Ralph Gerstenberg
Hart am Rand
Kriminalroman
ebooknews press
Impressum
Copyright © 2016
ebooknews press
Verlag Dr. Ansgar Warner
Rungestr. 20 (V)
10179 Berlin
ISBN: 9783944953397
Coverbild:
Robert Agthe
(cc-by-2.0)
Wir sind viele und wir sind zu zweit
Wir sind big in Berlin tonight
Die Sterne
Mona
Obwohl es nieselte, hatte Feueratze noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Er zog die Kapuze seines Anoraks über den roten Haarschopf und nahm einen Schluck aus der Flasche. Die Jungs lagen längst in ihren Betten. Feueratze lächelte zufrieden. Knapp tausend Mark hatten sie in dieser Nacht einkassiert. Zwar tat ihm noch ein wenig die Hand weh, mit der er diesen dicken Mann davon hatte überzeugen müssen, ihm aus dem Weg zu gehen, aber fast tausend Mark in einer Nacht – das musste gefeiert werden!
Doch nun saß er allein auf der Parkbank. Die Glocke der Sophienkirche schlug dreimal und der Klang erinnerte Feueratze an die Kleinstadt, aus der er vor knapp dreißig Jahren hierher gekommen war. Aus der Bar gegenüber drang Musik, sobald die Tür aufging. Greenwich! So hießen die Kneipen heutzutage. Jede Menge Jungvolk. Nichts für ihn.
Die Flasche Korn hatte er vorhin an einem Imbiss gekauft, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Aber alleine zu Hause mit einer Flasche Korn … Da blieb er lieber hier draußen im Freien. Schade, dass Richie nicht da war. Mit dem konnte man immer noch einen trinken, egal, wie spät es war.
Ein Mann in einem Lodenmantel bewegte sich leicht schwankend auf Feueratze zu. Er war unrasiert und trug einen Jägerrucksack auf dem Rücken. In der rechten Hand hielt er einen Katzenkorb. Feueratze hatte ihn noch nie gesehen.
“Ist hier noch frei?”, erkundigte sich der Mann, und als Feueratze nickte, stellte er den Katzenkorb auf den Boden, legte seinen Rucksack auf die Bank und setzte sich daneben.
“Ooch 'n Schluck?” Obwohl der Mann irgendwie seltsam aussah, kam Feueratze ein wenig Gesellschaft nicht ungelegen. “Ich heiße Jonathan”, sagte der Mann mit einem norddeutschen Dialekt, bevor er die Flasche ansetzte.
Feueratze erkannte sofort, dass dieser Jonathan ein Trinker war – so wie er selbst. Er war ihm also nicht unsympathisch. “Bist wohl nich von hier?”
“Aus Oldenburg.”
“Wat is 'n da drin in dem Korb?”, fragte Feueratze neugierig, nachdem ihm Jonathan die Flasche zurückgegeben hatte.
“Mona, mein Sonnenstrahl!”
“'ne Katze?”
“Mein einziger Liebling.”
“Lass mal sehen!”
Jonathan schüttelte energisch den Kopf.
“Wat is 'n los, ick will mir doch bloß mal deine Mieze ansehen.”
“Mona hat Angst. Sie kennt sich hier nicht aus. Und Max habe ich schon verloren.”
“Wer is 'n Max?”
“Ihr Bruder. Jetzt ist er fort, weil dieser verdammte Tierarzt das Fenster offen gelassen hat – dieser Katzenschänder!” Das letzte Wort brüllte Jonathan in die Nacht.
“Noch 'n Schluck?”, fragte Feueratze und hoffte, ihn damit wieder ein wenig beruhigen zu können. Wenn der hier weiter so rumschrie, dann rief womöglich noch jemand die Bullen.
