den Rektor, der auch unabkömmlich war: kreiserste Schule in der Wehrertüchtigung, im Flugmodellbau, in der Schneidigkeit der Appelle, im Sammeln von Tee, Eicheln, Kastanien, von Lumpen, Knochen, Altpapier. - Es fehlte nur noch der erste Platz im Sammeln von Zöglingen für die Hohe-Karls-Schule dieses Gefreiten, von jungen Raubtieren für den Werwolf.

Die Kellertür auf. Knarren trotz vorherigen Ölens. Angstvolles Warten. Sein schwerer Atem hallte durch den Flur, in dem seine Stimme ungezählte Male zum Appell erklungen war. Zum zweiten Mal in dieser Nacht dahinunter. Vor drei Stunden war Entwarnung gewesen. Lumpen und Knochengestank, aus dem man nicht mehr herausgekommen war. Lumpen und Knochen im Luftschutzkeller. Die Atmosphäre von Luftschutzkellern wurde nicht gewertet im Kampf um den totalen Sieg. Auch den Posten des Luftschutzwarts hatte er dem Rektor abnehmen müssen. Der nahm die Posten an, solange damit zu renommieren war, dann, wenn die Scherereien begannen, gab er sie dem Stellvertreter weiter.

Er stellte den Jungen an die Mauer, knipste die Taschenlampe an. Hasserfüllte Pimpfenaugen, der Blick eines jungen Raubtiers. Den eigenen Vater musste man erwürgen können, wenn es Führer, Volk und Vaterland forderten.

„Ich erklär’ dir alles, wenn wir Zeit haben.“

Unsinnige Worte, pervers gewordener Instinkt zu reden, verfluchte Seuche dieses Berufs, dieser Zeit. Wenn wir Zeit haben. Er, der Lehrer, der Erzieher, hatte keine Zeit gehabt, seinen eigenen Sohn zu belehren, zu erziehen.

„Bekommst du gut Luft?“

Ein deutscher Soldat zuckt mit keiner Wimper, und wenn er erstickt. Er hob ihn in den Handwagen, auf Decken und Kissen, die er vorher hinuntergetragen hatte, packte ihn sorgfältig ein, band ihn an, den Regenmantel darüber, lauschte noch einmal nach seinem Atem. Fort, zur Hintertür hinaus. Hier war seine Zuflucht bei Alarm gewesen, unter freiem Himmel, während sich die anderen drin im Altstoffgestank unter ihrer Angst zusammenduckten.

Der Wagen konnte keine fünf Schritte weit zu hören sein, frisch geölt, die Felgen mit Stoffstreifen umwickelt, so, wie er’s einst als Dreizehnjähriger in einem Abenteuerbuch gelesen hatte - der Wagen war besser präpariert als der, der ihn lenkte. Er hielt an, verärgert über das erste selbst verschuldete Hindernis auf dieser gefährlichen Fahrt, eine von diesen verfluchten Kleinigkeiten, die ihm noch zu schaffen machen würden, eine von diesen übersehenen Nichtigkeiten, die zu heimtückischen Fallen werden konnten. Er klopfte hastig seine Taschen ab, die Ursache für das gedämpfte Pochen suchend, das seinem angespannten Gehör verräterisch laut vorkam. Er musste lächeln, als er das Schachspiel herausgezogen hatte. Er öffnete das Kästchen, ließ die winzigen Figuren ins Taschentuch rinnen, darauf bedacht, dass keine verloren ging.

2. Kapitel

Es regnete und regnete noch immer nicht. Ein bis ins Mark hinein trockenes Frühjahr mit ungeformter, unfähiger Stirn: Bomben- und Kanonendonner vertrieben die Wolken irgendwo hinterm Horizont, kalt und nackt und grau wie eine sinnlos verschossene Bleikugel lag die Erde am Rande des Alls. Ein Frühjahr, wie geschaffen für Brand und Krieg. Für sinnlose Opfer. Für Spürhunde.

