Gebt den Kindern die Verantwortung zurück - Felix Nattermann - E-Book
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Gebt den Kindern die Verantwortung zurück E-Book

Felix Nattermann

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Beschreibung

Wenn gutmeinende aber übervorsichtige Eltern ihre kleinen Kinder auf Spielplätzen vor jedem Straucheln, jedem Sturz bewahren wollen, wenn sie jugendlichen Kinder noch zur Schule, die Abiturienten zur Immatrikulation begleiten, dann leisten sie ihnen einen Bärendienst: Die Jungen und Mädchen entwickeln zu wenig Selbstbewusstsein und Sicherheit. Der preisgekrönte Lehrer Felix Nattermann beklagt das mangelnde Selbstvertrauen seiner Schüler. Er sieht, dass es ihnen an Situationen mangelt, in denen sie wachsen können. Die Schüler sind entweder in der Schule, zu Hause vor dem TV oder Computer oder in Vereinen, wo es eine Aufsicht und ein Programm gibt. Dies führt dazu, dass aus unsicheren Kindern unreife Erwachsene werden, die keine Entscheidung treffen können. Nattermann plädiert, die Kinder frühzeitig loszulassen und darauf zu vertrauen, dass sie die Herausforderungen bewältigen werden. Er gibt zahlreiche Beispiele, wie man seinem Kind mehr Verantwortung überlassen kann, damit nicht die Ängste der Eltern einer guten Erziehung im Wege stehen.

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Seitenzahl: 354

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Felix Nattermann

Gebt den Kindern die Verantwortung zurück

Ein leidenschaftlicher Lehrer macht Mut

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Welt dreht sich schneller denn je und scheint voller Gefahren – gerade für schutzlose Kinder und sensible Teenager. Doch sie in Watte zu packen, ja, permanent zu begleiten, aus Vorsicht zu helikoptern, bringt: nichts. Im Gegenteil. So wachsen jungen Menschen heran, denen es an Selbstvertrauen und Eigenständigkeit mangelt.

Der preisgekrönte und engagierte Lehrer Felix Nattermann plädiert für eine andere Erziehung: Haben Sie Vertrauen in Ihre Kinder und erziehen Sie sie so zu verantwortungsbewussten, lebenstüchtigen Menschen. Wie das geht erklärt er alltagsnah und mit vielen wertvollen Anregungen.

Inhaltsübersicht

MottoDie Erziehung zu perfekten KonsumentenDie All-inclusive-Kindheit und ihre FolgenMachen wir unsere Kinder zu mündigen Bürgern statt zu KonsumentenGehen Sie mit mir neue Wege, die Kinder zu fördernKinder brauchen Wurzeln – und FlügelDie AngstspiraleGründe für unsere FurchtDie mediale AngstspiraleKinder sind wertvoller denn je – aber sie so zu behandeln, hilft ihnen nichtMit Netz und doppeltem Boden – Deutschland sichert sich abAnsteckungsgefahr AngstMut tut gut: Geben wir Angst keine ChanceDas verlorene VertrauenWarum Vertrauen für die Entwicklung des Kindes so wichtig istNabelschnur Handy – wie Kinder auch aus der Distanz kleingehalten werdenEin fataler Mangel an Vertrauen – wie wir unsere Kinder unabsichtlich schwächenVertrauen statt Furcht – wie wir unsere Kinder stark machen könnenDie fehlende VerantwortungFrüh übt sich – mit kleinen Schritten zur VerantwortungDiagnose: Ich war’s nicht! Warum es nicht gut ist, wenn Kinder die Schuld bei anderen suchenSelbstständig wird man nicht auf KnopfdruckPlanlos ins LebenMängelexemplare – die Folgen verwehrter Verantwortung für junge ErwachseneDie Folgen für unsere GesellschaftZur Unfähigkeit erzogenWas Mündigkeit wirklich bedeutet – und was nichtSchwierigkeiten beim Berufseinstieg – wir torpedieren unser WirtschaftssystemWer kein Macher ist, muss konsumierenZu Mitläufern erzogenWir brauchen mündige Bürger – machen wir sie unsGebt den Kindern die Verantwortung zurück1 Trauen wir unseren Kindern endlich wieder mehr zu2 Lassen wir Kinder wieder Kinder sein3 Machen wir Kinder zu Entdeckern4 Schenken wir Kindern das gute Gefühl, verantwortlich zu sein5 Lassen wir uns von den Kindern zeigen, was sie alles können6 Wie wir die digitale Welt für unsere Zwecke nutzen können7 Verpassen wir Kindern einen Motivationsschub8 Denken wir Schule neu – und zwar so, dass sie Kinder wirklich auf die Zukunft vorbereitetÜbersicht: Was sollte Ihr Kind ab welchem Alter könnenFassen wir MutDanksagung
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Wir vermögen mehr, als wir glauben. Wenn wir das erleben, werden wir uns nicht mehr mit weniger zufriedengeben.

Kurt Hahn, Reformpädagoge

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Einleitung

Die Erziehung zu perfekten Konsumenten

Habt keine Angst um mich. Ich komme immer zurecht.

Pippi Langstrumpf

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin mit den Büchern von Astrid Lindgren aufgewachsen, und die Figuren sind nach wie vor in meiner Erinnerung lebendig: Pippi Langstrumpf, die allein in einer kunterbunten Villa lebt und für ihr Pferd Kleiner Onkel und ihr Äffchen Herr Nilsson sorgt. Meisterdetektiv Kalle Blomquist, der – obwohl von Freunden verlacht – an seinem Fall dranbleibt und den Juwelendieb schnappt. Oder Ronja Räubertochter, die in die Bärenhöhle zieht, weil sie ihren Freund Birk nicht aufgeben will. Lindgrens Figuren haben mich bezaubert, inspiriert und begleitet, und die Philosophie der klugen Autorin hat mich vor allem eines gelehrt: Es ist egal, ob ich ein Kind bin, ich kann etwas erreichen, wenn ich es wage.

Natürlich war ich in Wahrheit froh, dass ich den Winter nicht in einer Bärenhöhle verbringen oder allein in einer kunterbunten Villa hausen musste. Aber im Vertrauen auf meine kindliche Stärke habe ich draußen gespielt, habe mit Freunden meine Heimatstadt Erfurt erkundet, habe mich mit ihnen in Hinterhöfe geschlichen und Klingelstreiche gespielt, an der nahe gelegenen Gera Staudämme gebaut und mit selbst gebastelten Holzschwertern gefochten, bin im Garten meiner Großeltern auf Bäume geklettert und erst nach Hause gekommen, wenn es draußen dunkel wurde. Ich bin Fahrrad ohne Helm gefahren, habe mich auf dem Schulhof behauptet und mit der Zeit einen immer weiteren Radius erkundet und erobert. Ich war Kind, und das durfte ich auch sein – wie bei Lindgren wild und frei und wunderbar, und vor allem auch: abenteuerlustig.

