Geborgene Babys - Julia Dibbern - E-Book

Geborgene Babys E-Book

Julia Dibbern

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Beschreibung

Was brauchen Babys? Julia Dibbern beantwortet die Frage klar mit: nicht viel Materielles. Nach einem einführenden Teil über das sogenannte "Bonding", die Bindung zwischen Mutter/Eltern und Kind, gibt sie auf persönliche Weise Hintergrundinformationen zu den wichtigsten Themen rund ums Baby: Stillen, Schlafen, Tragen, Windeln und Weinen. Mit leichter Feder, ohne Patentrezepte oder Absolutheitsanspruch wird anhand vieler Beispiele aus dem Alltag an den "Urmutterinstinkt" und den gesunden Menschenverstand appelliert. Junge Eltern werden darin bestärkt, ihren eigenen Weg zu finden. Werden Babys auf liebevolle Weise behandelt, so die Autorin, wachsen sie zu Erwachsenen heran, die mit sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt liebevoll umgehen können - etwas, das heute notwendiger scheint als je zuvor. "Ich wünsche mir, dass viele Menschen dieses Buch entdecken!Es schildert einen persönlichen Weg, und das brauchen wir. Denn viel zu oft ziehen wir mit unseren Babys einfach das Standardprogramm durch, ohne uns zu fragen, ob wir wirklich so leben wollen. Babys bringen einen solchen Reichtum mit sich, jede Familie kann daran nur wachsen!" (Dr. med. Herbert Renz-Polster, Autor des Buches "Kinder verstehen - Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt")

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Seitenzahl: 297

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Julia Dibbern

Geborgene Babys

Dieses Buch folgt im Wesentlichen den Regeln der neuen Rechtschreibung, in einigen Fällen allerdings aus Gründen der Lesbarkeit auch denen des gesunden Menschenverstandes.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

4., unveränderte Auflage

Copyright © tologo verlag, Leipzig 2012

Erstveröffentlichung 3. überarbeitete Auflage 2010 (Anahita Verlag)

Umschlagfoto: Stacey Newman, istockphoto

Umschlaggestaltung: Julia Dibbern

Fotos und Textbeiträge: Die Rechte für die einzelnen Bilder und Erfahrungsberichte liegen bei den jeweiligen Eigentümern bzw. Verfassern. Diese sind dem Verlag bekannt, werden aber, um ihre Privatsphäre zu schützen, hier nicht namentlich genannt.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages bzw. der jeweiligen Urheber in irgendeiner Art und Weise vervielfältigt werden.

ISBN 978-3-937797-22-9 (Print)

ISBN 978-3-937797-23-6 (PDF)

ISBN 978-3-937797-24-3 (epub)

www.tologo.de

Für Janus,

der mich auf die Reisezu mir selbstgeschickt hat

Und für all die anderenKolostral-Kinder da draußen

Die Kolostral-Revolution muss ein Teil des Prozesses sein,unsere Instinkte und unsere Wissenschaft,die vom primitiven Hirn und vom »Neokortex« gleichermaßen herstammen, miteinander in Einklang zu bringen.Dies ist nicht lediglich eine utopische Theorie,denn der Prozess hat tatsächlich bereits begonnen.(…)Die Kolostral-Revolution wird es mit sich bringen, dass viele herkömmlicheVorstellungen bezüglich des Neugeborenen neu überdacht werden müssen.(…)Auch werden tiefgreifende Auswirkungen auf unsere geistigen Einstellungen erwartet.Die außergewöhnlichen Kulturen, die trotz ihres Respekts für Kolostrum ingeschichtlichen Zeiten überlebt haben, hatten keine Aggressionengegenüber der Mutter Erde. Im Gegenteil, sie verehrten sie.Die Kolostral-Revolution ist daher also auch die Verschmelzungdes Bildes von der Mutter mit dem Bild der Mutter Erde.

(Michel Odent)

Vorwort

von Rita Messmer

Bemerkenswert! Das ist das erste Wort, das mir eingefallen ist, nachdem ich Geborgene Babys gelesen hatte.

Julia Dibbern hat sich mit ihrer Rolle als Mutter voll identifiziert. Sie beobachtet messerscharf: sich, ihr Kind, ihr Umfeld. Und dabei fällt sie aus der Rolle, damit sie nicht in die Falle rollt. Sie ist kritisch, hinterfragt Hergebrachtes, löst sich von konditionierten Mustern, wagt und gewinnt. Sie hört auf ihr Gefühl und ihre Intuition; dabei scheut sie keine Mühe zu forschen, zu lesen und zu fragen – nachzufragen. Immer deutlicher wird das Bild vor ihren Augen – immer sicherer der Zugang zu ihren eigenen Empfindungen: Sie erobert ein Stück Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Weiblichkeit – unserer Weiblichkeit – zurück! Zu lange haben wir unsere Verantwortung an der Garderobe des Arztes, des Spitals oder an eine sogenannte Wissenschaft abgegeben und sie in die Hände von »Nichtgebärenden«, um nicht zu sagen, Männern gelegt. Es ist an der Zeit, dass sich die Frauen dieses Stück Überlegenheit und Andersartigkeit wieder zurück erobern. Nie und nimmer wird ein Mann ein Kind gebären. Nie und nimmer wird ein Mann dieses Geheimnis voll und ganz verstehen können.

