Gebein und Flöte - Edgar Mittelholzer - E-Book

Gebein und Flöte E-Book

Edgar Mittelholzer

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Beschreibung

Der Roman spielt zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Britisch-Guayana. Der wohlhabende Unternehmer Ralph Nevinson lädt den jungen Maler Milton Woodsley, einen Freund der Familie, ein, ihn und seine Frau und Tochter für ein paar Tage auf die am Berbice-Fluß liegende Dschungelstation Goed de Vries, einen Außenposten seiner Firma, zu begleiten und dort ein paar Bilder zu malen. Aber schon bald stellt sich heraus, daß Nevinson damit noch einen anderen Zweck verfolgt: Er braucht Hilfe. Von einem alten Indio hat er ein geheimnisvolles Pergament geerbt, das ihm, solange er es nicht berührt, Glück bringen soll, aber sein Verhängnis bedeutet, wenn er es anfaßt ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 343

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Edgar Mittelholzer

Gebein und Flöte

Roman

Aus dem Englischen von Waltraud Götting

FISCHER Digital

Inhalt

Bibliothek der phantastischen AbenteuerDie HauptpersonenEinleitende BemerkungIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXISchlußNachwort

Bibliothek der phantastischen Abenteuer

Herausgegeben von V.C. Harksen

Die Hauptpersonen

Milton Woodsley

ein junger Maler aus New Amsterdam in Britisch-Guayana

Ralph Nevinson

ein Geschäftsmann aus New Amsterdam

Nell Nevinson

seine Frau

Jessie Nevinson

seine Tochter

Rayburn

Hausverwalter der Nevinsons in Goed de Vries, einer kleinen Handelsstation im Dschungel

Timmykins

indianischer Koch

Jan Pieter Voorman

ein holländischer Plantagenbesitzer am Berbice-Fluß

Einleitende Bemerkung

Diese Geschichte hätte vor ungefähr zwanzig Jahren geschrieben werden sollen, wurde aber aus mehreren Gründen immer wieder verschoben. Zum einen gehört sie nicht zu den Dingen, die man gern so schnell wie möglich gedruckt sehen möchte, und zum anderen konnte ich mich nicht entscheiden, in welcher Form sie erscheinen sollte. Ich hatte beabsichtigt, meine Tagebuchaufzeichnungen so zu veröffentlichen, wie sie waren, und es dabei zu belassen, aber Mr. Nevinson hielt das für höchst unbefriedigend. Er fand meinen Tagebuchstil, vom literarischen Standpunkt aus betrachtet, zu holprig und eines veröffentlichten Buches unwürdig, und überdies war er der Meinung, daß es der Erzählung, wie sie in meinen Aufzeichnungen vorgebracht wurde, an der angemessenen Form und Struktur fehlte.

Mrs. Nevinson und Jessie widersprachen ebenfalls der Veröffentlichung meiner Tagebuchaufzeichnungen – aber aus anderen Gründen. Warum, so argumentierten sie, machte ich keinen Roman daraus? Er könnte chronologisch aufgebaut sein wie in meinem Tagebuch, aber »bring es in der guten, altmodischen Form einer spannenden Gespenstergeschichte, an deren Ende die Lösung des Rätsels steht«, wie Jessie es ausdrückte. Ihre Mutter pflichtete ihr bei und beschied, daß es »eine Schande wäre, dieses Gekritzel aus deinem Tagebuch zu veröffentlichen. Es ist langweilig – und so unromantisch! Warum überarbeitest du die Aufzeichnungen nicht und bringst Stimmung und Gefühl hinein? Du mußt nichts schreiben, was nicht wirklich passiert ist, aber bring es in eine lesbare Form, oder laß die Veröffentlichung ganz bleiben.«

Nun, ich habe versucht, allen dreien gerecht zu werden. Für Mr. Nevinson – den ›geziemenden‹, klangvollen Prosastil (zumindest soweit er mir gelungen ist) und soviel Form und Struktur wie nur möglich; für Jessie eine »gute, altmodische und spannende Gespenstergeschichte, an deren Ende die Lösung des Rätsels steht« (obwohl ernsthaft darüber debattiert werden müßte, ob das Rätsel am Ende wirklich als gelöst betrachtet werden kann); und für Mrs. Nevinson »eine Menge Stimmung und Gefühl«.

Was mich selbst betrifft, so bin ich zufrieden, daß ich einen wahrheitsgetreuen Bericht gegeben habe, der nichts enthält, was man meiner Phantasie zuschreiben könnte. Ich bin mit einem feingezinkten Kamm einige Male durch die Arbeit gegangen, um sicherzustellen, daß der Tatsachenrahmen erhalten geblieben ist, und wenn ich auch den beteiligten Personen aus Gründen des guten Geschmacks erfundene Namen gegeben habe, so sind sie darum doch nicht weniger wirkliche Wesen, die auch heute noch überaus munter und am Leben sind.

 

NEW AMSTERDAM, BRITISCH-GUAYANA

MILTON WOODSLEY

Juli 1954

I

Wir hatten wohl gut die Hälfte des Weges zu unserem Ziel zurückgelegt, als ich den ersten Hinweis erhielt, daß hinter Mr. Nevinsons Einladung an mich, einige Zeit mit seiner Familie am Oberlauf des Berbice zu verbringen, noch ein anderer Grund steckte. Als der Dampfer New Amsterdam verließ, lautete die Vereinbarung, daß Mr. Nevinsons Firma, die Berbice Nutzholz- und Balata-Gesellschaft, mich angeheuert hatte, einige Bilder von Urwaldszenen zu malen, die, wenn sie gelangen, die Wände der Hauptniederlassung zieren sollten. Daß Mr. Nevinson einen anderen Grund dafür haben konnte, daß er wünschte, ich sollte ihn, seine Frau und seine Tochter ins Inland begleiten, war mir keinen Augenblick lang in den Sinn gekommen – ebensowenig, wie ich später feststellte, seiner Frau. Seine Tochter Jessie jedoch schien etwas geahnt zu haben; jedenfalls erhielt ich, wie Sie noch sehen werden, durch sie den ersten Wink, daß nicht alles so war, wie es zu sein schien.