Wer war Spürhund, wer Wild, Mit-Wild hinter diesen verdunkelten Fenstern? Wer hätte ihm geholfen, dem Jungen und ihm? Von einigen wusste er, dass sie ihm nicht helfen würden. Von keinem wusste er, dass er ihm helfen würde. Die äußeren Verhältnisse kannte er von allen. Es stand kein Haus, in dem nicht wenigstens einer gefallen war, in diesem Dorf hinterm Wald, weitab vom Schuss. Bauern, Strumpfwirker, Waldarbeiter. Frauen, Kinder, Greise und ein paar Unabkömmliche lagen hinter diesen toten Fenstern. Pimpfe, Hitlerjungen, Volkssturmmänner, der Bürgermeister, der Ortsgruppenführer, der Ortsbauernführer, der Ortspolizist, Wulf, der Jungzugführer, der „Himmelhund“ - wie er einen pubertierenden Schreihals so hassen konnte, er, der Platon, Kant, Goethe gelesen hatte. Spürhunde. Und trauernde Frauen, Greise. Witwen, Mütter, Väter. Die ihn als Nazi kannten, als SA-Mann, Amtswalter, Schulungsleiter, Lehrer. Mütter von Söhnen, die er unterrichtet hatte. In Rechnen, Lesen, Schreiben. Hier war der alte Laal gestürzt, weil ihn Heschke gezwungen hatte, zum Gruß die Hand vom Fahrradlenker zu nehmen. Dort hatte Heinz Wächtler gewohnt, sein bester Schüler über Jahre, Medizinstudent, gefallen bei Smolensk im letzten Winter. Ein bleichender erzgebirgischer Herrenmenschenschädel in russischer Untermenschenerde. Ein Arzt, der fehlen würde, wenn die Zeit heran war, die Wunden des Krieges zu heilen. Er sah zu dem stumpf schimmernden Fenster hinauf, aus dem die Mutter des Gefallenen immer freundlich heruntergenickt hatte, wenn er vorübergekommen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie, seit sie jene Nachricht erhalten hatte, nicht mehr am Fenster zu sehen gewesen war.

Der Feldweg war erreicht. Er ließ die vorbereiteten Entgegnungen, zurechtgelegt für den Fall, dass er angehalten wurde, fallen wie einen unbrauchbar gewordenen Revolver. Es ging steil bergauf über steinigen Boden, er geriet außer Atem, in Schweiß. Ungewohnte Arbeit, ungewohnte Stunde. Er war daran gewöhnt, hinterm Pult zu hocken, mechanisch Aufgaben zu stellen, zu korrigieren, die angeordneten Lobesphrasen über Unseren Führer - Unsere Wehrmacht - Unser Reich vorzubeten, kein Ärgernis bei Heschke zu erregen - sich für die Nacht zu schonen. Um diese Zeit hatte er sich zwei, drei Stunden Schlaf gegönnt, der tief und traumlos war nach Lektüre, Feindsenderempfang, defätistischen Aufzeichnungen, nach Pflichterfüllung auch diesem blonden Brünhildleib gegenüber, der dahinten im Dunkel zurückblieb.

Je höher er kam, um so dichter wurde der Nebel. Verspäteter Märzennebel. Von den Sägezähnen der Fichten aus dem Himmel gerissene Wolken. Regenersatz. Das Steingeröll schepperte glitschig und dumpf unter seinen Filzsohlen. Es verriet ihn nicht. Er hielt inne, zwang sich dazu, langsam und tief durchzuatmen. Wann hatte er zum letzten Mal tief durchgeatmet? Die raue, freie Luft drang in ihn, berauschte ihn, ließ ihn einen Augenblick alle Gefahr vergessen - so wollte er fortan immer atmen, tief und frei, wenn auch unter Schmerzen. Wieder spürte er diese unberechenbar einsetzenden, nadelfeinen Stiche in der Herzgegend. Er verharrte, blickte zurück. Dort unten in diesem schwarzen Flecken auf schwarzem Grund hatte er über zwanzig Jahre verbracht. Verbracht ... Von hier oben war er hinuntergewandert, als er die freundlichen Fachwerkgiebel zum ersten Mal zwischen den Linden heraufblinken sah, ein Lehramtsanwärter, frisch vom Seminar, voller Hoffnung, voll von dem Drang, Menschen zu formen, ein künftiger Komenius, Pestalozzi, Diesterweg, voll von gutem Willen und ohnmächtigem Wissen - fertig zum Missbrauch, zum Missbrauchtwerden.

