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ebooknews press
Verlag Dr. Ansgar Warner
Rungestr. 20 (V)
10179 Berlin
ISBN: 9783944953373
Coverbild:
Nordsprotte/Flickr
(cc-by-2.0)
Und da ist nichts zu verstecken
Und nichts zu verstehen
Mein Herz schlägt weiter
Und dein Herz bleibt stehen
Und da ist nichts, woran wir uns beide
festhalten können
Tom Liwa
Bella Italia
Im Bella Italia gab es keinen einzigen Italiener. Dmitri, der sich aus geschäftlichen Gründen Luigi nannte, sortierte gedankenverloren die kleinen Gläser, in denen die Amarettos zur Rechnung serviert wurden. Gelegentlich wippte sein dunkler Lockenkopf im Rhythmus einer Lester-Young-Nummer, die auf Jazz Radio lief. Später, wenn das Restaurant sich füllte, würde er entweder die Pavarotti- oder die Ramazzotti-Kassette einlegen. Er hasste sie beide, ebenso wie die meisten seiner Gäste. Aber zu einem echten italienischen „Ristorante“ gehörte nun mal original italienische Unterhaltungsmusik.
Woher Dmitri kam, verriet er niemandem, nur eines war jedem klar: Italien war es nicht. Aber wer wollte daran schon Anstoß nehmen – gar an einem trüben Sonntagnachmittag wie diesem, an dem außer einem jungen Mann in staubiger Malermontur, der auf eine Pizza Capricciosa und eine Luigis Speciale mit eingelegtem Schafskäse, Oliven, Peperoni, Knoblauch und Shrimps wartete, kein Gast im Lokal war.
Ich saß an dem kleinen Tisch neben der Theke, der für das Personal reserviert war, und blätterte in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Vor dem Fenster stand der restauranteigene Fiat Panda, der in den Farben der italienischen Nationalflagge gespritzt war. Die Blätter der Linden am Straßenrand fielen auf das Dach und die Motorhaube des Kleinstwagens, um vom nächsten kräftigen Windstoß wieder weggefegt zu werden.
Seit sechs Wochen arbeitete ich im Bella Italia. Sicher gab es bessere Jobs, als italienische Speisen durch die Gegend zu fahren – vor allem besser bezahlte –, nach einem abgebrochenen Studium, Sozialhilfeempfang und einem konstitutionsbedingt kurzen Gastspiel als Möbelträger bei einer Speditionsfirma ist man jedoch nicht allzu wählerisch.
Maria kam mit zwei Pizzakartons aus der Küche. Der einsame Gast, der seine feiertagsmissachtende Renovierungstätigkeit zum Lunch unterbrochen hatte, ließ sich noch einen Sechserpack Schultheiß geben und bezahlte. Dmitri steckte ihm seinen Handzettel mit der Speisekarte zu und sagte: “Das nächste Mal können Sie anrufen und wir bringen Ihnen selbstverständlich, was Sie wollen.”
Mit “wir” war natürlich ich gemeint. Dmitris erst seit kurzem eingerichteter Lieferservice funktionierte noch nicht hundertprozentig. Seit zwei Stunden war ich schon hier und hatte bislang nur einen einzigen Auftrag gehabt. Deshalb wies er jeden, der etwas zum Mitnehmen kaufte, darauf hin.
Er habe noch keinen Telefonanschluss, nuschelte mein potenzieller Kunde, während er das Restgeld und anstandshalber auch den Zettel einsteckte, und fügte erklärend hinzu, dass er gerade erst dabei sei, in seine Wohnung einzuziehen.
Dmitri sah mit nachdenklicher Miene zu, wie der Mann, Pizzakartons und Sixpack jonglierend, auf die Straße trat und im Eilschritt verschwand. Es ist nicht ganz leicht für einen Geschäftsmann, mit dem Gedanken fertig zu werden, dass er vermutlich in einen Flop investiert hatte. Ich bemerkte, wie Dmitris Blick in meine Richtung wanderte, und hatte wieder einmal das Gefühl, dass mein Arbeitsplatz in höchstem Grade gefährdet war. Diesmal verkniff ich es mir lieber, Dmitri auf die preisgünstige, von der Steuer absetzbare Leasingrate für den Panda und vor allem auf meinen niedrigen Stundenlohn hinzuweisen. Sicherheitshalber klappte ich schon mal die Seite mit den Stellenangeboten auf, als Maria mir eine Pizza Calzone brachte, die ich vor einer halben Stunde bestellt hatte.