Zur Zeit der hier erwähnten Ereignisse – in den frühen dreißiger Jahren – fuhr der Dampfer nur einmal in der Woche den Berbice hinauf. Er verließ New Amsterdam, das kleine Städtchen an der Mündung des Flusses, Mittwoch morgen, erreichte Paradise, den Zielhafen einhundertzehn Meilen flußaufwärts, irgendwann zwischen sieben und halb acht abends und legte am nächsten Morgen zur Rückfahrt ab. Das hieß, daß man, wenn man diese Gelegenheit am Donnerstagmorgen verpaßte, unwiderruflich zu einem mindestens einwöchigen Dschungelleben verdammt war. So, wie ich die Nevinsons jedoch kannte, machte ich mir keine Sorgen um die vierzehn Tage, die wir in Goed de Vries, wo die Berbice Nutzholz- und Balata-Gesellschaft ihren Inlandssitz hatte, zu verbringen gedachten. Das Haus, in dem wir wohnen sollten, würde wohlmöbliert und bestens ausgestattet sein – daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel –, und man würde keine Mühe scheuen, mir den Aufenthalt angenehm zu machen.

Wie ich, stammt Mr. Nevinson aus einer alten Farbigenfamilie. Wir können beide unsere Vorfahren bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen, bis zu einem Zeitpunkt, als die Nevinsons und die Woodsleys die Beimischung von Negersklavenblut, das heute in ihren Adern fließt, noch nicht hatten. Während ich eine olivenfarbene Haut habe, ist Mr. Nevinsons Teint fast so hell wie der eines reinrassigen Weißen. Sein Vater, der eine etwas dunklere Hautfarbe gehabt hatte, war der Geschäftsführer der Eisenwarenhandlung in New Amsterdam und zweimaliger Bürgermeister der Stadt gewesen, sein Großvater, der hochwürdige Mr. Rawle Nevinson, ein anglikanischer Priester, der am Berbice bekannt geworden war für seine guten Taten in den unteren Flußbezirken und wegen der Kirche, die er in Huisten Rust am Canje-Bach errichtet hatte.

Mr. Ralph Nevinson war, wie sein Vater und Großvater vor ihm, ein kultivierter Mensch, und das ist auch seine Frau, eine geborene Groode, ebenfalls eine bekannte Farbigenfamilie vom Berbice. Mr. Nevinson sammelt leidenschaftlich alles, was mit der frühen Geschichte der Kolonie in Verbindung steht, und als Kind war ich immer fasziniert von seinem Privatmuseum voller indischer und holländischer Altertümer.

Normalerweise wäre ich wohl vor Verwunderung tot umgefallen, hätte mir die Berbice Nutzholz- und Balata-Gesellschaft den Auftrag angeboten, für ihre Geschäftsräume Bilder zu malen, doch der Vorschlag wurde mir von Mr. Nevinson, dem geschäftsführenden Direktor, unterbreitet, und das war etwas ganz anderes. Denn obwohl er die siebenundvierzig Jahre seines Lebens in New Amsterdam verbracht hatte (nicht eingerechnet die beiden Jahre, die er während des Ersten Weltkrieges mit den Westindischen Truppen in Ägypten und Palästina gewesen war), war Mr. Nevinson kein kleinstädtischer Spießer, der Künstler mit affektierter Herablassung behandelt hätte. In ihm wußte ich einen Menschen, der meine Künstlerkarriere wohlwollend betrachtete. Zu der Zeit, in der meine Erzählung spielt, hatte meine Familie längst alle Hoffnung begraben, daß ich mich je in »einer guten, gesicherten Stellung« als Buchhalter oder Zollinspektor niederlassen würde. Nach dem Schulabschluß hatte man mir Arbeit als Verkaufsaushilfe in der Eisenwarenhandlung verschafft, eine Sache, die Mr. Jack Nevinson, ein Bruder von Mr. Ralph Nevinson, gemeinsam mit meinem Vater eingefädelt hatte. Nachdem ich drei Monate im Schatten von Nagelfässern, Scharnieren, Drahtrollen und Krampen gelebt hatte, war ich zu Mr. Jack Nevinson hinaufgerufen worden, der mir unter viel Fingertrommeln und onkelhaftem Getue eröffnete, daß man eine »freie Stelle« im Büro für mich gefunden hätte. Ich sollte als zweiter Buchhalter anfangen, und Mr. Jack Nevinson hegte keinen Zweifel, daß es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis ich in eine hohe Stellung innerhalb der Firma aufstieg.

Unglücklicherweise hat eine hohe Stellung, sei es nun in einer wohlsituierten und namhaften Firma oder in der Kolonialgesellschaft, mein Herz nie höher schlagen lassen. Daher bedankte ich mich bei Mr. Jack Nevinson und erklärte ihm, es täte mir leid, aber ich wollte die Büroanstellung nicht haben. Ich brauche wohl den Ausdruck nicht zu beschreiben, der auf seinem Gesicht lag, als ich sein abgeschirmtes Heiligtum verließ und mich zwischen den Schreibtischen im Außenraum hindurch zur Treppe schlängelte.

Von jenem Tag an betrachteten mich die ehrbaren Bürger von New Amsterdam als exzentrischen Irren, der es »im Leben zu nichts bringen würde«. Ich wurde bekannt für die schlechte Gesellschaft, in der ich mich bewegte; ich philosophierte beim Friseur mit Busfahrern, Hafenarbeitern und Dienstleuten – Menschen, die einer viel niedrigeren Gesellschaftsstufe angehörten: Ich war eine Schande für meine Familie. Die erste Ausstellung meiner Bilder, die ich organisierte, war ein deprimierender Mißerfolg. Doch am dritten Tag schaute Mr. Ralph Nevinson herein und beglückwünschte mich nicht nur, sondern kaufte obendrein zwei Bilder. Er behandelte mich nicht als den Sohn einer Familie, mit der seine Familie jahrzehntelang freundschaftlich verkehrt hatte, sondern sprach mit mir als ein Mann von Welt zum anderen. Er vermittelte mir das Gefühl, daß wir beide das Wissen um die Menschheit gemein hatten. Er machte nicht den Versuch, die Tage in Erinnerung zu rufen, in denen ich mit seinen Kindern in seinem großen Haus in Queenstown gespielt hatte; das Wohlwollen des guten Onkels dem kleinen Jungen gegenüber war aus seinem Verhalten verschwunden; er schien mich ernsthaft als erwachsenen Menschen, noch dazu keinen dummen, zu betrachten. Er lud mich ein, ihn zu besuchen, wann immer es mir beliebte, und fügte hinzu, daß seine Bücherregale mir stets offenstünden.

So begann die Freundschaft zwischen uns – oder vielleicht sollte ich besser Bekanntschaft sagen, denn es entwickelte sich niemals echte Vertrautheit zwischen uns. Ich war nie in der Lage, eine gewisse Bewunderung für und Ehrfurcht vor Menschen abzuschütteln, die um ein beträchtliches älter sind als ich, und der große Altersunterschied erzeugte in mir eine steife Zurückhaltung, die eine Kameradschaft, wie ich sie möglicherweise mit einer Person meines Alters erlebt hätte, verhinderte. Hinzu kam, daß ich mir stets der Tatsache bewußt war, daß seine Frau und seine Kinder in mir eine lächerliche Figur und so etwas wie einen Außenseiter der Gesellschaft sahen (ich war nie sehr dick mit Jessie und Fred befreundet gewesen; Ronald, der Älteste, war mein Spielkamerad gewesen, doch er war jetzt in Georgetown, nachdem man ihn als Buchhalter beim Finanzamt in den öffentlichen Dienst laviert hatte).

