GAZA - bis zum bitteren Ende - Shlomi Eldar - E-Book

GAZA - bis zum bitteren Ende E-Book

Shlomi Eldar

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Beschreibung

"Gaza - bis zum bitteren Ende" ist ein spannendes Mosaik von Menschen, die die Geschichte von Gaza im Sommer 2005 erzählen, am Vorabend des Rückzuges der Israelis aus der Stadt und dem Streifen. Gaza der Hamas, Gaza voll Bewaffneter, Gaza, das zum größten Sicherheitsproblem Israels geworden ist. In der Zeitreise zwischen den Intifadas, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zeigt Eldar ein trauriges Bild von Versäumnissen auf beiden Seiten und fragt, wieso der Frieden versagt hat. Wieso die israelische Militärkonzeption das Einzige war, was Israel zu bieten hatte. Weitere Informationen: https://nahost-bücher.de

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Der Journalist Shlomi Eldar hebt sich von der Mehrheit der Israelis ab. Jahrelang hat er als Korrespondent des kommerziellen israelischen Fernsehsenders Kanal 10 aus dem Gazastreifen berichtet. Fast jeden Tag war er in den Nachrichtensendungen zu sehen, wie er in den Trümmern zerstörter Häuser, am Eingang der Schmuggler-Tunnel von Rafah oder vor den im Hintergrund vorbeiratternden Panzern stand und über das Leben im Gazastreifen berichtete. Er interviewte Politiker und Militante, Ärzte und Menschenrechtler und natürlich immer wieder auch einfache Zivilisten. Man sah ihn an der Seite vermummter und schwer bewa neter Islamisten oder im Gespräch mit Kindern, deren Haus von der israelischen Armee gerade zerstört worden war. Seine Geschichten waren lebendig und bewegend, mutig und leidenschaftlich, sie waren ungewöhnlich im israelischen Fernsehalltag. Es gab kaum einen Aspekt, den Eldar nicht beleuchtete und es sah so aus, als gäbe es keinen Winkel im Gazastreifen, den er nicht kannte. Er war überall und immer aktuell, mit viel Einfühlungsvermögen und gleichzeitig mit einem wachen, kritischen Blick. Im Jahr 2005 erschien dann sein Buch mit dem Titel „Gaza - wie der Tod“. Ein Wortspiel, denn das hebräische Wort für Gaza bedeutet auch „stark“, und „stark wie der Tod ist die Liebe“, heißt es im Hohelied.

Inhalt

Vorwort

Die Kinder der Steine

Einleitung

Wir fuhren nach Gaza. Wir verließen Gaza

Kapitel 1

Zurück nach Shabora

Kapitel 2

Die palästinensische Führungsakademie

Kapitel 3

Krieg und Frieden

Kapitel 4

Im Namen des Vaters – gegen den Vater

Kapitel 5

Hier ist der Hund begraben – dort ist er begraben wie ein Hund

Kapitel 6

Checkpoint Erez – Die Schande

Kapitel 7

Die Wüste Netzarim

Kapitel 8

Kinder werden erwachsen

Kapitel 9

Der allmächtige Vermittler und die kämpfende Familie

Kapitel 10

Bereitet euch auf die Kassamraketen vor

Kapitel 11

Wer für die Beseitigung des Terrors ist, soll seine Hand heben

Kapitel 12

Die Lüge von Nusseirat

Kapitel 13

Der Donner der Bombe

Kapitel 14

Jenseits des Regenbogens

Kapitel 15

Das Ziel: Abu Mazen zu erledigen

Kapitel 16

Man schreit: Hamas

Nachwort

Epilog

Vorwort

Der Gazastreifen ist nur ein winziges Stück Land im Nahen Osten. Kaum 42 Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle gerade 12 Kilometer breit. In diesem schmalen Landstrich am Mittelmeer leben mehr als 1,5 Millionen Palästinenser. Sie sind eingepfercht zwischen Israel und Ägypten, abgeschnitten von der Welt, die Stiefkinder der Geschichte. Und doch wird sich hier das Schicksal des Nahen Ostens entscheiden. Solange die Gaza-Frage ungelöst bleibt und solange die Menschen im Gazastreifen keine Zukunft haben, wird kein Frieden einkehren zwischen Mittelmeer und Jordan.

»Ich wünschte, der Gazastreifen würde im Meer versinken«, sagte einmal der frühere israelische Ministerpräsident Itzchak Rabin verdrossen. Er gab damit wieder, was die Mehrheit der Israelis beim Gedanken an das ungeliebte Anhängsel ihres Staates empfanden und noch immer empfinden. Der Gazastreifen mit seinen heruntergekommenen Flüchtlingslagern, seinen bettelarmen Menschen und seinen militanten Gruppierungen ist ihnen lästig und sie wünschten, sie könnten sich seiner entledigen, umso mehr, nachdem Israel im Sommer 2005 die israelischen Siedlungen aufgelöst und seine Truppen an die Grenzen zurückgezogen hat.

Der Journalist Shlomi Eldar hebt sich von der Mehrheit der Israelis ab. Jahrelang hat er als Korrespondent des kommerziellen israelischen Fernsehsenders Kanal 10 aus dem Gazastreifen berichtet. Fast jeden Tag war er in den Nachrichtensendungen zu sehen, wie er in den Trümmern zerstörter Häuser, am Eingang der Schmuggler-Tunnel von Rafah oder vor den im Hintergrund vorbeiratternden Panzern stand und über das Leben im Gazastreifen berichtete. Er interviewte Politiker und Militante, Ärzte und Menschenrechtler und natürlich immer wieder auch einfache Zivilisten. Man sah ihn an der Seite vermummter und schwer bewaffneter Islamisten oder im Gespräch mit Kindern, deren Haus von der israelischen Armee gerade zerstört worden war. Seine Geschichten waren lebendig und bewegend, mutig und leidenschaftlich, sie waren ungewöhnlich im israelischen Fernsehalltag. Es gab kaum einen Aspekt, den Eldar nicht beleuchtete, und es sah so aus, als gäbe es keinen Winkel im Gazastreifen, den er nicht kannte. Er war überall und immer aktuell, mit viel Einfühlungsvermögen und gleichzeitig mit einem wachen, kritischen Blick.

Im Jahr 2005 erschien dann sein Buch mit dem hebräischen Titel »Gaza – wie der Tod«. Ein Wortspiel, denn das hebräische Wort für Gaza bedeutet auch stark, und »stark wie der Tod ist die Liebe«, heißt es im Hohelied.

In diesem Buch bietet Eldar einen spannenden Einblick in das innere Leben des Gazastreifens. Er beschreibt die geschichtlichen Hintergründe, die politischen Entwicklungen und die sozialen Umstände. Er erläutert die Auswirkungen des Oslo-Friedensprozesses auf die Wirtschaft und die Bevölkerung des Gazastreifens. Er lässt die Vertreter aller politischen Strömungen zu Wort kommen, spricht mit Politikern von Fatah und Hamas, mit Aktivisten und Militanten.

Vor allem aber beleuchtet Eldar das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern. Schonungslos deckt er dabei israelische Vorurteile auf und scheut auch nicht davor zurück, seine eigenen Vorbehalte und Ängste zu thematisieren. Unverblümt berichtet er zum Beispiel, wie er als kleiner Junge zusammen mit seinen Eltern im Jahr 1967 zum ersten Mal den gerade besetzten Gazastreifen besuchte und dort, mit dem Gestus des Eroberers, einen gleichaltrigen arabischen Jungen angriff. An anderer Stelle beschreibt er seine Gefühle der Angst, als er zum ersten Mal als Journalist ein Flüchtlingslager besuchte, das er bis dahin nur als Soldat im gepanzerten Truppentransporter kennen gelernt hatte.

Seit dem Jahr 2006 war Eldar nicht mehr im Gazastreifen. Im Januar dieses Jahres fanden in den palästinensischen Autonomiegebieten Wahlen statt. Die Hamas errang die Mehrheit und bildete eine Regierung. Ministerpräsident wurde Ismail Haniyeh aus dem Flüchtlingslager Shati im Gazastreifen. Shlomi Eldar war der erste israelische Fernsehjournalist, der Haniyeh interviewte. Doch das war zugleich einer seiner letzten journalistischen Aufträge in Gaza. Denn kurz darauf erließ die Regierung in Jerusalem für israelische Journalisten ein Einreiseverbot in den Gazastreifen, den sie zu einem feindlichen Territorium erklärt hatte. Am 25. Juni 2006 hatten palästinensische Freischärler eine israelische Militärpatrouille überfallen, die jenseits der Grenze Streife fuhr. Dabei wurde der junge Soldat Gilad Shalit gefangen genommen und in den Gazastreifen verschleppt. Israel reagierte mit heftigen Bombardierungen und Militäroperationen. Gleichzeitig wurde eine strenge Blockade über den Gazastreifen verhängt, die bis heute in Kraft ist. Für die israelischen Reporter, die bis dahin aus dem Gazastreifen berichtet hatten, wurde die Grenze geschlossen.

Seither können nur noch ausländische Journalisten, die in Israel akkreditiert sind und eine Genehmigung der israelischen Behörden bekommen, in den Gazastreifen reisen. Die israelische Öffentlichkeit erfährt seither nicht mehr aus erster Hand, was sich im Gazastreifen ereignet, wie die Menschen dort mit der Blockade leben, die über sie verhängt wurde, und wie sich die Herrschaft der Hamas auf ihr tägliches Leben auswirkt.