“Guten Appetit!”, sagte sie, bewusst verstoßend gegen das alberne “Buon appetito!”, das Dmitri von ihr verlangte. Maria kam aus Albanien. Sie war die Einzige aus ihrer Familie, die es bis nach Deutschland geschafft hatte, noch bevor ihr Heimatland im Chaos versank. Jetzt versuchte sie, mit dem bisschen Geld, das sie hier und als Reinigungskraft in einem Supermarkt verdiente, ihren Angehörigen einen Platz auf einem der überfüllten Flüchtlingsdampfer zu finanzieren, die vor der italienischen Küste regelmäßig zu kentern drohten. Dmitri hatte sie jedoch keineswegs aus humanitären oder sozialfürsorgerischen Gründen eingestellt. Für ihn zählte vor allem, dass sie jung war, gut, aber mit Akzent deutsch sprach und mit ihren schwarzen Haaren und ihrem dunklen Teint eine mediterrane Ausstrahlung hatte, die durchaus als italienisch durchgehen konnte.
Von einem der leeren Tische holte ich mir Salz und Pfeffer. Um zu wissen, dass es daran mangelte, brauchte ich mittlerweile nicht mehr zu kosten. Als wollte er jedes gut gemeinte Konzept von einer multikulturellen Gesellschaft auf den Kopf stellen, hatte Dmitri vor einem Dreivierteljahr einen vietnamesischen Koch engagiert, dessen wahren Namen hier niemand kannte. Dmitri nannte ihn von Anfang an Charlie – wie seinerzeit die amerikanischen GIs ihren Feind im asiatischen Dschungel. Und dabei war es geblieben. Charlie hatte die Miete für seinen Euro-Asia-Imbiß in der Warschauer Straße nicht mehr aufbringen können. Also zog er es vor, auf Dmitris Angebot einzugehen und sich autodidaktisch mit italienischer Küche zu beschäftigen, statt steuerfreie Zigaretten am Bahnhof Frankfurter Allee zu verkaufen. Mittlerweile waren seine Pizzas guter Durchschnitt. Nur beim Umgang mit Salz fehlte ihm das nötige Fingerspitzengefühl. Nach einigen Beschwerden hatte Dmitri Charlie angewiesen, davon grundsätzlich etwas zu wenig zu nehmen. Nachsalzen sei schließlich kein Problem.
Ich bekam Charlie nur selten zu sehen, da er wegen seiner offensichtlichen ethnischen Zugehörigkeit nicht den Gastraum betreten durfte. Mir hingegen blieb als straßenstaubbehafteter Pasta- und Pizzaausfahrer in Anwesenheit von Gästen der Zutritt zur Küche verwehrt. Die Deutschen sind ein reinliches Volk! Und Dmitri hatte es für sinnvoll gehalten, sich diese Tugend zu Eigen zu machen. Seine Toiletten konnten es in puncto Keimfreiheit, Citrusfrische und Fliesenglanz mit jeder bajuwarischen Familienwirtschaft aufnehmen. Überhaupt ging es ihm nicht darum, als originärer Vermittler italienischer Esskultur in die Annalen einzugehen. Vielmehr gab er sich Mühe, alles im Bella Italia so zu gestalten, dass es den deutschen Vorstellungen von einem italienischen Restaurant entsprach: Zimmerspringbrunnen, tropfsteinhöhlenähnlicher Gipsputz an Decke und Wänden, Chiantikrüge auf Holzregalen et cetera. Auch auf hiesige Essgewohnheiten wurde viel Rücksicht genommen: die Spaghetti nicht zu al dente, die Peperoni nicht zu scharf, das Bier aus Berlin. Auf Wunsch wurden zu Nudelgerichten auch Messer und Gabel gereicht, ohne dass jemand das Gefühl haben musste, damit einen Ehrenplatz auf der Abschussliste der neapolitanischen Camorra erworben zu haben. Das – sowie die moderaten Preise – machte Dmitris Lokal bei den Friedrichshainern zu einer beliebten Adresse. Hier konnte der zum Ökotechniker mit Computerkenntnissen umgeschulte, arbeitslose Bremsenwerker seiner fünfköpfigen Familie am Wochenende ein Essen spendieren und bekam einen Hauch von katalogkompatibler Exotik, quasi als Pauschalreiseersatz, gratis dazu. Italiener und Türken machten jedoch einen großen Bogen um Dmitris Wirtschaft.