Ungeachtet meines selbstsicheren Auftretens und einer gewissen Aufgeblasenheit meiner Manieren, und trotz der Verachtung für die Kleinstadtspießer von New Amsterdam, der ich stets Ausdruck gab, war ich überaus empfindlich, und so sehr fürchtete ich den Spott und Hohn von Mrs. Nevinson, Jessie und Fred, daß meine Besuche in ihrem Heim nur äußerst sporadisch waren.

Wann immer ich jedoch Mr. Nevinson einen Besuch abstattete, erwies es sich unfehlbar als angenehme und zufriedenstellende Erfahrung. Wir unterhielten uns, außer über Kunst, Philosophie und Menschen, über die frühe Geschichte Britisch-Guayanas, ein Thema, das Mr. Nevinson leidenschaftlich am Herzen lag und über das er ohne weiteres die ganze Nacht über bis zum Tagesanbruch geredet hätte (gelegentlich unterbrochen vom Stöbern in allen möglichen alten Büchern, Briefen und Schriften), hätte ich mich nicht zu angemessener Stunde verabschiedet. Er sah, daß auch ich mich für das Thema interessierte, und das muß wohl einiges dazu beigetragen haben, daß seine Bindung an mich gefestigt wurde, zumal er in einer Stadt wie New Amsterdam einige Nachforschungen hätte anstellen müssen, um jemanden ausfindig zu machen, den Dinge wie die Sklavenaufstände im achtzehnten Jahrhundert und die Taten der alten niederländischen Siedler mit derselben leidenschaftlichen Anteilnahme erfüllten.

Eines Morgens, zehn Tage vor unserem Aufbruch nach Goed de Vries, suchte er mich zu Hause auf und fragte, ob ich am Abend bei ihm vorbeischauen könnte. Es gäbe etwas Wichtiges, das er mit mir zu besprechen wünschte, sagte er. »Etwas, das Sie mit Sicherheit auch interessieren wird«, fügte er hinzu. »Es ist ganz nach Ihrem Geschmack.«

Das war der Abend, an dem er mir den Vorschlag unterbreitete. Er saß in seinem Lieblingssessel, hinter ihm eine Vitrine, in der sich holländische und indische Antiquitäten befanden. Er war ein Mann mittlerer Größe, stämmig und mit einem Bauchansatz. Sein kurzgeschorenes Stoppelhaar lichtete sich auf dem Schädel und war mit Grau durchsetzt, was aber in dem weichen rötlichen Licht nicht auffiel. Er hatte einen langen Schädel und Gesichtszüge, die nicht die geringste Spur seiner negroiden Abstammung verrieten; es war ein edler Kopf, einer, den zu malen ich schon oft den Wunsch gehabt hatte, obwohl ich bisher nie die Kühnheit besessen hatte, ihn zu bitten, mir Modell zu sitzen.

Seine ernsten grau-braunen Augen ruhten mit einem Ausdruck liebevoller Belustigung auf mir, als er sagte: »Ich sehe wohl, daß Sie neugierig sind, mein Junge. Nun, ich werde Sie nicht auf die Folter spannen.« Er hatte eine tiefe, ruhige Stimme, die, wie ich fand, gut zu dem Geruch der alten Bücher in seinem Arbeitszimmer paßte und zu dem behaglichen Halbdunkel, das immer in den Zwischenräumen zwischen den dunklen Mahagoniregalen mit ihren Bücherreihen, Stapeln vergilbter Handschriften und den Antiquitäten, die einige der Borde füllten, herrschte – es waren dies alte niederländische Krüge, indische Kelche und Becher und Balata-Ornamente, Mauerstücke aus zerstörten holländischen Festungen, Dolche, eine Sattelpistole aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein Silberkrug, der sich angeblich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im Besitz von Laurens Storm van’s Gravesande, dem Generalgouverneur von Demerary und Essequibo, befunden hatte.

In seinem Arbeitszimmer, dessen Atmosphäre mir seit meiner Kindheit vertraut war, fühlte ich mich uneingeschränkt wohl – und nicht nur wohl, sondern von einer heiteren Ruhe erfüllt, da ich natürlich ein Romantiker und außerordentlich empfänglich für meine Umgebung bin. In dem weichen rötlichen Licht lag ein Zauberduft, und gütige Geister schienen in den dunklen Ecken zwischen den Regalen zu hocken und uns zu beobachten, während wir plauderten. Ich konnte ihren erdbraunen Blick auf meiner Wange spüren, und ihr leutseliger Atem vermischte sich mit der kühlen nächtlichen Februarluft, die zu den geöffneten Fenstern hereinstrich. Ja, ich hatte nicht den geringsten Grund, Mr. Nevinsons Plan mit Mißtrauen zu betrachten oder nach irgendwelchen Hintergedanken zu suchen. Die Direktoren seiner Firma hatten, so erklärte er, beschlossen, daß die Hauptniederlassung einiger Reparatur- und Renovierungsarbeiten bedurfte. Die Arbeiten sollten bald in Angriff genommen werden, und ihm war der Gedanke gekommen, warum man nicht, wenn man schon dabei war, gleich Nägel mit Köpfen machte und ein paar gute Bilder zur Verschönerung der Wände erwarb.

»Zuerst dachte ich, Sie könnten ein paar Wandmalereien anfertigen – Dinge, die für die Einheimischen von Interesse sind – vertraute Ansichten, Vögel, Tiere und so weiter – direkt auf die Wände, aber beim eingehenderen Nachdenken darüber wurde mir klar, daß das nicht geht. Auf den Hölzern, die wir verwenden, halten Künstlerfarben nicht besonders gut. Darum kam mir die Idee, daß Sie statt dessen ein paar Bilder auf die Leinwand bringen könnten – und da wir im Holzgeschäft sind, was würde sich besser eignen als Dschungelszenen? Sie könnten mich bei meinem nächsten Besuch oben im Holzschlaggebiet und im Sägewerk begleiten. Ein netter Ausflug für Sie, wenn es sonst nichts bringt.«

Ein winziges Tierchen schwirrte um den hellroten Schirm der Leselampe auf dem Schreibtisch zu meiner Rechten, und vom Canje-Bach drang das Tuckern eines Motorbootes klar und deutlich durch die Nachtluft herauf. Ich glaubte bereits den feuchten Pflanzenmoder des Dschungels riechen zu können, und Schauder freudiger Erwartung durchrieselten mich. Ohne zu zögern erklärte ich ihm, daß ich seinen Plan ausgezeichnet fände. »Nichts täte ich lieber«, sagte ich. »Und vielleicht können wir irgendeine alte holländische Ruine ausfindig machen und überhaupt ganz allgemein ein bißchen nach derartigen Dingen herumstöbern«, fügte ich mit der ganzen Begeisterung meiner dreiundzwanzig Jahre hinzu.