Das heißt nun aber nicht, dass Männer von der Geburt ausgeschlossen werden sollen – im Gegenteil. Julia Dibbern führt genügend Beispiele an, die plastisch vor Augen führen, zu was für »Superraubtieren« die Trennung zwischen Neugeborenem und Mutter führt. Wie subtil und mit wie vielen tausend Antennen die Bindung (»Bonding«) zwischen Mutter und Kind verläuft und dass ein Kind, das in einer geschützten und geborgenen Atmosphäre aufwächst, sich zu einem sozialen, kommunikativen und kooperativen Wesen entwickelt. Und dies nicht nur in übertragenem Sinn, sondern wortwörtlich: Je näher der Kontakt – Hautkontakt: nackte Haut auf nackter Haut –, umso größer die Nähe – umso stärker der Austausch und umso stabiler die Entwicklung. Wir stehen zu allem in einer Wechselbeziehung: Je größer der Kontakt zu meinem Kind, umso fürsorglicher wird die Mutter und umso friedlicher und umgänglicher reagiert das Kind; was wiederum die Liebe zum Kind fördert: Ein wahrer Engelskreis!

Da es in den letzten Tausenden von Jahren nie darum ging, eine möglichst friedliche Welt zu schaffen, musste man nur die Mutter-Kind-Beziehung stören, um möglichst aggressive, manipulative und kriegstaugliche Menschen zu erziehen, im wahrsten Sinne des Wortes. So wie die heutige Industrie und damit die heutige Zeit keine friedlichen, sondern in erster Linie konsumfreudige Menschen will und die Grundlagen dazu heute schon beim Baby geschaffen werden.

Die Frau, die in sich das bewahrende, schützende und Leben spendende Prinzip vereinigt, wird den dazu bereiten Mann einbeziehen. Sie wird ihm schon das Ungeborene näherbringen. Je mehr sich der neue Mann darauf einlässt – mit seinem ungeborenen Kind spricht, es schon im Bauch liebkost, es streichelt und küsst –, umso mehr wird auch hier eine unverkennbare und spürbare Wechselwirkung entstehen. Der Mann wird endlich seine weibliche Seite besser entfalten können. Ein solcher Vater wird sein Kind nicht in den Krieg schicken und er wird dafür sorgen, dass auch Mutter Erde nicht ausgebeutet und zerstört wird, denn sie soll doch schützender und nährender Lebensraum für sein Kind sein.

Geborgene Babys vermittelt, dass es hier um die Entwicklung von Babys geht – was natürlich richtig ist –, aber das Buch ist viel mehr: Es wirft Fragen auf; es fordert zum Umdenken auf; es wird keinen Menschen unberührt lassen. Es geht nicht in erster Linie darum, ob beispielsweise ein Kind gestillt wird oder nicht – das heißt, Vor- und Nachteile davon abzuwägen. Nein, dieses Buch geht tiefer: Es zeigt, wie komplex unser Zusammenleben gestaltet ist; welche feinen Nuancen und Schattierungen bereits Auswirkungen auf unseres späteres Denken, Handeln und Sein haben. Dieses Buch hilft dabei, Irrtümer zu erkennen und Irrwege zu verlassen. So versteht sich, dass eine Geburt mehr ist, als nur ein Kind auf die Welt zu bringen. Eine Geburt ist eine hochsensible Angelegenheit, die nur wirklich gelingen kann, wenn die intuitiven und instinktiven Kräfte wieder die Führung übernehmen dürfen. Und dafür müssen wir Frauen wieder vermehrt Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten entwickeln und entfalten.

Das Buch zeigt die Zusammenhänge von frühkindlicher Prägung und den weit greifenden Problemen in unserer Gesellschaft. Deshalb ist es ein gutes und gelungenes Buch.

Rita Messmer, Januar 2005

Willkommen zur dritten Auflage

If you're holding out for universal popularity,I'm afraid you'll have to stay in this cabin for a very long time.

(Albus Dumbledore in Harry Potter IV)

Seit der Erstveröffentlichung von Geborgene Babys ist einige Zeit ins Land gegangen. An dieser Stelle möchte ich mich für die vielen freundlichen Rückmeldungen bedanken, die mich seither erreicht haben. Ich hoffe, ich habe alle sie beantwortet. Auf jeden Fall habe ich mich an allen erfreut, über alle nachgedacht und aus vielen gelernt und wertvolle Anregungen für diese neue Auflage gezogen.

Diese Neuauflage ist ein bisschen weniger wütend, aber nicht weniger »extrem«, als das erste Geborgene Babys es war. Und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen nicht: Erstens gibt es schon genug moderate Literatur auf dem Markt. Ich wollte kein lauwarmes Buch schreiben, sondern die Dinge so beim Namen nennen, wie ich sie sehe. Zweitens schämt sich die »Gegenseite« auch keine Sekunde lang dafür, extrem zu sein. Bücher, in denen allen Ernstes empfohlen wird, Babys dadurch zum Schlafen zu bringen, dass man sie allein schreien lässt, erreichen Verkaufszahlen von über einer halben Million. Das finde ich ziemlich extrem, und es wirft ein sehr trauriges Licht auf unsere Gesellschaft.

Geborgene Babys war nie als objektives oder »wissenschaftliches« Buch konzipiert. Es ist keine sachliche Abhandlung und sollte nie eine sein. Ich glaube, dass man mit dem Intellekt so ziemlich alles beweisen kann, was man beweisen möchte. Mir ist es daher viel wichtiger, an die Urmutter in uns zu appellieren und wieder darauf hören zu lernen, was das Bauchgefühl als richtig erkennt. Dass ich trotz all meiner jahrelangen Forschungen keine Wissenschaftlerin im klassischen Sinne bin, empfinde ich als großen Gewinn. Im Gegensatz zu meinen medizinisch oder psychologisch vorgebildeten Autorenkollegen bin ich sozusagen »überkonfessionell«, keiner gedanklichen Schule verpflichtet und keiner Lehre außer der des Herzens unterworfen. Da ich keinen seriösen Ruf zu verlieren habe, kann ich es mir leisten, Dinge zu mutmaßen und auch grenzwissenschaftliche Betrachtungen einzubeziehen, die nicht durch Doppelblindstudien gesichert sind, oder vielleicht auch unpopuläre Positionen zu vertreten.

