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In Krähnack, einem Nest in der Uckermark, wird die Leiche eines buddhistischen Mönchs im Teich gefunden. So etwas hätte der Berliner Hauptkommissar Oeser in der brandenburgischen Provinz nicht erwartet. Als Teilnehmer eines Wochenendseminars aus ganz anderen Gründen in der Gegend, stellt er lieber Ermittlungen über das Dorf und seine Bewohner an. Wie so viele ostdeutsche Ortschaften hat auch Krähnack in den letzten Jahren einige Veränderungen hinnehmen müssen: Viele jungen Leute sind weggezogen, dafür haben sich ausgeflippte Großstädter dort niedergelassen. Vor allem der Künstler und Schlossbesitzer Carlos Roda beansprucht eine wichtige Rolle in der Dorfgemeinschaft. Doch nur einen Tag nach dem Mönch wird auch er in dem Teich tot aufgefunden. Liegt den Morden ein religiöses Motiv zu Grunde? Oder stört sich jemand an den schillernden Zugezogenen in Krähnack? Fragen, die Oeser keine Ruhe lassen. Und dann muss er sich auch noch mit der lästigen Journalistin Monika Abendroth herumschlagen … Die Kulisse, vor der gemordet wird, ist beschaulich, aber dahinter lauern menschliche Dramen. Ralph Gerstenberg versteht es, mit feiner Ironie vom prallen Leben zu erzählen!
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Seitenzahl: 254
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Ralph Gerstenberg
Das Kreuz von Krähnack
Ein Berlin-Brandenburg-Krimi
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-727-3
1. Auflage
© 2016 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: shutterstock / photolike
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BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Der Tod im Teich
Heiß wird’s, dachte Mayerhoffer, als er am Morgen aus der Tür trat. Die ersten Sonnenstrahlen überzogen die Ähren des Weizenfeldes, das an den Garten grenzte, mit einem rötlichen Schimmer. Kein Tau im Gras. Die Quecksilbersäule des Thermometers, dessen Markierungen kaum noch zu erkennen waren, hatte sich bereits über die Hälfte der Skala ausgedehnt. Kein Wölkchen am Himmel – dabei war für heute Regen angesagt worden.
Mayerhoffer schlüpfte in seine Gummistiefel, wie er es jeden Morgen tat, und ging in den Garten, um den Rasensprenger und die Bewässerungsanlage für die Gemüsebeete anzustellen. Als er sich bückte, spürte er wieder diesen Schmerz im Rücken – ein Messer, das ihm in die Schulter gerammt wurde. Wie damals bei dieser Tennisspielerin. Den Namen hatte er vergessen. Aber an das Gefühl konnte er sich noch gut erinnern, als er die Bilder zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hatte. Damals hatte es angefangen.
»Die Bandscheiben«, sagte der Arzt. »Kein Wunder, bei Ihrem Beruf!«
Nein, dachte Mayerhoffer, kein Wunder, und drehte den Hahn auf. Seit fast fünfzig Jahren bepflanzte und bewirtschaftete er diesen Flecken Erde. Anderthalb Hektar. Immer gebückt und nach vorn gebeugt, hatte er mit krummem Rücken gegraben im märkischen Sand.
Früher hatte ihm auch noch ein Stück von dem Feld gehört. Aber das hatten sie ihm wieder weggenommen. Ebenso wie die Kühe und das Pferd. Zwangskollektivierung! Aber nicht mit Mayerhoffer. Er war nicht den weiten Weg aus der Bukowina hierher gekommen, um für die Kommunisten zu schuften. Krähnack – dieses gottverlassene Nest im Brandenburgischen, fast an der Grenze zu Polen. Da hätte er seiner Heimat nicht den Rücken kehren müssen, dem schönen Buchenland! Hier hatten die Kommunisten ihm zwar nicht verboten, Deutsch zu sprechen, aber sie wollten ihn um den Lohn seiner Arbeit bringen. Er sollte für andere mitarbeiten. Für das Kollektiv! Für den Rosinski zum Beispiel, der sich niemals die Finger schmutzig gemacht hat mit märkischem Sand, dessen Bandscheiben noch kein bisschen abgenutzt waren, der als Erster im Dorf einen Mercedes, silbermetallic, fuhr, einen gebrauchten zwar, aber immerhin. Für Rosinski hätte er sich seine Bandscheiben ruinieren sollen? Auf keinen Fall! Da hatte er lieber seine eigene kleine Gärtnerei aufgemacht und sich mit dem begnügt, was sie ihm einbrachte. Viel war’s nicht. Kein Mercedes, silbermetallic, stand nun in seiner Garage, aber immerhin ein Renault Rapid, mit dem er seine Blumen, Pflanzen und Früchte zwei Mal pro Woche zum Markt fuhr.
Nachdem Mayerhoffer sich davon überzeugt hatte, dass alle Beete genügend Wasser abbekamen, schlurfte er gemächlich den Weg an den Tomatensträuchern vorbei zum Gewächshaus. Er roch, wie die Erde feucht wurde. Ein guter Geruch. Frisch und würzig. Der Geruch seines Lebens.