“Sechs Wochen habe ich Max gesucht”, erklärte Jonathan, nachdem er von dem Schnaps getrunken hatte. “Jeden Tag. Habe Zettel aufgehängt und von morgens bis abends systematisch die ganze Stadt durchkämmt. Ohne Erfolg. Erst bin ich meinen Job losgeworden, dann meine Wohnung. Und jetzt sind wir hier, Mona und ich.” Er warf einen liebevollen Blick auf den Katzenkorb.
“Na, du bist ja vielleicht 'n dämlicher Hund. Wegen so 'nem blöden Katzenvieh hast du deine Hütte und deine Arbeit verloren?” Feueratze musterte verständnislos die merkwürdige Gestalt in dem dreckigen Lodenmantel.
“Mona ist das Einzige, was ich noch habe”, murmelte Jonathan und blickte gedankenverloren in eine Pfütze.
Verrückt, dachte Feueratze, der Typ hat sie nicht alle. Er spielte mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen. Sich nachts im Regen mit einem Irren eine Flasche Schnaps zu teilen – da konnte er sich wahrlich etwas Besseres vorstellen.
“Ich muss mal”, verkündete Jonathan und stand auf. “Kannst du so lange auf Mona aufpassen?”
“Na gut”, brummte Feueratze und zündete sich eine Zigarette an. Eine rauchen konnte er ja noch. “Nicht da!”, rief er, als Jonathan gleich hinter der Bank in den Sträuchern verschwinden wollte, und zeigte ihm das Gebüsch auf der anderen Seite, das seine Freunde und er als Toilette benutzten. Wäre ja noch schöner, wenn hier jeder hinpinkeln würde, wo er wollte.
Während er auf die Rückkehr Jonathans wartete und rauchte, fiel sein Blick immer wieder auf den Katzenkorb.
“Na, Mona”, hörte er sich sagen. “Is dit nich 'n bisschen nass da drin? Daran hat dein durchjeknalltet Herrchen wohl nich jedacht. Wollen mal sehn.”
Er öffnete den Deckel. Zwei grüne Augen funkelten ihn an. Mona war schwarz wie die Nacht. Feueratze wollte sie streicheln. Doch bevor seine Hand den Katzenkopf berühren konnte, sprang das Biest aus dem Korb, rannte quer über die Straße und verschwand hinter den Planen eines Baugerüstes.
“Warte doch, du verdammtes Mistvieh!”, rief Feueratze ihr hinterher. Er wollte aufstehen, um sie zu verfolgen, aber der Alkohol hatte seinen Körper schwerfällig gemacht. Plötzlich hörte er es neben sich schnaufen. Er drehte sich um und starrte in das wutverzerrte Gesicht von Jonathan. In dessen Hand blitzte blanker Stahl. Feueratze wollte etwas sagen, doch er brachte nur einen gurgelnden Laut heraus. Die Klinge, die in seine Brust gerammte wurde, ließ ihn erstarren. Der nächste Messerstich trennte seinen Körper von seiner Seele.
Das Attentat
Das Tor der Justizvollzugsanstalt Tegel öffnete sich. Der Kleintransporter einer Installationsfirma verließ das Gelände. Ein Lieferwagen davor wollte eingelassen werden. Hinter ihm schlossen sich die Stahltüren. Feine Regentropfen, die sich auf der Windschutzscheibe meines Volvos sammelten, bildeten einen Schleier, durch den ich das Backsteingemäuer des Eingangs beobachtete. Seit Tagen nieselte es ununterbrochen.