Shlomi Eldar, der Verständnis hat für die Entscheidung der israelischen Regierung, bemüht sich dennoch weiter, die Zuschauer von Kanal 10 über den Gazastreifen zu informieren. Er selbst hält sich über sein Netzwerk an Freunden, Bekannten und Kollegen auf dem Laufenden und versucht, den Gesprächsfaden trotz aller Schwierigkeiten nicht abreißen zu lassen.

Am 16. Januar 2009 wurde Shlomi Eldar auch einem internationalen Publikum bekannt. Denn an diesem Tag saß er am Nachmittag in einer Diskussionssendung im Fernsehstudio, als sein Telefon klingelte. Am anderen Ende war der palästinensische Arzt Izzedin Abuelaish, der den Fernsehzuschauern bekannt war, weil er in den vorangegangenen Tagen des Krieges per Telefon über die Lage in seiner Heimat berichtet hatte. An diesem Nachmittag jedoch rief er um Hilfe. Ein israelischer Panzer hatte das Haus seiner Familie beschossen, drei seiner Töchter wurden dabei getötet und weitere Familienangehörige verletzt. Aus dem Fernsehstudio heraus organisierte Eldar Hilfe für den Arzt, der in palästinensischen und israelischen Krankenhäusern gearbeitet hatte und fließend Hebräisch sprach. Israelische Krankenwagen wurden an die Grenze geschickt, um die überlebenden Familienangehörigen abzuholen und in ein israelisches Krankenhaus zu bringen. Die Bilder dieses Geschehens gingen damals um die Welt. Selbst in Israel hielt man den Atem an. Kurz vor seinem Ende hatte der Gazakrieg für die israelischen Zuschauer ein menschliches Antlitz bekommen.

Durch den israelischen Angriff auf den Gazastreifen und die Geschehnisse um die Gaza-Hilfsflotte im Mai 2010 ist der kleine Landstrich wieder in das Licht der Öffentlichkeit gerückt worden, das Schicksal seiner Menschen ist wieder auf der Tagesordnung. Inzwischen ist klar, dass eine Lösung des Nahostkonflikts ohne dieses kleine Stück Land nicht möglich ist.

Eldars Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur Diskussion, denn es vermittelt bisher fehlende Kenntnisse über den Gazastreifen und seine Bewohner. Darüber hinaus ermöglicht es einen Blick auf das komplexe, vielschichtige und schwierige Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern.

Bettina Marx,

Berlin, Februar 2011

Für Michali, meine geliebte Ehefrau

Die Kinder der Steine

Nazar Kabani

Schüler von Gaza, lehrt uns, ein wenig von dem, was ihr kennt, lehrt uns, Männer zu sein, weil unsere Männer zu Teig geworden sind. Schüler von Gaza, hört nicht unsere Rundfunksendungen, und hört nicht auf uns.

Schüler von Gaza, kehrt nicht zurück zu unseren Schriften und lest uns nicht, wir sind eure Väter – werdet nicht wie wir! Wir sind eure Götzen – betet uns nicht an! Wir sind abhängig vom politischen Rauschgift und von der Unterdrückung, und wir bauen Friedhöfe und Gefängnisse.

Wir sind die Männer des Gedankens, des Schreibens und Auslassens. Zieht in eure Kriege und lasst uns in Ruhe.

Irre von Gaza, tausend herzliche Glückwünsche, den Irren.

Sie sind es, die uns befreien werden.

Die Zeit der politischen Vernunft ist längst vergangen. Deshalb, lehrt uns den Irrsinn!

Der bekannte syrische Dichter Nazar Kabani wird von den intellektuellen arabischen Kreisen verehrt und ist ein entschiedener Gegner des Friedensprozesses mit Israel. Zu Beginn der ersten Intifada veröffentlichte er diese Lobpreisung der Kinder der Intifada.

Einleitung

Wir fuhren nach Gaza. Wir verließen Gaza

Wir fuhren nach Gaza. Die ganze Familie drängte sich in den kleinen Käfer meines Onkels Moshe. Alle wollten wir mit eigenen Augen unsere Macht sehen. Wir waren doch Helden, in nur sechs Tagen hatten wir alle Araber besiegt. Und Gaza, oh weh, Gaza.

Damals, in der zweiten oder dritten Schulklasse, als wir zu einer Rundfahrt in den Süden fuhren, kamen wir bis zum Kibbuz Yad Mordechai, wo wir lernten, wer Mordechai Anilewicz war, der Führer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Man erzählte uns auch von dem ägyptischen Heer, das bis zu den Grenzen des Kibbuz vorgedrungen war, und was für ein Schlacht von Mann zu Mann dort stattgefunden hatte. Am Ende zogen sich die Ägypter zurück. An der internationalen Grenze zu Ägypten sahen wir eine Hütte mit UN-Soldaten, die dort die Stellung hielten. Wir, die ausgelassenen Lausbuben, setzten einen Fuß unter das Tor und frohlockten: »Wir waren im Ausland!«

Jetzt waren wir »im Ausland«: Helden und Angeber.

Mein Onkel Moshe ging zur Polizeiwache, einst eine britische Polizeistation, danach eine ägyptische, und jetzt kommandierte sein guter Freund, Major Igal Lushi, die Polizeikräfte in Gaza. Um uns herum liefen Polizisten in gebügelten Uniformen und großen Hüten, und draußen standen Palästinenser, die schon jetzt Arbeit suchten. Vielleicht würden sie etwas bei der Polizei finden.

Das Durcheinander war riesig. Der Markt auf dem Palestine-Platz war voll mit Menschen. Alle versuchten alles zu verkaufen, alles, was sie hatten. Und wir liefen dort herum wie Sieger.

In einer der Seitengassen stand ein junger Mann, der seine Briefmarkensammlung verkaufen wollte. Mein Bruder, ein fanatischer Briefmarkensammler, sah erstaunt zu. Eine solche Sammlung hatte er noch nie gesehen. »Man muss ein Esel sein, um so eine seltene Sammlung zu verkaufen.«

Ich kann mich genau an seine Worte erinnern. Man muss ein Esel sein. Der junge Mann aber war kein Esel. Er hatte Hunger.

Wir kauften billig ein, Stühle aus Holz, wie ich sie später in Ägypten gesehen habe, und andere Geschenke. Ich kann mich an den Geruch des arabischen Kaffees erinnern, den mein Vater kaufte, weil er so wenig kostete. Als wir die Sachen in den kleinen Kofferraum des blauen Käfers einluden, stand neben mir ein Junge in meinem Alter. Wir beide waren Kinder, aber er war ein Besiegter und ich ein Eroberer. Er war ängstlich und ich arrogant.

Ich kannte damals einige arabische Worte. »Liebst du Gamal Abd el Nasser?«, fragte ich, und in meiner Fantasie hielt ich eine Peitsche.

Mein Altersgenosse wusste, dass dies eine Falle war. »Jaani«, antwortete er. Das bedeutet: Leg meine Worte nicht auf die Goldwaage.

Aber ich wollte nicht zurückstecken. Wie angenehm das Gefühl der Macht doch ist.

»Sag mal, liebst du Um Kulthum?« Und auch das war eine Falle. Sie war ihre Kriegssängerin. Nach dem Krieg boykottierte meine Mutter ihre Lieder, und erst nach Jahren begann sie wieder, sie zu hören, nachdem sie ihr den Einsatz zugunsten der Araber verziehen hatte.

»Um Kulthum?«, fragte ich noch einmal, wie ein Untersuchungsrichter.

»Ja, ich liebe sie«, antwortete er.

»Fick dich«, verfluchte ich ihn. Vielleicht bereichert ich den Fluch noch mit einem weiteren Fluch, den ich aber nicht aufzuschreiben wage.

Der Junge war schockiert und hob seine Hand, um mich zu schlagen. Doch mein Bruder, der Briefmarkensammler, hatte das Geschehen beobachtet. Er rettete mich aus den Händen des Jungen und verjagte ihn. Auf dem Heimweg sprachen wir über diesen unerzogenen Jungen, der besiegt worden war und trotzdem die Unverschämtheit besaß, seine Nase und seine Hand zu erheben. Ich erzählt nicht, dass ich ihn beschimpft hatte. Das habe ich niemals erzählt.

Als ich – fast dreißig Jahre später – für meine Reportagen die Kinder der Intifada aufsuchte, stellte ich mir vor, dass ich auch den Jungen von damals, aus der Zeit kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, auf dem Markt von Gaza suche und finde. Was wohl aus ihm geworden ist? Vielleicht habe ich ihn im Lauf der Jahre gesehen, während ich in Gaza unterwegs war. Vielleicht ist er ein Arbeiter, vielleicht habe ich ihn gesehen, als er sich fast zu Tode drängeln musste im Menschenmeer des Grenzübergangs Erez, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Vielleicht hat er sich freiwillig bei der Fatah oder einer anderen Organisation gemeldet. Vielleicht wurde er verwundet, vielleicht ist er tot, vielleicht lebt er einfach sein Leben wie viele andere in seiner Stadt Gaza, in der Hoffnung auf andere Zeiten.