»Das würde Ihnen gefallen, nicht wahr?«

Zu jener Zeit maß ich dem keine Bedeutung bei, aber wenn ich im Nachhinein daran zurückdachte, fiel mir auf, daß in seinen Worten eine übertriebene Spur von Eifer lag. Er rieb sich sogar die Hände und beugte sich, lächelnd und mir zunickend, ein ganz klein wenig vor.

»Aber sicher, Sir! Alles, was mit Ruinen und Altertümern und ähnlichem zu tun hat, fasziniert mich außerordentlich. Das habe ich Ihnen ja schon gesagt.«

»Ja, ich weiß. Schön, schön. Wir werden sehen. Wenn wir erst dort sind, haben wir Zeit genug.«

Den Rest des Abends verbrachten wir mit Gesprächen über praktische Einzelheiten, und erst auf dem Heimweg fiel mir auf, daß wir zur Abwechslung einmal nicht auf unser Lieblingsthema – die Geschichte der Gegend – zu sprechen gekommen waren. Aber auch darüber machte ich mir keine Gedanken. Es fiel mir keine Sekunde lang ein, daß mein Gastgeber unsere Unterhaltung vielleicht absichtlich von dem Thema abgelenkt haben mochte. Nichts an seinem Verhalten hatte mir das Gefühl vermittelt, daß ihn etwas bedrückte, daß er eine Information vor mir zurückhielt, die mit irgendeinem verborgenen Aspekt unserer geplanten Reise zu tun hatte.

Am Mittwochmorgen der darauffolgenden Woche legte der Dampfer pünktlich um sieben Uhr dreißig von der Mole ab. Es war ein ziemlich schäbiges kleines Schiff namens Arawana (der Name einer einheimischen Fischart). Im unteren Deck, das den Reisenden zweiter Klasse zur Verfügung stand, hing ein durchdringender Geruch nach Kuhdung, Teer und menschlichen Ausdünstungen in der Luft; auf diesem Deck wird jede nur erdenkliche Fracht – von Grundnahrungsmitteln und Früchten bis Bauholz und Vieh – abgeladen. Die Reisenden der zweiten Klasse sind auf diesen Flußdampfern nie eine fröhliche Gesellschaft. Auf dem Oberdeck, den Passagieren erster Klasse vorbehalten, riecht es nur nach Teer, und es ist erträglich, wenn auch weit entfernt von der sybaritischen Vorstellung vom Paradies. Wir fanden ein paar wacklige Korbstühle vor, in die wir uns, begleitet von lautem Knarren, sinken ließen. Es gab auch einen Speisesalon, in dem man augenscheinlich speisen und nichts als speisen konnte; es war nicht genug Platz zum Herumlaufen darin. An Deck war der Raum sehr begrenzt, und hätte es eine große Anzahl von Passagieren gegeben – selbst zwanzig hätten gereicht –, wären die Verhältnisse entschieden unerträglich geworden, besonders, da die Zahl der Korbstühle zehn nicht überstieg.

Zum Glück gab es nur wenige Menschen, die je erster Klasse flußaufwärts fuhren, und auch diesmal verhielt es sich nicht anders. Außer Mr. Nevinson, seiner Frau, Jessie und mir waren nur noch drei weitere Passagiere erster Klasse an Bord – ein anglikanischer Priester und seine Frau und ein Viehzüchter auf der ersten Etappe seiner langen Reise zur Rupununi-Steppe. Die Nevinsons kannten alle drei, mir dagegen waren lediglich der Reverend Mr. Lumsden und seine Frau bekannt; ich war ihnen im Hause meiner Familie begegnet, bei der sie nicht selten zu Besuch waren. Meine Leute sind selbstverständlich standfeste Anglikaner – ebenso wie ich in den Tagen, bevor ich anfing, mir meine eigenen Gedanken zu machen. Da ich nicht in der Stimmung war, mich an höflichen, belanglosen Unterhaltungen zu beteiligen, sonderte ich mich mit einem Buch ab, von dem ich gelegentlich aufblickte, um die vorüberziehende Landschaft zu betrachten – nichts als Dickicht über Dickicht und dann und wann ein einsames Gehöft, das die Eintönigkeit des Grüns unterbrach.

Niemand behelligte mich – und niemand schien überrascht zu sein, daß ich mich vom Rest der Gesellschaft fernhielt, da man es zweifellos als gegeben hinnahm, daß ich ein sonderbarer junger Mann sei, der keinen Wert auf ehrbare Gesellschaft legte.

Beim Mittagessen – keineswegs ein schlechtes Mahl; der Koch wußte offensichtlich, wie man ein gutes Kokosnuß-Curry bereitet – tauschten Mr. Nevinson und ich ein paar gemurmelte Gemeinplätze aus, und Reverend Lumsden lächelte mir einmal schalkhaft zu, wackelte mit dem Kopf und säuselte eine Bemerkung über die Gewohnheiten von »euch Bücherwürmern – ts, ts, ts!«

Mrs. Nevinson saß mir gegenüber. Zur Zeit, als diese Erzählung spielte, sah man ihr ihre vierundvierzig Jahre nicht an. Sie hatte einen hellen, olivenfarbenen Teint, war von schöner Gestalt, hatte ein fröhliches, anziehendes Lachen und ein überaus faszinierendes Muttermal unter dem rechten Auge. Als kleiner Junge hatte ich ihre Besuche in unserem Haus stets begrüßt, und mit zehn war ich wahrhaftig bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen! Jetzt behandelte sie mich in der Art einer pflichtbewußten Tante und erklärte, daß sie Kate (meiner Mutter) versprochen hatte, dafür zu sorgen, daß ich meine Mahlzeiten nicht vernachlässigte. Sie drängte mich ständig, mehr Gemüse, mehr Reis, mehr Huhn zu nehmen …»Möchten Sie noch etwas Soße, Milton? Kommen Sie, reichen Sie mir Ihren Teller …« Ich reagierte mit freundlicher, höflicher Standhaftigkeit, aß, was ich wollte, und wies zurück, was ich nicht wollte.