Mayerhoffer liebte diese Stunde des Tages. Selbst am Sonntag stand er mit der Sonne auf. Sogar im Urlaub, den er nirgendwo anders verbrachte als in seinem Garten. Wer sollte sich auch, wenn er nicht da war, um die Pflanzen kümmern, wer um die Sittiche, die er hinter dem Gewächshaus in der Voliere züchtete, und wer um die Karpfen im Teich, die er jeden Morgen fütterte? Seine Söhne? Die lebten ihr eigenes Leben. Wenn sie von ihren Berufen sprachen, verstand Mayerhoffer kein Wort. Sie machten nichts, was man sehen konnte, schmecken, riechen. Saßen nur vor ihren Bildschirmen und reihten Wörter, Zeichen und Zahlen aneinander. Mayerhoffer hatte keine Ahnung wozu, wollte nichts wissen. Niemand würde seine Gärtnerei übernehmen, weder der Große noch der Jockel. Das hatte er verstanden, das reichte.
Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden. Wenn er starb, dann war Sense, ein für allemal. Nichts würde bleiben außer der Buche, die er gepflanzt hatte, als er hier angekommen war. Jetzt war sie vierzig Meter hoch und ihre Krone ragte weit in den Brandenburger Himmel hinein. Manchmal schien es ihm, als würde sie die Wolken berühren. Und jeden Sommer feierten sie darunter das Dorffest. Unter seiner Prachtbuche! Im vergangenen Jahr hatte sie zum ersten Mal geblüht. Da hatte Mayerhoffer geweint wie ein Kind. Er wusste ja, dass manche Buchen erst nach achtzig Jahren blühreif waren. Aber seine Buche blühte schon nach fünfzig. Als ahnte sie, dass er nicht so lange warten konnte, als hätte sie das nur für ihn getan.
Mayerhoffer schmunzelte, als er hinter dem Haus entlanglief und durch das geöffnete Fenster das kleine Kofferradio hörte, das auf dem Kühlschrank stand. Senta stellte es jeden Morgen an, wenn sie die Küche betrat, und schaltete es erst aus, wenn sie am Abend ins Wohnzimmer ging, um gemeinsam mit ihm fernzusehen. Sie stand noch immer mit ihm auf, obwohl sie es nicht brauchte. Mayerhoffer hatte schon oft zu ihr gesagt, sie solle doch liegen bleiben. Was wollte sie denn so früh auf den Beinen? Sie hatte nie etwas erwidert, war einfach weiter mit ihm aufgestanden. Und Mayerhoffer hätte es sich auch gar nicht anders vorstellen können. Seine größte Angst war, dass sie vor ihm starb.
Während er im Morgengrauen die Pflanzen goss, brühte sie Kaffee auf, holte Wurst, Käse, Butter, selbst gemachte Konfitüre aus dem Kühlschrank und schnitt ein paar Scheiben Schinken von dem Stück in der Speisekammer ab – mit dem Messer, das so ähnlich aussah wie das, mit dem der Tennisspielerin vor Jahren in den Rücken gestochen worden war – krumm und spitz. Sofort spürte Mayerhoffer wieder den Schmerz in der Schulter. Doch dann wurde er abgelenkt von einem roten Punkt, den er auf dem Boden vor dem Gewächshaus entdeckte.
Feuerkäfer! Wütend trat er mit dem Stiefel darauf. Die Biester waren eine Plage – vor allem seitdem er kein Insektengift mehr sprühen durfte, weil sie ihm sonst auf dem Markt nichts mehr abnahmen. Tomaten aus Holland und Spanien waren billiger. Also musste er sein Gemüse neuerdings »Bio-« nennen, dann akzeptierten die Kunden den höheren Preis.
Bio! Mayerhoffer schniefte verächtlich. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als ihn zum ersten Mal einer an seinem Marktstand gefragt hatte, ob die Tomaten auch bio seien. Mayerhoffer hatte ihn angestarrt und nicht gewusst, was der Mann von ihm wollte.
»Bio?«
»Ja, rein biologisch eben.«
»Natürlich sind meine Tomaten biologisch. Oder denken Sie, die sind aus Plastik? Fassen Sie doch mal an!«
Mayerhoffer hatte dem Mann eine von seinen Tomaten hingehalten, aber der hatte sich geweigert, sie in die Hand zu nehmen. So ein Neunmalkluger mit Zopf und intelligenter Brille! Zuerst müsse er wissen, ob die Tomate bio sei und nicht vergiftet. Die meisten Schadstoffe säßen nämlich an der Oberfläche und davon bekäme man Hautreizungen.
Vergiftet? Da wurde es dem Mayerhoffer aber zu bunt. Erst behauptete dieser Heini, seine Tomaten seien aus Plastik, dann waren sie auf einmal sogar vergiftet! Er solle verschwinden, hatte Mayerhoffer gesagt und die Tomate zurück zu den anderen gelegt. Am besten dorthin, wo er hergekommen sei.
Denn längst war Mayerhoffer klargewesen, dass der Mann aus dem Westen stammte. Diesen Dialekt gab es nicht in Ostdeutschland und so ein Leinensakko, das aussah, als wäre es aus einem alten Mehlsack geschneidert worden, hatte er hier auch noch nicht gesehen. Eigentlich hatte Mayerhoffer keine Vorurteile gegen Einwanderer. Er war ja selbst einer. Aber seit der Begegnung mit dem Bio-Mann schimpfte er auf die Wessis wie all die andern im Dorf.