Hannah war fast vollständig hinter ihrer Zeitung verschwunden, die sie vorhin an einem Kiosk gekauft hatte. Seit ungefähr einer halben Stunde standen wir nun schon im Halteverbot und warteten darauf, dass Theo mit einem Koffer in der Hand zum letzten Mal dieses Tor durchquerte. Vier Jahre hatte er dort drinnen verbracht, weil er die Berliner Clubszene mit den chemischen Substanzen versorgt hatte, ohne die die Technobewegung vermutlich kaum aus den Startlöchern gekommen wäre. Er hatte den Speed für die 200 Beats pro Minute produziert und dafür einen ziemlich hohen Preis bezahlt. Vier Jahre hatte ich Theo nur bei gelegentlichen Besuchen im Gefängnis gesehen oder an einigen Wochenenden, an denen er Hafturlaub hatte. Obwohl er im letzten halben Jahr sogar Freigänger gewesen war, hatte die Häufigkeit unserer Treffen kontinuierlich abgenommen. Im sterilen Besucherraum der Haftanstalt wollte keine rechte Stimmung aufkommen, und wenn Theo draußen gewesen war, waren unsere Gespräche regelmäßig im Alkohol ertrunken, so dass es nach zwei Tagen eine ziemliche Strapaze war, ihn zur rechten Zeit einigermaßen nüchtern wieder im Knast abzuliefern. Zum Schluss hatte es zwischen uns eine stillschweigende Vereinbarung gegeben, mit unserem nächsten Treffen bis zu seiner Entlassung zu warten.
Langsam wurde es kalt im Auto. Ich ließ den Motor wieder an und drehte die Heizung auf. Hannah warf mir einen dankbaren Blick zu. Dann stellte ich das Radio ab, das mich nervte, seitdem ich es eingeschaltet hatte, und schob eine Kassette von Tom Waits ins Tapedeck, die ich in Erinnerung an alte Zeiten extra eingesteckt hatte, um unser Wiedersehen zu feiern. Bei den ersten Klängen von Telephon call from Istanbul konnte ich sehen, dass Hannah auch damit einverstanden war.
“Schon wieder ein Überfall”, sagte sie, gab mir einen Teil der Zeitung und tippte auf einen Artikel mit der Überschrift Wirte in Angst – Serie von Raubüberfällen auf Berliner Szene-Kneipen reißt nicht ab.
Seit Wochen hielt eine Bande von „Tresengangstern“ vor allem Besitzer von Clubs und Kneipen rund um die Hackeschen Höfe in Atem. In der Regel kamen sie zu dritt oder zu viert. Einer bedrohte den Barkeeper mit einer Pistole, die anderen hielten die Gäste in Schach. So kassierten sie jedes Mal die gesamten Einnahmen und, wenn sie sich besonders sicher fühlten, auch noch die Wertsachen der Besucher. Die Polizei hatte aus „ermittlungstechnischen Gründen“ eine Informationssperre verhängt und beschränkte ihre Öffentlichkeitsarbeit vorerst darauf, besorgten Gastwirten ihre gemeinsam mit der Hotel- und Gaststätteninnung erarbeitete Broschüre Geld oder Leben zu empfehlen. Die enthielt einige Tipps, wie man sich vor einem Überfall schützen konnte – beispielsweise indem man einen großen Hund neben dem Tresen postierte oder zu fortgeschrittener Stunde Gäste nur noch nach Klingelzeichen und Sichtkontrolle einließ. Wirklich nützliche Hinweise also.
“Hast du Axel schon mal gefragt, ob er euch einen Kampfhund spendiert?”, fragte ich Hannah, während ich den Lokalteil wieder zusammen faltete.
“Sehr witzig!”
Axel gehörte das Submarine, eine kleine Kellerbar am Hackeschen Markt, in der Hannah arbeitete. Da sich die Täter offensichtlich auf Läden spezialisiert hatten, die in der so genannten neuen Berliner Mitte gerade angesagt waren, war die Befürchtung nicht ganz unberechtigt, dass sie auch dort demnächst mal auf eine Stippvisite vorbei schauen würden.
“Dass dieser Kerl immer zu spät kommt, selbst zu seiner Entlassung”, schimpfte Hannah und hielt die Hände über die Öffnung neben dem Handschuhfach, aus der mittlerweile ein lauwarmer Luftstrom wehte. “Der würde sich selbst auf seiner eigenen Hochzeit verspäten.”
“Vielleicht kann er ja nichts dafür.”