„Gimme a pigfoot and a bottle of beer“, sang Billie Holiday, während ich am Personaltisch saß und an meiner nachgesalzenen Pizza säbelte, die so zäh war wie dieser Sonntagnachmittag. Wenn ich Charlie einmal zu sehen bekam, redete er nie sehr viel. Er hatte eine andere, vermutlich asiatische Art, sich zu artikulieren – durch einen ebenso minimalen wie effektiven Aufwand an Mimik und Gestik, aber vor allem durch seine Produkte. So war ich mir ziemlich sicher, dass es in der Küche Krach mit Dmitri gegeben hatte, der seine Unzufriedenheit, die sich schnell einstellte, wenn der Laden nicht lief, vorzugsweise an dem kleinen Asiaten abreagierte. Und heute hatte Dmitri allen Grund, unzufrieden zu sein. Nach einem bescheidenen Mittagsgeschäft war so gut wie nichts mehr gelaufen. Die Konsistenz von Charlies Pizzateig verriet mir, dass Dmitris Seele an diesem Tag kein kleines Hündchen war, das in der Sonne tollte, sondern ein trauriger alter Köter, der einsam in seiner Hütte knurrte. Natürlich gehörte es zu seinem Verständnis von Professionalität, sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich liebten die Deutschen die Italiener nicht nur wegen ihrer Nudeln und Schuhe, sondern vor allem wegen ihrer ausgelassenen Freundlichkeit, einer Eigenschaft, die in dieser Stadt nicht gerade verbreitet ist.
Mittlerweile wusste ich, dass es eine Gesetzmäßigkeit gab, die sicher auch jeder Feuerwehrmann kennt und jeder Arzt in Einsatzbereitschaft: Das Telefon klingelt immer dann, wenn man angefangen hat zu essen. So war es auch diesmal.
Dmitri hob ab und ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass es ausnahmsweise kein Kunde war. “Henry, für dich!”, brummte er und legte den Hörer neben den Apparat. Ich wusste, wie sehr er es hasste, wenn jemand seinen Lieferservice mit Privatgesprächen blockierte. Und alle, die mich kannten, wussten das inzwischen auch. Es gab nur einen Menschen, dem Dmitris Gefühle in dieser Hinsicht egal waren: Alissa.
“Hallo Liss”, sagte ich, “was gibt's?” Dmitris Blick versengte mir die Nackenhaare.
“Henry, mein Lieber, ich hab ein kleines Problem”, säuselte es aus dem Hörer.
“Ich weiß.”
Das war in etwa das Standard-Intro zu jedem unserer Telefongespräche. Zum Glück trat Dmiri nicht mehr hinter meinem Rücken von einem Fuß auf den andern. Ein ziemlich beleibtes Endzwanzigerpaar mit baseballbemütztem Kleinkind hatte das Lokal betreten und Dmitri führte es an den Tisch neben dem Springbrunnen. Er zündete eine gläserne Öllampe an und scherzte mit dem “Bambino”, das ihn anstarrte, als traue es seinen Augen nicht.
“Mein Vater will mich am nächsten Wochenende besuchen”, flüsterte Liss. “Er hat geschäftlich hier zu tun und bei dieser Gelegenheit möchte er sehen, wie seine Tochter so lebt.”
“Nett von ihm”, sagte ich.
“Henry, du weißt doch, wie chaotisch es bei mir aussieht…” “Soll ich dir beim Aufräumen helfen?” Ich ahnte bereits, worauf es hinaus lief.
“Das ist wirklich ganz lieb von dir. Kannst du morgen vormittag vorbei kommen?”
“Das war kein Angebot, sondern eine Frage.”
“Ich werde dich meinem Vater vorstellen. Er wird froh sein, wenn er sieht, dass es jemanden gibt, der auf mich aufpasst.”
“So”, sagte ich. “Was machst du eigentlich heute Abend?”
“Erzähl ich dir morgen.”