Mittlerweile wusste Mayerhoffer, was bio war. Und alles in seinem Garten war nun bio. Dafür musste er jetzt die Feuerkäfer und die anderen Mistviecher mit dem Staubsauger von den Blättern saugen. Das war bio! Und jedes Mal, wenn er im Garten saugte, fluchte er auf die verdammten Wessis.
Im Gewächshaus, das inzwischen vom Morgenrot durchstrahlt wurde, schnitt Mayerhoffer die Blumen ab, die er heute auf dem Markt verkaufen wollte, und stellte sie anschließend, nach Sorten geordnet, in verschiedene Plastikeimer, die er zuvor mit lauwarmem Wasser gefüllt hatte. Dann schaltete er auch hier die Bewässerungsanlage an, wobei er wieder einen Stich im Rücken spürte. Kurz hielt er inne und bewegte sich nicht. Stand nach vorn gebeugt und starrte mit verzerrtem Gesicht in die gleißende Röte. Bis der Schmerz nachließ.
Mayerhoffer war damals dagegen gewesen, dass seine Frau das Messer kaufte, das aussah wie das von dem Attentat auf die Tennisspielerin. Wie hieß sie doch gleich? Aber seine Senta hatte ihren eigenen Kopf, besonders wenn es um ihre Küche ging. Er konnte ja auch schlecht zugeben, woran es ihn erinnerte. Dafür hätte die Senta kein Verständnis gehabt. Sie brauchte ein Messer zum Schinkenschneiden und dieses war gerade gut dafür. Basta!
Die Sittiche begrüßten Mayerhoffer krächzend in der Voliere. Sie stritten sich um die Hirsekolben, die er ihnen hinhängte. Mayerhoffer schaute nach dem Nymphensittichnachwuchs im Brutkasten, füllte frisches Wasser in die Trinkgefäße und kraulte kurz seinen Lieblingswellensittich am Bauch, bis dieser ihn in den Finger biss. Mayerhoffer schimpfte wie jeden Morgen und der Vogel plusterte sich zufrieden.
Mit einer Plastiktüte in der Hand verließ Mayerhoffer sein Grundstück. Er lief die Dorfstraße entlang, die jetzt Marcel-Duchamp-Straße hieß, woran er sich niemals gewöhnen würde. Auf seine Briefe schrieb er weiterhin als Absender: Mayerhoffer, Dorfstraße 2. Das war seine Adresse seit fast fünfzig Jahren. Und daran würde sich nichts ändern. Wer war überhaupt dieser Düschamp? Das hatte er den Carlos Roda gefragt, dem jetzt das Schloss gehörte. Der war es ja schließlich gewesen, der die Umbenennung beantragt hatte. Künstler! Wessi! Der habe in Amerika ein Pissbecken ins Museum gestellt, der Düschamp, und als es da so stand, da wussten auf einmal alle, dass das Kunst war. Das hatte der Carlos Roda geantwortet. Ganz ernsthaft! Und nach so einem hieß jetzt die Dorfstraße! Aber nicht für Mayerhoffer. Eigentlich war es gar keine Umbenennung gewesen. Niemand hatte sich zuvor je die Mühe gemacht, einen Namen für die Straße zu beantragen, ganz amtlich. Es war die einzige Straße im Dorf. Also hatten sie alle Dorfstraße genannt. Da brauchte man kein Straßenschild, wie es jetzt der Carlos Roda angeschraubt hatte. Der Krassnik, der seit zwanzig Jahren die Post brachte, wusste sowieso, wo jeder wohnte. Ein Straßenschild mit dem Namen eines Pissoir-Künstlers! Auf solche Ideen kamen nur die Wessis!
Mayerhoffers Buche stand gegenüber vom Schloss. Direkt neben dem Dorfteich. Davor befand sich eine Bank, auf die sich Mayerhoffer jeden Morgen setzte. Auch im Winter, wenn der Teich zugefroren war. Im Sommer fütterte er die Karpfen mit dem Brot, das ihm Senta in die Plastiktüte steckte. Damit die Biester schön fett wurden. Jedes Jahr schlachtete er einen von ihnen zu Silvester. Außerdem genoss er diese fünf Minuten. Diese Stille. Niemand im Dorf war um diese Zeit auf den Beinen. Der Rosinski nicht und schon gar nicht der Carlos Roda. Nur die Grillen und die Vögel.
Mayerhoffer setzte sich auf die Bank, griff in die Plastiktüte, warf ein paar Brotstücke ins Wasser und schon erwachte im Teich das Leben. Karpfenmäuler schnappten nach dem Brot, schuppige Rücken durchstießen die Wasseroberfläche.