Bei allem, was ich schreibe, liegt es mir fern, jemandem auf den Schlips treten oder aus irgendwelchen Gründen ein schlechtes Gewissen machen zu wollen. Dieses Buch soll niemanden diskreditieren, sondern leicht verständlich Ideen und Hintergrundinformationen geben. Ohne jeglichen Absolutheitsanspruch habe ich nur das aufgeschrieben, was ich selbst mir gewünscht hätte, vorher gewusst oder gespürt zu haben, damit es andere vielleicht nicht mehr so schwer haben, die Urmutter in sich unter dem vielen Zivilisationsmüll auszugraben.

Selbstverständlich kann man auch im Krankenhaus eine schöne Geburt erleben. Natürlich kann man auch ohne Stillen eine tiefe Bindung zum Kind aufbauen, und ja, aus Kindern wachsen – wer hätte das gedacht? – auch gesunde Erwachsene heran, wenn sie die ersten drei oder vier Jahre Windeln getragen haben. Darum geht es mir nicht. Ich möchte nur ein paar Ideen liefern, die das Familienleben für alle Beteiligten leichter machen können. Jede(r) möge sich daher das heraussuchen, was eine Saite zum Schwingen bringt – und den Rest verwerfen.

Wer nie etwas davon gehört hat, dass ein Baby keine Windeln braucht, kann keine Wahl für oder gegen Windeln treffen. Wer nur die Propaganda der Babynahrungsindustrie kennt, dass die Muttermilch irgendwann »nicht mehr reicht«, kann sich nicht für oder gegen langes Stillen entscheiden. Wer nur die dramatisierenden Darstellungen von Geburtserlebnissen aus den Seifenopern kennt, kann niemals eine freie Geburt erleben. Wer glaubt, dass Tragen schädlich ist für Babys Rücken und niemals das Gegenteil hört, wird nie die wunderbare Nähe spüren können, die beim Tragen entsteht. Wer glaubt, dass man im Elternbett das Baby erdrückt, wird nie wissen, wie schön es ist, seine Nase in einen wuscheligen Babyhaarschopf zu vergraben und so einzuschlafen und neben einem schlaftrunkenen Baby aufzuwachen.

Hätte mir vor meiner Schwangerschaft jemand von all diesen Dingen erzählt, hätte ich sie mit Sicherheit nicht in Erwägung gezogen (Tragetuch? Ich? Um Himmels Willen, wie uncool! Niemals…), aber ich hätte es immerhin irgendwo im Hinterkopf gespeichert – und ich hätte letztlich die Wahl gehabt, manche Dinge von vornherein anders zu gestalten.

Wenn ich an die vielen vielen Babys denke, die einsam in diesen sterilen, gläsernen Bettchen auf den Säuglingsstationen dieses Landes ihre Nächte verbringen, zerreißt es mir das Herz. Ich kann nicht anders, als für eine andere Art des Umgangs einzutreten – wenn es sein muss, auch sehr entschieden. Ich bin auch entsetzt und empört darüber, wie skrupellos und erfolgreich all jene, die an Babys und jungen Müttern gutes Geld verdienen, ihre sinnlosen, ungesunden und manchmal sogar gefährlichen Produkte vermarkten. Junge Familien, die oft sowieso nicht mit allzu reichlichen finanziellen Möglichkeiten ausgestattet sind, geben ihr hart verdientes Geld für so viele Dinge aus, mit denen sie weder sich selbst noch dem Baby irgendeinen Gefallen tun – weil sie den Experten vertrauen und weil »man« dies oder jenes eben so macht.

In den einzelnen Abschnitten des Buches kommen viele Eltern zu Wort, die mir ihre Geschichten und Meinungen erzählten. Dass die beteiligten Familien in einem Bereich ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie wir, heißt natürlich nicht notwendigerweise, dass sie bei allen Themen mit mir übereinstimmen. Was uns verbindet, ist die grundlegende positive Einstellung unseren Kindern gegenüber.

Wenn man einiges so anders angeht als die Norm, prasseln teilweise wirklich anstrengende Rechthabereien auf einen ein. Das ist besonders nervenzehrend, wenn man ein kleines Baby hat und dadurch vollkommen offen, auf Symbiose eingestellt und energetisch beinahe schutzlos ist. In mancher Situation hätte ich ein großes Schild ziemlich praktisch gefunden, das ich bei störenden oder unbeabsichtigt beleidigenden Bemerkungen einfach hätte heben können und das absolut unmissverständlich signalisiert: »Ich lasse dir deine Meinung, also lass du mir meine und mich in Ruhe.« Das Muttertier in uns sollte geschützt und geehrt werden – nur dann kann es sich zur vollen Größe erheben und uns spüren lassen, was für unser Baby und uns selbst am besten ist. Deswegen dachte ich mir, stelle ich dieses mentale Schild allen zur Verfügung, die es zum (teilweise sicherlich nur innerlichen) Schutz gegen gutgemeinte Übergriffe der oft mit veralteten Informationen ausgestatteten Verwandten, Bekannten und Fachleute brauchen.

Für die Mythen und Missverständnisse, die ich in Teil 2 dieses Buches an das Ende der jeweiligen Kapitel gestellt habe, habe ich zig Leute befragt und eine Umfrage nach der anderen ausgewertet, um möglichst authentische Umgebungsäußerungen einzufangen. Ich habe nicht nur die häufigsten, sondern auch – damit der Humor nicht zu kurz kommt – die kreativsten Bemerkungen aufgenommen. Allesamt authentisch, geäußert von Verwandten, Bekannten, Ärzten und anderen Experten.

Nun bleibt mir nur noch, allen viel Spaß beim Lesen zu wünschen. Lassen Sie uns mit unseren Kindern freuen und uns und die Welt erforschen.

Wir können viel von ihnen und mit ihnen lernen.

Julia Dibbern, im Mai 2010

Teil 1: Die Würde des Babys ist unantastbar

Wirkliche Elternliebe besteht nicht darin,Kinder mit Liebe zuzuschütten,sondern darin, Kinder wirklich zutiefstin das eigene Herz hineinzulassen.