Der Rest von meiner Pizza war inzwischen kalt geworden. Ich schob den Teller beiseite und zündete mir eine Zigarette an. Liss hatte mich eingewickelt, nicht zum ersten Mal. Damit musste man wohl leben, wenn man über dreißig war und sich in eine Frau verliebt hatte, deren Erinnerungen an das Gymnasium noch von der frischesten Sorte waren. Wenn ich mit ihr in irgendwelche Clubs ging und sie mit ihren Freundinnen und Bekannten sah, kam ich mir alt und erwachsen und deplatziert vor. Kein sehr erhebendes Gefühl! Auch sonst war das Leben mit ihr nicht gerade leicht. Sie war so unberechenbar wie ein Querschläger und tat genau das, wozu sie Lust hatte. Es gab zwischen uns keine Absprachen und keine Versprechen. Wenn sie mich sehen wollte, hatte ich Glück, wenn nicht: C'est la vie! Ich musste ihre Bedingungen akzeptieren oder mich aus ihrem Leben verziehen. Mein alter Kumpel Theo hatte mich gewarnt. Er war der Meinung, dass sie jeden, dem sie mehr als nur etwas bedeutete, unweigerlich ruinieren würde. Doch Theo konnte mir inzwischen keine Ratschläge mehr geben. Er saß in Tegel im Knast, weil er Pillen verkauft hatte, die es in keiner Apotheke gab. Jetzt schickte er mir Karten mit Sätzen wie: Die Tage kleben wie Teer an den Sohlen des Sünders.
Wenn man es genau nahm, war es sogar seine Schuld, dass Liss und ich uns kennen gelernt hatten. Sie war eine von Theos besten Kundinnen gewesen, bis sie in einer depressiven Phase versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Danach war sie ein Vierteljahr in psychiatrischer Obhut geblieben. Während dieser Zeit hatte ich sie regelmäßig besucht. Dass sie mich jetzt ihrem Vater vorstellen wollte, entbehrte, wie ich fand, nicht einer gewissen Ironie. Obgleich sie es bestritt, wurde ich den Verdacht nie ganz los, dass die Rolle, die ich in ihrem Leben spielte – soweit man davon überhaupt reden konnte –, auch eher väterlicher Art war. Vielleicht wollte sie ihrem Erzeuger, der allen Grund hatte, sich Sorgen zu machen, seinen derzeitigen Vertreter vorstellen, um sein gequältes Herz ein wenig zu beruhigen. Auch das war nicht gerade erhebend.
Da das Telefon nicht klingelte, nahm ich wieder meine Zeitungslektüre auf. Maria räumte meinen Teller ab und stellte einen Espresso hin, der mit Abstand das Beste war, was man hier bekam. Dmitri zapfte Bier und ließ Ramazzotti schmachten. Die übergewichtige Kleinfamilie machte sich über die Tomatenbrote her, die vor dem Essen serviert wurden.
Ich überflog die Stellenangebote. Es war nicht gerade viel, was übrig blieb, wenn man kein Student war, keinen Taxischein hatte und nicht mit Abschlusszeugnissen und Empfehlungsschreiben seine Wände tapezieren konnte. Eine Sozialwissenschaftlerin suchte eine Ghostwriterin für ihre feministische Doktorarbeit, eine Sauna-Bar eine gutaussehende weibliche Putzkraft für 10 DM/Std. (kein Sex), ein Nachtclub eine “Tresenfee”. Das männliche Geschlecht schien in der Dienstleistungsbranche, dem Beschäftigungszweig der Zukunft, schlechte Karten zu haben. Ich strich eine Anzeige an, in der jemand mit kultivierter Stimme zum Rezitieren weltliterarischer Glanzlichter gesucht wurde, und sah mich schon, zu nachmittäglicher Stunde in Reinickendorf auf einem Jugendstilstuhl sitzend, einer Petites Madeleines verspeisenden Oberstudienratsgattin Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorlesen. Fast hätte ich mich mit dieser eher trüben Aussicht begnügt, als mein Blick auf ein knappes Inserat folgenden Wortlauts fiel: Ideal für Rentner und Schüler! Detektei sucht freie MitarbeiterInnen mit PKW und Telefon auf Honorarbasis! Dahinter stand eine Telefonnummer.
Es waren noch weitere Gäste gekommen und Dmitri hatte zu tun. Er füllte Gläser und versprühte das, was er für italienische Lebensfreude hielt. Ich war zwar weder Rentner noch Schüler, ging aber mit der Zeitung zum Telefon und wählte die Nummer. Ein Anrufbeantworter meldete sich. Ich verriet ihm, wer ich war, warum ich anrief und wie man mich erreichte. Gleich nachdem ich mich wieder gesetzt hatte, läutete es. Noch im Geiste die möglichen Aufgabengebiete für Mitarbeiter von Privatdetektiven absteckend, beobachtete ich, wie Dmitri mit verzückter Miene eine Bestellung entgegen nahm: eine Pizza mit Meeresfrüchten und eine Bello e Sergio mit Peperoni. Eine Viertelstunde später konnte man mich und einen sperrigen Thermobehälter in einem rot-weiß-grünen Fiat Panda mit überhöhter Geschwindigkeit in die Frankfurter Allee einbiegen sehen.