Mayerhoffer wollte neues Brot aus der Tüte fischen, als er auf der gegenüberliegenden Uferseite im Schilf, da wo sich der Anschluss für den Feuerwehrschlauch befand, etwas entdeckte, was dort eindeutig nicht hingehörte. Ein weinrotes Stück Stoff. Eine Plane oder etwas Ähnliches. Sicher vom Carlos Roda. Vielleicht ein Segel für den komischen Kahn, an dem der neue Schlossherr gerade bastelte. Mayerhoffer stand auf, um nachzusehen. Während er um den Teich herum lief, überlegte er sich schon, mit welchen Worten er Carlos Roda das Stück Stoff überreichen würde. Ein Segel im Dorfteich, das ist wohl auch Kunst? Wie bei dem Pissbecken-Amerikaner, nach dem die Dorfstraße heißt? Wir sind hier aber nicht in Amerika! Ja, es war wohl mal dringend nötig, dem Carlos Roda die Meinung zu sagen.
Als sich Mayerhoffer der Stelle näherte, wo er das weinrote Stück Stoff gesehen hatte, vergaß er jedoch Carlos Roda und das, was er ihm hatte sagen wollen. Was war das? Eine seltsame Ahnung stieg in ihm auf. Wie damals, als er seinen Freund Aron im Wald abholen wollte. Die Stille war anders an diesem Morgen. Sie war so wie an dem Tag, als Aron in den Blaubeeren gelegen hatte – mit einem Loch in der Brust und Ameisen im Gesicht.
Als Mayerhoffer das Schilf auseinanderbog, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Nicht nur Leben war an diesem Morgen in dem Teich, sondern auch der Tod.
Balance und Blaulicht
Um Punkt acht Uhr betrat Bernhard Oeser, Hauptkommissar der Berliner Mordkommission, zusammen mit fünfzehn anderen Teilnehmern des Life-Work-Balance-Seminars Time is on my side den Konferenzraum des Landhotels Schöne Mark. An den Wänden hingen großformatige Fotos von Wildbächen, Palmenstränden und Gebirgslandschaften. Sechzehn Stühle waren im Halbkreis aufgestellt. Eine Frau und ein Mann, die jedem, der an ihnen vorbeilief, etwas zu freundlich zunickten, standen vor einer Tafel, an die jemand den Satz Zeit kann man nicht haben, man kann sie nur genießen! geschrieben hatte. Oeser brauchte nicht lange zu überlegen, wer für die Verbreitung dieser Kalenderspruchweisheit verantwortlich war. Der weiße Fleck an der Jacketttasche des Mannes stammte mit Sicherheit von dem Stück Kreide, das auf der Ablagefläche vor der Tafel lag.
Genau das war Oesers Problem. Obwohl der Hauptkommissar außer Dienst war, konnte er es einfach nicht lassen, Indizien zu sammeln und Schlüsse zu ziehen. Es gab keinen Feierabend für ihn. Sein Kopf kannte keine Freizeit. Er arbeitete weiter – so lange, wie es Fragen gab, die er nicht beantworten konnte. Und die gab es immer. Ganz zu schweigen von den unaufgeklärten Fällen, deren Akten im Archiv verstaubten. Altlasten, die Oeser schlaflose Nächte bereiteten.
Der Psychologe, den ihm seine Kollegen auf den Hals gehetzt hatten, bezeichnete seine ständige Bereitschaft zur Schlussfolgerung als zwanghaft. »Sherlock-Holmes-Syndrom« nannte er das, eine typische Berufskrankheit. Dabei hasste Oeser diesen kleinkarierten Klugscheißer, der am Ende jeder Geschichte die Lösung eines komplizierten Kriminalfalles aus dem Ärmel schüttelte. Und der Seelenklempner wollte ihm ein Syndrom anhängen, das ausgerechnet nach diesem Typen benannt worden war. Besten Dank!
Dennoch musste Oeser zugeben, dass er schon wieder ein kleines Rätsel gelöst hatte. Eine leichte Fingerübung am Morgen, ein bisschen Frühsport für die grauen Zellen. Das sollte zwanghaft sein? Irgendwie musste er schließlich in Gang kommen. In der Nacht hatte er wenig Schlaf gefunden – ausnahmsweise mal nicht, weil ihm ein Mordfall Kopfzerbrechen bereitete, sondern weil er diese verdammte Stille nicht aushielt. Oeser war ein Stadtmensch. Es machte ihn nervös, wenn er nicht das vertraute Rauschen des Verkehrs hörte. Gegen vier Uhr hatte er den Fernseher eingeschaltet, aber nicht mal damit konnte man sich heutzutage in den Schlaf rauschen lassen. Die sendeten durch. Erst als er auf die Idee gekommen war, das Antennenkabel aus dem Gerät zu ziehen, fand er die Geräuschkulisse, die er brauchte, um sich zu entspannen.
Drei Stunden später war er durch einen unerbittlichen Piepton aus seinen Träumen gerissen worden. Der Reisewecker, den er sich extra für dieses Wochenende zugelegt hatte. Oeser hatte in das graue Gekrissel des Fernsehapparates geblinzelt und sich nicht zum ersten Mal seit seiner Ankunft die Frage gestellt, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, hierher zu fahren. Draußen lärmten bereits Millionen von Singvögeln.