Ich war sicher, dass meine Eltern mir vertrauten, und es fühlte sich gut an, auf sich selbst gestellt zu sein, sich ausprobieren zu können und Verantwortung zu übernehmen. Es hat mir Lust gemacht auf das Leben, auf die Welt und darauf, etwas auf die Beine zu stellen.

Leider ist es heute für Kinder nicht mehr selbstverständlich, so aufzuwachsen. Und das ist sehr zu ihrem Nachteil, wie ich in diesem Buch zeigen werde.

 

Wenn im Folgenden von Kindern die Rede ist, spreche ich im Grunde über Kinder und Jugendliche. Ich bin seit über 20 Jahren in der Jugendarbeit tätig, arbeite heute als Lehrer, kenne also die verschiedenen Altersstufen. Und ich beobachte, dass viele Eltern ihren Kindern heute unbewusst Steine in den Weg legen: Die Kids dürfen kaum noch eigene Entscheidungen treffen. Und sie konsumieren nur, sind fremdbestimmt. Die Eltern verplanen die Zeit ihrer Kinder so gründlich, wie dies zuvor noch nie der Fall war, und sie minimieren jegliches Risiko. Eltern tun dies aus Sorge um das Wohl der Kinder, was absolut verständlich ist. Leider entziehen sie ihren Kindern dabei etwas Wesentliches: das Vertrauen, dass sie viele Situationen alleine meistern können. Sie lehren ihren Nachwuchs nicht, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Schon Kleinkinder werden von ihren Eltern heute dort beschützt, wo sie eigentlich keinen Schutz brauchen. Mama und Papa halten sie auf der Rutsche fest, reichen auf dem Klettergerüst die Hand oder fahren auf dem Kinderkarussell mit. Dabei gibt es hier keine lebensbedrohlichen Gefahren, denen die Kinder ausgesetzt wären, sondern vielmehr die ersten wichtigen Erfahrungen im Leben eines Kindes: Oben auf der Rutsche loszulassen, im Vertrauen darauf, dass man die rasante Fahrt schon alleine meistern kann, und das berauschende Gefühl, wenn alles gut gegangen ist. Das Wagnis, auf dem Klettergerüst in die Höhe zu steigen im Bewusstsein des Risikos, zu fallen. Oder die Freude, alleine auf dem Karussell zu fahren, selbst wenn das ganz komisch im Magen kribbelt.

Für größere Kinder ist der Schulweg ein weiterer wichtiger Schritt zur Eigenständigkeit. Zu meiner Zeit völlig selbstverständlich, dürfen heute kaum noch Erstklässler ihren Schulweg ohne elterliche Aufsicht absolvieren. Und nein, obwohl viele Menschen dies denken, ist die Welt da draußen nicht schlimmer oder gefährlicher geworden. Was den Schulweg angeht, ist sie sogar sicherer: Es gibt heute mehr Zebrastreifen und Fußgängerampeln als früher.

Eltern, die ihr Kind zur Schule fahren, berauben es auch hier einer wichtigen Erfahrung: dass ihm jemand zutraut, mit der Situation klarzukommen. Dass es seine Umwelt erlebt, denn den Schulweg zu gehen, bedeutet auch, sich in seiner Umgebung zu orientieren. Und dass es das »Ich kann etwas erreichen, wenn ich es wage«-Gefühl erlebt, wenn es sein Ziel erreicht – mein Astrid-Lindgren-Feeling.

Bei Jugendlichen setzt sich das Problem fort, wenn Eltern beispielsweise von ihnen verlangen, dass sie auch auf Klassenfahrt per Handy erreichbar sind. So wird die Erfahrung verhindert, fern von zu Hause auf sich allein gestellt zu sein und diese Situation selbstständig zu meistern. Ähnliche Auswirkungen hat es, wenn Eltern selbst bei 12- oder 13-Jährigen noch permanent die Hausaufgaben kontrollieren, anstatt dies dem Kind zu überlassen – es wird dann kaum verstehen, dass es selbst für Erfolge und Misserfolge verantwortlich ist. Oder wenn sie dem fast erwachsenen Spross bedingungslos den Führerschein und das erste Auto finanzieren, ohne dass das Kind darüber nachdenken müsste, wie es selbst dazu beitragen könnte.

Das sind nur einige Beispiele, mit denen ich immer wieder konfrontiert werde, doch es gibt Tausende von Situationen, an denen Kinder und Jugendliche wachsen könnten, die ihnen aber heutzutage von vielen Erziehenden, Eltern genau wie von Jugendarbeitern und Lehrern vorenthalten werden.

Und das ist nicht gut für Kinder. Denn sie wollen und müssen Verantwortung übernehmen, damit starke Erwachsene aus ihnen werden.

Das immer wieder verwehrte Vertrauen verhindert hingegen, dass Kinder Erfolgserlebnisse sammeln, und es wirkt sich später in mangelndem Selbstvertrauen und fehlender Selbstständigkeit aus. Kinder, denen wir heute kein Vertrauen schenken und die wir nicht dazu erziehen, Verantwortung zu übernehmen und eigene Erfahrungen zu sammeln, werden ihr Leben morgen nicht selbst in die Hand nehmen können.

Die All-inclusive-Kindheit und ihre Folgen

Verstehen Sie mich nicht falsch: Kinder sind so ziemlich das Größte, und der Wunsch, sie zu behüten, ist darum absolut nachvollziehbar. Aber viele Eltern sind heute zu ängstlich. Und sie tun ihrem Nachwuchs damit keinen Gefallen. Denn Kindheit und Jugend sind eine ungemein wichtige und prägende Zeit. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, Kinder flügge zu machen, anstatt sie nur mit Nestwärme zu umsorgen. Und so ist es eine Katastrophe, wenn Kinder von überbehütenden Eltern die einseitige Botschaft erhalten: Du musst dich um nichts kümmern, es gibt ein Netz und einen doppelten Boden. Ich fange dich auf, ich halte dich die ganze Zeit fest. Es ist für alles gesorgt. Immer.

Damit erweisen wir unseren Kindern einen Bärendienst. Denn erst durch das Vertrauen der Erwachsenen lernen Kinder, sich selbst zu vertrauen. Und indem sie Verantwortung übernehmen, entwickeln sie Eigeninitiative und lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Wenn ihnen jedoch jede Mühe abgenommen wird, wenn immer alles um sie herum geplant und abgesichert ist, lehnen sie sich zurück und entwickeln eine Beifahrermentalität: Mama und Papa haben das Steuer fest in der Hand, sie selbst müssen nur danebensitzen, brauchen nichts zu tun und gelangen trotzdem ans Ziel.