“Natürlich kann er nichts dafür. Ich bitte dich, Henry! Hast du es schon jemals erlebt, dass Theo keine Entschuldigung gefunden hätte? Es gibt immer irgendeinen Grund, für den er selbstverständlich nichts kann. Und wenn alles nichts hilft, lässt er seinen Charme spielen. Der kann doch nicht mal was dafür, dass er eingebuchtet worden ist.” Langsam redete Hannah sich in Rage.
“Sei nicht ungerecht”, entgegnete ich. “In den ersten Monaten hinter Gittern hatten seine Selbstvorwürfe beinahe religiösen Charakter. Er hat sogar den Allerhöchsten um Vergebung gebeten. Kannst du dir Theo beim Gottesdienst vorstellen?”
Doch Hannah schien das nicht zu überzeugen. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war er an einem Wochenende draußen und dementsprechend alkoholisiert gewesen. Ich erinnerte mich noch gut, dass er im Submarine vor dem Tresen jede Frau angemacht hatte, die zufällig in seine Nähe gekommen war. Und genauso gut erinnerte ich mich noch an den Blick, mit dem Hannah ihn dabei beobachtet hatte: eine Mischung aus Mitleid und Befremden. In diesem Blick hatte sich Theos ganzes Elend widergespiegelt. Geil, betrunken und erfolglos bei den Frauen – tiefer konnte man nicht sinken.
Dabei hatte Theo Hannah einmal mindestens so nahe gestanden wie mir. Mitte der achtziger Jahre, als auf unserer Seite der Mauer noch regelmäßig die Jahrespläne übererfüllt wurden, gab es für uns nichts, was eine Anstrengung lohnend hätte erscheinen lassen. Wir lebten in einem künstlichen Vakuum, hatten unser Abitur in der Tasche und ansonsten nichts außer Zeit, die wir größtenteils zusammen verbrachten. Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint mir unsere Beziehung zu dritt so seltsam und unwirklich wie die Welt, in der wir damals lebten. Hannah hat sich als Erste daraus verabschiedet. Sie war realistisch genug gewesen zu kapieren, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, und hatte sich in Richtung Westen auf und davon gemacht. Kurze Zeit später hatte Theo einen Studienplatz bekommen, der ihn dazu befähigen sollte, das Zeug herzustellen, für das er dort gesessen hatte, von wo wir ihn jetzt abholten.
Inzwischen hatte Hannah sich wieder beruhigt. Sie kramte einen kleinen silbernen Spiegel aus der Tasche, strich sich ihre halblangen kastanienbraunen Haare zurück und begann sich mit einem dunkelroten Stift die Lippen nach zu ziehen, obwohl die eigentlich schon ganz gut bemalt aussahen. Mittlerweile war es Viertel vor elf. Um zehn hatte Theo entlassen werden sollen.
Während Hannah sich schminkte, beobachtete ich einen Mann vor dem Eingang der Haftanstalt. Er trug keinen Schirm, nur einen Hut, der ihn etwas vor dem Regen schützte, und stand dort bestimmt schon genauso lang, wie wir hier im Auto saßen. Den Kragen hochgeschlagen, eine Hand wie Napoleon vor der Brust in den Mantel geschoben, lehnte er an einem Geländer und harrte fast bewegungslos im Regen aus. Nur hin und wieder entzündete er geduldig eine Zigarre, wenn der Regen, der inzwischen stärker geworden war, wieder einmal die Glut gelöscht hatte. Ich schaltete den Scheibenwischer ein, um ihn besser sehen zu können. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er konnte sechzig sein, aber auch siebzig. Die grauen Haare trug er halb lang, dazu einen Dreitagebart und eine Brille. Ich wunderte mich, dass er sich nicht irgendwo unterstellte. Fast hätte man annehmen können, sein stoisches Ausharren bei Wind und Wetter vor dem Gefängnistor sei eine Art Demonstration – für bessere Haftbedingungen, gegen offenen Vollzug oder was weiß ich. Vielleicht hatte er dem Pförtner eine Mitteilung zukommen lassen, dass er so lange hier stehen blieb, bis die Anstaltsleitung zu einer Anhörung bereit war. Doch je länger ich ihn betrachtete, wie er dort am Geländer lehnte und den Eingang nicht aus den Augen ließ, desto merkwürdiger kam mir der Mann vor. In mir keimte ein seltsamer Verdacht. Womöglich wartete er auf jemanden, mit dem er noch eine Rechnung zu begleichen hatte, jemand, der heute entlassen wurde.