»Herzlich willkommen in dieser hübschen Herberge, in der wir gemeinsam versuchen wollen, das Leben und die Arbeit etwas besser auszubalancieren«, begann der Mann mit dem Kreidefleck am Jackett das Seminar. »Bevor ich Ihnen erklären werde, was wir an diesem Wochenende vorhaben, wollen wir uns erst einmal ein wenig näher kennenlernen. Mein Name ist Joachim Rosenstock und das ist meine Partnerin Lydia Baumgarten.«
Lydia Baumgarten lächelte wieder geübt, strich sich durch ihr hellblondes Haar und zog ein paar Overheadfolien aus einem Ordner. Oeser rieb sich seinen Schnurrbart und überlegte, ob ihr Verhältnis zu Rosenstock nur beruflicher Natur war. Sie passten gut zueinander. Fast zu gut, dachte Oeser. Beide waren gepflegte Erscheinungen, wie man so sagte, Mitte dreißig, schätzte Oeser. Ihre Kleidung wirkte seriös, aber nicht zu förmlich. Joachim Rosenstock trug zwar einen Schlips, jedoch hatte er ihn leger gebunden und den obersten Knopf seines hellblauen Hemdes offen gelassen. Im Laufe des Tages, da war sich Oeser sicher, würde Rosenstock das dunkelblaue Jackett ausziehen und sich die Ärmel hochkrempeln. Dann würde er aussehen wie einer von diesen Brokern, die bei Börsenberichten immer im Hintergrund zu sehen waren. Schließlich sollten es heute über dreißig Grad werden und schon jetzt herrschte eine Affenhitze in dem Raum. Oeser spürte bereits, wie sich die Schweißtropfen in seinen Achselhöhlen sammelten, während er Lydia Baumgarten betrachtete. Auch sie hatte den obersten Knopf ihrer weißen Bluse nicht geschlossen. Eine dünne Goldkette glänzte an ihrem Hals. Der beigefarbene Rock, den sie trug, ging ihr bis zu den Knien, hatte also genau die richtige Länge, um ihre Weiblichkeit nicht zu sehr zu betonen, aber auch nicht zu verleugnen. An ihren Beinen war kein Härchen zu sehen. Sie endeten in eleganten cremefarbenen Sandalen, die einen Blick auf ihre zartrosa lackierten Zehennägel zuließen. Ihr schmales Gesicht sah etwas blass aus. Der Lippenstift, den sie benutzte, fiel kaum auf. So wirkte sie wie der perfekte weibliche Gegensatz zu dem dunkelhaarigen, braun gebrannten Rosenstock. Gemeinsam bildeten sie eine Einheit: Norden und Süden, Frau und Mann – verbunden durch aufgelockerte Eleganz und eine dynamische Ausstrahlung. Ein perfektes Duo! Wenn sie etwas miteinander hatten, dann bestimmt nicht offiziell, dachte Oeser und betrachtete den Ring, der mit Joachim Rosenstocks rechtem Zeigefinger verwachsen zu sein schien.
»Außerdem möchte ich Ihnen Frau Abendroth vom Märkischen Kurier vorstellen.« Rosenstock wies mit der rechten Hand auf eine Frau, die am Ende des Halbkreises saß. »Sie wird einen Artikel über unser Wochenendseminar schreiben. Wenn jemand von Ihnen nicht darin vorkommen möchte, wird Frau Abendroth diesen Wunsch selbstverständlich respektieren.«
Auch das noch, dachte Oeser. Sein Verhältnis zur Presse war, vorsichtig ausgedrückt, distanziert. Das brachte der Beruf so mit sich. Zu oft hatte ihm das sensationsgeile Journalistengeschmeiß ins Handwerk gepfuscht, Details von laufenden Ermittlungen veröffentlicht, Zitate sinnentstellt wiedergegeben, die Vorgehensweise seiner Abteilung kritisiert und im Namen der Öffentlichkeit schnelle Ergebnisse gefordert. Ein Berliner Hauptkommissar der Mordkommission im Lebenshilfeseminar! Das war ein gefundenes Fressen. Die Frau vom Märkischen Kurier schien Oesers feindseligen Blick zu bemerken. Eine Journalistin, die behauptete, sie würde das, was sie aufschnappte, nicht veröffentlichen – das war ein Witz! Gott sei Dank zählte der Märkische Kurier nicht zur täglichen Pflichtlektüre im Präsidium. Sonst würde gewiss irgendein Spaßvogel auf die Idee kommen, den Artikel am schwarzen Brett auszuhängen. Und im Nu wäre Oesers Selbsterfahrungstrip in die Mark der Kantinenwitz des Tages.
Die weitere Vorstellung der Seminarteilnehmer verlief ohne Überraschungen. Sie waren Manager, Software-Entwickler, Web-Designer oder Konzeptoren. Kreativ-Gesocks eben – genau das, was Oeser erwartet hatte. Nur eine junge Frau, die sich als Lucie Schröder vorstellte, passte nicht so ganz in die Runde. »Wer will, kann Lucie zu mir sagen«, erklärte sie kokett und fügte hinzu, dass sie gerade dabei sei, in einer jungen Werbeagentur Karriere zu machen, und gewissermaßen als Präventivmaßnahme an dem Kurs teilnehme. »Um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und den Sinn fürs Wesentliche nicht zu verlieren!«
Lydia Baumgarten war begeistert über so viel Voraussicht in jungen Jahren. »Leider kommen die meisten erst, wenn sie ein heftiges Burn-out hatten!«
Oeser hingegen witterte, dass hier etwas faul war. Die Formulierungen von Lucie Schröder klangen seltsam zurechtgelegt, so als hätte sie ihren Text auswendig gelernt. Außerdem erweckte sie mit dem tief dekolletierten Nichts, das sie anhatte, und den quietschroten Haaren, in denen eine grüne Designersonnenbrille steckte, nicht den Eindruck, als würde sie weiter denken als bis zum nächsten Flirt in der Chefetage.