Ich sehe das in der Schule. Von meinen Schülern – ich spreche hier, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, immer von beiden Geschlechtern, also Jungs und Mädchen – sind viele die ganze Woche über verplant. Wie auf Schienen fahren sie durch den Tag und verbringen zudem die meiste Zeit in gesicherten Räumen: Sie sind entweder in der Schule, zu Hause vor dem Fernseher oder Computer, vielleicht auch in der Musikschule und in Vereinen. Nichts gegen Vereine – sie leisten wertvolle pädagogische Arbeit. Aber auch hier gibt es eine Aufsicht und ein Programm. Auch hier konsumieren die Kinder und Jugendlichen ein vorgefertigtes Produkt. Dabei ist es egal, ob sie ein Instrument erlernen oder einen Sport ausüben. Sie bekommen einen Ablauf geboten, ohne wirkliche Gestaltungsfreiheit, ohne die Chance, sich selbst und die Welt dort draußen zu erfahren. Das Gleiche gilt für die Schule. Hier sitzen die Schüler brav und konsumieren ihren Stoff. Frontalunterricht und Einzelarbeit, Übungen zu zweit oder in größeren Gruppen wechseln sich ab, aber die Kinder entscheiden nicht selbstständig, wann und wie und was sie lernen. Und so besteht Matheunterricht meist nur aus Regeln und Formeln, Englisch aus Vokabeln, die man pauken, und Lückentexten, die man ausfüllen muss.

Ein kurzes Beispiel, welche Folgen das haben kann: Früher gab es noch an fast jeder Schule eine Schülerzeitung, die komplett in Schülerhand lag. Heutzutage ist dies eher selten geworden. Wenn überhaupt, so leiten oftmals Lehrer in Form einer AG eine solche Schülerzeitung, die man dann kaum noch als eine solche bezeichnen kann. Und sie haben Mühe, ihre Schüler fürs Schreiben der Artikel zu begeistern.

Kein Wunder. Durch die Art, wie wir ihren Tag durchstrukturiert haben, haben die Kinder gelernt, Schule zu konsumieren und automatisiert jeden Stoff zu schlucken. Im besten Fall jagen sie nur noch guten Noten hinterher. Wie sollen Schüler da eine Zeitung gründen und organisieren? Sie haben noch nie etwas selbst aufbauen müssen oder besser gesagt: dürfen. Sie kennen nicht das Gefühl, eine eigene Idee zu haben und diese dann mit viel Elan umzusetzen. So werden ihnen auch zwei prägende Erfahrungen vorenthalten: den Erfolg ihres eigenen Unternehmens auszukosten ebenso, wie zu lernen, mit einem Misserfolg umzugehen. Und es ist dabei egal, ob es sich um die Schülerzeitung handelt, eine Schülerfirma, ein wirklich in Schülerhand liegendes Jugend-forscht-Projekt, ein Theaterstück oder eine AG, die die Schüler selbst leiten.

Wenn wir unseren Job als Lehrer ordnungsgemäß erledigt haben, dann sind die Kinder am Ende super ausgebildet, verfügen über ein breites Wissen, sind in der Lage, Integrale zu lösen und aufs Trefflichste Gedichte zu interpretieren. Was ihnen aber fehlt, ist Leidenschaft, das wirkliche Interesse an einer Sache.

Viele Schüler wissen daher nach der Schule nicht, was sie machen wollen. Die unendlichen Möglichkeiten unserer offenen Welt verängstigen sie – es gibt plötzlich keinen vorgefertigten Fahrplan mehr. Sie sind von der Freiheit überfordert, eine wirklich relevante Entscheidung zu treffen, nämlich, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. In der Schule waren sie zwar in einigen Fächern gut, es gibt aber nichts, wofür sie wirklich brennen. Aus eigenem Antrieb können sich daher nur die wenigsten für ein bestimmtes Studium oder eine Ausbildung begeistern. Viel eher entscheiden sie sich für Studienfächer oder Berufe, die ihnen von den Eltern souffliert werden. Und damit zieht sich das Problem weiter: Denn in ihrem späteren Leben sollen sie die Verantwortung für eine eigene Familie übernehmen, Verträge unterzeichnen, mit problematischen Situationen umgehen und sich selbstständig um ihre Zukunft kümmern – doch dazu geben wir ihnen nicht die richtigen Mittel an die Hand, sondern machen sie abhängig von uns.

So lernen sie nur, das Leben zu konsumieren, statt es zu gestalten.

Was daran so schlimm ist?

Um für die Zukunft fit zu sein, brauchen wir Menschen, die Dinge verändern, eigenständig denken und handeln. Stattdessen züchten wir uns eine Generation ohne Leidenschaft heran. Die heutigen Kinder werden zu Menschen, die sich nichts zutrauen und ihrem Job nachgehen, ohne für etwas zu brennen. Sie werden zwar eine Arbeit finden, aber wahrscheinlich keine Unternehmen gründen, sich nicht über Gebühr engagieren und nichts Neues wagen. So bilden wir Arbeitnehmer aus, die nicht flexibel auf den sich wandelnden Arbeitsmarkt reagieren können. Und das ist fatal, denn viele der Jobs, für die wir sie heute ausbilden, wird es morgen durch die Digitalisierung nicht mehr geben.

Gleichzeitig starten unsere Kinder mit hohen Erwartungen ins Leben, was den eigenen Lebensstandard oder Karrierepläne betrifft – Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden, da es im Leben eben keine Automatismen gibt, sondern sehr viel von Eigeninitiative abhängt. Wenn wir unseren Kindern immer alles abnehmen, werden sie später nicht mal in der Lage sein, alleine bei einem Arbeitgeber anzurufen, um dort nach offenen Stellen zu fragen. Zudem werden sie steuerbar, denn wer nicht gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen, bleibt unmündig und läuft größere Gefahr, sich von Rattenfängern verführen zu lassen. Anders ausgedrückt: Wer die Freiheit nie schätzen gelernt hat, wird sie nicht verteidigen.

Machen wir unsere Kinder zu mündigen Bürgern statt zu Konsumenten

Es ist nicht alles schlecht. Natürlich gibt es auch Eltern, Lehrer, Schulen und Vereine, die Kinder und Jugendliche hervorragend darin unterstützen, zu mutigen und engagierten Erwachsenen zu werden. Genauso gibt es tolle Kinder und Jugendliche, die vieles von dem können, was ich ihnen in meinem Buch abspreche. Ich schildere die negativen Beispiele deswegen so überdeutlich, weil es um eine falsche und gefährliche Tendenz in der Gesellschaft geht, der wir dringend Aufmerksamkeit schenken müssen – und der wir nur gemeinsam entgegenwirken können.

Ich spreche bewusst von »Wir«.

Lehrer und Eltern müssen an einem Strang ziehen – zum Wohl der Kinder. Es geht mir nicht darum, Eltern in eine Ecke zu stellen. Die Kinder brauchen uns: Eltern genau wie Lehrer und Erziehende in der Kinder- und Jugendarbeit.

Lassen Sie uns das also gemeinsam angehen.