Nach dem Mittagessen kehrte ich mit meinem Buch zum Achterdeck zurück, aber diesmal blieb ich nicht ungestört. Ich hörte Schritte, und als ich aufblickte, sah ich Jessie näherkommen. Vor meinem Stuhl blieb sie stehen, betrachtete das Buch in meinem Schoß mit mäßiger Neugier und sagte: »Gedichte, nehme ich an.« Ich bestätigte es mit einem ernsten Nicken. »Ja, Gedichte.«

»Darauf hätte ich wetten können.«

Ich erhob mich nicht, um ihr meinen Stuhl anzubieten, was sie in keiner Weise entmutigte. Mein Stuhl stand neben einem Kasten, in dem, wie ich vermute, die Schwimmwesten verstaut waren. Sie warf mir einen belustigten Blick zu und setzte sich auf diesen Kasten.

Sie war mit ihren neunzehn Jahren groß und ebenso wohlgestaltet wie ihre Mutter, hatte aber die weit auseinanderstehenden Brauen, die tiefliegenden Augen, die gebogene Nase und das Kinngrübchen ihres Vaters. Ihre Ansichten waren oberflächlich und kleinbürgerlich; Tennis, Tanzen und junge Männer waren alles, wofür sie sich interessierte. Ich habe ihr das – zu ihrer Belustigung – so oft ins Gesicht gesagt, daß es ihr gewiß nichts ausmacht, wenn ich es hier wiederhole. Sie hat mich nie ernstgenommen.

»Wirst du des Lesens nie überdrüssig, Milton?«

»Nie. Hat dich deine Mutter hergeschickt, damit du mich aus meiner Einsamkeit erlöst?«

Sie kicherte. »Nein. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Ich hatte Lust, mir die Füße zu vertreten. Die Hitze wird von Minute zu Minute schlimmer.«

Die Hitze hatte tatsächlich zugenommen. Das niedrige Sonnensegel machte es eher schlimmer als besser. Und jetzt, da wir uns weit von der Küste entfernt hatten, gab es keinen Wind mehr. Der Urwald, der im Sonnenlicht funkelte, schloß uns von beiden Ufern her wie zwei undurchdringliche Mauern ein. Er wirkte starr und lauschend, als wäre er in einem Zauber gebannt. Die Farbe des Flusses hatte sich von einem hellen, schlammigen Bernstein in geheimnisvolles Schwarz gewandelt. Ich sah mich bereits zwischen den Schatten der Lianen und stacheligen Palmen, spürte bereits einen Hauch von Geheimnis und Abgeschiedenheit in der Luft.

»Es ist mir ein Rätsel, warum du auf diese Reise mitgekommen bist«, sagte ich. »Ich dachte eigentlich nicht, daß du meinst, das Dschungelleben vierzehn Tage lang aushalten zu können.«

Sie lachte. »Ich sehe schon, du hast eine sehr niedrige Meinung von mir. Ich habe gehört, daß es oben am Fluß eine Menge netter indischer Jungen gibt. Ich sehe zu, daß ich mir einen angeln kann. Sie geben gute Ehemänner ab.«

»Ich verstehe.«

»Und außerdem – hast du vergessen, daß Fastenzeit ist? Da finden keine Tanzveranstaltungen statt. Was hat es für einen Sinn, in der Stadt zu bleiben?«

»Richtig. Das hatte ich vergessen. Fastenzeit. Eine sehr passende Zeit, um in die Wildnis zu gehen, würde ich sagen.«

Sie kicherte. »Das Fasten ist allerdings nichts für mich, darauf kannst du wetten! Ich freue mich auf meinen Labba-Pfeffertopf. Aber sag mal, was höre ich, du fährst hinauf, um Bilder für Papas Büro zu malen? Stimmt das?«

»Du bist heute ungewöhnlich gut informiert.«

»Damit hat er dich also geködert, mit uns zu kommen?«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht recht folgen.«

»Schon gut. Mach dir nichts draus.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und sah zu, wie sich der Rauch über dem schmalen Deckstreifen zu graublauen Phantomen formte, bevor er sich ganz in der hitzeflimmernden Luft auflöste. Jessie schlug die Beine unter und begann, eine beliebte Tanzweise vor sich hin zu summen und im Rhythmus mit dem Fuß dazu an meinen Stuhl zu klopfen.

Ich blickte über die Reling auf das Wasser hinunter, das schäumend an der Bordseite entlangrauschte. Kleine Wellen kräuselten sich ununterbrochen zum Ufer hin. Das Deck zitterte unter dem monotonen Stampfen der Motoren.

»Worauf willst du hinaus, Jessie?«

Ihr Pfeifen brach ab, und sie warf mir ein geheimnisvolles Lächeln zu. Ihre Schnippischkeit war verschwunden. Es hatte sich sogar, zu meiner großen Verwunderung, ein besorgtes Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht gebildet. Ich war es nicht gewohnt, Besorgnis an ihr zu entdecken.

»Ich möchte nicht darüber sprechen«, sagte sie nachdenklich, »weil ich es mir vielleicht nur einbilde – aber ich glaube, irgend etwas beschäftigt Papa.«

»Beschäftigt ihn?«

Sie nickte. »Ich meine, es hängt mit dieser Reise zusammen. Er war in den letzten zwei oder drei Wochen nicht er selbst. Mutter glaubt, daß er überarbeitet ist, aber das ist es nicht.«

»Was könnte es sonst sein?«

»Ich weiß es nicht, aber ich spüre, daß es etwas mit dieser Reise zu tun hat.«

»Aber ist es nicht üblich, daß er die Niederlassung oben am Fluß alle sechs Monate besucht?«

»Ich weiß – das ist es ja, was mir Gedanken macht. Er hat seinen ersten Besuch für dieses Jahr im letzten Monat gemacht. Genaugenommen dürfte er nicht vor Juni oder Juli wieder hinauffahren.«

»War er letzten Monat oben in Goed de Vries? Das wußte ich nicht.«

»Er war dort – kam aber am nächsten Tag mit demselben Schiff zurück. Er sagte, daß Rayburn, der Hausverwalter, mit einer Gallenkolik im Bett läge und das Haus in einem chaotischen Zustand wäre.«

»Das scheint mir ein guter Grund zu sein.«

»Ja, ich weiß. Papa nimmt es sehr genau mit seiner Bequemlichkeit, und er haßt es, wenn es im Haus staubig oder unordentlich ist. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum er mit demselben Schiff zurückgekommen ist. Mutter glaubt alles, was er ihr erzählt – aber mich kann er nicht so leicht täuschen. Seit seiner Rückkehr von der letzten Reise ist er nervös und schreckhaft – von einer inneren Spannung, als hätte er ein Geheimnis, von dem er fürchtet, wir könnten es entdecken.«

Ich lächelte. »Bist du sicher, daß deine Phantasie nicht unter dem Einfluß der Heftromane steht, die du und deine Mutter immer verschlingen?«