Im Laufe seiner Dienstzeit hatte Oeser die Erfahrung gemacht, dass man entgegen der landläufigen Meinung selten falsch lag, wenn man von Äußerlichkeiten auf den gesamten Menschen schloss. Auch Vorurteile konnten sehr hilfreich sein bei der Einschätzung einer Persönlichkeit. Man sollte sich nicht durch unnötige Differenzierungen und diesen ganzen Psychokrempel den Blick für das Entscheidende versauen.
Bei Lucie Schröder gab es sowieso nichts zu differenzieren. Sie war eine schlechte Schauspielerin und hatte nichts anderes im Sinn, als sich hochzuvögeln, das war ihr »Sinn fürs Wesentliche«, ihr ganz persönliches Life-Work-Balance-Programm. Da konnte sie erzählen, was sie wollte. Oeser wusste Bescheid.
Bald geriet der korpulente Hauptkommissar noch heftiger ins Schwitzen. Nach dem Programmierer Herwig Sternhagen, der wie die meisten darum bat, beim Vornamen genannt und geduzt zu werden, war zweifellos Oeser an der Reihe, sich vorzustellen. Während der gutmütige Herwig davon berichtete, dass er seit Jahren bis in die Nacht hinein schuftete und von seinen Kollegen ausgenutzt wurde, die ihm stets zusätzliche Arbeiten aufhalsten, dass deshalb seine Ehe in eine schwere Krise geraten sei und er drohe, unter der Last der vielen Anforderungen zusammenzubrechen, beobachtete Oeser aus den Augenwinkeln diese Abendroth vom Märkischen Kurier, die unentwegt etwas in ihr Notizbuch kritzelte. Am liebsten hätte er sich auch ein Märchen ausgedacht wie Lucie Schröder, aber er hatte bereits in dem Teilnahmebogen angegeben, welchen Beruf er ausübte.
»Wollen Sie jetzt?«, fragte Lydia Baumgarten und nickte Oeser aufmunternd zu.
Der Hauptkommissar rieb sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Normalerweise war er es, der jemanden zum Reden brachte. Nun spürte er, wie sich alle Blicke auf ihn richteten.
»Verdammt heiß hier«, stöhnte er. »Mein Name ist Bernhard Oeser. Ich bin Hauptkommissar der Berliner Kripo und ein chronisch neugieriger Mensch. Aber keine Angst, ich bin aus rein privaten Gründen hier. Wie den meisten der hier Anwesenden fällt mir am Wochenende immer die Decke auf den Kopf.« Er registrierte ein paar vereinzelte Lacher. »Außerdem ist es in der Stadt bei diesen Temperaturen nicht auszuhalten. Ein Seminar im Grünen, dachte ich, keine schlechte Idee! Ein bisschen frische Luft und vielleicht kann man ja noch etwas lernen. Wie war doch gleich das Thema?«
Jetzt lachten alle. Lydia Baumgarten allerdings etwas säuerlich. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, dass er sich wie all die anderen als Opfer seines Jobs darstellte oder sich zumindest ernsthaft mit dem Gegenstand der Veranstaltung auseinandersetzte. Aber da hatte sie sich geschnitten. Nie im Leben würde er ausposaunen, dass er nur hier war, um seinen Kollegen und diesem lästigen Psychoheini den Wind aus den Segeln zu nehmen. Was ging es Lucie Schröder, Lydia Baumgarten oder gar diese verdammte Abendroth – und damit die gesamte Leserschaft des Märkischen Kuriers – an, dass er bereits zwei Herzinfarkte hinter sich hatte, eine vorzeitige Pensionierung jedoch kategorisch ablehnte und nun von lauter selbstlosen Menschen, die natürlich nur um seine Gesundheit besorgt waren, im Amt geschont wurde – was nichts anderes bedeutete, als dass sie ihn aufs Abstellgleis geschoben hatten. Formal war er zwar noch immer Leiter der Abteilung. Doch seit seinem letzten Infarkt teilte er sich den Posten mit seinem Stellvertreter, Hauptkommissar Volker Röntsch. Sie wollten ihn entlasten. Wie nett! Das hieß Pressearbeit, Koordination, Papierkram, Versammlungen. Sein Chef, der alte Barendorfer, hatte ihm klargemacht, dass das auch zu den Aufgaben eines Abteilungsleiters gehöre. Oeser war nun so gut wie von allen Ermittlungen ausgeschlossen und musste zweimal pro Woche zum Neurosenspezialisten. Das hatte ihm Barendorfer empfohlen. Als ob er einen Dachschaden hätte. Er hatte was am Herzen. Sherlock-Holmes-Syndrom! Wenn er sich aufregte, dann spürte er wieder die Stiche in der Herzgegend. Warum ließen sie ihn also nicht in Ruhe seine Arbeit machen?