Oft genug sind Schule und Eltern nicht verbündet, dabei geht es um etwas, das uns allen wichtig ist: aus Kindern Menschen zu machen, die auf eigenen Füßen stehen. Menschen, die unsere Gesellschaft dringend braucht. Wenn ich also im Folgenden »wir« sage, dann sind damit Sie als Eltern genau wie wir Lehrer, aber auch andere Menschen gemeint, die in erzieherischer Funktion im Leben des Kindes eine Rolle spielen: Großeltern, Onkel und Tanten, Freunde, Nachbarn, sogar Menschen auf der Straße. Das alte Sprichwort, nachdem ein ganzes Dorf ein Kind erzieht, hat seine Gültigkeit nicht verloren.

Gemeinsam sollten wir uns zunächst einem obersten Ziel verschreiben: Spätestens mit 18 Jahren müssen unsere bis dahin Schutzbefohlenen auf eigenen Beinen stehen können. Reif genug sein, um für sich und auch für andere Verantwortung zu übernehmen. Das können sie nicht, wenn wir sie nicht mit altersgemäßen Herausforderungen darauf vorbereiten.

Dazu müssen Eltern und Schulen Räume schaffen, in denen Kinder und Jugendliche wachsen können. Wir dürfen die Kinder nicht an die Hand nehmen und über jede Stolperstelle vorsichtig hinwegführen oder diese noch besser komplett umfahren. Vielmehr sollten wir sie an altersgemäße Hürden heranführen und darauf vertrauen, dass unsere Kinder diese bewältigen werden.

Natürlich sind diese Hürden gelegentlich auch mit Gefahren verbunden. So gern ich das möchte, kann ich nicht versprechen, dass die Kinder den Lernprozess völlig ohne blaue Flecken überstehen. Meine Tipps sollen dazu dienen, die Kinder mit der Schönheit und den Widrigkeiten dieser Welt vertraut zu machen, sie mutig und stark machen. Nichts bewahrt sie vor der Gefahr, die damit verbunden ist, Verantwortung zu übernehmen. Wer glaubt, dass es besser wäre, Kinder zu behüten, übersieht, dass der Umgang mit riskanten Situationen besser schult, als das eigene Kind mit 18 quasi ins offene Messer laufen zu lassen – denn in dem Alter muss es spätestens so weit sein, dass es die komplette Verantwortung für sein Leben übernehmen kann. Daher müssen wir Kinder lehren, nach und nach immer mehr Risiko einzugehen.

Wir müssen uns also bewusst werden, dass es vor allem die Herausforderungen und Hindernisse sind, aus denen Kinder lernen und an denen sie wachsen – nicht die kuschligen Komfortzonen oder behüteten Lernbereiche. Dazu gehört auch das Scheitern. Wir leben leider in einer Kultur, in der es verpönt ist, Fehler zu machen, weshalb wir uns alle davor fürchten. Das ist Unsinn. Denn wir lernen durch Fehler. Genauso ist das bei Kindern. Wir müssen ihnen wieder erlauben, Fehler zu machen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Erst so erlangen sie Selbstsicherheit. Sie können einem Kleinkind das Laufen nicht beibringen, indem Sie ihm einen Vortrag darüber halten, wie es dabei die Beine bewegen muss. Es lernt nur, indem es das Laufen ausprobiert – und dabei auch mal auf sein Hinterteil fällt. Sich auszutesten, seine Grenzen kennenzulernen und zu überschreiten, gehört zu den wertvollsten Erfahrungen im Leben. Diese Art zu lernen müssen wir auf alle Lebensbereiche übertragen, wenn wir erreichen wollen, dass Kinder selbstständig werden: Wir müssen sie ausprobieren, ihre eigenen Erfahrungen machen – und auch scheitern lassen.

Das gelingt aber nur, wenn wir den Kindern zeigen, dass wir ihnen vertrauen, und wenn wir ihnen die Verantwortung zurückgeben. Wir müssen ihnen ihre Welt Stück für Stück anvertrauen. Indem wir das tun, gestalten wir die Zukunft. Nicht nur die der Kinder, sondern auch die der Welt, in der wir alle und auch künftige Generationen leben. Denn nur, wenn die Kinder und Jugendlichen, die wir erziehen, selbstbewusst und frei genug sind, werden sie Lust haben, diese Welt und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten und diese Haltung an ihre eigenen Kinder weitergeben.

Das Beste, was ich mit diesem Buch erreichen kann, ist, den Blick darauf zu lenken, wie wir derzeit Kinder ihrer Möglichkeiten berauben – und Mut für eine Erziehung zu machen, die den Kindern die Verantwortung zurückgibt.

Um zu erklären, warum das vielen von uns gar nicht so leichtfällt, werde ich zeigen, wie sehr die aktuelle Erziehung durch Angst geprägt ist und wohin dies führt. Wichtig ist mir aber, in diesem Buch nicht nur das Problem zu schildern, sondern auch konkrete Lösungen anzubieten: In welchen Situationen wir dem Kind die Verantwortung überlassen und uns selbst von unseren Ängsten frei machen können. Welches Maß an Verantwortung für welches Alter geeignet ist und wie wir Kinder im angemessenen Rahmen stetig fordern können, statt sie nur zu fördern. Weiter hinten im Buch finden Sie neben Tipps aus meiner Praxis als Lehrer eine Übersicht, die aufzeigt, was Kindern ungefähr wann zugetraut werden kann.

Gehen Sie mit mir neue Wege, die Kinder zu fördern

Die Anregungen in diesem Buch stammen nicht allein aus meiner Praxis als Lehrer, sondern auch von zahlreichen Pädagogen und Eltern, mit denen ich gesprochen habe.

Vorwiegend basieren sie aber auf Erkenntnissen, die ich in meiner Arbeit gesammelt habe. Ich bin schon recht lange im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit tätig: Vor über 20 Jahren habe ich damit begonnen und bekam für meine Aktivitäten im Jahr 2000 den Kinderfreundlichkeitspreis der Stadt Bonn verliehen. Vor zehn Jahren habe ich dann den Beruf des Lehrers für Mathematik und Informatik ergriffen – nicht gerade Fächer, die allen geheuer sind, das weiß ich, die aber in unserer heutigen Welt eine wachsende Bedeutung haben. Für mein leidenschaftliches Engagement wurde ich 2014 in Berlin mit dem Deutschen Lehrerpreis ausgezeichnet.

Weil der gewöhnliche Schulunterricht die Sozialkompetenz, die Eigenständigkeit und den Zusammenhalt der Schüler nicht so sehr förderte, wie ich es mir wünschte, habe ich mir vor einigen Jahren Methoden und Projekte ausgedacht, die schon bald für Aufsehen sorgten.