Dreiundzwanzig Jahre nach diesem Ausflug mit dem Käfer kam ich nach Gaza zurück. Eine ganze Generation war inzwischen dort geboren und aufgewachsen und hatte sich gegen uns erhoben, und wir haben nicht verstanden, warum. Auf dem Höhepunkt der ersten Intifada, im Sommer 1990, wurden die Teilnehmer der Reporterausbildung des israelischen Fernsehens aufgefordert, eine Reportage über eine Affäre zu filmen, die damals ganz Israel erregte: den Prozess »Givati B.«. Drei Soldaten einer Brigade hatten einen jungen Palästinenser von 16 Jahren, Ejad Muhamed Hakel, zu Tode geprügelt. Sie hatten ihn verdächtigt, zusammen mit seinem Cousin Halid Ali Hakel Steine auf Soldaten geworfen zu haben. Sie drangen in sein Haus ein, schlugen die beiden mit kräftigen Schlägen nieder, luden sie auf einen Jeep und fuhren zu einem Wäldchen in der Nähe. Dort prügelten die Soldaten sie mit Keulen, traten auf sie ein und schlugen sie mit Fäusten blutig.

Der Befehlshaber der Kompanie, Leutnant Ofer Reshef, gab bei der Untersuchung der Militärpolizei zu, dass er den entsprechenden Befehl gegeben hatte. Seine Zeugenaussage wird auch in dem Buch Gerechtigkeit unter Feuer von Amnon Strashnov erwähnt, dem damaligen Obersten Militärstaatsanwalt und späteren Richter: »Der Befehl lautete, Hände und Beine zu brechen, und ich habe ihn klar und deutlich weitergegeben … diesen Befehl, den ich meinen Soldaten gegeben habe, bekam ich persönlich bei den Sitzungen, die im Beisein von Verteidigungsminister Jitzhak Rabin und des Divisionskommandeurs stattfanden.« Der Oberste Militärstaatsanwalt Strashnov beschloss, die Soldaten und ihren Vorgesetzten, Oberleutnant Itzik Levite, der an der Tat selbst nicht beteiligt war, jedoch die Verantwortung übernommen hatte, vor Gericht zu stellen. Der Befehl, stellte der OMStA fest, war eindeutig gesetzwidrig, und die Soldaten hätten wissen müssen, dass sie ihn nicht ausführen durften.

Im Rahmen der Reportage, die ich damals vorbereitete, suchte ich die Menschen hinter der Affäre. Jenseits aller juristischen Vorbehalte und scharfen Formulierungen der Anwälte beider Seiten, jenseits der Reden über Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit und jenseits des Durcheinanders, das in diesem Krieg gegen eine Zivilbevölkerung herrschte und natürlich das Verhalten der Soldaten beeinflusst hat, wollte ich feststellen, welche Auswirkungen diese Affäre auf das Leben der Familie hatte, deren Sohn vor ihren Augen erschlagen worden war. Ich nahm Kontakt zu dem Journalisten Abd Abu Al-Hiskar aus Gaza auf, der mit der Zeit mein bester Kollege werden sollte, und er brachte die Mutter des Toten und den Cousin und Augenzeugen Halid Ali Hakel zum Grenzübergang Erez, weil ich damals natürlich keinen Zugang zum Flüchtlingslager Burreidsch hatte. Ejad Hakels Mutter weinte leise. Das Bild ihres jüngsten Sohnes, wie er mit Steinen und Gewehrkolben zu Tode geprügelt wurde, ließ ihr keine Ruhe. Der Cousin erzählte, wie ihn die Soldaten erbarmungslos geschlagen hatten und wie sie plötzlich gesichtslos und gefühllos wurden. Schon damals dachte ich, dass es Pflicht sein sollte, auch die andere Seite zu sehen, den Schmerz, den Zorn, die Worte und das Schweigen, das Weinen und sogar die Rachedrohungen, wenn man die Wurzeln des Konflikts und seine Entwicklung verstehen wollte. Sehen, um zu verstehen. Verstehen, um zu wissen, warum.

Als die zweite Intifada ausbrach, dachten die Israelis, dass alle Palästinenser an einem Tag irregeworden seien, als ob sie einen Befehl bekommen hätten, irrsinnig zu werden und sich zu Tausenden umbringen zu lassen. Wer hörte nicht den abgegriffenen Satz: »Ich kenne die Araber«? Wir sahen den Grund für den Ausbruch der Intifada in der Natur der Araber, im Islam, im Fanatismus, im Neid – in allem. Nur die einfache Erklärung, die auch uns mit diesem »Irrsinn« verbindet, sahen wir nicht.

Bei meinen journalistischen Aufenthalten in Gaza habe ich mit den Jahren gelernt, dass die Israelis über die Palästinenser, die im Gazastreifen leben, nichts wissen und es in der Regel auch vorziehen, nichts zu wissen. Wir verschließen die Augen, um nichts zu sehen, weil auch wir alle Opfer waren. Wir waren jahrelang Opfer von bewusster Irreführung der israelischen öffentlichen Meinung durch die Entscheidungsträger. In beiden Intifadas – der ersten und auch der zweiten – wurden die Dinge immer aus einem israelisch-militärischen Blickwinkel gesehen, um die israelische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es nur eine militärische Lösung für den Aufstand und die Gewalt gebe. Dass es eine große militärische Schubladenlösung gebe, mit deren Umsetzung das politische Israel noch zögert, aus Furcht, dass daraus weltpolitische Friktionen erwachsen. Der häufige Gebrauch des Begriffs »Terrorbasis«, mit dem wir gefüttert wurden, vermittelte uns das Gefühl, dass es im Gazastreifen Lager gebe, in denen die Terroristen ausgebildet würden. Wenn die israelische Armee nur grünes Licht bekäme, um diese »Terrorbasen« mit einem vernichtenden Schlag zu treffen, wäre das Problem an seiner Wurzel behoben.

Auch die israelischen Medien drückten diesem Bild, das in der israelischen Öffentlichkeit entstanden war, ihren Stempel auf, wenn sie die Erklärungen der Armee einfach wörtlich übernahmen, ohne ihren Wahrheitsgehalt und ihre Motive zu prüfen. Die israelische Öffentlichkeit, die sich nicht für die Menschen aus Gaza interessierte, wusste nicht, dass es dort keine Camps gibt und auch keine Terrorbasis, die man mit einem Schlag hätte vernichten können. Sie wusste nicht, dass die Armee auf die Intifada keine militärische Antwort hatte. Die vorherrschende Konzeption, dass der Konflikt nur militärisch zu lösen sei, war aber keine Lösung für das Sicherheitsproblem Israels. Im Gegenteil sorgte sie sogar dafür, dass die gesamte palästinensische Bevölkerung für die Intifada mobilisiert wurde. Die einfachste Lösung erwies sich als die schlechteste Lösung.

Im Sommer 2005 gab es keine Zweifel daran, dass nach Beendigung der Intifada und dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen der Einfluss der gemäßigten Kräfte in den besetzten Gebieten deutlich nachließ. Schließlich wurde er bedeutungslos, und stattdessen stiegen aus den Ruinen die Kräfte der Hamas, des Islamischen Dschihad und der anderen Verweigerungsorganisationen, die vor dem Hintergrund der unüberlegten Politik Israels aus dem Boden gesprossen waren. Wir verließen Gaza damals mit einem dramatischen Schritt der freiwilligen Trennung, und wir ließen ein zerstörtes Gaza hinter uns, »ausgesetzt«, hasserfüllt und gewalttätig. Gaza – stark wie der Tod. Wild, stürmisch, ausgehungert und eingesperrt. Gaza, wo das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde.

Dieses Buch ist nach fast fünfzehn Jahren intensiver Arbeit vor Ort in Gaza entstandn. Diese Arbeit begann zwei Jahre vor der Unterzeichnung des Vertrags von Oslo und endete mit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen. Im Lauf der Jahre bemühte ich mich, die Wurzeln des »Wahnsinns« und »die Natur der Araber« zu erforschen. Ich traf Menschen, deren Welt vollständig zerstört wurde und die Rache um jeden Preis schworen, und Menschen, die trotz allem versuchten, eine Insel der Vernunft im Meer des Wahnsinns zu schaffen. Ich habe versucht zu verstehen, wie sie zu dem geworden sind, was sie heute sind, und vor allem, wie es von hier aus weitergeht.

Manche werden sagen, dass das Buch an Einseitigkeit leide, dass es die Dinge nur aus einer Richtung sehe, der palästinensischen. Es stellt sich nicht den Betroffenen und den Entscheidungsträgern in Israel und benennt nicht alle Fehler, die die Palästinenser während des gesamten Prozesses immer wieder gemacht haben. Ich entlaste die Palästinenser nicht von der Verantwortung für die mörderischen Anschläge, die das Leben vieler unschuldiger Opfer gekostet haben. Ich behaupte nicht, dass die Palästinenser keine verhängnisvollen Fehler begangen haben, die ebenso zum Zusammenbruch des politischen Prozesses beigetragen haben. Ich sage nicht, dass nicht ein Großteil der Schuld auf den Schultern der »zerstreuten Führung« der Palästinenser lastet, die zusammen mit Arafat aus Tunis gekommen ist und ihre Denkschemata und Stigmata in Bezug auf die Israelis mitgebracht und nicht verändert hat. Diese Vorwürfe wurden und werden in vielen Büchern und in unzähligen Artikeln benannt. Ich aber habe versucht, ein tieferes Verständnis zu erlangen, und habe deshalb lange Tage und Nächte in der Region verbracht. Ich bin denen begegnet, die die Menschen auf der Straße achten, deren ganzer Wunsch es ist, wie Menschen zu leben. Die Arbeiter auf ihrem Weg nach Israel und zurück, die Arbeitslosen, die ihre Tage im Hauseingang verbringen und schon die Hoffnung auf Arbeit aufgegeben haben, die allein ihre Lebensumstände verbessern könnte. Ich habe auch verschiedene Anführer der Hamas getroffen und versucht, ihre Denkweise zu verstehen, habe versucht herauszufinden, ob es möglich ist, zwischen ihrer Lebensauffassung und der israelischen Auffassung von »Frieden und Sicherheit« zu vermitteln. Ich habe die ehemaligen Gefangenen getroffen, deren Leben durch ihr unfreiwilliges Zusammentreffen mit den Israelis verändert wurde, und die Gesuchten, an deren Händen israelisches Blut klebt. Und Kinder. Viele Kinder, die in diese unmögliche Situation hineingeboren wurden. Wer weiß, welche Zukunft sie erwartet und wie ihre Zukunft uns und unsere Kinder beeinflussen wird.