»Also gut«, ergriff wieder Joachim Rosenstock das Wort. »Nachdem wir uns nun ein bisschen besser kennen, wollen wir gleich loslegen. Zeit ist Geld, heißt es im Volksmund. Doch im Gegensatz zum Geld lässt sich die Zeit nicht vermehren, man kann sie sich nicht verdienen, borgen oder einen Zeitkredit aufnehmen. Man muss mit dem auskommen, was einem an Zeit zur Verfügung steht, auch wenn der Bedarf wesentlich höher ist. Deshalb ist es wichtig, diese zur Verfügung stehende Zeit so zu nutzen, dass keine Defizite entstehen. Denn nichts charakterisiert einen Menschen mehr als das, wofür er keine Zeit hat. Überlegen Sie mal, wofür Sie niemals Zeit haben!«
Während Joachim Rosenstock erwartungsvoll ins Publikum schaute, schnappte sich Lydia Baumgarten ein Stück Kreide, um die Begriffe, die von den Kursteilnehmern in die Runde geworfen wurden, an den linken Rand der Tafel zu schreiben: Familie, Urlaub, Faulenzen, Freunde, Hobbys, Kino, Sport und Nachdenken.
Oesers Nachbarn übernahmen das Tafelbild in ihre Notizbücher, während der Hauptkommissar aus dem Fenster schaute und darüber nachdachte, wofür er eigentlich keine Zeit hatte. Ihm fiel nichts ein. Natürlich hatte er keine Zeit für den üblichen Freizeitschnickschnack, mit dem seine Mitmenschen die Wochenenden und Feierabende vertrödelten, bis sie sich zu Tode gelangweilt hatten. Er hatte also keine Zeit für Dinge, die er als Zeitverschwendung betrachtete. Für das, was ihm wirklich wichtig war, würde er immer Zeit finden. Stundenlang konnte er vor seinem Aquarium sitzen und seine Gedanken schweifen lassen, während die bunt schillernden Kampffische, Schwertträger und Skalare ihre Runden zogen. Niemals würde er auf die Uhr schauen, wenn er die Platten von Johnny Cash hörte. Und jederzeit war er bereit, alles stehen und liegen zu lassen, wenn es darum ging, einen Nachmittag mit seinem Sohn zu verbringen, der inzwischen selbst schon einen Sohn hatte.
Die Einteilung des Lebens in Arbeits- und Freizeit hielt Oeser für vollkommen unnütz. Wenn jemand einen Beruf hatte, den er von seinem übrigen Leben glaubte trennen zu müssen, dann hatte er die falsche Wahl getroffen. Das war zumindest Oesers Überzeugung.
Inzwischen war Joachim Rosenstock dazu übergegangen, Begriffe abzufordern, die die Teilnehmer mit ihrer Arbeit verbanden. Erfolg, Selbstbestätigung, Einfluss, Geld, Kreativität kritzelte Lydia Baumgarten nun an den rechten Tafelrand.
»So«, sagte Rosenstock zufrieden. »Nach der Pause wollen wir damit beginnen, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Seiten herzustellen. Denn das Glück liegt wie immer in der Mitte – oder wie wir sagen: in der Balance!« Rosenstock tat so, als hätte er in jeder Hand ein Gewicht. Die Waage, die er mit seinen Armen andeutete, wurde mal von der einen und mal von der anderen Last heruntergezogen. »Um das Leben neu auszutarieren, müssen wir uns von allem überflüssigen Ballast befreien. Das nennen wir ›resetten‹.«
Oeser beobachtete Herwig Sternhagen, der »resetten« in sein Notizbuch schrieb und zweimal unterstrich. Der Hauptkommissar hatte dieses Wort noch nie gehört.
»Und damit das Ganze nicht in Theorie ausartet – ein Beispiel aus der Praxis!« Rosenstocks imaginäre Gewichte lösten sich in Luft auf und der Seminarleiter rieb sich die Hände. »Neulich funktionierte in meinem Büro das schnurlose Telefon nicht mehr. Das Mobilteil verlor immer wieder den Kontakt zur Basisstation. Da rief ich beim Kundendienst an. Und der nette Berater sagte mir, ich solle im Menü die Funktion ›Reset‹ betätigen, vier Nullen eingeben und das Mobilteil neu anmelden. Das habe ich getan. Seitdem funktioniert das Gerät wieder. Nichts anderes machen wir hier. Sie haben gewissermaßen auch den Kontakt zu Ihrer Basis verloren. Den wollen wir wieder herstellen. Vorher müssen wir jedoch die Programmierung zurücksetzen in den Nullzustand.«
»Nun ist der Mensch natürlich eine etwas kompliziertere Maschine als ein Telefon«, warf Lydia Baumgarten ein.