(D.S. Barron)

Am Anfang war die ganz normale Meinung…

Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute;seht euch an, wohin uns die normalen gebracht haben.

(George Bernard Shaw)

Bevor ich mich mit dem Gedanken an eigene Kinder trug oder gar selbst schwanger wurde, hatte ich kaum feste Vorstellungen über Babys, Kleinkinder und alles, was damit zusammenhängt. Wie die meisten jungen Menschen in unserer westlichen Welt hatte ich mit Babys bisher nicht sehr viel zu tun gehabt. Im Wesentlichen nahm ich einfach vieles als gegeben hin. Das Bild, das allerorten präsent ist und das mit viel Interesse und Expertise – und leider auch sehr wirkungsvoll – von der Babyversorgungsindustrie propagiert wird, war in groben Zügen auch mein Bild.

Babys sollten den Familienablauf ergänzen, aber nicht weiter stören, dachte ich. Und die wirklich coolen Eltern sind die, die sich von ihrem Baby nicht zu sehr verändern lassen.

Auf Spaziergängen, wähnte ich, sei es optimal, Babys im Kinderwagen zu schieben. Ab und an weinen sie, dann muss man den Wagen etwas schuckeln oder dem Kind den verlorenen Schnuller wieder in den Mund schieben. Denn es ist ja normal, dass Babys quengelig sind… Meine Cousine trug ihre Kinder im Tragetuch und schwärmte davon, aber mir war das nicht recht geheuer. Ich fühlte mich, obwohl sie wirklich sehr dezent und vorsichtig war, irgendwie gedrängt und manipuliert und wollte eigentlich schon deswegen aus Prinzip kein Tragetuch haben. Außerdem fand ich es extremst öko-wurschtelig, und es sah arg kompliziert aus. Bei weitem nicht so hip wie ein schicker Kinderwagen.

Stillen ist gesund, so viel hatte ich wohl schon gehört. Und dass ich, wenn ich einmal ein Kind hätte, dieses stillen würde, stand für mich außer Frage, wenn auch nur wegen der Allergieprophylaxe. Wie lange ich stillen wollte, darüber dachte ich nicht weiter nach. Ich nahm vermutlich an, man stillt eben ab, wenn das Kind 6 oder 7 Monate alt ist. Über das Danach machte ich mir keine Gedanken. Den Anblick eines gestillten Kleinkindes fand ich… nun ja, nicht direkt abstoßend, aber doch sehr sehr gewöhnungsbedürftig.

Und ich konnte mich zwar daran erinnern, dass ich es als Kind sehr genossen hatte, wenn ich einmal zu meinen Eltern unter die Bettdecke kriechen durfte, aber grundsätzlich, befand ich, sollten Babys doch wohl besser in ihrem eigenen Bett liegen. Als meine Cousine, deren Kinder im elterlichen Bett nächtigten, sich einmal über Schlafmangel beklagte, empfahl ich ihr allen Ernstes ein bekanntes Buch über ein »Schlafprogramm«… Ich erinnere mich wie heute an das Telefonat. Mein Argument damals war etwas in der Art von: »Davon hört man doch nur Gutes. Das soll doch so gut funktionieren.« Was meine Cousine entgegnete, kam nicht einmal bei mir an. Ich hörte es schlicht nicht. Es war nicht Teil meiner Realität.

Und die Windeln! Am praktischsten sind ja wohl Wegwerfwindeln, ganz klarer Fall. Dieses Getüdel mit den Stoffwindeln würde mir mal nicht ins Haus kommen. Zumal ja die Ökobilanz gar nicht mit Sicherheit besser für die Stoffwindeln ausfiel – zumindest nach neuesten Forschungen der Wegwerfwindelindustrie.

Eltern sind chronisch übermüdet und leicht genervt, dachte ich, und sie müssen es sich mit Hilfe praktischer Gerätschaften bei allem so bequem wie möglich machen und bloß nicht zu viel Aufwand betreiben.

Irgendwie war ich also relativ durchschnittlich in meinen Ansichten. Obwohl ich es als Kind in einigen Bereichen anders erlebt hatte, hatte ich die Ideale verinnerlicht, mit denen wir wieder und wieder programmiert werden – durch Zeitungen und Zeitschriften, durch Filme und Romane.

Was wir heute richtig finden

Ich möchte kurz erzählen, wie es dann mit Baby bei uns ausgesehen hat. Glücklicherweise haben mein gesunder Menschenverstand und mein Herz über die Meinung der Masse gesiegt, und glücklicherweise war der wilde, unbezähmbare Urmutterinstinkt in meiner Tiefe stark genug, um von mir wahrgenommen zu werden.

Unser Sohn hatte von Anfang an eine sehr starke Präsenz in unserer Familie. Er ist bis heute nicht grundlos quengelig, »zickig« oder nörgelig. Er weint auch – was im Übrigen für alle Kinder gilt – nie ohne Grund.

In unserem Haushalt gab es, bis er ungefähr 3 Jahre alt war, eine wachsende Anzahl unterschiedlichster Babytragehilfen für verschiedene Gelegenheiten, die gern und viel benutzt wurden. Wir alle haben das Tragen bzw. das Getragenwerden so sehr genossen, dass es uns schlicht nicht in den Sinn gekommen ist, Kinderwagen oder Karre zu nehmen. Unser Kinderwagen ist immer noch fast nagelneu, nur aus Naturmaterialien und vollkommen schadstofffrei. Das Beste vom Besten für unser Kind. Benutzt haben wir ihn, wenn es hochkommt, 10 Mal für unser Baby. (Allerdings ziemlich oft, um Einkäufe zu transportieren – sehr praktische Sache, so ein Kinderwagen!).