Mein Ausgangspunkt in Bezug auf die Aktionen Israels in Gaza während dieser langen Jahre ist die Frage, ob wir mit langfristiger politischer Klugheit gehandelt haben, die die Risiken und die Ergebnisse kalkuliert hat. Oder ob diese Taten aus anderen Motiven genährt wurden wie etwa der Zufriedenstellung der öffentlichen Meinung in Israel oder dem Griff nach kurzfristigen Lösungen, die die schicksalhaften, zerstörerischen Ergebnisse für die Sicherheit Israels und seiner Bürger nicht in Betracht zogen. Hat es überhaupt eine israelische Politik in Gaza gegeben? Und wie konnte es geschehen, dass die Militärstrategie die politischen Schritte dominierte und zur bestimmenden Kraft wurde?

Mein Freund Ihab al-Ashkar, heute ein Geschäftsmann und in der Vergangenheit einer der Führer der ersten Intifada und einer der mutigsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin, drückt das zutreffend so aus:

»Wisst ihr wirklich nicht, dass hier ein Volk lebt? Volk? Volk? Volk? Dicke und Dünne, Schöne und Hässliche, Radikale und Gemäßigte, Alte und Junge, Friedensliebende und den Frieden Hassende – ein Volk! Volk! Ein Volk, das in seiner Mehrheit ruhig leben möchte.«

Im August 2004 wurde mein Sohn Yadin geboren. Als ich das meinem Kameramann, der während der ganzen zweiten Intifada mit mir zusammen war, erzählte, freute er sich. »Wir werden sofort Bewaffnete auf die Straße holen, damit sie Freudenschüsse in den Straßen von Gaza abfeuern«, sagte er scherzend und fragte dann voller Ernst: »Denkst du, dein Sohn wird ein Freund meines kleinen Sohnes werden, so wie wir Freunde sind?«

Ich entzog mich der Antwort. Ich wollte nicht sagen, was ich wirklich dachte. Die Lehren der Vergangenheit künden nichts Gutes für die Zukunft.

Gaza – bis zum bitteren Ende ist ein Mosaik von Menschen, die eine große Geschichte von Versäumnissen erzählen. Und es ist auch meine Geschichte, die Geschichte eines israelischen Journalisten in Gaza, zwischen den Intifadas und mittendrin, der wissen wollte, wie die Dinge von dort aussahen. Wie die Dinge tatsächlich aussahen, nicht wie in den Konzepten und Absichtserklärungen, sondern durch die Linse der Kamera betrachtet und mit Augen, die wissen wollten, warum.

Dieses Buch widme ich meinen Kindern, Roteam, Keren, Or und Yadin, dass sie niemals Krieg erleben mögen.

Kapitel 1

Zurück nach Shabora

Der Sommer 2002 war düster. Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit die Intifada ausgebrochen war. Wieder Intifada. Ich dachte, dass dieses Wort, das sich in die hebräische Sprache eingeschmuggelt hat, indem es alle Sprachfilter, Hüter und Aufpasser umgangen hat, aus der Welt verschwunden sei, als die Osloverträge unterzeichnet wurden. Ich war Zeuge der Freudenschreie, die das Verschwinden der Intifada verkündeten. Ich war sicher, dass sie gestorben war und nie wieder zurückkommen würde. Mit meinen eigenen Augen hatte ich gesehen, wie die meisten ihrer Soldaten und Aktivisten sie verlassen hatten, sie allein gelassen hatten. Mit meinen eigenen Augen hatte ich gesehen, wie man sie begraben hatte. Man hatte sie beweint wie eine Heilige.

Ihre Soldaten hatten sich befreit und auf einen neuen Weg begeben.

Aber sie war nicht wirklich gestorben, sie hatte sich nur tot gestellt. Ihre Kraft hatte sie verlassen, ihr Körper war verloren, aber ihre Seele nicht. Leise hatte sie gewartet, war unter die Oberfläche eingesickert, hatte eine neue Form angenommen und wartete nun auf ihre Stunde. Und die ganze Zeit hatte sie sich bemüht, anstelle der Deserteure und der Abwesenden neue junge Soldaten zu mobilisieren. Sie hatte ihren Söhnen verziehen, sie hatte denjenigen vergeben, die zurückgekommen waren, nachdem sie sie verlassen hatten, und hatte sie an ihre Brust gedrückt. Mit all ihrer Kraft bemühte sie sich, all diejenigen um sich zu sammeln, bei denen der Traum vom Frieden ausgeträumt war, und all diejenigen, die diesen Traum gar nicht hatten. Sie sprang auf jede noch so geringe Unterstützung von außen an, sie verzichtete auf keine Gelegenheit, und es gab so viele Gelegenheiten, viele davon haben wir ihr geschenkt, wir, die Israelis, in der Güte unseres Herzens.

Fast vier Jahre hatte ich Gaza nicht mehr besucht. Was sollte ich dort tun? Wir alle dachten, dass wir schon seit langem dort rausgegangen seien. Wir hatten uns von dem Todesstreifen getrennt. Die Geschichte war beendet. Gaza nach dem Rückzug des Jahres 1994 galt als eine tote Story. »Bye-bye, Gaza«, sangen wir alle, und wir bauten einen undurchdringlichen Zaun um Gaza herum, um uns von dem Küstenstreifen zu trennen. Gaza interessierte uns nicht mehr. Sollten sie dort doch alle verrecken.

Als es so schien, als ob die Intifada friedlich eingeschlafen war, verabschiedete auch ich mich von der Intifada – für den Frieden. Frieden, Frieden, welcher Frieden? Die Palästinenser wollen ja bekanntlich keinen Frieden, wir haben ihnen alles gegeben, und sie sind dennoch unzufrieden. Wollen sie etwa nicht? Wir haben ihnen Gaza gegeben, und nun wollen sie Haifa, Jaffa und Akko – alles wollen sie. Krieg wollen sie. Sie wollen Krieg. Krieg. Und sie ist wieder da, die Intifada in ihrem zweiten Auftritt. Wir haben es euch doch gesagt.

Alle Kommentatoren strömten in die Fernsehstudios, um zu erklären und zu analysieren. Ich hörte allen zu und verstand kein Wort.

Wieso, wieso, sind denn dort alle wieder wahnsinnig geworden? Keiner hat es wirklich verstanden.

Eines Tages rief ich meinen Freund Hisham Abu Razek an. Er schrie voller Angst: »Sie bombardieren! Sie bombardieren! Flugzeuge werfen Bomben auf Gaza! Seid ihr verrückt geworden!? F-16!? Seid ihr verrückt geworden!?« Und ich, der ich so viele Stunden vor dem Bildschirm zugebracht hatte, konnte mich nicht beherrschen und sagte zu ihm: »Ihr seid verrückt geworden. Auch ihr seid verrückt geworden. Alle sind verrückt geworden.« Danach hörte ich ein lautes Bumm. Das Gespräch war unterbrochen. »Hallo? Hallo? Hisham?«

Abends im Fernsehen, in der Nachrichtensendung, die ich als Redakteur zu verantworten hatte, sagten die Militärreporter und die politischen Kommentatoren und die übrigen Schwätzer, dass es keine andere Wahl mehr gebe, dass die politische Führung beschlossen habe, die Fundamente des Terrors zu zerstören. Fundamente? Aus der Luft?

Am Morgen rief mich mein Freund Hisham an. Er klang verängstigt. Er hatte sich schon immer so angehört, aber heute mehr als sonst, verängstigt und verärgert. Warum ich nach der Bombardierung nicht angerufen hätte, um nach seinem Befinden zu fragen? Was für ein Freund ich sei?

Ich entschuldigte mich, aber ich wusste, dass die Ziele der Bombardierung in Gaza zufällig ausgewählt waren. Sie wurden zufällig ausgewählt, nur um die öffentliche Meinung in Israel zu befriedigen. Ich wusste, dass ein Angriff kommen würde. In diesen Tagen redigierte ich die Nachrichtensendung »Mabat«. Der Sprecher der Armee belagerte die Reporter und bequatschte sie, damit die Redakteure der Nachrichtensendungen vorbereitet seien und die Zuschauer sicher sein könnten, dass man über keinen Schuss auf Gaza und kein Attentat der Palästinenser schweige.

Das Durchsickern von Informationen funktionierte immer. Die F-16-Kampfflugzeuge kamen stets während der Nachrichtensendungen, auf beiden Kanälen und mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Gaza ist ein geeigneter Ort für einen Luftangriff und ein noch besser geeigneter Ort, um von dort aus Livebilder in die ganze Welt zu verbreiten. Alle Presseagenturen hatten dort ihre Zweigstellen. Jeder Nachrichtensender stellte dort permanent Kameras auf, in der Stadt, die die größte Nachrichtenproduzentin der Welt ist. Die Bilder, die live gezeigt wurden, glichen sich immer. Riesige Flammen, palästinensische Feuerwehrmänner, die versuchten, das Feuer zu löschen, und Dutzende oder Hunderte Zivilisten, die verschreckt durch die Straßen liefen.