»Es hat nichts mit Phantasie zu tun! Warum hat er mich gebeten, mitzukommen? Es stimmt, daß Mutter ein paarmal mit ihm oben war, aber sie mußte sich immer selbst einladen. Er hat sie nie darum gebeten. Aber diesmal hat er uns beide aufgefordert, ihn zu begleiten. Und sieh dich an! Er hat dich ebenfalls gefragt. Wenn er sich nicht vor irgend etwas dort oben fürchtet, warum braucht er dann soviel Gesellschaft?«

»Aber vor was sollte er sich fürchten? Vor Gespenstern?«

»Das behaupte ich nicht. Obwohl ich schon gehört habe, im Sägewerk würde es spuken. Die Arbeiter erzählen, sie hätten einen alten Holländer auf den Grünholzstämmen bei der Winde laufen gesehen.«

»Es ist immer ein alter Holländer, stimmt’s?«

»Oder ein Sklave ohne Kopf. Erinnerst du dich an die Geschichten, die uns Milly, unser Kindermädchen, in Papas Arbeitszimmer erzählt hat, als wir klein waren?«

»Sie haben mir zu viele Alpträume verursacht, als daß ich sie hätte vergessen können.«

Auf dem unteren Deck klimperte einer der Matrosen – oder vielleicht auch ein Passagier – auf einer Ukulele und sang mit rauher, aber melodischer Stimme: Wärst du das einzige Mädchen auf der Welt.

Jessie begann die Melodie leise mitzupfeifen und klopfte mit dem Fuß auf das Deck.

»Ich habe gehört, wie deine Mutter und dein Vater dich geschimpft haben wegen dieser Pfeiferei, Jessie. Sie finden es nicht damenhaft.«

»Findest du es auch nicht damenhaft?«

»Ich habe nicht von mir geredet.«

»Wir leben nicht mehr im viktorianischen Zeitalter. Das sage ich immer zu Mutter.«

»Darin stimme ich dir, selbst wenn es das einzige ist, zu.«

Danach schwiegen wir – ich zumindest. Jessie fuhr fort, zu pfeifen. Ich strich mir über Stirn und Wangen, die feucht waren vom Schweiß. Der Stuhl quietschte, als ich meine Stellung veränderte, und irgendwie war es, als würde das knarrende, knirschende Geräusch plötzlich versetzt in einen ruhelosen Nebelhauch, der mein Bewußtsein durchzog, so daß ich versucht war, mich nervös umzusehen. Ich stellte fest, daß ich in das schwarze Wasser starrte. Dann wanderte mein Blick zu den Bäumen hinüber, deren Zweige tief über dem Fluß hingen. Ich begann mich zu fragen, was nicht alles in dem feuchten Halbdunkel lauern mochte, das zwischen dem flimmernden Wirrwarr von Grüntönen brodelte. Wer konnte sagen, welche seltsamen Kreaturen uns im Vorüberrauschen beäugten? Winzige, der Insektenkunde unbekannte Käfer. Oder irgendein Ungetüm, das weder Reptil, noch Vogel oder Säugetier war – wie die Gnome an der Mündung des Flusses und am Canje-Bach. Bernsteinbraune Augen in einem grünen, flachen Schädel …

Mir fiel auf, daß Jessie verstummt war. Sie saß mit lauschend zur Seite geneigtem Kopf und leicht gerunzelter Stirn da. Als ihr die Neugier in meinem Blick bewußt wurde, murmelte sie: »Das ist eigenartig. Ich frage mich, ob er mit uns auf dem Schiff ist.«

»Sprichst du mit mir, oder führst du Selbstgespräche?«

»Hörst du nicht die Flöte? Es ist dieselbe, die ich seit ein paar Tagen in Queenstown gehört habe. Derjenige, der sie spielt, muß sich auch auf dem Weg flußaufwärts befinden.«

»Wovon sprichst du? Was für eine Flöte ist das? Und wer ist derjenige, der sie spielt?«

»Ich habe keine Ahnung, wer es ist, aber er muß mit uns auf dem Schiff sein. Ich bin sicher, daß es derselbe Bursche ist. Jemand hat in den vergangenen Wochen in der Nähe unseres Hauses in Queenstown ständig Flöte gespielt.«

»Und was ist dabei?«

»Nichts – ich sage nur, daß er offensichtlich mit uns hinauffährt. Hörst du nicht die Flöte auf dem unteren Deck?«

»Ich höre eine Ukulele, aber eindeutig keine Flöte.«

Sie lachte. »Sei nicht albern, Milton. Du, ein so begeisterter Freund anspruchsvoller Musik, solltest eine Flöte nicht erkennen, wenn du sie hörst?«

In diesem Augenblick entdeckte ich ihren Vater, der über das Deck auf uns zukam. Er setzte seinen Weg jedoch nicht bis zum Achterdeck fort, sondern blieb mittschiffs oben an der Kajütetreppe stehen. Ich bemerkte ein Stirnrunzeln auf seinem Gesicht. Er rauchte eine Zigarette und verhielt sich alles in allem ein wenig verwundert und angespannt; es sah aus, als lauschte er einer Unterhaltung am Fuße der Kajütetreppe auf dem unteren Deck.

Jessie rief ihm zu: „Papa, hörst du nicht eine Flöte dort unten?«

Er zuckte zusammen und blickte auf, als hätte er uns eben erst bemerkt. »Was hast du gesagt? Was war das?« In seiner Stimme lag ein ungewohnt scharfer Ton. Er kam, den Blick auf Jessie geheftet, zu uns nach hinten. »Was hast du gefragt, Jessie?«

Jessie war seine Nervosität offenbar auch nicht entgangen. Sie sagte: »Ich dachte schon, du willst mir den Kopf abreißen. Ich habe mich nur nach der Flöte dort unten erkundigt. Milton schwört, daß er sie nicht hören kann.«

Er schnippte die halbgerauchte Zigarette, womöglich noch angespannter als zuvor, über die Reling. »Ja, ich höre eine Flöte. Hörst du sie auch?«

»Natürlich. Ich bin doch nicht taub.« Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu. »Siehst du, Papa hört es auch, Milton.«

Ich beugte mich, allmählich ernsthaft verwundert, vor, denn ich wußte genau, daß es auf dem unteren Deck keineswegs so etwas wie eine Flöte gab. Außer der Ukulele und dem Gesang war nichts zu hören als das Stampfen der Motoren, das Rauschen des Wassers, das an unserem Dampfer vorüberbrodelte, und gelegentliche Fetzen einer Unterhaltung; einfach die Summe der Geräusche, an deren selbstverständliche Gegenwart sich unsere Sinne gewöhnt hatten.