Obgleich sich viele Schulen gerne die Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit der Schüler auf die Fahnen schreiben, bieten der herkömmliche Unterricht und der volle Lehrplan nicht genügend Raum, um Sozialkompetenz, Eigenständigkeit und Zusammenhalt der Schüler zu fördern. Das ist nicht immer der einzelnen Schule anzulasten. Es hat vielmehr mit dem bestehenden System und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu tun.

So braucht es hier und da neue Wege, und ich hatte Glück, eine Schule zu finden, die diese Wege mitgeht.

Neben dem eigentlichen Unterricht leite ich an unserem Gymnasium in Mönchengladbach eine Computer-AG, an der inzwischen über einhundert Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Die AG zeichnet sich durch ihren neuartigen Aufbau aus: Hier unterrichten Schüler andere Schüler, und es gibt viele erlebnispädagogische Elemente.

Zudem führe ich im Rahmen von Modulen, die in unserem Schulkonzept verankert sind, regelmäßig den sogenannten Haik durch, eine mehrtägige Wanderung, für deren Erfolg die Kinder und Jugendlichen selbst verantwortlich sind: Zwölf- bis fünfzehnjährige Schüler suchen Sponsoren, schreiben Journalisten an, leiten Pressekonferenzen, sammeln Gelder für einen guten Zweck und bereiten sich auf den großen Lauf vor. Dabei liefen sie zum Beispiel im letzten Jahr von Lindau in Deutschland über Österreich und die Schweiz bis nach Liechtenstein. Vom Materialkauf über die Organisation der Bahnreise, das Handhaben der Karte bis zum Zeltaufbau und der Verpflegung liegt bei so einem Lauf alles in den Händen der Schüler. Ich wandere lediglich mit und lasse den Tag am Abend mit ihnen zusammen Revue passieren.

Die Schüler lieben diese Projekte – die AG wie auch die Wanderungen. Und das vor allem, weil sie sich darin beweisen können. Sie wachsen daran, dass sie selbstständig handeln und dass ihre Bemühungen zu ausgezeichneten Ergebnissen, zu Lob und Anerkennung führen. Und sie schöpfen Kraft daraus, dass sie als Gruppe enger zusammenwachsen.

Dass die Kinder so darauf ansprechen, zeigt mir sehr deutlich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Und auf diesen möchte ich Sie gerne mitnehmen.

Kinder brauchen Wurzeln – und Flügel

Das Tolle ist: Wir haben es in der Hand, dass unsere Kinder sich nicht unterkriegen lassen und ihren Weg wild und frei und wunderbar gehen. Und so wünsche ich mir, dass dieses Buch seinen erwachsenen Leserinnen und Leser als Inspiration dient. Dass es Sie dazu anregt, Ihren Kindern so viel Freiheit und Verantwortung zu geben wie möglich. Denn beides sind wahre Wundermittel, damit Kinder als Persönlichkeiten wachsen, damit sie stark und eigenständig werden. Damit sie Flügel bekommen, um die Welt selbstbewusst zu erobern, um Kraft und Fantasie zu entwickeln. Das wünsche ich mir vor allem, weil mir die Kinder und Jugendlichen, die ich unterrichte – Ihre Kinder –, sehr am Herzen liegen.

Deswegen möchte ich mit diesem Buch Mut machen: Es ist nicht schwer, Kindern und Jugendlichen mehr Verantwortung an die Hand zu geben. Gehen Sie diesen Weg mit mir – lassen Sie sich von mir überzeugen, Ihre Kinder in die Bärenhöhle ziehen zu lassen oder in die Villa Kunterbunt. Es ist das Beste, was Sie für sie tun können.

Bereit?

Dann schauen wir uns an, was uns eigentlich davon abhält.

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Kapitel 1

Die Angstspirale

Wie wir unsere Kinder lehren, sich zu fürchten

Angst ist ein schlechter Ratgeber.

Englisches Sprichwort

Ein Dienstagnachmittag im Sommer. Ich unterrichte im Computerraum einen Oberstufenkurs in Informatik. Die Schüler sind mit einer Programmieraufgabe beschäftigt, und ich gehe von Tisch zu Tisch und schaue, wer vielleicht meine Hilfe benötigt. Plötzlich dringen durch das geöffnete Fenster laute Hilferufe zu uns herein. Es sind Kinderstimmen. Ich trete ans Fenster, ein paar Schüler folgen mir. Wir schauen gemeinsam, was draußen vor sich geht.

Unsere Schule teilt sich den Pausenhof mit der benachbarten Grundschule. Das Schauspiel, das sich uns dort unten bietet, ist reichlich merkwürdig. Ein roter VW-Kombi mit getönten Scheiben steht auf der Mitte des Platzes. Ein dunkel gekleideter Mann – selbst aus der Ferne vom Körperbau her ein ziemlicher Schrank – macht sich am geöffneten Kofferraum des Wagens zu schaffen.

Etwa zehn Meter von ihm entfernt stehen rund zwanzig Grundschüler in einer Reihe. Jedes Kind tritt einzeln vor und geht an dem roten Kombi vorbei. Wenn es auf gleicher Höhe mit dem dunkel gekleideten Mann ist, dreht sich dieser um und kommt mit bedrohlicher Körperhaltung auf das Kind zu. Manchmal gibt er sich zur Abwechslung auch zahm und versucht, das Kind mit einer Tafel Schokolade zu sich zu locken.

Die Reaktion der Grundschüler läuft immer gleich ab, was ich als Zeichen werte, dass sie diese zuvor mit einem Trainer, bestimmt dem jetzt »bösen« Mann, einstudiert haben müssen. Die Dreikäsehochs halten abwehrend eine Hand in die Höhe und rufen: »Stopp! Lass mich!« Dann rennen sie weg, so schnell sie ihre kurzen Beine tragen, und schreien dabei laut: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«

Ich staune nicht schlecht. Und meine Schüler machen ebenfalls verdutzte Gesichter, manche finden es »voll krass« oder schütteln den Kopf.

Von Kollegen und Bekannten habe ich bereits gehört, dass diese Art von »Selbstsicherheitstraining« oder »Präventionskurs« bei Kindern, beziehungsweise ihren Eltern, gerade en vogue sein soll. Externe Dienstleister bieten Kurse dieser Art in Kindergärten und Schulen an. Es ist allerdings das erste Mal, dass ich eine solche Übung live mitverfolge.

Und ich habe selten etwas Blödsinnigeres gesehen.

Denn: Ist ein solches Training wirklich realistisch? Rüstet es die Kinder tatsächlich für den »Ernstfall«? Und macht es ihnen Mut für den Alltag?

Wohl kaum.

Die überwiegende Zahl der Kinder wird zum Glück nie in eine solche Lage geraten. Das Training ist also reine Panikmache. »Viele Anbieter werben mit angsteinflößenden Videos, Werbetexten oder Statistiken für Kurse und andere Trainings, die Kinder gegen Übergriffe von Fremden schützen sollen. Tatsache ist aber, dass Anbieter mit der Angst der Eltern Geld verdienen wollen«, sagt auch Andreas Mayer, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes in einem Interview mit der Webseite urbia.de.