Stillen? So lange wie möglich! Das ist einer der Punkte, über die ich mich am meisten bei mir gewundert und gefreut habe. Ich hätte nie gedacht, dass das so nett sein könnte.

Unser eheliches Bett haben wir, als unser Baby etwa 8 Monate alt war, von 1,40m verbreitert auf königliche 2,00m. Es ist so schön, neben einem schlafenden Baby aufzuwachen oder von einem kleinen weichen Mund wach geküsst zu werden. (Und ich glaubte lange Zeit nicht, ohne Fuß im Ohr überhaupt noch schlafen zu können.) Wir haben nie ein Babybett besessen und werden das vermutlich auch nie tun. Der Stubenwagen, den ich in während der Schwangerschaft mit viel Hingabe bei meinen Eltern aus dem Keller geholt, entstaubt und mit einem violettblauen (uterusfarbenen!) Himmel versehen habe, stand dann recht schnell bei uns auf dem Dachboden. Benutzt haben wir ihn damals vielleicht zwei Mal für jeweils 30 Minuten.

Windeln: Wegwerfwindelpakete haben wir insgesamt vier verbraucht, auf Reisen. Unser Sohn trug kaum noch Windeln, seit er 11 Wochen alt war. In den seltenen Ausnahmefällen trug er Stoffwindeln. Weil es so viel angenehmer ist, Baumwolle auf der Haut zu spüren als eine Plastikhülle, so »atmungsaktiv« sie auch sein mag. Endgültig auf den Dachboden gewandert ist ein Großteil der Windeln, als der Kleine etwa 9 Monate alt war.

Dieses Buch ist unter anderem so etwas wie mein Reisebericht zu einer entspannteren Lebensweise mit Kind. Ich möchte einfach erzählen, was bei uns gut funktioniert hat – und warum es funktioniert hat. Das, was ich erzähle, will ich weder als das Nonplusultra für jeden hinstellen noch möchte ich jemandem zu nahe treten. Es geht mir lediglich darum, aufzuzeigen, wie leicht und unkompliziert und freudvoll das Leben mit einem Baby sein kann, wenn man es sich nicht unnötig schwer macht, indem man die natürlichen Bedürfnisse des Babys missachtet.

So vieles wird heute als normal angesehen, was bei genauer Betrachtung weder sinn- noch liebevoll ist. So vieles rund um Schwangerschaft, Geburt und Babyalter läuft in unserer Gesellschaft unnötig kompliziert und vollkommen widernatürlich.

Es ist manchmal anstrengend und herausfordernd, wenn man sich außerhalb des Mainstream bewegt. Aber es ist auch unglaublich bereichernd – und einfach wunderschön. Weil es authentisch und ehrlich ist und dem entspricht, was wir in der Tiefe unseres Herzens fühlen, anstatt ein gesellschaftlich vorgegebenes Muster zu erfüllen. In unserer Familie können wir nicht mehr anders. Wir könnten nicht »normal« sein, denn das würde bedeuten, dass wir unser Herz verleugnen.

Sind wir extrem?

Wir machen also mittlerweile so ziemlich alles anders, als »man« es gemeinhin tut. Für viele, auch sehr bewusste, Eltern ist das »zu extrem« oder »zu radikal«. Der Witz ist, dass wir einfach das tun, was uns am logischsten und richtigsten vorkommt, ohne irgendeine Einordnung oder Beurteilung auf einer politischen oder gesellschaftlichen Skala. Ich finde uns eigentlich völlig normal, aber wer weiß. Mag durchaus sein, dass wir extrem sind. Das liegt immer am Blickwinkel. Wenn man die verschobenen, seltsamen Maßstäbe anlegt, die vielerorts immer noch als richtig gelten, dann bin ich sehr gern radikal anders. Wenn es normal ist, dass Babys direkt nach traumatischen Klinikgeburten mutterseelenallein in sogenannte Säuglingszimmer abgeschoben werden, wenn es normal ist, dass winzige Babys chemische Nahrung aus Plastikflaschen zum Trinken bekommen anstatt die warme, süße Milch an der weichen Brust ihrer Mutter, wenn es normal ist, dass Babys in Autositzen anstatt im Arm getragen werden, wenn es normal ist, dass die zarte Haut von Babys mit Seifen, Shampoos und Cremes malträtiert wird – wenn das alles normal ist, dann, nein, dann möchte ich nicht normal sein.

Doch ich glaube gar nicht, dass wir wirklich extrem sind, wenn man als Maß der Dinge unsere menschlichen biologischen Voraussetzungen anstelle der gesellschaftlichen Erwartungen nimmt. Unsere Art des Elternseins ist nicht extrem. Das Gegenteil ist der Fall. Wir als Gesellschaft haben uns nur einfach so extrem weit weg von einem menschlichen, gesunden und lebensbejahenden Miteinander bewegt, dass das, was eigentlich natürlich wäre, sehr vielen Leuten heute seltsam und übertrieben vorkommt.

Ein Plädoyer für ein offenes Herz

Dieses Buch ist, wie erwähnt, nicht objektiv. Nichts ist wirklich objektiv, und für den Intellekt ist so ziemlich alles beweisbar. Ich habe selbstverständlich genau die wissenschaftlichen Fakten und Erfahrungen von Eltern herausgesucht, die ich haben wollte. Genauso hätte ich Argumente sammeln können, die exakt das Gegenteil »beweisen«.