Ehe er die Landstraße überquerte, ließ er den Wagen stehen, schlich geduckt bis zum Graben vor und sicherte nach beiden Seiten. Er hatte hier draußen selbst schon Wache gehabt in den letzten Wochen. Der Volkssturm rüstete sich, das deutsche Land zu retten. Es war noch keine Woche her, als er hier oben, auf dieser Straße, neben diesem unheimlichen Zug hergegangen war: fahle, schwankende, zerschlissene Gestalten mit hohlen Augen und leeren Blicken, barfuß unter dem bleiernen Märzenhimmel, auf dem frostgebeulten Asphalt, Männer, Frauen, Kinder, Menschen - es war wahr, das Schreckliche, Unerhörte, heimlich Gehörte war wahr, kein von Untermenschen ausgehecktes Gerücht, keine bolschewistische Gräuelpropaganda. Mit dem achtundneunziger Karabiner über der Schulter und dem Befehl auf dem Gewissen, sofort zu schießen, wenn sich eine dieser Kreaturen auch nur einen Schritt von der Straße zu entfernen wage, schritt er wie ein Verurteilter nebenher, diese sich peinigend langsam dahinschleppende graue Wand schauerlichen Schweigens, das dumpf durch den ganzen Erdball dröhnende Geräusch der nackten Sohlen auf der hart gefrorenen Straße und das zitternde, röchelnde Hüsteln, das sich aus den Untiefen eines einzigen zermarterten Riesenleibes zu quälen schien, neben sich, hinter sich, vor sich, um sich. In sich. Es war ihm unbegreiflich, dass es nicht irr aufschrie aus den Hunderten grauer Lippen dieses sich in sinnloser Qual hinwindenden grauen Wurms. Er glaubte einer Sinnestäuschung zu erliegen, als er durch das Hüsteln und Stöhnen hindurch immer deutlicher ein feines melodisches Summen vernahm, das in den stumpfen Märzenhimmel perlte, lichte Töne, Motive aus einer Sinfonie, nein, eines Liedes, zarte, unglaublich liebliche Klänge, die Bilder der Kindheit, der Harmonie, der Schönheit in ihm hervorzauberten: glitzernde Bäche, sich durch grünende Wiesen schlängelnd, lachende Brautleute unter strahlendem, Lerchen tönendem Frühlingshimmel, bunte Kinderreigen vor blühenden Bäumen, äsende Rehe zwischen schlanken Fichten, fröhliche Wanderer vor blauen Bergen. Er versuchte sich des Titels, des Textes zu entsinnen, dachte an Mozart, Schubert - doch seine Erinnerung schien wie gelähmt, er musste diese Melodie als ausgelassener Knabe, als strebsamer Jüngling vernommen haben, er wusste nicht, wann zum letzten Mal ... Er hatte seinen Willen zusammengerafft und seine Augen zur Seite gewandt, und die graue Wand hatte sich aufgelöst in größere und kleinere, ältere und jüngere Gestalten, er suchte ihre zur Erde gerichteten Gesichter, suchte die Lippen, denen diese Melodie entquoll. Neben ihm schleppte sich ein gekrümmter Körper dahin, einen kleineren an der Hand führend. Nur einmal in dieser Ewigkeit begegnete dem seinen der Blick des größeren der beiden Wesen, deren Geschlecht und Alter ausgelöscht war durch die gemeinsame Not, ein grauer Blick aus einem grauen Gesicht, das nur noch dieser Blick war, dieser Blick ohne Absicht, aus Versehen, ohne ihn zu sehen, durch ihn, durch alles hindurchgehend in die Unfassbarkeit dieses Schicksals, das kein Schicksal war, keine Schickung, das von Menschen, von ihresgleichen geschickt war, von Menschen seiner Art, seiner Rasse.

Warum gehörte er zu dieser Rasse mit tadellosem Ahnenpass, auf den Namen des Jungen ausgestellt, einem Ahnenpass, mit dem er Kreisleiter, Gauleiter, Ritterkreuzträger werden konnte? Warum gehörte er zu dieser Rasse? Wer so über die Straßen der Herren ziehen musste, war jeder Herrenrasse überlegen, wer so sein Herrentum zeigen musste, war jedem Sklaven unterlegen. Mit diesem Blick hatte ihn Elend und Schuld der eigenen Rasse, des eigenen Schicksals blitzartig getroffen, es brach in ihm zusammen wie ein schon lange von innen her angefaulter Baum, und die Fäulnis war das Beste daran. Er hatte danach im dreckigen Schnee des Straßengrabens gelegen, lange, war spät durchfroren nach Hause gekommen. Was hieß nach Hause? Und darauf der Schulungsabend, den Stellvertretenden Kreisleiter zu Gast, Endlösung der Judenfrage, unvorbereitet, zu gut vorbereitet, mit lange geübter Schizophrenie gemeistert, noch einmal gemeistert. Indessen hatte der Junge „Dienst“ gehabt oder im Bett gelegen, Im Tal der grauen Wölfe, Ein Leutnant und zwei Mann gelesen. Was hätte dieser Junge, dieser Pimpf im Handwagen hinter ihm empfunden, hätte er diesen Zug gesehen? Er wusste es nicht. Er, der Vater, kannte ihn, den Sohn, nicht mehr. Wieder wie so häufig, seit er sie aus jenen grauen Lippen, die schon zu Staub zerfallen sein konnten oder zu Rauch verbrannt, gehört hatte, überraschte er sich dabei, dass er diese Akkorde vor sich hinsummte, und mit einem Male fiel ihm ein, es sei Schubert, seine Vertonung des „Erlkönig“: der immer schneller klopfende Hufschlag des Pferdes, das immer schneller pochende Herz des Knaben, das süße Locken des Erlkönigs.

Er eilte zum Wagen, zog ihn über die Straße. Die ersten Bäume des Hornwalds: Scherenschnittfichten auf nachtgrauem Grund. Nun hieß es die abgehenden Seitenwege zählen, oben, wo die Sägeblätter des Waldes mit ihren Wipfelzähnen einen grauen Steg aus der Finsternis schnitten. Sechsundzwanzig. Doch jetzt ging es fast flach hin, und der Boden wurde weicher, war mit Gras und Nadeln gepolstert. Der Wagen aber fing an zu winseln wie ein heimatloser Hund. Er wandte sich um. Ein Werwolfblick. Er verband die Augen des Jungen.