Prominente Fälle wie der von Natascha Kampusch oder Jakob von Metzler machen zwar Schlagzeilen, doch solche Entführungen sind ausgesprochen selten und haben meist etwas damit zu tun, dass die Eltern des Kindes reich sind und ein üppiges Lösegeld zahlen können. Die rund 750 Kinder, die in Deutschland jährlich als entführt gemeldet werden, sind aber in den allermeisten Fällen nach der Trennung von einem Elternteil entführt worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind von einem x-beliebigen Fremden entführt wird, ist verschwindend gering – Schätzungen zufolge ist die jährliche Zahl einstellig. Das Risiko, dass Ihr Nachwuchs von einem Blitz erschlagen wird, kommt dem in etwa gleich.

Was die Kinder dort unten auf dem Schulhof bei dem Training lernen, bereitet sie weder auf eine real existierende Gefahrensituation vor, noch gibt es ihnen Selbstbewusstsein.

Sie lernen eher das Gegenteil.

Sie lernen, Angst zu haben.

Angst vor dunkel gekleideten Kombi-Fahrern. Angst vor Erwachsenen im Allgemeinen. Angst, alleine irgendwohin zu gehen.

Wenn solche Angst geschürt wird, kommt es selbst in alltäglichen Situationen zu Überreaktionen: Eine Grundschülerin einer hiesigen Schule wurde neulich auf dem Heimweg von einem Mann angesprochen und am Arm festgehalten. Das Kind rannte zur Mutter nach Hause. Was genau der Grund für die Situation war, konnte nicht ermittelt werden. Die Mutter rief jedoch sofort in der Schule an, dass ein Entführer es auf ihr Kind abgesehen hätte. Die Schule verpflichtete daraufhin alle Eltern, ihre Kinder an diesem Tag abzuholen, selbst diejenigen, die das nicht wollten. Angst und Panik verbreiteten sich sichtlich unter den Schülern. Auch das Kind einer befreundeten Mutter, das sonst sehr selbstständig ist, war am Abend fix und fertig, es wollte die Nacht bei seinen Eltern im Bett verbringen und weinte sich in den Schlaf. Die heftige Reaktion der Mutter und der Schule förderte nur Angst und den Hang zum Klammern bei Eltern wie Kindern.

All dies ist Ausdruck eines generellen Trends, den ich in der Schule und im Alltag beobachte: Wir lehren unsere Kinder, sich zu fürchten. Ich kenne 13- oder 14-jährige Schüler und Schülerinnen, die noch nie allein in der Stadt waren, weil ihre Eltern befürchten, sie könnten sich dort nicht zurechtfinden, mit der Situation Stadt überfordert sein, entführt werden oder in die falschen Kreise geraten. Vor Kurzem habe ich mit einer Mutter gesprochen, die nicht wollte, dass sich ihre halbwüchsige Tochter bei Amnesty International engagiert. Sie hatte Bedenken, ihr Kind könne auf Demos gehen und sich dort radikalisieren. Und ich kenne Eltern, die schicken ihre Kinder nicht mal auf Klassenfahrten. Sie geben vor, dass ihr Sprössling unter Heimweh leidet. Dabei haben sie selbst einfach Angst, nicht bei ihrem Kind zu sein, nicht zu wissen, was gerade in dessen Leben geschieht. Diese Eltern leiden unter Kindweh, was inzwischen fast weiterverbreitet ist als Heimweh. Und es ist deutlich schädlicher: denn Furcht ist ein schlechter Ratgeber.

Zum einen haben unsere Ängste oft nichts mit der Realität zu tun: Wir mögen zum Beispiel Bilder von Krawallen im Fernsehen sehen, aber in der Mehrzahl verlaufen Demonstrationen friedlich. Wenn Eltern Angst haben, ihr Teenager könne von fliegenden Flaschen getroffen werden, wenn er oder sie zu einer harmlosen Tierschutzdemo in der nächstgelegenen Kreisstadt geht, machen sie ihrem Nachwuchs eher Angst und bremsen ein soziales Engagement später möglicherweise aus.

Zum anderen verunsichert es die Kinder, wenn wir unsere Ängste nicht im Zaum halten, wie es bei Kindweh der Fall ist. Tun Sie mir daher einen Gefallen, und lassen Sie Ihre Kinder allein zur Klassenfahrt, ins Ferienlager oder auf den Vereinsausflug fahren. Das packen die schon, glauben Sie mir! Das Kindweh der Eltern mitzuerleben, ist viel schlimmer für das Kind, als Heimweh zu haben. Indem Eltern ihre – meist unbegründete – Angst ausleben, stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse über die Entwicklung des Kindes.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Mutter, die Probleme hatte, ihre Tochter alleine wegfahren zu lassen. Die 6. Klasse, die das Kind besuchte, reiste für eine Übernachtung in ein Landschulheim.

»Ich bin eine Glucke«, sagte sie im Gespräch mit mir, und lachte unsicher. »Ich weiß, dass das vollkommen übertrieben ist, aber ich kann nicht anders.«

»Es wäre super, wenn Sie Ihre Angst Ihrer Tochter zuliebe ein wenig zurückstellen«, riet ich ihr.

Sie nickte und schwieg einen Moment. »Wird die Tür nachts abgeschlossen?«, fragte sie dann. »Sonst könnten die Kinder doch entführt werden … Und liegt das Haus in der Nähe des Waldes?«

»Die Stadt ist doch viel gefährlicher als der Wald«, antwortete ich.

»Ja, aber im Wald sind die ganzen Mörder.«

Erstaunt fragte ich sie, wie sie darauf käme.

»Das weiß ich aus dem Fernsehen.«

Mit dieser Urangst fertigzuwerden, war für sie nicht leicht, auch wenn sie selbst ein bisschen über ihre Furcht schmunzeln musste. Sie fragte dann ernsthaft, ob sie nicht auf die Klassenfahrt ihrer elfjährigen Tochter mitfahren könne. »Ich würde mich auch draußen vor die Haustür legen, nur damit ich weiß, dass es meinem Kind gut geht.«

Sie erklärte mir noch, dass sie zwar wüsste, dass der Übernachtungsausflug mit Gleichaltrigen ihrem Kind guttun würde, dass ihre Tochter aber besonders empfindsam sei und sich sonst sicher ängstigte. Das höre ich sehr oft von Eltern. Doch was Kindern in vielerlei Hinsicht wirklich schadet, sind Eltern, die nicht loslassen können.