Eine leichte, »saubere«, einfache Antwort, und in der Regel ohne Opfer. Damit sie sehen und Angst haben, eigentlich nur, damit sie Angst haben.

Mit der Zeit entdeckte ich, dass Israel den Palästinensern im Vorfeld Informationen über die Ziele des Angriffs zukommen ließ, damit die palästinensischen Polizisten rechtzeitig von dort verschwinden konnten und nicht getroffen wurden. Denn sie waren nicht das Ziel. Bei der Armee nannte man diese Angriffe spöttisch »Immobilien-Angriffe«, aber eigentlich waren auch die Immobilien nicht das Ziel. Weder die Gebäude der palästinensischen Polizei noch die Gebäude des palästinensischen Sicherheitsdienstes waren das Ziel. Es waren vielmehr »Rating-Angriffe« für das israelische Fernsehpublikum. Für dieses wurden Ziel und Zeitpunkt der Bombardierung von Gaza gewählt.

Als Hisham bei mir anrief, um sich zu beklagen, verstand ich nicht, dass die Kampfflugzeuge einen ungeheuren Einfluss auf die Bevölkerung haben, weit über die Zerstörung der vorbestimmten Ziele hinaus.

»Die Töchter machen in der Nacht ins Bett. Sie haben gesehen, wie die Flugzeuge neben dem Haus Bomben abwerfen und haben um Hilfe gerufen aber keiner war zu Hause. Sie waren allein. Es gelingt uns nicht, sie zu beruhigen«, sagte er.

Ich kenne Hisham schon viele Jahre. Als er in Israel arbeitete, bevor das Osloabkommen unterzeichnet wurde, sagten die Kollegen bei der Busgesellschaft »Eged« zu ihm: »Du siehst nicht aus wie ein Araber.« Er war damals beleidigt, aber sein Äußeres und seine fast echte israelische Aussprache vermittelten den Eindruck, dass er »einer von uns« sei. Und wenn du kein Araber bist oder zumindest nicht wie einer aussiehst, dann bist du in Ordnung.

Bevor die Armee Gaza verließ, hielt ihn einmal ein Soldat am Checkpoint bei der Siedlung Netzarim auf. Hisham öffnete das Fenster. Aus dem Radio im Wagen drang die Stimme von Shlomo Artzi, ein beliebter israelischer Sänger.

»Das hörst du?«, fragte der Soldat erstaunt.

Hisham hatte seinen Zynismus nicht verloren und sagte: »Ja, das Lied ›Ein Mann geht verloren‹.«

Und tatsächlich ging er verloren. Seine Stimme klang erstickt. Ausgepresst. Zum ersten Mal hörte ich, dass in das perfekte Hebräisch, das er sprach, ein arabischer Akzent eindrang. Die Angst und die Besorgnis öffneten ihm einen Weg.

Ich wusste, dass Hisham sich nicht wiederfindet in dem lodernden Feuer, das dort ausgebrochen ist. Aber ich wusste auch, dass er keine andere Wahl hat. Einfach keine. Als das Osloabkommen unterzeichnet wurde, fragte er mich, was er tun solle, ob er weiter in Israel arbeiten solle.

»Kehr nach Hause zurück «, riet ich ihm. Und im Geiste unseres gemeinsamen Vorvater Abraham fügte ich hinzu: »Geh und finde deinen Platz und deine Zukunft im Land deiner Väter.« Und er ging. Die Tage damals waren voller Optimismus und er hoffte, dass er eine anständige Arbeit in der Nähe seines Hauses finden würde.

Diesen guten Rat vergisst er mir bis heute nicht. Als die Ausgangssperren und Verhaftungen zunahmen, und der Broterwerb für Tausende von Arbeitern, die in Israel gearbeitet hatten, unmöglich wurde, vergaß er nicht, mich anzurufen und sich zu bedanken.

»Wofür?«

»Für deinen Rat«, antwortete er darauf.

Seitdem arbeitet er für den Frieden. Hisham ist verantwortlich für die Zusammenkünfte israelischer und palästinensischer Jugendlicher, und zuweilen ist es ihm auch gelungen, Familien von »Shaidim« – Familien, deren Söhne bei der Intifada von israelischen Kugeln getötet worden waren – zu ermöglichen, dass ihre Kinder an den Treffen teilnehmen konnten. Und das war nicht einfach.

Als die Intifada ausbrach, heftete man ihm in Gaza ein Kainsmal an die Stirn. «Verräter«, »Kollaborateur« – man gab ihm all die schrecklichen Bezeichnungen, die man den »Juden-Freunden« anheftete. Er hatte Angst. Hisham hat keine Vergangenheit, die ihn in einer Notzeit beschützen könnte.

Wenn du in Gaza keine Vergangenheit hast, hast du auch keine Zukunft.

Seine Vergangenheit aber war sauber. Er war niemals in einem israelischen Gefängnis, womit er hätte prahlen könnte. Oder doch, ein Mal. Es war während des ersten Golfkriegs, als die ersten Scud-Raketen in der Nähe von Tel-Aviv einschlugen, da verließ er nachts, trotz der Ausgangssperre, seine Wohnung, um ein Telefon zu suchen. Er machte sich Sorgen um seine Freunde, die Schauspielerin Shoshana Goren und ihr Ehemann Itzchak, die in Tel-Aviv wohnten.

Unterwegs stieß er auf einen Jeep der Grenzpolizei.

»Was mich geärgert hat«, erzählte er, »war, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte anzurufen, weil alle Leitungen zusammengebrochen waren. Die ganze Nacht dort im Gefängnis hörte ich nicht auf, darüber nachzudenken, wie ich von ihnen ein Lebenszeichen bekommen könnte.«

Und auch bei unserer letzten Unterhaltung am Telefon war es ausgerechnet er, der sich um mein Wohlergehen Sorgen machte.

»Was ist los, Shlomi, ist irgendetwas nicht in Ordnung? Ist etwas passiert?« Er hatte die Besorgnis in meiner Stimme gehört.

»Nichts besonderes«, antwortete ich. »Ich habe ein neues Haus gekauft und die Kosten steigen und steigen. Heute bekam ich einen Anruf von der Bank. Das ist alles.« Als ich den Hörer auflegte, tat es mir leid, dass ich das gesagt hatte. Dort kämpfen sie um eine Scheibe Brot und ich beschwere mich über Luxus. Das sind die Sorgen der Reichen.

Am nächsten Tag rief er wieder an.

»Hör zu«, sagte er, »ich bin nominiert worden für einen Preis in Norwegen wegen meiner Aktivitäten für den Frieden, wegen der Brücken, die ich schon seit Jahren zwischen Juden und Araber errichte. Ich will dir das Geld geben. Zwanzigtausend Dollar soll ich als Preisgeld bekommen und du hast schließlich einen ehrenvollen Anteil daran.« Es gab eine peinliche Stille. »Wenn ich auf deinen Rat nicht gehört hätte, würde ich jetzt den Preis nicht bekommen«, versuchte er mich zu überzeugen.

Ich war sehr ergriffen. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und brach in Lachen aus.

»Unterstützungsgelder aus Gaza«, von einem Palästinenser an einen Israeli, das ist gegen jede Logik. Ein Rekord im Guinness-Buch der Rekorde.

»Hör mal zu, Hisham«, antwortete ich, als ich mich beruhigt hatte. »Du bist in Gaza und ich bin zwei Minuten entfernt von Tel-Aviv. Ich werde niemals im Leben Geld von dir nehmen. Niemals. Aber ich werde dir auch niemals dieses großzügige Angebot vergessen.«

Seitdem sind zwei Jahre vergangen. Wenn die Uhrzeiger der Intifada die Stunden vorschreiben, sind zwei Jahre eine lange Zeit.

Der neue Feldzug begann, die Intifada in ihrer zweiten Wiedergeburt. Ich war den Palästinensern verboten und sie waren mir verboten. An meiner Arbeitsstelle im ersten Programm des israelischen Fernsehens sah man in dieser Atmosphäre des Jahres 2002 die Ereignisse nur aus einem Blickwinkel. Auch ich sah alles in diesem großen und breiten Spiegel, da er der einzig maßgebliche war. Kein Mensch wollte, dass ich meine kleinen, verstaubten Spiegel aus der Tasche zog.

Zwei Jahre beobachtete ich die Ereignisse aus dem Abseits. Zwei Jahre. Ich, der ich nach Gaza gekommen war, als der Frieden begann und der ich 20.000 Meilen unter die Oberfläche eingedrungen war, ich blieb draußen. Ich schaute mir die Dinge an wie in einem Kriegsfilm. Die Bilder liefen vor meinen Augen ab. Ich erinnerte mich an das Ende des ersten Feldzugs, das Schwingen der Fahnen, das ich in meiner Reportage dokumentiert hatte. Wie ich auf der Terrasse von Tawil stand, dem Importeur deutscher Autos, der von oben den Freudentaumel beobachtete und sicher war, dass jetzt ein neues Leben beginnt. Damals fiel der Startschuss für den kommenden Aufschwung des Handels. Der Handel jedoch erlebte keinen Aufschwung und das Leben wurde nicht besser. Als die zweite Schlacht begann, war ich immer noch isoliert. Ich war ihnen verboten und sie waren mir verboten. Ich sah sie aus der Ferne. Ich sah, wie die meisten meiner Bekannten in den Untergrund gingen. Auch ich wurde in den Untergrund gezwungen. Gegen meinen Willen.