3. Kapitel

Durch die sibirische Taiga, endloses, verwildertes Land, links und rechts vorbeisausend, riesige Wälder, unbebaute Felder, ab und zu ein verkommenes Gehöft, eine dreckige Kuh, ein verwahrloster Mensch. Nacht. Das Hämmern der Schienenstöße, das Heulen des Fahrtwindes. Er zieht seine Muskeln zusammen, beugt, streckt abwechselnd die Beine, die Rechte kämpft sich Millimeter um Millimeter den Unterschenkel hinunter, unter das Hosenbein, bekommt den Dolch zu fassen, zieht ihn zwischen Schuh und Fuß heraus, durchschneidet die Fesseln, springt auf, lockert die verkrampften Muskeln, kniet nieder, hebt die Bodenbretter aus, eisige Zugluft sticht herein. - Verflucht, die Füße waren kalt, verdammtes Geschüttle, mit den Zähnen war nicht an den Strick ’ranzukommen, dieser verdammte Himmelhund hatte ihn im Schlaf überrumpelt, er hatte die Muskeln nicht anspannen, die Luft nicht anhalten können, nicht mal sein Fahrtenmesser hatte er bei sich, und der Marschkompass lag in der Kiste unterm Bett, und er lag zwar endlich mal nicht in den Federn um diese Zeit, zum ersten Mal, aber er war nicht abgehauen, verdammt: Schienenstöße, Transsib - das klägliche Gerumple eines Handwagens, dreizehn Jahre und in einem Handwagen gefahren werden, gezogen von einem klapprigen Stubenhocker, Kreideathleten, Einmaleins-Idioten. Sollte er sich kaputtziehen da vorn, er sammelte inzwischen Kräfte. Verflucht, im Schlafanzug, eingemummt wie ein Wickelkind, in dem Wagen, der vor einem halben Jahr noch ein Panzer gewesen war, verkleidet mit grün-braungelb gefleckten Pappen und einem Besenstiel als Geschützrohr, derselbe Wagen, verflucht, was hatte er für Zeit verloren mit solchen Mätzchen, die anderen waren alle zu feige zum Abhauen, auch Manfred, er wollte es ihnen zeigen, allen wollte er’s zeigen. Ihm wollte er’s zeigen, verdammt, die Fesseln saßen, das hätte er Ihm nicht zugetraut mit seinen Bleistiftfingern, was war eigentlich in Ihn gefahren. - Er musste verrückt geworden sein, das war nicht normal, das tat kein normaler Deutscher, und Er war doch ein Deutscher, was hatte Er mit ihm vor, aber Er hatte doch gestern noch unterrichtet, und es war Ihm nichts anzumerken gewesen - nein, Er war ein Verräter, ein ganz verflucht normaler Verräter, vielleicht hatte Er sogar eine Geheimausbildung bekommen, vielleicht steckte Er sogar mit diesen Saboteuren unter einer Decke, die die Gestapo im Wolfsteiner Werk ausgehoben hatte, der Krieg wär’ schon längst gewonnen, wenn es nicht solche Bolschewiken gäbe, und wenn er an Sein verfluchtes Gerede gegen den Krieg dachte und gegen die Adolf-Hitler-Schule ...

Es hieß aufpassen, auf alles aufpassen, ihm durfte nichts entgehen. Jetzt rollte es wie auf Samt. Also auf Moos- oder Nadelpolster, nicht mehr auf dem Weg. Von Zeit zu Zeit knackte ein Ast, es hörte sich an wie ein Pistolenschuss. Ab und zu ein gelinder Ruck von einer Wurzel, wie ein Schienenstoß. Verfluchte Fantasiererei mit der Transsib. Vielleicht waren ihm dadurch schon wichtige Beobachtungen entgangen.

Die Nacht musste doch bald herum sein. Die Mutter! Sie würde Sein leeres Bett sehen, in seine leere Kammer, zum Rektor hinunterlaufen. Suchaktion. Jungzugführer Wulf, das Jungvolk, die Hitlerjugend, der Volkssturm, Polizei, SA, SS, Gestapo. Soviel war noch nie los gewesen in diesem Nest. Doch nein, er würde sich nicht befreien lassen! Ein deutscher Soldat wusste sich selbst zu helfen in jeder Lage. Nein, mit Dem da vorn würde er selbst fertig werden. Er würde gar nicht erst nach Hause zurückkehren. Erst als Sieger. Und wenn die Schande von Dem da vorn in Vergessenheit geraten wäre ... Er würde sich gleich nach Meißen durchschlagen. Er hatte sich’s schon ein paar Mal auf der Karte genau angesehen: Heinersthal, Pockau, Brandau, Erbisdorf, Freiberg. Quartier in Feldscheunen, im Wald. Marschproviant unterwegs aus abgelegenen Bauerngütern. Mit Weibern, Kindern, alten Männern würde er fertig werden. Er würde mit allen fertig werden! Wäre er doch gestern noch abgehauen! Er könnte jetzt schon in Brandau, in Freiberg sein. Unterwegs ein Rad konfiszieren und fort. Er hätte sich’s doch denken können! Der da vorn war gegen alles, was Geschicklichkeit, Einsatzbereitschaft, Tapferkeit erforderte. Weil Er selbst ein Feigling war. Weil Er auch aus ihm einen Feigling machen wollte.