»Mr. Nevinson, hören Sie eine Flöte?«

»Ich fürchte, ja – aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen, mein Junge. Ich nehme an, Ihre Ohren sind nicht darauf eingestellt.« Er lächelte Jessie zu, aber ich wußte, daß er seiner Stimme absichtlich einen beiläufigen Klang gab. Ich wußte, daß unter der nach außen zur Schau getragenen Lässigkeit eine Schicht tiefer Sorge und Beunruhigung lag. »Wann hast du sie zum ersten Mal gehört, Jessie?«

»Die Flöte? Vor ein paar Tagen. Eine Woche ungefähr – oder vielleicht auch länger. Wenn es dieselbe ist, natürlich, und für mich klingt es ganz so. Warum fragst du?«

»Ich wollte es nur wissen. Übrigens, junge Dame, hast du dir vor kurzem ein Buch aus meinem Arbeitszimmer ausgeliehen?«

»Ein Buch? Nicht, daß ich wüßte. Du weißt, daß ich niemals eines deiner Bücher anrühre. Ich glaube, ich war überhaupt seit Monaten nicht mehr in deinem Arbeitszimmer.«

Er zog sie am Ohr. »Das ist übertrieben. Stiebitzt du nicht Briefmarken von meinem Schreibtisch, wenn du an Fred schreibst?«

»Ach ja, das hatte ich vergessen. Ich habe Anfang der letzten Woche eine Ein-Penny-Marke aus deiner Schreibtischschublade genommen. Oder in der vorletzten Woche. Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Welche Schublade war das? Die rechte? Kannst du dich daran erinnern?«

»Ich glaube, es war die linke. Die, in der du eine Menge alter Papiere mit niederländischer Schrift aufbewahrst. Normalerweise hältst du sie verschlossen, aber an jenem Tag war sie aus irgendeinem Grund offen. Ich fand zwei Ein-Penny-Marken in einer kleinen Pappschachtel.«

»Darum kann ich in diesem Haus niemals Briefmarken finden. Was lesen Sie gerade, junger Mann? Etwas Philosophisches?«

Er warf einen Blick auf das Buch in meinem Schoß, dann klopfte er mir freundschaftlich auf die Schulter und entfernte sich.

Jessie sah mich an. »Was habe ich dir gesagt! Siehst du nun, daß er nicht mehr derselbe ist?«

»Was das betrifft«, gab ich zurück, »bist du auch nicht mehr dieselbe. Was soll das Gerede über eine eingebildete Flöte? Träumt ihr alle beide?«

Sie starrte mich an. »Wie meinst du das? Hast du sie nicht gehört?«

»Oh, hat es jetzt aufgehört?«

»Vor ungefähr einer Minute. Aber ist das dein Ernst, Milton? Du hast sie wirklich nicht gehört?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Aber – ach, das ist doch albern. Ich habe nicht geträumt. Ich habe sie gehört. Und es war nicht das erste Mal. Ich habe sie erst gestern abend, als ich zum Essen herunterkam, gehört. Sie schien ganz nah in der Nachbarschaft zu sein. Und Papa hat es auch vor ein paar Minuten gehört. Er hat es gesagt. Wie kommt es, daß du es nicht hören kannst?« – Sie lachte. »Du versuchst mich auf den Arm zu nehmen.«

»Dagegen wäre ich, wörtlich genommen, ganz und gar nicht abgeneigt, aber im übertragenen Sinne – nun, ich fürchte, da bist du auf dem Holzweg, Jessie. Ehrlich, ich versuche nicht, dich zu foppen. Ich habe nichts von einer Flöte gehört. Die Ukulele und die Stimme dort unten sind das einzige, was ich in den vergangenen paar Minuten vernommen habe. Da war keine Flöte.«

»Wirklich? Auf dein Ehrenwort?«

»Wirklich. Auf mein Ehrenwort.«

II

Es stimmt, daß ich, wie ich schon sagte, ein romantischer Mensch bin; aber hinter meiner Gefühlsbetontheit verbirgt sich ein ausgeprägter Rationalist, und ich gestehe offen, daß ich keine Sekunde lang daran glaubte, daß irgendwelche übernatürlichen Dinge verantwortlich waren für die Vorgänge, die ich eben beschrieben habe. Ich war überzeugt, daß es eine vernünftige Erklärung für die Tatsache geben mußte, daß Jessie und ihr Vater eine Flöte hören konnten und ich nicht, und daher forderte ich sie auf, sich in meinen Sessel zu setzen und zu warten, bis ich zurückkam.

»Was hast du vor?« erkundigte sie sich.

»Ich werde auf dem unteren Deck einige Nachforschungen anstellen.«

»Ich komme mit dir.«

»Ich glaube nicht, daß deiner Mutter die Vorstellung gefallen würde, eine ehrbare junge Dame wie ihre Tochter unter dem Pöbel im Unterdeck herumstreifen zu sehen.«

Sie befahl mir, mir den Sarkasmus zu sparen, und begleitete mich nach unten.

Mit dem zweiten Maat hatte ich bereits Bekanntschaft geschlossen. Er war einer meiner Diskussionspartner beim Barbier. Auf meine Frage hin erklärte er: »Eine Ukulele und eine Mundharmonika sind die einzigen Instrumente, wo wir hier unten haben, soviel ich weiß.«

»Und was ist mit den Fahrgästen? Bist du sicher, daß in den letzten paar Minuten niemand Flöte gespielt hat?«

»Nein, Mr. Woodsley, nicht hier unten. Ich war die ganze Zeit hier, ich hätt’s gehört. Nur Mitchell hat auf seiner Ukulele gespielt.«

»Ich weiß genau, daß ich eine Flöte gehört habe«, warf Jessie ein. »Mein Vater hat sie auch gehört. Und es kam von hier unten.«

Der zweite Maat schüttelte lächelnd den Kopf. »Nich hier unten, Miss. Das kann ich beschwören. Niemand hat heute auf diesem Deck Flöte gespielt. Aubrey, einer der Matrosen, hat eine Mundharmonika und Mitchell seine Ukulele – und das sinn die einzigen Instrumente, die ich hier an Bord hören tu. Keiner von den Passagieren hat ein Instrument nich gespielt, seit wir heute morgen von der Stadt losgefahren sinn.«

Als wir zum Oberdeck zurückkehrten, bemerkte Jessie: »Also, das ist das Merkwürdigste, das mir je passiert ist. Wenn es kein menschliches Wesen war, das die Flöte spielte, dann muß es ein Geist gewesen sein, denn ich habe sie gehört – so deutlich, wie ich dich sprechen höre.« Ihre Worte klangen so beiläufig, als wäre das ganze ein Scherz.