Als das Gespräch mit Hisham beendet war, beschloss ich zu handeln und nachzuforschen auf meine Art, nach meinem Verständnis und mit meiner Erfahrung, wie es passieren konnte, dass der Friede geplatzt war, dass das Meer von Gaza in Brand geraten war.

»Sami, Shalom, Shlomi hier.«

»Wo bist du, Mensch, hat die Erde dich verschluckt?«

»Nein, sie hat mich nicht verschluckt.« Aber ich schämte mich zu erzählen. Was sollte ich schon sagen, dass man mir verboten hatte, über sie zu berichten?

»Du bist doch derjenige, der seine Telefonnummer alle zwei Stunden ändert, und du kommst mir mit Vorwürfen?«, griff ich an.

Und in der Tat hatte ich damit eine tolle Entschuldigung, denn Sami Abu Samhadana pflegte dauernd die Nummer seines Handys zu ändern, aus Angst vor einem israelischen Anschlagsversuch. Bis ich seine neue Telefonnummer erhalten hatte, hatte er schon wieder eine andere. Schließlich war ich es leid, sein Versteck zu suchen. Als Sohn einer berühmten Familie aus Rafah und als einer der wichtigsten Anführer der ersten Intifada wurde Sami von den Israelis gesucht. Diesmal allerdings nicht wegen eines heroischen Vorfalls, mit dem er sich schmücken konnte. Eigentlich hatte dieser ganze Vorfall, dessentwegen er gesucht wurde, bei den anderen Gesuchten nur Gelächter verursacht.

Als die Konferenz von Taba vorbereitet wurde, um dort über die Friedensbedingungen zu verhandeln, machte Mohammed Dahlan von der palästinensischen Delegation das Zustandekommen der Konferenz davon abhängig, dass die Israelis seinem Freund Sami Abu Samhadana die Erlaubnis erteilen würde, in Jordanien am offenen Herzen operiert zu werden. Sami litt an einem Herzfehler und die Tage im Untergrund hatten seinem kranken Herzen auch nicht gutgetan. Am Ende der Regierungszeit von Ehud Barack, als man angesichts der kommenden Wahlen in Israel gewaltige Anstrengungen unternahm zu beweisen, dass ein Friedensvertrag zwischen den Israelis und den Palästinensern möglich war, wurde plötzlich Samhadana zu einem Streitobjekt. Schließlich fuhr er nach Jordanien und überstand erfolgreich die Operation. Doch als er nach Hause zurückwollte, hatte es in Israel inzwischen einen Machtwechsel gegeben, und die neue Regierung Sharon weigerte sich, ihm die Rückkehr zu gestatten. Und so streunte Sami durch London, Rom, New York und Stockholm, bis er das »gute Leben« satt hatte. Die Welt ist wunderschön, aber zu Hause ist zu Hause, auch wenn es nur Rafah ist. Am Ende kehrte er nach Hause zurück, er kam durch einen Tunnel unter der Grenze und seitdem wird er gesucht.

»Ich will zum Flüchtlingslager Shabora und dort mindestens eine Nacht verbringen«, bat ich um seine Hilfe.

Das Flüchtlingslager Shabora in Rafah war und ist immer noch mein Lackmustest, der Prüfstein für den ganzen Streifen. Wegen seiner Nähe zur Grenze zwischen Israel und Ägypten und der täglichen Auseinandersetzungen mit der Armee und vielleicht auch wegen des unglückseligen Zustands der Flüchtlinge in diesem verlassenen und abgelegenen Gebiet. Sie fühlen sich eingeschlossen und eingeengt in dieser kleinen Enklave.

»Schon wieder kommst du mit deinem Unsinn«, sagte Sami. Er kennt die Geschichte. Viele »Prüfsteine« habe ich in Shabora geschluckt. »Ich dachte, du bist darüber hinweg, bist erwachsen geworden.«

Oh, wie bin ich erwachsen geworden seit dieser Prüfung. Zehn Jahre sind seitdem vergangen.

8. April 1992, vier Uhr am Nachmittag. In Madrid soll eine Friedenskonferenz stattfinden. Zum ersten Mal sollen Israelis und Palästinenser, Syrer, Libanesen und Jordanier – alle an einem Tisch sitzen. Ich wollte wissen, wie diese Konferenz auf die Menschen mitten in der Intifada wirkt und daher begleitete ich eine Einheit des Grenzschutzes, die im Flüchtlingslager Shabora am Rande von Rafah tätig war.

Die Grenzschutzsoldaten, die ich begleitete, gaben mir einen Stahlhelm und Kampfausrüstung und forderten mich auf, mich damit zu schützen. Es gelang mir kaum, mich damit einzukleiden, mit diesem zig Kilogramm schweren Kampfanzug, der mir schon als Soldat fremd gewesen war, und erst recht als Zivilist. Ich sah aus wie der nachlässigste Soldat der Einheit.

Die Sonne ging über den Dächern des Lagers unter. Aus der Ferne sah ich das beengte Lager und darüber eine dichte braune Wolke, eine Mischung aus Rauch von Reifen und Sand aus der Sinai-Wüste, die das Lager wie mit einen Würgegriff umschloss. Das Lager schien wie ausgestorben zu sein.

Einer der Grenzsoldaten bemerkte meinen verträumten Blick und lächelte mich an, als ob er mir ein Geheimnis schmackhaft machen wollte: »Sei vorbereitet, du wirst bald die Hölle von innen sehen.«

Drei Jeeps der Grenzpolizei suchten sich langsam ihren Weg in das verschlafene Lager. Durch das mit Kunststoff vor Steinwürfen geschützte Fenster beobachtete ich eine Gruppe Jugendlicher, die auf einem verstaubten provisorischen Platz Fußball spielte. Auf den Dächern aus Asbest und Wellblech lagen große Steine und Betonblöcke, die die Dächer mit ihrem Gewicht vor dem Wind schützten. Die Sonne im Westen blendete mich, und ich lehnte meinen Kopf auf das verkratzte und ausgebeulte Kunststofffenster des Jeeps, das offensichtlich schon mit vielen Steinen Bekanntschaft gemacht hatte. Der Sand, der das Fenster mit einer dicken Schicht bedeckte, schuf einen undurchdringlichen Schutz. Nur als der Jeep ein wenig auf die Seite kippte, öffnete sich der Vorhang und Shabora zeigte sich in seiner ganzen Hässlichkeit. Wir waren im Zentrum des Lagers, mitten auf dem öffentlichen Sandplatz, der den Jungs als Fußballplatz diente. Als sie uns sahen, ließen sie den plattgedrückten Ball liegen, der ohne Luft war und wie der Kopf einer Leiche aussah, und eilten auf uns zu, mit Olivenzweigen in den Händen. Die Kinder und die Jugendlichen von Shabora trugen Olivenzweige zu Ehren des Ereignisses.

Einer der Jungs war besonders mutig, er hängte sich an den Jeep und heftete einen großen Olivenzweig daran, der sich zum Wald der Antennen auf dem Dach hinzugesellte. Alle lachten. Wie toll! Plötzlich kamen aus den Häusern Menschen und Kinder, massenhaft Kinder, Männer trugen Säuglinge auf den Schultern und beobachteten die Szene.

Ich atmete erleichtert auf. Und dann, ohne jede Warnung, ging eine Salve von Steinen und Felsbrocken auf den Jeep nieder. Die Soldaten luden ihre Waffen durch, rückten die Helme gerade und klappten die Türen des geschützten Jeeps zu. Die Fußballspieler hielten in einer Hand einen Olivenzweig und in der anderen Steine. Eine sonderbare Mischung, deren Sinn auch die Soldaten nicht verstanden. Als die Steine ausgingen, wurden Felsen herangeschleppt. Und die ganze Zeit über hielten sie die Olivenzweige in der Hand. Das war ein spannender Ausgleich zu Beginn der Friedenkonferenz.

»Willkommen in der Hölle«, lächelte mich der Soldat von vorhin an.

Der Helm rutschte auf meinem Kopf. Ich atmete schwer. Der Jeep hüpfte unter den Salven der Steine. Die Kunststofftüren konnten die Salven kaum abhalten. Im Versuch, mich zu schützen, barg ich meinen Kopf zwischen meinen Beinen und unter meinen Armen.

Als der Angriff auf die Kunststofffenster nachließ, wagte ich es, meinen Kopf zu heben. Die Soldaten lachten. Aus der Ferne blickte ich wieder auf die Hölle, sie war jetzt wieder ohnmächtig. Die braune Wolke, die über ihr stand, sah wieder dunkler und dichter aus. Der Lärm der Steine, die Jeeps und die Jungs, die zu ihrem Spiel zurückgekehrt waren, verliehen ihr eine rote Farbe.

Als ich die militärische Schutzkleidung wieder auszog, schwor ich, dass ich noch mal nach Shabora zurückkehren würde, aber nicht mit der Armee und nicht als fahrendes Ziel.