Der wollte einfach verduften. Weil mal ein paar Russen, ein paar Amis durchgebrochen waren. Die aber hatten nur durchbrechen können, weil es solche Feiglinge wie Ihn gab. Und ihn wollte Er mit verduften lassen. Er hatte es verstanden, sich zu drücken. Stand in miefigen Klassenzimmern herum, nebelte sich in Kreidestaub ein, wog Lumpen, Knochen, Altpapier ab, geschniegelt und gebügelt, verrichtete von Früh bis Abend weiter nichts als Weiberarbeit, während andere Väter durch schlammige Schützengräben, rostige Stacheldrahtverhaue, feindliche Unterstände nach vorn krochen, Heldentaten vollbrachten und rassige Feldpostbriefe nach Hause schrieben, und er musste zuhören, wenn die anderen Pimpfe am Lagerfeuer reihum erzählten und erzählten. Dagegen sein verrücktes Gerede gegen den Krieg: Im Krieg sähen Bäume nicht mehr aus wie Bäume, sondern wie Totenhände, die in den Himmel greifen, und Häuser seien keine Häuser mehr, sondern Gespenster von Häusern, und die Bilder und die Bücher würden zu Rauch und die Menschen zu wilden Tieren, zu Mordmaschinen, und es ginge danach, wer sich besser an einen anderen heranschleichen, wer andern besser auflauern, wer andre besser umbringen könne, das aber, was den Menschen eigentlich zum Menschen mache, ginge unter im Rasseln der Panzer, im Dröhnen der Geschütze, im Explodieren der Bomben, das, was der Krieg verlange, bringe jeder, bringe der Dümmste und Schlimmste am besten, und deshalb dürfe er es nicht bringen. Er hatte ihm Bilder ausländischer Maler gezeigt, ihm aus Büchern ausländischer Dichter vorgelesen und ihn gefragt, ob das Untermenschen zustande bringen könnten. Und da hatte er mal angebissen: Als Jungzugführer Wulf behauptet hatte, die Russen seien alle Analphabeten, meldete er sich und warf ein, es gäbe doch große russische Dichter, die müssten aber das Alphabet gekannt haben, sonst gäbe es keine Bücher von ihnen. - Woher er das wisse. - Im Schrank seines Vaters stünden die Bücher. - Dann waren das früher nach Asien eingewanderte Arier. Von Bolschewisten ausgenutzte, unterdrückte Arier. Alles andere war Feindpropaganda. - Darauf wurde Er zu Heschke und zum Ortsgruppenleiter bestellt, und Er war ruhig. Bis vorige Woche. Bis zu dem Abend, nachdem ihn der Rektor zu sich hineingewinkt hatte. Zuerst war ihm der Schreck in die Glieder gefahren: Hatte Heschke gemerkt, dass in der Leinwandhülle hinter dem Lattenverschlag auf dem Oberboden statt des Luftgewehrs eine einfache Holzlatte steckte? Das Gewehr hing in der Krone einer hohen Eiche im Lehnertsteinbruch, er und Manfred hatten sich gut darauf eingeschossen, es kam selten vor, dass sie zweimal auf einen Papprussen anlegen mussten. Aber es war nicht das Gewehr. Ein Rektor hatte es nicht mehr nötig, sich um Luftgewehre zu kümmern, der hatte seine doppelläufige Jagdbüchse mit Zielfernrohr. „Du bist für diese Schule, die den Namen des Führers trägt, wie geschaffen, ein richtiger Germane, groß, kräftig, blond, blauäugig, tapfer, begabt. Ich habe dich beim Jungvolkdienst beobachtet..Und von früh bis abends Geländespiele, Schießübungen, Zeltlager und wie ein Krieg gewonnen wird. Offizier, Kreisleiter, Gauleiter. Ritterkreuzträger! Wenn man schon einen Vater hatte, von dem es keine Heldentaten zu erzählen gab, musste man eben selbst welche vollbringen. Anstatt weiter Latein und Mathe zu pauken, Vokabeln und Formeln, die jeder lahme Stubenhocker begriff. In einer Zeit, da es auf ganz andere Dinge ankam. Mutter hatte ihn sofort verstanden, sie wollte ihn etwas werden lassen, sagte sofort zu. Doch dann kam Er: „Du besuchst doch schon die Oberschule, die schließt du ab, studierst, du kannst ein großer Maler werden, wie’s vielleicht nur einen in dieser Zeit geben kann.“ - „Ich will kein solcher Pinselheini werden wie du!“ - „Herumballern kann jeder, der größte Idiot.“ - „Aber du nicht!“ - „Überleg dir doch, Kreisleiter, Gauleiter kann er werden. Soll er vielleicht auch ewig ein kleiner Angestellter bleiben wie du, der’s nicht mal zum Rektor gebracht hat, weil er eine Stelle nach der andern ausschlägt? Willst du’s nun auch noch mit dem Jungen so machen? Sollen wir ewig unten herumgrasen, wo unsre Zeit endlich angebrochen ist? Nein, dazu kommt es nicht!“ - Eine Frau musste Ihm helfen, bei ihnen war alles umgekehrt, er hatte einen Mann zur Mutter und eine Memme zum Vater, und er war aufgesprungen und hatte Ihm gesagt, was er über Ihn dachte.