Denn ja, ich glaube einfach, dass die Natur vorgesehen hat, dass ein Menschenkind Menschenmilch trinkt und keine chemisch veränderte Kuhmilch. Ich glaube, dass Babys und kleine Kinder am glücklichsten sind und mit dem größten Gefühl der Sicherheit aufwachsen, wenn sie die erste Zeit in engem Kontakt mit den Eltern, besonders mit der Mutter, verbringen und getragen werden. Ich glaube, dass es für die ganze Familie am natürlichsten und in den meisten Fällen am schönsten ist, wenn Babys und kleine Kinder mit den Eltern gemeinsam schlafen. Ich glaube, dass Babys einfach bessere Startbedingungen haben, wenn sie viel Nähe und Geborgenheit erfahren, als wenn man ihre natürlichen Bedürfnisse leugnet und missachtet. Ich glaube, dass Babys es verdienen, dass ihre Eltern nicht nur nachahmen, was »alle machen«, was »eben so ist«, sondern dass sie darüber nachdenken, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Und ich glaube, dass Babys das Geburtsrecht haben, ihre biologischen und emotionalen Bedürfnisse so gut wie möglich erfüllt zu bekommen. Vor allem aber glaube ich, dass Babys es verdienen, als menschliche Wesen ernstgenommen und mit Würde und Respekt behandelt zu werden. Babys verdienen es, dass ihre Eltern mit ihren eigenen emotionalen Problemen aufräumen, anstatt sie den Kindern zu vererben. Babys verdienen es, dass ihre Eltern tagtäglich über sich hinauswachsen. Darin liegt auch eins ihrer größten Geschenke an uns – wenn nicht das größte überhaupt. Durch unsere Kinder bekommen wir von der ersten Minute an die Chance, unsere Muster und Prioritäten zu überprüfen und Wunden zu heilen, an die wir uns sonst wahrscheinlich nicht herangetraut hätten.

In ihrem Buch Die Suche nach dem verlorenen Glück schreibt Jean Liedloff, dass die erste Zeit nach der Geburt das Grundgefühl für das gesamte Leben bestimme.1 Der Prä- und Perinatalpsychologe Terence Dowling geht noch einen Schritt weiter. Seiner Ansicht nach ist es die Zeit von der Zeugung bis zum Alter von etwa drei Jahren, die entscheidende Bedeutung hat für das Erleben und die Gefühlswelt eines Menschen.2 Mittlerweile gilt als erwiesen, dass Glück und Unglück nicht »nur« Gefühle sind, sondern dass die entsprechenden Nervenverknüpfungen im Gehirn im Wesentlichen während der ersten zwei bis drei Lebensjahre gebildet werden, Liebes-, Bindungs- und Glücksfähigkeit und Sozialverhalten also organisch festgelegt werden.3 Im Laufe dieses Buches werde ich noch näher auf diese und weitere Erkenntnisse eingehen. Die Bedeutung dieser Forschungen ist ungeheuerlich und überträgt uns eine riesige Verantwortung.

Wollen wir nach wie vor eine Gesellschaft aus Erwachsenen errichten, die ständig das Gefühl haben, es fehle ihnen etwas, sie müssten um Zuwendung kämpfen und sie würden nicht verstanden? Oder sie müssten andersherum ständig gegen irgendetwas kämpfen? Wollen wir wirklich weiterhin eine Gesellschaft fördern, die latent unglücklich und auf der vergeblichen Suche nach etwas oder jemandem ist, das (oder der) die Lücke füllt, die die Mutter hätte füllen sollen? Persönlich glaube ich nicht, dass dieser Planet eine derartige Gesellschaft noch wesentlich länger verkraftet. Wünschen wir uns nicht viel eher eine Gesellschaft, die aus aufrechten, sicheren, kreativen und im tiefsten Herzen glücklichen Menschen besteht?

Die Verantwortung lässt mich mitunter schwindelig werden, aber wir haben die Zukunft der Erde wirklich selbst in der Hand. Die Art, wie wir uns selbst und unsere Kinder behandeln, ist der Schlüssel. Wir haben nicht mehr viel Zeit, und wir sollten mit Bedacht wählen, wofür wir uns jetzt entscheiden.

1Liedloff, S. 50

2 Dowling, T.: Vortrag »Grenzen und Geschlecht: Sexualität und Kernidentität«, 24.10.2004

3 Braun, Walter: Früher Stress bremst das Gehirnwachstum, in: Psychologie heute Nov. 2004, S.12

Bonding

Der sich entwickelnde Körper und das sich entwickelnde Gehirn eines Babysspiegeln und zeigen – lebenslang – die emotional-sensorische Umgebung,die ihm in der ursprünglichsten aller Beziehungen gegeben wurde,die es mit seiner Mutter hat.

(Michael Mendizza)

oder

The first cut is the deepest…

(Sheryl Crow)

Das wichtigste Geschenk im Leben

Das größte, wichtigste Geschenk, das eine Mutter ihrem Kind im Leben mitgeben kann, ist sie selbst. Das, was ein Baby im Mutterleib und in den ersten Minuten und Stunden, Tagen und Wochen nach der Geburt erfährt, legt den emotionalen Fahrplan für sein gesamtes Leben fest. Und nicht nur das, sondern es beeinflusst auch maßgeblich seine Gesundheit und die Entwicklung seiner Intelligenz.

Bonding, das unsichtbare, unzerstörbare erste Band zwischen dem Baby und seiner Mutter, ist lebenswichtig. Nicht nur für das einzelne Kind und die einzelne Frau, sondern für die gesamte Gesellschaft. Wir müssen uns deswegen dringend darauf besinnen, was unserer eigentlichen menschlichen Natur entspricht. Fast jede Mutter, die ich kenne, würde von sich behaupten, sie liebe ihr Kind so sehr, dass sie alles für das Kind tun würde. Und mit Sicherheit empfindet sie das auch so. Leider hört in der Praxis das »alles Tun« dann oftmals schon beim ersten Milchstau oder der ersten anstrengenden Nacht auf – nicht etwa, weil die Mutter ihr Kind nicht lieben würde oder gar eine »schlechte Mutter« wäre, sondern viel mehr, weil sie ein Opfer der gängigen Geburtspraktiken geworden ist: Weil das Bonding in vielen Fällen im Krankenhaus schon gestört wurde und die Mutter von ihrem Urinstinkt abgetrennt ist, der ihr sagt, was das Baby braucht. Und – nicht zu unterschätzen! – weil die Industrie es tatsächlich geschafft hat, dass in unseren Köpfen viele der künstlichen Produkte als gleichwertig mit dem natürlichen Original abgespeichert sind.