»Was war es für eine Melodie?« erkundigte ich mich. »Hast du sie erkannt?«

»Es war keine bestimmte Melodie. Es klang so, als würde jemand Tonleitern üben – oder es könnte etwas Klassisches gewesen sein.« Sie warf mir einen spöttischen Blick zu. »Eines von diesen knochentrockenen Stücken, die du so gern hörst.«

»Ich verstehe.«

»Erinnerst du dich an das Stück, das du immer auf dem tragbaren Plattenspieler, der Ronald gehörte, gespielt hast, etwas über einen Faun?«

»Debussys L’après-midi d’un faune …?«

»Genau das. Es war eine ähnliche Melodie. Eine ziellose, wandernde Tonfolge.«

»Wie war das bei den früheren Gelegenheiten, als du es hörtest? War es da auch ohne bestimmte Melodie?«

»Ja, es war immer genauso. Ich habe nie besonders darauf geachtet. Es kam irgendwo aus der Nachbarschaft, und ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Du hast es deiner Mutter oder deinem Vater gegenüber nie erwähnt?«

»Nein? Warum sollte ich? Irgendein Instrument, eine Geige, ein Klavier oder Saxophon hört man immer. Eine Flöte war nichts so Außergewöhnliches, daß man eine Bemerkung darüber hätte machen müssen.«

»Das klingt einigermaßen einleuchtend. Und du erinnerst dich nicht, an welchem Tag genau du es zum ersten Mal gehört hast?«

Sie lachte. »Was hat das jetzt zu bedeuten? Befinde ich mich im Zeugenstand?« Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich erinnere mich nicht an den genauen Tag, aber es ist nicht länger als zwei Wochen her, da bin ich ganz sicher.«

»Unser Haus in Queenstown ist nicht sehr weit von eurem entfernt – es ist gleich um die Ecke – und ich kann dir versichern, daß ich in den letzten Wochen nicht die Spur von einer Flöte bemerkt habe.«

»Nun ja, entweder bist du taub, oder ich bin verhext.«

»Nein, aber Scherz beiseite, Jessie, ich bin verwundert. Du bist nicht gerade berühmt für deinen klaren Verstand, das ist wahr, aber nicht einmal du würdest dir vermutlich solche Dinge einbilden. Und was deinen Vater betrifft, so glaube ich nicht, daß es einen vernünftigeren Mann in der ganzen Kolonie gibt –«

»Da kommt Mutter! Ich frage mich, ob sie es auch gehört hat.« Mrs. Nevinson kam auf uns zu, und das leise Lächeln auf ihrem Gesicht wurde immer strahlender, je näher sie kam – ein Lächeln, das ich insgeheim immer ihr Salonlächeln nannte, weil sie es auf unverkennbar mechanische Weise ein- und abschalten konnte. Es war ein anziehendes, aber so offensichtlich einstudiertes Lächeln! Erst als sie direkt vor uns stand, bemerkte ich, daß ungeachtet ihres Lächelns ein leicht beunruhigter Ausdruck in ihren Augen lag.

»Was heckt ihr beiden hier oben aus?« fragte sie.

»Milton versucht, eine Musikkennerin aus mir zu machen. Wir unterhalten uns über Flötenmusik.«

»Lassen Sie sich nicht von ihr ärgern, Milton. Ich wünschte, Sie könnten wirklich ihr Interesse für die Musik wecken. Heutzutage dreht sich alles um diesen Jazz. Und Jessie saugt es geradezu in sich auf.« Sie seufzte theatralisch. Den meisten ihrer Gesten haftet etwas Dramatisches an. Sie gehört zu den Menschen, die ihr Leben eher inszenieren als leben, und deren Gesten nie ganz ernstgenommen werden dürfen.

»Jessie, hast du irgend etwas zu deinem Vater gesagt, das ihn aufgeregt hat?« erkundigte sie sich.

»Ihn aufgeregt? Nein. Warum?«

»Nun, er ist einfach nicht er selbst. Er will mir weismachen, es wäre die Hitze und die Müdigkeit, aber das scheint mir nicht Grund genug dafür, daß er sich allein in den Speisesaal setzt, um zu rauchen und alte Zeitungen durchzublättern.«

Jessie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber Papa ist schon seit Wochen nicht mehr er selbst – seit er im letzten Monat von Goed de Vries zurückkam. Ich habe es dir gesagt, aber du hast darauf bestanden, er wäre nur überarbeitet.«

»Aber warum sollte er niedergeschlagen sein, nur weil er oben in Goed de Vries war? Er hat letzten Monat nur eine einzige Nacht dort verbracht. Was könnte passiert sein, das ihn so aus der Fassung gebracht hat?«

»Das wüßte ich selbst gern. Oh, aber Moment mal! Hast du von der letzten geheimnisvollen Sache gehört, Mutter? Hier auf dem Dampfer gibt es einen Geister-Flötenspieler.«

»Einen was?«

»Hast du es nicht gehört? Du willst doch nicht sagen, daß du zu den Tauben gehörst!«

Nachdem man ihr die Situation erklärt hatte, rief Mrs. Nevinson aus: »Das ist vollkommen unmöglich, Kind! Ihr träumt beide, du und dein Vater. Wenn auf dem unteren Deck Flöte gespielt wurde, warum haben es Milton und ich und alle anderen dann nicht gehört? Und ich erinnere mich auch nicht, in den letzten paar Wochen eine Flöte in Queenstown gehört zu haben. Der alte Mr. Culley hat immer gespielt, aber er ist gestorben, und ich kenne sonst niemanden, der eine Flöte hat. Um welche Zeit hast du es meistens gehört – nachts?«

»Es war kein Alptraum, falls du das andeuten möchtest«, erklärte Jessie. »Ich habe diese Flöte zu allen Tages- und Nachtzeiten gehört – und ich war überaus wach. Ich habe es am hellichten Vormittag gehört, ich habe es am Nachmittag gehört, während ich ein Bad nahm, und ich habe es am Abend gehört. An einem Abend, als ich mit Randolph Hart spät von den Selkirks heimkam, habe ich es gehört. Wir hatten gerade die Ecke der Ferry Street erreicht.«

»Das ist ungefähr da, wo Milton wohnt. Vielleicht war es Milton selbst. Milton hat so merkwürdige Gewohnheiten: Es würde mich nicht erstaunen, zu erfahren, daß er heimlich Flöte spielt.«

»Aber sicher«, murmelte ich. Dann kam mir ein Gedanke, und ich wandte mich an Jessie. »Jessie, kannst du dich erinnern, ob die Tonlage immer gleichbleibend war – oder hat sie sich irgendwie verändert – ist sie mit dem Wind höher und tiefer geworden? Du weißt, wie sich die Geräusche in Queenstown manchmal mit dem Wind verändern.«