Immer noch Schienenstöße von Wurzeln, Handwagenschienenstöße. Verflucht, der Krieg wurde womöglich gewonnen, ohne dass er einen einzigen richtigen Panzer, eine einzige Feindleiche zu sehen gekriegt hatte. Sie wurden immer nur mit verregneten Wochenschau-Bildern abgespeist. Verflucht! Ihn hier hinauszuschleppen! Das war Verschleppung! Freiheitsberaubung! Sabotage! Wehrkraftzersetzung! Wollte Er ihn etwa hier draußen lassen und jede Nacht herauskommen und ihn füttern und tagsüber weiter Seine Wandtafeln vollschmieren und Seine Knochen schonen und so tun, als ob er selbst irgendwohin abgehauen sei? Sodass er auch noch in den Ruf eines Deserteurs kam! Und Er würde weiter jeden Morgen Sein Ei millimeterweise betätscheln, zuerst das Dotter herausschlürfen, bis keine Spur mehr davon zu sehen war, und dann das Eiweiß herausschälen und dann in Seinem Kaffee rühren, obwohl es gar nichts zu rühren gab, denn Er trank ihn ohne Milch und ohne Zucker, der verwöhnte Knochensammler trank keine Milch und aß keinen Zucker. Er ließ seinen Körper so schwer, wie er konnte, gegen den Boden des Wagens lasten, er musste versuchen, mit Händen oder Ellbogen das Deckenzeug an die Felgen zu drücken; der Kaffeemumm und die Staublunge dieses unabkömmlichen Lumpenhändlers würden nicht lange mitmachen in der scharfen Waldluft hier draußen, diesem unabkömmlichen Kaffeesäufer sollte es nicht gelingen, auch noch ihn unabkömmlich zu machen.

Vielleicht auch wollte Er sich hier irgendwo bei anderen Leuten, bei ebensolchen Unabkömmlichen verstecken, in einem Dorf auf der anderen Seite des Waldes, und ihn weiter Vokabeln und Formeln und Zeichenregeln eintrichtern, so, wie der Tyrann Karl Eugen von Württemberg Schiller gezwungen hatte, auf der Hohen-Karls-Schule für ihn zu pauken. Doch Schiller war geflohen bei Nacht und Nebel, mit Pistole und falschem Pass, aus den Mauern Stuttgarts hinaus in die Freiheit - und auch er würde fliehen, bei helllichtem Tag, nach dem Stand der Sonne, aus dem Hohen Hornwald, ohne Pistole, aber er würde bald eine haben ...

4. Kapitel

Der Wagen hielt. Er zog ihm das Taschentuch aus dem Mund. „Du frierst doch nicht?“

Er hörte, wie Er sich den Schweiß von der Stirn wischte, wie Er schniefte und schnaubte. Er biss sich auf die Unterlippe, kniff die eisigen Zehen zusammen. Ein durchwärmter Feigling, der brav alte Linden und Fachwerkhäuser malte in Seiner Hohen-Karls-Schule, das konnte Ihm so passen ... Er griff unter die Decken, suchte seine Füße, hielt sie einen Augenblick fest, rieb und rumpelte sie, kramte in dem Sack, der auf seinen Beinen lag, zog ihm noch ein Paar Socken über, rieb und rumpelte, prüfte nach, ob sie warm waren. Ein Vogel gab Laut. Ein anderer antwortete. Was waren es für welche? Früher hatte er Ihn gefragt. Früher. Er kannte jeden Vogel hier draußen. Dann hatte er nach und nach aufgehört, Ihn zu fragen. Er hatte immer weniger seine Fragen beantworten können. Er wusste nicht einmal, was der Unterschied zwischen einer Messerschmitt und einer Junkers war. Und wollte ihm etwas über den Krieg erzählen. Und so hatte er nur noch Wulf oder Heschke gefragt. Und nun schleppte Er ihn hier hinaus, um ihn genauso blöd zu machen, wie Er selbst war. Es raschelte vor ihnen, dürre Äste knackten, dumpf hallende Schritte, pfeifendes Flügelschlagen über ihnen. Er hatte sofort angehalten, sich über ihn gebeugt, wollte ihm das Taschentuch in den Mund pressen. Doch das passierte ihm kein zweites Mal. Wenn Der wüsste. Ein Taschentuch hatte Der am wenigsten nötig.