Wenn das Band zwischen Mutter und Baby aber intakt ist, sind viele Dinge möglich (bis hin zu tatsächlicher verbaler telepathischer Kommunikation), die uns erstaunlich vorkommen, obwohl sie doch vollkommen normal und natürlich sind.

Dass Herzfelder miteinander interagieren und sich gegenseitig mitziehen, ist ein präziser, messbarer, wissenschaftlicher Fakt. Die Amplitude und die Hertzwerte der beiden Herzfrequenzen werden kohärent und erzeugen so einen Zustand von Harmonie, Ganzheit und Gesundheit. Wenn das Herz des Säuglings und das Herz der Mutter aufeinander eingestellt sind, werden auch ihre Gehirnwellen synchronisiert. Wir nennen diesen ausbalancierten Zustand Bonding zwischen Mutter und Kind.1

Die Synchronisierung des Herzschlags und der Gehirnwellen bewirken, dass die Schlafphasen von Mutter und Kind aneinander angepasst sind, dass die Mutter instinktiv weiß, ob es ihrem Baby gut geht, ob die Umgebung vielleicht zu aufregend oder zu laut ist, ob es hungrig ist oder pinkeln muss, ob es müde ist usw. Für das Baby bedeutet das im Idealfall das Gefühl des absoluten Geliebtseins, Angenommenseins und Verstandenwerdens – ein Gefühl, das es sein Leben lang nicht verlassen wird. Was können wir unseren Kindern Besseres geben?

Sicher gebundene Kinder werden selbständige Erwachsene

Babys sind ungeheuer intelligent – und ungeheuer abhängig. Und je mehr man diese Abhängigkeit anerkennt, desto entspannter wird die Situation sich gestalten. Die weit verbreitete Angst davor, dass das Kind niemals selbstständig wird, wenn man ihm viel Nähe und Liebe gibt, ist vollkommen unbegründet. Das Gegenteil ist der Fall. Kinder sind von Natur aus so verkabelt, dass sie nach und nach immer weiter in die Selbstverantwortung und Selbstständigkeit streben. Sie können gar nicht anders. Es ist ihr Programm. Und je sicherer ihre Urbindung ist, desto besser und sicherer können sie sich später in der Welt bewegen.

Die bis heute beste Arbeit über das Bonding von Mutter und Kind hat Marshall Klaus in den Jahren 1970 bis 1972 vorgelegt. Er konnte zeigen, dass diese Bindung eine genetisch in uns vorgeformte intuitive Verhaltensweise ist, dass das Kind sogar ernsthaft bedroht ist, wenn sie ausbleibt.2

Eigentlich ist es wirklich einfach. Welches Kind entwickelt mehr Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit? Das Kind, für das von jemand anderem bestimmt wird, wann es geboren wird (der Wunschkaiserschnitt nimmt entsetzlicherweise immer mehr zu), wann es keine Muttermilch mehr bekommt, wann es allein einschlafen muss usw. – oder das Kind, dem zugetraut wird, dass es den Mutterleib verlässt, wenn seine Zeit da ist, die Mutterbrust verlässt, wenn seine Zeit da ist, das Elternbett verlässt, wenn seine Zeit da ist?

Die Mutter ist die Welt des Säuglings, sein Hologramm und der Inhalt seines Antriebs. Sie ist für ihn Kraft, Möglichkeit und sicherer Standort. (…) Entscheidend für den Erfolg hierbei ist, dass die Mutter wirklich fraglos der sichere Ort ist, auf den sich das Kind augenblicklich zurückziehen kann. Nur wenn der Säugling weiß, dass die Mutter ihn nicht im Stich lassen wird, kann er mit Zutrauen den Weg in die Kindheit antreten.3

Diese Welt braucht starke Erwachsene

Leider erinnere ich mich nicht, wo ich es gelesen habe, aber der Autor schrieb sinngemäß: Wie viele Popsongs, die auf den ersten Blick Liebeslieder sind, sind eigentlich verzweifelte Hilferufe an die Mutter? Where were you when I needed you most? – Wo warst Du, als ich Dich am meisten brauchte? Wo sind die Mütter, wenn ihre Babys herzzerreißend weinen und nichts so sehr brauchen wie Mama?

Wenn ich mich in unserer Gesellschaft unter den Erwachsenen umsehe, finde ich nur sehr wenige Beispiele von Menschen, die wirklich erwachsen sind – erwachsen in dem Sinn, dass sie die Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen und aus sich selbst heraus die Fähigkeit haben glücklich zu sein. Die allermeisten Menschen suchen im Partner (oder in externen Autoritäten) jemanden, der sie beschützt, bemuttert, errettet oder ihnen einfach sagt, »wo es lang geht«. Wirklich gleichberechtigte, freie Partnerschaften sind nur sehr selten anzutreffen. Vielleicht suchen all diese Menschen in Wirklichkeit nach dem sicheren Urgefühl, dem Halt und der Bindung und Liebe, die sie als Kind nicht hatten? Auch die Werbung reagiert auf das bei den meisten Menschen latent vorhandene Gefühl des Verlorenseins und suggeriert: Wenn du dieses Getränk trinkst, dieses Produkt kaufst, gehörst du endlich »dazu«. Unnötig zu sagen, dass die innere Leere durch den Konsum nicht verschwindet. Betrachtet man die weltweiten Auswirkungen dieses Handelns, wage ich zu sagen, dass wir uns dieses Verhalten schlicht nicht mehr leisten können.