»Was willst du denn dort sehen?«, fragte Sami ernsthaft. »Seit du dort zuletzt gewesen bist, hat man alle liquidiert.«

Fast alle. Sofort nach dem Ende der Intifada kehrte ich wie versprochen dorthin zurück. Wir, der Fotograph Moshe Friedman, der Toningenieur Dov Eckstein und ich, passierten die Siedlung Rafiach-Jam und am Abhang bei der Einfahrt nach Rafah hielt ich den Wagen an. Alle Häuser in den ersten Reihen, die an Rafiach-Jam angrenzten, waren von Kugeln durchsiebt. Wenn man uns hier mit Steinen bewarf, dann waren wir verloren, weil die Entfernung zwischen uns und den Soldaten, die die Siedlung bewachten, zu groß war. Bis wir nach Hilfe rufen konnten, würde es schon zu spät sein. Einige Monate zuvor war irrtümlich ein Zivilist hierher geraten, Jehoshua Weissbrod. Die Bewohner hatten ihn gelyncht. Damals waren zwei Männer gekommen, Jasser Abu Samhadana, der Cousin von Sami, und sein Stellvertreter Benizi Teissir Al-Burdini. Einer von beiden schoss Weissbrod in den Kopf. Die Vertreterin der UNRWA, die mit ihrem Wagen unmittelbar vor diesem Akt der Lynchjustiz vorbeifuhr, tat nichts, um ihn zu retten. Sie verschwand einfach von der Stelle und berichtete nicht einmal über die Lynchaktion, die vor ihren Augen geschehen war.

Ich hielt mich an die Vorschriften. Ich entfernte die israelischen Wagenkennzeichen von der vorderen Stoßstange des Wagens und fuhr fünfzig Meter bis zur ersten Abbiegung. Auf der Straße suchte ich nach Zeichen des Lynchmords.

Auf der nahe gelegenen menschenleeren Straße erschien ein blauer Subaru. Es kam langsam auf uns zu. Der Beifahrer gab uns ein Zeichen, ihnen zu folgen. Ich fuhr hinter ihm her, in den weit geöffneten Rachen. In einer Entfernung von zweihundert Metern blieben wir am Straßenrand stehen. Der Beifahrer stieg aus dem Wagen aus. Er hatte den Körper eines erwachsenen Mannes und das Gesicht eines Kindes. Er war vielleicht fünfzehn Jahre alt, nicht mehr. Er sah den Schrecken auf unseren Gesichtern und lächelte breit.

»Hallo Shlomi, ich bin Arafat. Man schickt mich, euch abzuholen.« Ich lächelte, als ich seinen originellen Namen hörte.

»Bleib nah bei uns«, bat ich. »Wir kennen den Weg nicht.« Das war meine zarte Art, ihm anzudeuten, dass wir Angst hatten. Er sollte mich nicht eine Sekunde lang allein lassen.

Arafat legte seine Hand auf meine Schulter und lächelte wieder. »Ihr seid mit mir«, sagte er und so betraten wir das Lager.

Hier war der Sandplatz. Hier hatten die Jungs gespielt. Hier hatte man uns mit Steinen beworfen. Hier waren die hässlichen Häuser und die braune Staubwolke. Die Wolke, die sich schon seit Jahren nicht bewegte. Alles sah wie damals aus. Nur diesmal fühlten wir uns beschützt, fremd, aber beschützt. Ohne die schmutzig-trüben Kunststofffenster. Wir kamen durch das Haupttor und betraten das Lager.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt sitzen wir in einem großen Zimmer mitten im Lager. Arafats Gesicht ist angesengt. Auf seinen Knien sitzt ein kleiner Junge. Er streichelt seinen Kopf. Das Kind spielt mit der Zigarettenpackung in seiner Hand. Irgendjemand bringt ein Tablett mit Teegläsern. Manchmal fürchte ich mich vor dem Tee, den sie anbieten, weil ich die Qualität des Wassers in den Flüchtlingslagern nicht kenne. Aber ich schlürfe wie alle anderen. Laut. Mit kurzen auf die Nerven gehenden Zügen, weil alle so trinken. Du musst zeigen, dass du es genießt.

»Wie alt ist er?«, frage ich.

»Zwei Jahre alt. Das ist der Kleine.«

»Und wie alt ist der Große?«

»Es gibt keinen Großen, der Große ist ein Shahid, ein Märtyrer …«

Ich hatte Arafat kennengelernt, als er noch ein Junge war, und nun hat er schon einen Sohn, der ein Shahid ist. Wann ist er aufgewachsen? Wann ist er Vater geworden? Wann hatte er Zeit zu trauern?

»Wie ist er gestorben?«

Arafat schweigt. Er reibt mit seinen Daumen seine zerschnittenen Hände. Ich verstehe nicht.

Hier ist keiner ergriffen von einem trauernden Vater. Die Trauer schwebt immer in der Luft.

Das Kind streichelt das Gesicht des Vaters, lächelt. Das Lächeln eines Kindes. Arafat drückt es an seine Brust und schließt seine Augen in Liebe. Genauso wie ich es mit meinen Kindern mache. Was für ein Leben erwartet ihn hier? Was für eine Zukunft?

Vor zehn Jahren hatten wir hier zu viert gesessen, genau in diesem Zimmer. Der junge Arafat und drei weitere Bewaffnete. Der am meisten Gesuchte von allen, der Führer der Gruppe, war Salim Muafi. Jetzt, da wir Muafi erwähnen, murmeln alle Anwesenden: »Alla Jerachemu. Alla Jerachemu. Gott möge Erbarmen mit ihm haben.«

Man nannte ihn »Rambo«, und so wie man ihn nannte, so war er auch. Er pflegte auf einer Harley-Davidson durch die Straßen von Shabora zu fahren, vor seiner Brust hing ein nullfünf Maschinengewehr und Munitionsgurte umschlangen seinen gut gebauten Körper. So wie Silvester Stallone, wie in einem Film, in dem man eine Schönheitskönigin krönt. Und damit keiner sich irrt, keiner zweifelt: Er bekam Ruhm und Ehre.

Als Samis Cousin, Jasser Abu Samhadana, fühlte, dass sich Israels Hand um seinen Hals legte, floh er durch einen der Tunnel nach Ägypten. Vorher aber übergab er sein Erbe an Teissir Al-Burdinai, seinen Stellvertreter. Dieser genoss die Macht nur wenige Tage, dann wurde er kampflos durch eine Sturmeinheit der Armee gefangengenommen.

Burdinai war derjenige, der Jehoschua Weissbrod erschossen hatte oder zumindest an diesem Lynchmord beteiligt war. Muafi wurde zum Senior der Falken bei der Fatah ernannt, aber als Politiker verkündete er, dass er den Titel nur so lange führen würde, bis Jasser Abu Samhadana aus dem Exil zurückkehrte. Und so, ohne dass er es geplant hatte, wurde sein Lebenstraum verwirklicht. Welchen anderen Traum kann man noch in einem Flüchtlingslager verwirklichen?

»Was hast du jetzt vor, jetzt, da Frieden herrscht?«, fragte ich den jungen Arafat.

»Was soll das heißen?«, antwortete er. »Mich bei der Polizei melden, Polizist werden und allen beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht. Erfahrung habe ich ja schon.« Alle lachten.

Und die ganze Zeit spielte er mit einer Handgranate, als wäre sie ein Kreisel.

Danach kam ein kleiner Junge in den Raum, vier oder fünf Jahre alt und setzte sich auf Salims Schoß. »Rambo« gab ihm die Kalaschnikow. Der kleine streckte seine Hand aus und spannte ganz natürlich die Waffe, um zu zeigen, dass er schon etwas davon versteht.

Ich betrachte Salim, den kleinen Jungen auf seinen Knien und den Jungen neben ihm, der inzwischen erwachsen geworden ist. Damals hatte Muafi ihm eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt, um mir sein »Talent« zu zeigen, und jetzt hält er die Waffe ganz allein. Das Kind ist aufgewachsen und die Kalaschnikow blieb, was sie war. Es ist die Chronik einer bekannten Geschichte.

Ich möchte Arafat fragen, was aus seinem älteren Sohn geworden ist. Das Schicksal der anderen kenne ich. Schon damals hätte ich es wissen müssen. Einige Wochen nach jenem Treffen hat die Armee alle liquidiert. Nur Arafat überlebte. Rambo der Führer war Rambo bis zum bitteren Ende.

»Ich bin bereit zu sterben, bereit mich zu opfern, mit offenen Augen«, sagte er zu mir und ich glaubte nicht, dass er es ernst meinte. Warum sterben? Warum ist er nicht bereit, seine Waffen niederzulegen? »Wenn ich sterben muss, dann will ich ehrenhaft sterben, wie ein Mann. Nicht wie irgend so ein Unglücklicher. Alle werden zu uns nach Hause kommen, um meine Familie zu trösten. Was für eine Ehre werden sie mir schenken! Wenn ich ohne Kampf sterben sollte, wird kein Mensch kommen, um zu trösten. Man wird auf mein Grab spucken, man wird sagen, er ist umsonst gestorben, er ist kein Shahid. Ein gewöhnlicher Feigling.«

Wer einmal die Macht berührt hat, wer den Geschmack des Ruhmes genossen hat, wird nicht leichtfertig darauf verzichten. Keiner von ihnen will wieder ein gewöhnlicher Mensch werden.

Ich beobachtete Arafat und das Kind an seiner Seite und verstand die Antwort. Er zog es vor, wie ein Held zu sterben und dieses Leben nicht mehr zu leben. Nimm ihm seine Waffe weg, und du verurteilst ihn zu einem Leben in Hunger und Demütigung.

Einige Monate nach dem ersten Treffen meldete sich Arafat bei der palästinensischen Polizei.

Der Polizist Arafat Abu Schabab meldete sich zum Schutze von Yassir Arafat.

Als die zweite Intifada ausbrach, gegen Ende des Jahres 2000, kehrte der Polizist nach Hause zurück und meldete sich zum Krieg.

Die ersten Angriffe Israels im Gazastreifen richteten sich gegen die Polizeistationen, die bewaffneten Polizisten wurden vertrieben. So versuchten wir, die »Fundamente des Terrors« zu bekämpfen. So mobilisierten wir die arbeitslosen Polizisten für den »Kreis des Terrors«. Und so wurde Arafat wieder ein Gesuchter.