“Ist dir der Mann dort im Regen schon aufgefallen?”, fragte ich Hannah.
Sie blickte von ihrem Spiegel auf und sagte: “Na endlich, da kommt er ja!”
“Wer?”
“Na, wer wohl?”
Dann sah auch ich Theo, wie er mit einer Sporttasche über der Schulter uns winkend entgegen lief. Der Mann am Geländer zog etwas unter seinem Mantel hervor. Ohne zu zögern stieß ich die Wagentür auf und brüllte, so laut ich konnte: “Theo, Achtung!”
Im selben Augenblick blitzte es. Ich stand neben dem Auto und konnte nichts anderes tun als zuzusehen, was in wenigen Metern Entfernung vor meinen Augen passierte. Allerding hatte ich keinen Schuss gehört. Und Theo fiel auch nicht von einer Kugel getroffen zu Boden, sondern lief dem vermeintlichen Attentäter entgegen und umarmte ihn.
“Was ist denn mit dir los?”, fragte Hannah und musterte mich skeptisch. “Nichts, ich dachte nur …”
“Na komm, gehen wir zu ihm!” Sie nahm die Blumen vom Rücksitz, die sie für Theo gekauft hatte, und stieg ebenfalls aus dem Wagen.
Theo stand noch immer neben dem Mann, der nun in der einen Hand eine Sofortbildkamera hielt und mit der anderen ein Polaroidfoto trocken wedelte. “Das ist für dich, damit du diesen Augenblick nie vergisst, in dem dein neues Leben begonnen hat”, hörte ich Theos Bekannten sagen.
Theo betrachtete das Bild, das langsam vor seinen Augen Konturen annahm, und war sichtlich bewegt. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals zuvor so gesehen zu haben. Erst als er das Bild sorgfältig in die Tasche gesteckt hatte, schien er uns zu bemerken.
“Hannah, Baby, du siehst ja wieder aus wie Bargeld, komm in meine Arme!”, rief er. Nachdem er auch mich ausgiebig an seine Brust gedrückt hatte, stellte er uns dem grauhaarigen Mann vor, der noch immer mit der Kamera in der Hand neben ihm stand: “Das sind Hannah und Henry, meine besten Freunde.”
“Sehr erfreut!”
“Und das ist mein Vater.”
Erst jetzt bemerkte ich, dass der alte Mann die gleiche überdimensionale Nase, das gleiche Kinn und die gleichen Brauen hatte wie Theo. Nur seine Augen wirkten irgendwie größer und heller. Aber das lag vermutlich an der Brille. Außerdem erinnerte ich mich an eine Begegnung mit ihm, die vor ungefähr fünfzehn Jahren stattgefunden haben müsste. Damals hatte sich Theo seinen Wartburg geborgt, um mit Hannah und mir an die Ostsee zu fahren. Theos Vater, der seinen Sohn kurz vor der Abfahrt noch in die Geheimnisse des Zweitakters eingeweiht hatte, war damals ein eleganter dunkelhaariger Mann gewesen, der mit weißem Hemd und goldenen Manschettenknöpfen die Motorhaube seines Wagens öffnete und zeigte, wo sich Zündkerzen, Keilriemen und der Wassertank für die Scheibenwaschanlage befanden. Ich glaube, er war für die Kulturarbeit in irgendeinem VEB zuständig gewesen. Irgendwann Anfang der neunziger Jahre hatte ich von Theo erfahren, dass seine Mutter gestorben war und sein Vater, der etwa zur gleichen Zeit seinen Job verloren hatte, kaum noch auf die Straße ging und sich mit Alkohol über den Verlust hinwegtröstete.