Er wartete, bis alles wieder still war wie vorher. Es waren gewiss nur aufgestörte Rehe oder Hirsche gewesen. Ein manches Mal hatten er und Manfred sich vorgenommen, sich vor Morgengrauen davonzumachen in den Hornwald und Hirsche anzupirschen, im Herbst, wenn sie miteinander kämpften. Auch daraus war nichts geworden, verflucht.

Nun hatte er’s endgültig verpasst, die Länge des Wegs abzuschätzen. Auf die Sonne allein konnte er sich nicht verlassen. Er hatte über einen Gefangenen gelesen, den sie auch mit verbundenen Augen in einem Auto verschleppen wollten, er aber kannte alle Autotypen, gab auf das Motorengeräusch acht, auf die Gänge, die der Fahrer einschaltete, und schätzte danach die Entfernung. So fand er den Rückweg aus dem Verbrechernest.

Auch er würde ihn finden. Auch ohne Kompass und Messtischblatt. Ohne Fahrtenmesser und Koppel. Im Schlafanzug. Er würde sich, wenn er sich zum Waldrand durchgeschlagen hätte, bis zum Dunkelwerden verstecken und in einem Nachbarort passende Kleidung rauben. Auf der Adolf-Hitler-Schule dann bekäme er eine funkelnagelneue Uniform. Er würde ab und zu an Manfred schreiben. Und an Isolde. Und dann käme er auf Urlaub in Uniform, Jungzugführer Wulf würde ihn einladen, und er würde am Lagerfeuer erzählen und erzählen und sich abends mit Isolde treffen.

Immer mehr Vögel zwitscherten seltsam hell, ohne Echo, wie in einer Stube. Es war noch kälter geworden, doch er hatte warme Füße. Bis herauf zur Nase war es wohlig warm, der Wagen hatte seine Augen zugeschüttelt unter der Binde, es roch nach Harz und Fichtengrün, das Knistern dürrer Äste, das Rascheln alten Laubes drang wie durch einen dichten Vorhang zu ihm heran. Er hatte gar nicht gemerkt, dass der Wagen angehalten wurde.

Er nahm ihm die Binde ab. Dunkelgraue Fichten, auf hellgraues Papier geklebt, vier kulissenartig hintereinandergestellte Wipfelreihen, mannshoch, die hinterste sich im Nebel auflösend. Ein Stück Schonung, wie es unzählige gab im Hornwald. Er musste an eine Papierschneidearbeit denken, die Er mit ihm angefertigt hatte vor wer weiß wie langer Zeit: Einfärben der Papiere, Mischen verschiedener Graustufen, Ausschneiden der nach einer Naturskizze aufgezeichneten und vereinfachten Fichtenreihen, Aufkleben: die blasseste zuerst, die dunkelste zuoberst - verfluchte Bastelei, damit hatte Er ihn auch nur abgehalten, nur verweichlichen wollen. Er sah sich um: ringsumher dasselbe, wie ein Fries in einem engen, kreisrunden Raum. In kurzen, gleichmäßigen Zeitabständen verschwamm dieses verschwommene Bild noch mehr, verschwand, tauchte wieder auf. Endlich hatte er herausgefunden, dass sein eigener Atem die Ursache war. Er fröstelte, hatte einen faden Geschmack im Mund wie immer, wenn er übernächtig war, im Magen war es flau und leer, die Fesseln schnitten ins Fleisch. Verflucht, er könnte noch im Bett liegen. Doch sogleich schämte er sich dieses feigen Gedankens. Ja, eigentlich konnte es ihm nur recht sein, dass Er ihn hier hinausgezogen hatte. Nun konnte er endlich zeigen, was in ihm steckte.

„So zeitig waren wir noch nie hier draußen“, sagte Er, und es sah aus, als rauche Er. Aber Er hatte noch nie geraucht, in Seinem ganzen Leben noch keine einzige Zigarette. Hätte Er geraucht, wäre Er vielleicht gar nicht bis hier hinaus gekommen. - Er trampelte das hohe Schmielgras nieder, an dem matt glitzernd der Nebel perlte, löste den Strick von seinen Fußgelenken, zog ihm seine festesten Schuhe an, hob ihn stöhnend heraus, stellte ihn auf das niedergetretene Gras, hängte ihm eine Decke um, heftete sie mit Sicherheitsnadeln fest, stopfte das andere Zeug in den Sack, schulterte ihn.

„Komm, mir nach. Pass auf, dass du nicht fällst!“

Das sagte Der zu ihm. Pass auf, dass du nicht fällst! So zeitig waren wir noch nie hier draußen.