Der Abend fiel auf das Flüchtlingslager Shabora. Als ich hierherkam, hatte ich mein Handy ausgeschaltet, damit man mich nicht sucht und ich nicht antworten muss. Aber hin und wieder siegte meine Neugier und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und schaltete das Handy wieder ein, um die Nachrichten abzuhören, die meine Vorgesetzten und Kollegen mir hinterlassen hatten.

»Wenn du nicht sofort zurückkommst, wird kein Bild gesendet«, war die letzte Nachricht, nach einer Reihe von besorgten Mitteilungen, die langsam immer verärgerter klangen, nachdem sie meinen Plan entdeckt hatten und sich herausgestellt hatte, dass ich ohne Genehmigung zu dieser Reportage aufgebrochen war. Aber ich mache weiter. Diese Nacht bleibe ich hier. Auch morgen. Erst, wenn ich verstanden habe, kehre ich nach Hause zurück.

Wir verlassen das Haus. Kein Hund ist auf der Straße. »Bald beginnt das Fest«, warnt mich Arafat.

Wir stehen in derselben Gasse, in der wir vor zehn Jahren standen. Damals ging Muafi an der Spitze und alle Kinder des Lagers liefen ihm nach, schauten zu ihm auf voller Verehrung und Neid. Er wirkte wie ein Sänger oder Popstar, dem eine Gruppe von Verehrern folgt, die versucht, den Gegenstand ihrer Verehrung zu berühren.

»Komm, sieh dir mein Büro an«, sagte er damals.

»Büro? Du hast ein Büro?«, wunderte ich mich. Er lachte. Was für ein Idiot ich sei. Das Ende der schmalen Gasse war sein »Büro«.

Hier pflegten sich die Gesuchten zu treffen. Hier schlichteten sie Streit.

Wir passieren das »Büro«, das vor zehn Jahren geschlossen wurde, auf dem Weg zum Block oder zu einer der Wohnsiedlungen, die an die Philadelphia-Achse1 angrenzen. Bald wird die »Party« beginnen.

»In dieser Straße«, sagt mir einer der Jugendlichen »gibt es sieben Märtyrer. Tür an Tür.«

Er zieht an meiner Hand, um mir den Stolz des Wohnblocks zu zeigen. Ich gehe ihm hinterher und er zählt auf, vergisst nicht einen einzigen Namen. Halil Abu Shawish, Achram Abu Lebada, die Märtyrerin Faisa Abu Lebada, Honi Gjuda und sein Bruder. Neben dem Haus von Sami Omar, der mit einer Rakete aus einem Helikopter erledigt wurde, sitzt sein greiser Vater und schaut seinen Nachbarn an, Abu Taha, der seinen Sohn verheiraten möchte. Die Trauer und das Leben vermischen sich in der Straße der Märtyrer.

»Trotz des Leides, der Tragödie und der Märtyrer um uns herum wollen wir in Ruhe feiern, ohne Freudenzeichen zu zeigen«, sagt der Vater des Bräutigams. Und der Bräutigam, der in seiner einfachen Kleidung nicht aussieht wie ein Bräutigam, fügt hinzu: »Alle Familien hier haben einen Schicksalsschlag erlitten. Wenn nicht ein Sohn oder ein Vater getötet wurde, ist sicher einer verwundet worden. Jede Familie hat hier ihre Tragödie.«

Die unvollendete Verfolgung. Muhamed Daff, der Leiter des Militärischen Arms der Hamas, nach dem fehlgeschlagenen Versuch, ihn zu liquidieren, September 2003

Scheich Achmed Yassin und Abd Al-Aziz Rantisi

Die Gäste kommen und ich verstehe, dass er nicht übertrieben hat. Plötzlich sehe ich aus wie ein Chirurg, der irrtümlich am Ende der Welt gelandet ist, in einem Dorf, über das die Zivilisation hinweggegangen ist. Fast jeder streckt mir seine Hand oder einen Fuß entgegen, um mir seine Wunde zu zeigen. Neue Verwundungen, alte Verwundungen, jeder trägt einen solchen »Personenausweis« an seinem Körper, einen Beweis, dass er ein Bewohner dieses Ortes ist. Wenn du nicht verwundet bist, gehörst du nicht dazu.

Ich schaue sie an. Die Bewohner von Rafah wohnen im Schatten des Todes. Am Ende der Welt. Mitten im Schlachtfeld. Sie feiern und sie sterben.

»Wir sind in jeder Hinsicht tot«, sagt traurig der Bräutigam. »Lebendige Tote, lebendige Tote«, wiederholt er. Und ich wundere mich, weshalb man an einem solchen Ort heiratet, warum man Kinder bekommt. Es sind Fragen, die ich nicht zu stellen wage.

Der Zeitpunkt der Mahlzeit naht. Ein Plastikteller und darauf reichlich Humus, getränkt in Olivenöl.

»Einst hat man Schafe geschlachtet«, flüstert Arafat, »aber sogar Schafe gibt es nicht mehr. Sie sind schon alle aufgegessen.«

Abu Taha, der Vater des Bräutigams reicht auch mir einen Teller. Ich esse zusammen mit allen, wische den Humus mit dem Brot auf und kann kaum schlucken. Nachdem alle satt sind, versuchen sie, den Bräutigam zu erfreuen. Die Märtyrer und die Nachbarn werden für eine Weile vergessen, und die Männer fangen an zu tanzen, stampfen mit ihren Füßen im Sand und der »Hochzeitssaal« füllt sich mit Staub.

Plötzlich hört man eine Gewehrsalve. Mehrere Salven. Die Kugeln fliegen über unsere Köpfe. Ta, ta, ta. Heftiges Gewehrfeuer von einer Stellung der Armee aus. Alle fliehen so schnell wie möglich. Auch ich. Ta ta ta.

Die Hochzeit ist beendet. Die »Party« hat angefangen.

Früh am Morgen fahre ich zum Grenzübergang von Rafah. Das einzige Tor zur freien Welt. Das »Tor der Hoffnung und des Erbarmens«. Hier, sagen die Palästinenser, gibt es viel Hoffnung und sehr wenig Erbarmen.

Aber ich kann mich an den Grenzübergang erinnern, als er noch »Kap der Guten Hoffnung« hieß.

Als das Osloabkommen unterzeichnet wurde, saß ich hier viele Tage, um zuzusehen, wie der Friedensvertrag Gestalt annimmt. Mitten im Übergang, hinter den Bäumen, parkten zwei Lastwagen. Irgendjemand hatte sich große Mühe gegeben, sie zu verbergen. Der eine Lastwagen israelisch, der andere palästinensisch. Rücken an Rücken parkten sie, und die israelischen Soldaten reichten ihren palästinensischen Kollegen Hunderte von Gewehren. Was für ein Bild! Man gibt ihnen Gewehre. Hunderte. Fünf Stunden dauerte die Übergabe – noch ein Gewehr und noch ein Gewehr. Das war es also, man gibt ihnen Gewehre, das bedeutet, dass der Krieg beendet ist. Das ist eine Tatsache. Die Proteste der Oslo-Gegner hatten nichts genützt, die Aufkleber mit dem Slogan »Gebt ihnen keine Gewehre« hatten keinen Erfolg. Alles war zu Ende. Wer konnte sich vorstellen, dass es so zu Ende gehen würde?

Jetzt blicke ich auf eine Festung, die einst ein Übergang war und wundere mich: Vielleicht hatten die Oslo Gegner doch Recht. Warum hat man ihnen Gewehre gegeben?

Ich erinnere mich an die Vorhut, die aus Tunis kam. Einen ganzen Tag hatte ich hier auf sie gewartet, auf die Ersten, die kamen. Auf Ziat Al-Atrasch, den vorbildlichen Offizier, den Arafat geschickt hatte, um die Truppen zu sammeln. Kein Mensch kannte ihn. Alle warteten außerhalb des Terminals auf ihn. Sie warteten viele Stunden. Als er kam, sah er die Massen und erschrak. Sie wollten ihn auf ihren Schultern tragen. Woher sollten sie auch wissen, dass er eine Prothese hatte und dass er kurz darauf an Krebs sterben würde? Als er nach Gaza fuhr, folgten ihm die Menschenmassen in Taxis und Lastwagen bis zum Hotel Palestine, wo er abstieg. Sie wollten sicher sein, dass sie nicht träumen.

Hier träumten sie alle. Jasser Abed Rabo, Rashid Abu Shabak, Nasser Joseph Waeazi al-Gibli. Alle gingen sie an mir vorbei, passierten die Linie der Very-Important-People, der VIPs, standen auf der dritten Treppe und füllten ihre Lungen mit der heißen Luft von Rafah. Als ob sie auf einem Felsen im Himalaya stünden oder auf einem Gipfel in den Alpen. Sie atmeten Gipfel-Luft. Und dort hinter den Bäumen, hinter den Zäunen und den riesigen Betonmauern, die jetzt gebaut wurden, kamen sie damals hervor, zum ersten Mal, die palästinensischen Polizisten.

Am Freitag, den 20. Mai 1994 um 1 Uhr mittags, stand ich draußen.

Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt, vom Libanon nach Syrien, weiter nach Jordanien, über die Allenby-Brücke, eine Nachtfahrt durch das Gebiet, das von Israel beherrscht wird, bis die müde Karawane, die von israelischen Armeejeeps begleitet wurde, schließlich zur israelisch-ägyptischen Grenze kam. Dort hielten die Karawane und ihre Begleiter.