Wie schief dies gehen kann, zeigt das Beispiel des 13-jährigen Florian, der auf einer Ferienfreizeit mitfahren sollte. Die Mutter wollte ihn nicht mit im Landheim übernachten lassen, buchte also für sich und ihn ein Zimmer in einer nahe gelegenen Pension. Tagsüber sollte er am Programm der Ferienfreizeit teilnehmen, abends nach der Gutenachtgeschichte wurde er dann abgeholt und übernachtete bei seiner Mutter in der Pension. Für Florian und auch für uns als Gruppe war dies nachteilig: Er hatte ohnehin Anschlussprobleme, die sich dadurch verstärkten, und die Mutter brachte ihn nicht immer zuverlässig, wir mussten also oft auf ihn warten. Eines Morgens wurde er überhaupt nicht gebracht, ich ging also mit dem Leiter der Ferienfreizeit zur Pension, um zu fragen, was los sei.

»Das muss ich Sie fragen«, rief die Mutter aufgebracht. »Florian ist gestern total verstört heimgekommen!« Ihr Junge würde jetzt gar nicht mehr zum Programm kommen.

Wir erfuhren schließlich den Grund für ihre Verärgerung: Am Abend zuvor hatten sich die Jungs in dem Zimmer, wo Florian mit ihnen auf die Gutenachtgeschichte wartete, Geistergeschichten erzählt. So, wie Jungs das in dem Alter eben machen. Für die Mutter war eindeutig eine Grenze überschritten.

»Mein Sohn ist sehr sensibel, und nicht ohne Grund sind Horrorfilme erst ab achtzehn«, warf sie uns vor. »Wo war denn da die Aufsicht, als die Jungs sich solche Geschichten erzählt haben?«

Ich sehe, dass die Mutter auf dieser Fahrt in einem Dilemma war: Einerseits wusste sie, dass ihr Junge auch mal unter Gleichaltrigen sein muss, andererseits konnte sie eine Woche ohne ihn nicht aushalten, weil sie sich so um ihn sorgte.

Angesichts der Tatsache, dass kein anderer der Jungen ein Problem mit den Storys gehabt hatte, bin ich jedoch der festen Überzeugung, dass diese auch für Florian unbedenklich gewesen wären. Mehr noch: Wäre er in der Gruppe geblieben, hätten der Aufenthalt mit Gleichaltrigen und die professionelle Betreuung dafür sorgen können, dass er diese Erfahrung verarbeitet und daran wächst, statt seiner Angst nachzugeben.

Da es für Kinder gerade in diesem Alter sehr wichtig ist, Erfahrungen ohne elterliche Aufsicht zu machen, würde ich so etwas heute nicht mehr erlauben: Entweder die Kinder übernachten im Landschulheim, oder sie fahren gar nicht mit.

Denn der Effekt solcher Überbehütung ist nicht nur, dass andere Schüler das Kind nicht als vollwertig akzeptieren. Wir vermitteln den Kindern auch ein schlechtes Bild der Welt und unserer Gesellschaft. Wir bringen ihnen bei: Seid auf der Hut! Da draußen gibt es lauter böse Erwachsene und allerhand fiese Dinge. Ihr seid nirgends sicher, denn hinter jeder Ecke lauert eine Gefahr. Fürchtet euch! Bleibt lieber zu Hause. Das zerstört das Vertrauen der Kinder in die Welt und in ihre Mitmenschen.

Ich habe von meinen Eltern noch gelernt, dass ich einen Passanten fragen soll, wenn ich mich verlaufe, und ich vertraute darauf, immer jemanden zu finden, der mir helfen würde, wenn ich Hilfe benötigte. Da war ich ungefähr sechs oder sieben Jahre alt und erkundete mit meinen Freunden oder allein die Stadt. Damals gab es noch keine Handys, und ich hatte keine Uhr um, also fragte ich einfach Leute auf der Straße, wie spät es sei oder wie ich zu einem bestimmten Treffpunkt käme. Mein Opa ist mit 14 Jahren als Handwerker durch die Region gezogen und ein, zwei Jahre darauf sogar allein auf Walz durch das ganze Land gegangen.

Das wäre wohl für viele Eltern, die ich kenne, heute undenkbar.

Gründe für unsere Furcht

Eltern leiden heute unter zwei Formen der Angst.

Die erste ist ganz normal, es ist die Urangst aller Eltern, die Sorge um das Wohl ihrer Kinder. Dazu haben sie jedes Recht, immerhin sind die Kleinen das Kostbarste, was es in ihrem Leben gibt. Die Angst um das eigene Kind wird bei der Geburt praktisch mitgeliefert und nimmt im Laufe des Lebens die vielfältigsten Formen an: Da ist die Angst, dass es als Baby beim Krabbeln in die Steckdose fasst oder die Treppe runterfällt. Die Angst, dass es einen Unfall hat, wenn es größer ist und zum ersten Mal auf eigene Faust Brötchen holen geht. Die Angst, dass es eine schlimme Krankheit haben könnte. Die Angst, dass es im Freibad ertrinkt. Die Angst, dass es mit Drogen in Berührung kommt. Die Angst, ob alles gut geht, wenn es zum ersten Mal alleine verreist oder bei einem Schüleraustausch mitmacht. Die Angst, wenn es mit dem ersten eigenen Auto in die Disko fährt. Kurz, es ist die unterschwellige, immer präsente Angst, dass es das Kind nicht mehr geben könnte. Und das ist vollkommen normal – wer sich als Elternteil nicht um sein Kind sorgt, sollte wohl ein ernstes Gespräch mit einem Arzt führen.

Auch ich als Lehrer kenne diese Gefühle. Wenn Sie Ihre Kinder in meine Obhut geben, übertragen Sie damit auch einen Teil Ihrer Sorgen auf mich. Auch ich möchte, dass es den Schülern, für die ich die Verantwortung trage, gut geht – dass sie in der Schule zurechtkommen, etwas lernen, nicht auf die schiefe Bahn geraten oder aus Liebeskummer verzweifeln, und natürlich hat es oberste Priorität für mich, dass alle von der Klassenfahrt oder dem Schüleraustausch wohlbehalten zurückkehren. Mir liegt aber auch sehr viel daran, dass aus jedem meiner Schüler ein starker, selbstbewusster Erwachsener wird, der ein glückliches Leben führt.

Deswegen weiß ich: Diese Form der Sorge ist zwar völlig natürlich, aber ihr in jedem Fall nachzugeben, bringt nichts. Sie können mir glauben, dass ich mir Sorgen mache, wenn ich auf Klassenfahrten die Schüler in Dreiergruppen die Gegend erkunden lasse und nicht alle pünktlich zurück sind. Oder wenn eine Nachtwanderung in Gruppen stattfindet und einige Schüler nicht zur vereinbarten Zeit eintrudeln.

Bisher sind aber noch immer alle heil angekommen; selbst wenn sie sich mal verlaufen hatten, schafften sie es aus eigener Kraft zum Treffpunkt zurück. Es wäre nun ein fataler Fehler, keine Nachtwanderungen oder Gruppenausflüge anzubieten, nur damit ich selbst kein angespanntes Gefühl mehr aushalten muss. Denn die Schüler profitieren davon, gerade wenn mal was nicht ganz nach Plan läuft. Aus jeder dieser Situationen kommen sie bestärkt zurück – sie haben etwas geschafft. So verständlich die Angst um sie ist, so schädlich ist es für die Kinder, ihr nachzugeben.