Er bog mit Seinen Schienenbeinen den ersten Ast beiseite, stieg in das kalte, nasse, stachlige Grau, sofort selbst ein grauer Schatten, mit dem Sack über der Schulter wie ein Ruprecht. So war Er vor vier, fünf Jahren noch zu ihm in die Stube gekommen, fachmännisch gebückt, den Sack auf die gleiche Art geschultert, und er hatte an den Ruprecht und an den Sack und an die Heinzelmännchen, die tief hinten im Hornwald diese herrlichen Sachen gebastelt hatten, geglaubt. „Von drauß’, vom Hornwald komm’ ich her ...“, vom Hornwald, und ihm war nie aufgefallen, dass Er nie dabei war, wenn der Ruprecht kam. Schon damals Betrug, Hinterlist, Falschheit, von Anfang an. Er stocherte mit angestrengten Blicken im Nebel, trat lauernd einen Schritt zurück, einen zweiten, einen dritten. Da wurde der Ruprecht dunkler, größer, ging um ihn herum, versuchte ihn vor sich herzuschieben. Er ließ sich nach vorn fallen wie ein Klotz Holz. Der Ruprecht warf den Sack ab, fesselte ihm die Beine, hob ihn ächzend auf, kämpfte sich in die Schonung, Weihnachtsmann mit einem Jungen als Sack. Der sollte japsen. Zermürbungstaktik. Kein Atemzug, kein Schritt für den Feind. Totaler Krieg. Weit drinnen stellte Er ihn ab, raschelte zurück. Achtundneunzig Schritte hatte er gezählt, die letzten waren sehr kurz gewesen, Er war auch nicht immer geradeaus gegangen, hatte die Füße seitlich gesetzt. Das alles bedacht, betrug ein Schritt kaum mehr als einen Viertelmeter, die Strecke also etwa fünfundzwanzig Meter.

Er sah sich um. War der Nebel so dicht geworden, dass nur noch zwei Fichtenreihen zu erkennen waren? Nein, hier waren welche umgesägt worden. Ganz frische, wie Brenngläser das spärliche Licht sammelnde, wie Scheinwerfer blendende Schnitte. Er dehnte und spannte sich in den Fesseln, versuchte mit den Zähnen heranzukommen. Nicht einmal in die Knie konnte er gehen. Die Füße konnte er nur um Millimeter verrücken. Aus der Nebelwand dieses Vogelgezwitscher. Zwitschernder Nebel. Es klang sonderbar nah und fern zugleich wie in einer fremden Stube. Wenn er sich zehn Meter entfernen könnte, wäre er kaum zu finden. Wie hatte Der sich nur hier zurechtfinden können. Im Hornwald hatte sich schon ein mancher Pilzsucher, ja, ein mancher Waldarbeiter am helllichten Tag verlaufen. Andere fesseln und verstecken - das konnte Er.

Als Er zurückkam, keuchend, den Handwagen auf dem weit vorgekrümmten Rücken, hatte er sich höchstens einen halben Meter fortbewegt.

5. Kapitel

Im unendlichen Weiß des Nebels schwamm jetzt wie ein winziges Dotter die Sonne. Nun waren schon fünf, sechs Baumreihen zu erkennen, die nächsten ergrünten langsam wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto, das vorsichtig koloriert wurde. Die Nadeln stachen den Nebel auf, und er gerann an ihnen zu milchigen Perlen.

Er kramte unter den Zweigen, als seien da Fächer wie in einem Schrank, holte einen Spirituskocher, einen Kanister, einen Topf, zwei Teller, ein Päckchen Suppe hervor, verschwand mit dem Topf, kam nach etwa zehn Minuten mit dem Topf voll Wasser zurück, setzte ihn auf den Kocher. Das Anreißen des Streichholzes klang wie Stube, anheimelnd, gemütlich, warm. Brot, Butter, Marmelade, sogar Wurst.

Hochwald war unhörbar aus dem Nebel herausgetreten: ringsum eine Fichte wie die andere, kein Anhaltspunkt, ein hölzerner Ring unerbittlicher Wachposten. Und sie mitten in der Schonung und hier sechs frisch abgesägte Weihnachtsbäumchen. Wenn er einen Ast, einen Halm abgerissen hatte, war das Predigen losgegangen. Baumfrevel. Er sah, wie Er jetzt auf die Stümpfe blickte. Sogleich wühlte Er Erde auf, unter der Schicht brauner Nadeln hervor und verschmierte das leuchtende Holz.

„Wir sind irgendwo im Hornwald“, sagte Er, ohne von dem Kocher aufzusehen, „es hat keinen Zweck auszureißen. Ringsum ist Sumpf.“ Im Hornwald Sumpf. Das war Abschreckung, Gräuelpropaganda. Er nahm ihm die Fesseln ab, sein zerschnittenes Gebirgsjägerseil, wie er jetzt erkannte. Drückte ihm den Spaten in die Hand. „Hier herum gräbst du, da, wo ich den Boden anritze. Damit du erst mal richtig warm wirst.“