»Gewiss, gewiss«, bestätigte Joachim Rosenstock. »Deshalb haben wir ja auch keine Kundendiensthotline.«
Einzelne Seminarteilnehmer lachten, während Oeser dieser Unsinn gewaltig auf die Nerven ging. Durch das Fenster schaute er sehnsüchtig einem Bus hinterher, der sich über eine Allee entfernte. Allzu gerne hätte er in dem Fahrzeug gesessen, egal wohin es fuhr. Hauptsache, es brachte ihn von hier fort, weg von diesem gut gelaunten Seminarleiterpaar, weg von dem beflissenen Herwig Sternhagen und von der freizügigen Lucie Schröder und vor allem: weg von der lauernden Abendroth vom Märkischen Kurier! Die Tatsache, dass der größte Teil des Wochenendes noch vor ihm lag, deprimierte Oeser zutiefst.
»Leider gibt es in unseren Köpfen keine Menüs«, erläuterte Rosenstock. »Wir müssen uns anders resetten. Zum Beispiel durch Meditation.«
»Morgen werden wir ein buddhistisches Kloster besuchen, das sich nur ein paar Kilometer von hier entfernt befindet, und einiges über Meditationstechniken erfahren«, kündigte Lydia Baumgarten an.
»Keine Angst!« Verschmitzt schmunzelte Rosenstock in die Runde. »Sie müssen nicht konvertieren. Es geht nur darum, eine Balance zu finden und bewusster mit der Zeit umzugehen, denn …« Er zeigte auf die Tafel. »… Zeit kann man nicht haben, man kann sie nur genießen. Und jetzt genießen wir erst mal unsere Pause.«
Oeser versenkte den Teebeutel im heißen Wasser und starrte mürrisch in die Flüssigkeit, die sich hellgrün färbte. Eigentlich war es viel zu heiß für Tee. Aber irgendwo hatte er mal gelesen, grüner Tee beruhige die Nerven. Das Zeug schmeckte zwar nach verfaultem Heu, aber das nahm Oeser gerne in Kauf, wenn er dadurch einen Zustand der Ruhe und Gelassenheit erlangte – seine einzige Chance, dieses Wochenende zu überleben. Denn eines stand fest: Wenn das so weiterging, war er seinem dritten Infarkt näher als einem inneren Gleichgewicht.
Meditation! Er erinnerte sich an seinen Kollegen Winfried Wohlert von der Organisierten Kriminalität, der immerzu von dem sagenhaften Zustand geredet hatte, in dem der Geist seine Heimstatt findet. Eines Tages hatte Wohlert keinem Geringeren als dem Polizeipräsidenten höchstpersönlich den Vorschlag unterbreitet, fünfhundert Polizisten als yogische Flieger auszubilden. Durch die energetischen Strahlungen dieser meditierenden Fliegerstaffel, so Wohlert, gäbe es bald kein Verbrechen mehr in Berlin. Das positive Energiefeld der Meditierenden würde sich auf das Bewusstsein der Einwohner übertragen und bald käme niemand mehr auf die Idee, etwas anderes zu tun, als in Frieden zu leben und seine Mitmenschen zu lieben. Der verblüffte Präsident konnte der Logik Wohlerts wohl nicht so ganz folgen. »Ist ja ganz klar«, kommentierte Wohlert später die Ablehnung seines Vorschlags. »Der hängt an seinem Posten. Niemand braucht mehr einen Polizeipräsidenten, wenn es kein Verbrechen mehr gibt.« Das wiederum fand Oeser einleuchtend. Die besten Einfälle scheiterten stets an den Strukturen. Später hatte er Wohlert mal in einem Wahlwerbespot der Naturgesetz Partei gesehen. Im Schneidersitz vollführte Wohlert darin zu Sitarklängen froschähnliche Luftsprünge. Und eine Stimme verkündete: »Transzendentale Meditation verändert die Welt! Ein neues Bewusstsein für eine neue Politik!« Vielleicht hatte auch der Polizeipräsident den Spot gesehen. Jedenfalls wurden dem Kollegen Wohlert danach nur noch weniger verantwortungsvolle Aufgaben übertragen.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Oeser brauchte nicht von seiner flüssigen Nervennahrung aufzusehen, um zu wissen, wer ihm da gerade diese Frage gestellt hatte. Sein missbilligendes Knurren deutete Frau Abendroth selbstverständlich als Zustimmung. Sie legte ihr Notizbuch auf den Tisch und nahm ihm gegenüber Platz. Sofort fuchtelte sie mit ihrem rechten Arm nach dem Kellner, um sich eine Apfelschorle zu bestellen. So war es, dieses Journalistenvolk. Oeser hatte es oft genug erlebt. Niemals warten können. Immer lautstark vorneweg!
Dabei hatte sich Oeser extra einen Tisch ausgesucht, der etwas abseits von denen stand, um die sich die anderen Seminarteilnehmer scharten. Jedem musste doch klar sein, dass er, Oeser, seine Ruhe haben wollte, dass ihm nicht der Sinn nach Konversation stand. Und jeder akzeptierte dieses Bedürfnis des Hauptkommissars, sich für eine halbe Stunde zurückzuziehen. Nur nicht Frau Abendroth vom Märkischen Kurier!
»Ist es nicht ein bisschen heiß für grünen Tee?«, begann sie sofort das Gespräch.
Oeser knurrte.