Die mediale Angstspirale

Doch es gibt noch eine zweite Form der Angst: die Angst, die wir als Erwachsene vor der Gesellschaft und der Welt haben, in der wir leben und in der wir unsere Kinder großziehen. Wir fürchten, unsere Kinder könnten darin nicht sicher sein. Wir vertrauen nichts und niemandem.

Diese Angst ist nicht natürlich. Sie ist kulturell erzeugt. Sich vor allem zu fürchten, ist irrational, und das ist in unserer Zeit ein großes Problem für Eltern und ihre Kinder, weil es zu einer übertriebenen Vorsicht führt.

Doch eigentlich gibt es keinen Grund zur Sorge.

Wir Westeuropäer, besonders wir Deutschen, führen heute ein Leben, das so sicher ist, wie es vermutlich noch für keine Generation vor uns in der Geschichte je war. Es gibt Airbags, Fahrradhelme haben sich durchgesetzt, und für so ziemlich alles muss man einen Befähigungsschein nachweisen. Obwohl seit 1970 immer mehr Fahrzeuge auf den Straßen fahren, sind die Zahlen der Verkehrstoten seit dieser Zeit stark rückläufig. Wir sind eine der wohlhabendsten Nationen der Welt, die Menschen werden immer älter, leben immer gesünder, und die junge Generation wird von ihren Eltern einen ungekannten Reichtum erben.

Trotzdem haben wir den Eindruck, unsere Welt sei so gefährlich wie nie zuvor. Wir lesen Kettenbriefe über Verbrechen bei Facebook, Twitter und Co. Wir sehen im Fernsehen, dass Fahrzeuge auf Weihnachtsmärkten oder Promenaden in Menschenmengen rasen, dass Terroristen mit Maschinengewehren auf Besucher von Rockkonzerten schießen, und wie Schüler und Lehrer bei einem Amoklauf in Angst und Schrecken versetzt werden und geduckt aus dem Schulgebäude zu Polizisten und Sanitätern laufen – welche Eltern denken in dem Moment nicht daran, dass auch ihr Kind dort sein könnte. Wir lesen in den Zeitungen von Schandtaten an Kindern und Jugendlichen, seien es Kinderpornos, Menschenhandel oder Missbrauchsfälle – kein Wunder, wenn viele befürchten, das eigene Kind könnte in die Hände solcher Menschen geraten. Und wenn uns besorgte Freunde in WhatsApp-Gruppen oder auf Facebook über schlimme Krankheiten informieren, die gerade die Runde machen, oder von Cybermobbing und Drogen an der Schule ihrer Kinder berichten, dann schrillen abermals alle Alarmglocken.

Schlechte Nachrichten haben sich schon immer schneller verbreitet als gute. Dass wir Menschen dafür von Natur aus empfänglich sind, hatte früher einmal einen guten Grund. Als wir vor Urzeiten noch in Höhlen lebten und mit der Keule Jagd auf Mammuts machten, konnte es überlebenswichtig sein, vom Unglück eines anderen zu erfahren. Denn das hatte einen Lerneffekt: Durch den Schreck war man gewarnt und konnte die Gefahr künftig umgehen.

Heute aber gibt es mehr schlechte Nachrichten, als gut für uns ist. Mit der Vielzahl der medialen Publikationsmöglichkeiten hat sich die Kunde vom Übel auf der Welt explosionsartig vermehrt.

Dabei spielen vor allem Nachrichten eine besondere Rolle, die Angst in den sozialen Netzwerken wie ein Virus verbreiten: Fake News.

Meldungen, die uns beunruhigen, kennen wir natürlich auch aus den herkömmlichen Medien. Doch diese recherchieren im Normalfall gründlich und berichten auf der Basis von nachprüfbaren Fakten. Bei Fake News ist das anders.

Begonnen hat alles vor etlichen Jahren mit Schneeball-E‑Mails, die vor Computerviren warnten oder vor bestimmten Dateien, die angeblich den Rechner zerstörten, wenn man sie auf der Festplatte hatte. Es stellte sich jedoch vielfach heraus, dass es die benannten Viren gar nicht gab und die gefährlichen Dateien ganz normale Systemdateien waren. Schaden entstand allein dann, wenn man die genannten Dateien aufgrund der Warnung in der Mail löschte. Heute verbreiten sich solche Meldungen nicht nur per Mail, sondern auch in den sozialen Medien, wo sie unbedarfte Nutzer aus Sorge teilen. So erreichen Fake News innerhalb kürzester Zeit enorm viele Menschen.

Es gibt dazu unzählige Beispiele. Aus Relevanzgründen möchte ich hier jedoch lediglich auf einen Typ von Fake News eingehen, der auf die größte Sorge der Eltern abzielt: das Wohl ihrer Kinder.

Sehr bekannt sind beispielsweise Postings, die vor der »Organmafia« in Deutschland warnen. Angeblich treiben wahlweise Banden aus Bulgarien, Rumänien, Belgien, dem asiatischen Raum oder auch Syrien hierzulande ihr Unwesen, entführen Kinder von Spielplätzen, reißen sie Eltern von der Hand oder zerren sie auf offener Straße in Transporter. Viele solcher Meldungen nennen auch konkrete Orte, wo gerade besonders große Gefahr herrscht – Stuttgart, Duisburg, Essen, Bremen, um nur einige zu nennen. Begleitet werden die alarmierenden Worte von Fotos, die von der Polizei zur Fahndung ausgeschriebene Verdächtige zeigen und in besonders schlimmen Fällen auch misshandelte Kinder.

Die Verfasser dieser Nachrichten wenden sich mit eindringlichen Appellen an Eltern, zum Beispiel: »Lasst eure Kinder, auch wenn sie zusammen spielen, nicht allein. Diese Leute nehmen sogar Kinder aus Kinderwagen heraus. Lasst eure Kinder nicht hinter euch oder paar Meter vor euch laufen. Achtet auf ausländische Kennzeichen und Zigeuner. Am besten direkt ansprechen was die hier machen zu Abschreckung.« (So im originalen Wortlaut mit falscher Rechtschreibung und Satzstellung.)

Um es ganz klar zu sagen:

Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten ist gleich null.

Es gibt keine belegbaren Fakten, die nahelegen könnten, diese Schreckensmeldungen zu glauben und sich zu fürchten. Und schon gar keinen Grund, den Unsinn weiterzuverbreiten.

Meldungen dieser Art sind von seriösen Recherchenetzwerken wie Mimikama, die sich im Internet darauf spezialisiert haben, Fake News aufzudecken, sowie von zuständigen Polizeidienststellen samt und sonders als Falschmeldungen enttarnt worden.