“Ich heiße übrigens Richard”, sagte er, nachdem er von Theo, Hannah und mir ein Foto gemacht hatte. Dann fuhren wir zusammen in meinem Volvo in Richtung Mitte. Theo wollte vorerst bei seinem Vater einziehen, der in der Auguststraße wohnte.
Richard saß neben mir auf dem Beifahrersitz, hinter uns kicherten Hannah und Theo, Mister Waits grölte: “Let me fall out the window with confetti in my hair”, und hin und wieder sang einer von uns mit, fast wie in alten Zeiten. Fast.
“Warum hast du uns eigentlich so lange warten lassen?”, fragte ich Theo. “Dein Vater hätte sich im Regen fast den Tod geholt und Hannah wäre beinahe explodiert.”
“Tut mir leid, aber es gab eine Menge Hände zu schütteln. Außerdem musste ich doch noch etwas organisieren, damit Hannah in Stimmung kommt.”
Ich hörte hinter mir einen Korken knallen und bekam am Hals ein paar Spritzer ab.
Hannah kreischte und spottete: “Sag ich doch, wenn ihm nichts mehr einfällt, lässt er seinen Charme spielen.”
“Auf die Freiheit!”, rief Theo. “Ich habe zwar keine Gläser, aber ich denke, Schampus kann man auch aus der Flasche trinken.”
Das war Theo. Während andere sich alle erdenkliche Mühe gaben, auf irgendwelchen geheimen Kanälen Alkohol ins Gefängnis zu schmuggeln, kam er mit einer Flasche Champagner wieder heraus. Im Rückspiegel konnte ich endlich wieder das vertraute Grinsen sehen, das ich bei unseren letzten Begegnungen so vermisst hatte.
Die Champagnerflasche machte die Runde und wir fuhren durch die verstopften Straßen am Potsdamer Platz, vorbei an Werbetafeln, Glasfassaden, Bauzäunen und Menschen, die mit hochgezogenen Schultern und starrem Blick den Bürgersteig entlangliefen. Obwohl die Stadt an diesem Tag grau und grässlich aussah, waren wir laut und ausgelassen wie eine Horde von Gymnasiasten am letzten Schultag.
Ankunft in der neuen Mitte
Hundegebell nach dem ersten Klingeln. Dabei hat bislang alles so gut geklappt. Nachdem ich Theo und seinen Vater nach Hause gebracht und Hannah am U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz abgesetzt hatte, fand ich sogar einen Parkplatzt in der Dircksenstraße und stellte zudem fest, dass das Haus, welches ich mir ausgesucht hatte, zu den raren Gebäuden in dieser Gegend zählte, das über kein Türschließsystem mit Klingelanlage verfügte. Spätestens da hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass mein Glückskonto für den heutigen Tag bereits überzogen war.
Die Tür wurde aufgeschlossen. Der Kläffer entpuppte sich als Dobermannverschnitt. Sofort schoss er auf mich zu und inspizierte, gefährlich knurrend, mein rechtes Bein. Sein Besitzer, der in der rechten Hand eine halb geöffnete Büchse Hundefutter hielt, rief ihn zurück und musterte mich misstrauisch. Ein weiteres schlechtes Zeichen: Der Mann bevorzugte das typische betont unmodische Besserwisser-Intellektuellen-Outfit – Kordhose und Schlabberpullover. Sofort fühlte ich mich absolut overdressed in meiner dunkelgrauen Hose, dem schwarzen Mantel und den frisch geputzten englischen Lackschuhen, die ich mir extra für diesen Job zugelegt hatte. Heute wäre der Secondhandlook, den ich normalerweise bevorzugte, angebrachter gewesen. Aber wer konnte so was ahnen?!
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