Babys kommen mit einem unbegrenzten Maß an Vertrauen auf die Welt, dass alles richtig ist, was wir mit ihnen tun. Daraus folgt, dass sie bei Dingen, die ihrem eigenen Gefühl zuwider laufen, nicht etwa annehmen, Mama oder Papa könnten vielleicht den falschen Ratgeber gelesen haben. Statt dessen lernen Babys aus einer solchen Situation, dass etwas an ihnen selbst nicht stimmt. Babys kooperieren bis zur Selbstzerstörung mit ihren Eltern. Unser erstes Ziel als Eltern sollte es deswegen sein, das Vertrauen, die Liebe und die Persönlichkeit, mit der ein Kind geboren wird, zu achten und zu erhalten. Unsere Kinder wissen sehr genau, was für sie gut ist – besser als wir, die wir durch eigene Kindheitserlebnisse und gesellschaftliche Normen vorbelastet und geprägt sind. Die Kinder zeigen uns auch sehr genau, was sie brauchen. Wir können lernen ihnen zuzuhören und dabei das absolut sichere Wissen entwickeln, dass das Baby aus sich selbst heraus gut und vollkommen ist und dass alles, was es tut oder äußert, einen Sinn hat. Das Zusammenleben als Familie kann sehr harmonisch und entspannt sein, wenn die Bedürfnisse des Babys geachtet werden.

Wir hinterlassen unseren Kindern auf diesem Planeten eine Menge Müll – in jeder Hinsicht. Ich finde es fair, wenn wir ihnen dabei helfen, die Kreativität, den Geist und den Willen zu entwickeln, ihre großen Aufgaben zu bewältigen. Es ist mir wichtig, dass die Kinder dieser Welt respektiert und geliebt werden. Und es ist mir wichtig, dass sie, wenn sie klein sind, mit möglichst wenig unnötigen und negativen Stressfaktoren konfrontiert werden – damit sie später stark genug sind, damit umzugehen, wenn es nicht mehr vermeidbar ist. Vielleicht kann ich mit diesem Buch ein bisschen dazu beitragen, dass Kinder, vor allem Säuglinge, nicht mehr als hirnlose Objekte behandelt werden, sondern als das, was sie sind: zwar kleine, aber kluge, vollwertige und ernstzunehmende Menschen – verkörpertes Bewusstsein.

Jungen und Mädchen

Niemand anders trägt so eine große Verantwortungfür die Gesellschaft wie die Mütter von kleinen Jungs.

(meine Mutter)

Im Zeitalter eines boomenden Büchermarktes über die Unterschiede von Männern und Frauen wird auch unter Eltern gern darüber diskutiert, inwieweit es sinnvoll ist, Kindern eine geschlechtsspezifische Behandlung zukommen zu lassen bzw. ob es überhaupt möglich ist, diese zu vermeiden. Fakt ist: Bereits in der 12. Schwangerschaftswoche entwickeln sich durch unterschiedlich hohe Testosteronwerte bei männlichen und weiblichen Babys verschiedene Gehirne.4

»Ein Junge weint nicht«, »Jungs dürfen nicht verzärtelt werden«, »Trag den doch nicht immer herum, der kann ja gar nicht selbständig werden«… Wer hat diese Sprüche nicht schon gehört?

Gerade bei Babys und Kleinkindern ist es oft zu beobachten, dass Jungen mehr weinen als Mädchen, mehr nach der Mutter verlangen als Mädchen und auch anhänglicher und liebebedürftiger sind als Mädchen. Nun, da das so ist, hat es vermutlich biologisch seinen Sinn. Man sollte immer darauf hören, was das Baby einem über seine Bedürfnisse mitteilt. Babys irren sich niemals, wenn sie uns mitteilen, was sie brauchen.

In Die magische Welt des Kindes beschreibt Joseph C. Pearce ein Experiment mit Affenbabys. Untersuchungen an menschlichen Kindern, schreibt er, legen die gleichen Schlussfolgerungen nahe, wie sie aus dem Experiment mit den kleinen Affen erkennbar waren. So grausam das Experiment an sich ist, sagt es doch einiges aus darüber, wie wichtig es ist, dass gerade Jungen alle Zuneigung und Nähe bekommen, die sie brauchen und dass bei ihnen das Bonding möglichst störungsfrei stattfinden kann.

In einem Experiment trennte man Affenbabys von ihren Müttern. Die männlichen Affenkinder suchten zwölf Stunden lang verzweifelt nach ihren Müttern und stießen dabei den Schmerzschrei der Trennung aus. Danach brachen sie völlig zusammen, nahmen eine fötale Lage ein und gerieten in einen Zustand der Depression, von dem sie sich ohne Intervention von außen nicht wieder erholt hätten. Nahm man sich ihrer an, so begannen sie nach etwa sieben bis acht Tagen allmählich, wieder ins normale Leben zurückzukehren. Es gelang ihnen aber nie ganz; sie erlernten keinerlei soziales Verhalten, waren sexuell impotent, introvertiert und selbstzerstörerisch. Die kleinen Affenmädchen suchten zwölf Stunden lang nach ihrer Mutter. Aber als sie sie nicht fanden, kehrten sie von sich aus ins normale Leben zurück, ohne Zusammenbruch, ohne Depression. (Später erwiesen sie sich allerdings als Rabenmütter, sie misshandelten ihre Nachkommen.)5

Wenn es auch bei Menschen in der Regel sehr selten vorkommt, dass die Mutter wirklich aus dem Leben des Kindes verschwindet, ist es doch gerade in den westlichen Gesellschaften die Norm, dass die Mutter-Kind-Bindung sehr »auf Sparflamme« stattfindet. Leider ist dies bei Jungen noch mehr zu beobachten als bei Mädchen, die weit mehr gestreichelt und beschmust werden.Was passiert also mit unseren Jungen? Sie werden sozial inkompetent. Jungen, die schlagen, andere erpressen oder anderweitig mit Gewalt behandeln, sind teilweise bereits in den Kindergärten anzutreffen. Und es geht noch weiter…