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Michael Altenburg, Jahrgang 1945, erzählt von einem Vater, der NSDAP Mitglied war, von der APO, von der Harvard Business School, vom Investment Banking in New York in den frühen 19siebziger Jahren, von der Deutschen Bank unter Alfred Herrhausen und danach, von Webfehlern der deutschen Wiedervereinigung und von sieben Jahren Wildnis und Idylle in Mecklenburg. Hin und her der Verbriefung und der Finanzmarktkrise schließen den vorläufigen Kreis seiner Erinnerungen ab, die trotz Übersiedlung in die Schweiz mit einem Ausdruck der Hoffnung in einen Neuanfang mehr liberaler Gesellschaftspolitik in Deutschland enden. In „Gedanken außer der Reihe“ rät er seinen Kindern und anderen Lesern, sich die zusätzliche Anstrengung und die Freude anzugewöhnen, zu wichtigen Fragen ein persönliches, unabhängiges Urteil zu entwickeln.
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Seitenzahl: 266
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Für Gaia, Felix und Jojo
Vorbemerkung
Kindheit
Schulzeit
Militärdienst
Jurastudium und Engagement im SHB
Dorothee, Volkswirtschaftsstudium, Harvard
Berufseinstieg bei Blyth Eastman Dillon in New York
Deutsche Bank, Vaterschaft, Alfred Herrhausen
Deutsche Einheit, Delegation zur Treuhandanstalt
Selbständigkeit, Beratung von Prudential
Gewinnung und Verlust eines Paradieses: Glave
Schweiz, verbrieftes Mezzanine, Krisen und Neubeginn
Sizke Sazke Huhnerkazke
Gedanken außer der Reihe
Index
Es war am Weihnachtsabend 1963. Ich war 18 Jahre alt und stand kurz vor dem Abitur. Mein Vater war damals 69. Die Geschenke waren bereits beschert worden und unsere sechsköpfige Familie – neben Vater und Mutter noch meine drei älteren Geschwister Hans-Günther, Gesa und Irene - hatte gerade zum Festmahl Platz genommen. Ich hatte mir damals meinen eigenen Vers auf die NSDAP Mitgliedschaft meines Vaters und seine Tätigkeit als deutscher Gesandter und Reichsbevollmächtigter in Griechenland bis 1943 gemacht und verkündete mit erhobener Stimme, daß ich nur einen einzigen Ehrgeiz in meinem Leben hätte und der sei, mich nicht später selber auch einmal mit einem verbrecherischen Regime zu kompromittieren. Auf diese anklagende Provokation hin erfolgte keinerlei Reaktion meines Vaters, und nach einem betretenen Schweigen, während dem mir die Anmaßung meiner Äußerung immerhin dämmerte, senkten sich die sechs Köpfe und das Weihnachtsessen vollzog sich stumm unter dem Geklapper der Bestecke.
Mein Vater erzählte durchaus bisweilen von seiner früheren Tätigkeit als Diplomat. Aber niemals hat er sich zur Bedeutung seiner Funktion als Repräsentant des nationalsozialistischen Deutschland vor seinen Kindern zu erklären oder zu rechtfertigen versucht. Das geschah vielleicht weniger aus Trotz oder Verstocktheit, sondern in der Annahme, daß er sich uns hierzu kaum hätte verständlich machen können. Die Zeiten hatten sich geändert. Wie mein Vater, der noch im 19. Jahrhundert geboren worden war, zu Themen wie Vaterland, Ehre und Treue dachte und fühlte, war uns Kindern fremd. Also schwieg er und zog sich in sein Schweigen zurück, wenn ich etwa Einsichten aus der letzten Geschichtsstunde bei ihm testen wollte. Erst durch die Lektüre einer Studie des Zeitgeschichtlers Prof. Dr. Hagen Fleischer über Griechenland zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges1 habe ich später von der Zivilcourage und tätigen Hilfe meines Vaters gegenüber Griechen und Juden erfahren.
Also suchte und fand ich später Zeit und Gelegenheit, mich bei meinem Vater zu entschuldigen, mich mit ihm auszusöhnen und ihn zu drängen, Details schriftlich festzuhalten. Aber das war dann schon mehr als zehn Jahre später: nach meinem Dienst bei der Bundeswehr, nach dem juristischen Studium, nach meiner APO Phase als Bundeszentralratsmitglied des SHB und Chefredakteur von dessen Organ frontal, auch schon nach dem volkswirtschaftlichen Studium, nach meiner ersten Ehe und Scheidung und kurz vor Abschluß des MBA an der Harvard Business School. Also erst nach Erfahrungen eigenen Erfolges und Scheiterns wollte ich gern besser verstehen lernen, wie dieser Vater, Jahrgang 1894, gedacht und gehandelt hatte, dessen bewußtes Leben noch ins Kaiserreich zurückreichte, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, darauf stolz war, das Eiserne Kreuz aus der Hand Wilhelm II. erhalten zu haben, den Versailler Friedensvertrag als Schmach empfunden und der Weimarer Republik kritisch gegenüber gestanden hatte.
Ich begriff, daß die Deutungen meines Geschichtsunterrichtes zur jüngsten deutschen Vergangenheit zum Verständnis und zur Würdigung des Lebens meines Vaters nicht ausreichten. Gegen die extremen Gefährdungen, denen ich niemals, aber mein Vater jahrelang ausgesetzt gewesen war, hätten sie mich keineswegs wirksam wappnen können. Wie aber er mit diesen Gefährdungen, nicht frei von schuldhafter Verstrickung, doch in stetem Ringen um menschliches Maß, umgegangen war, wollte ich verstehen. Wie, woher waren ihm die Kräfte hierzu gewachsen? Wann hatte er versagt, woran war er gescheitert? Warum?
Da ich nach dem MBA Abschluß im Mai 1976 meinen ersten Job erst nach Labour Day, also Anfang September, antreten sollte, standen drei Monate zur Verfügung, die ich meinem Vater zur Hilfe bei der Redaktion seiner Erinnerungen anbot. Das sollte keine Rechtfertigung und keine Verklärung werden, auch nicht eine Erzählung eher privater Banalitäten. Aber da er Schlüsselmomente der deutschen Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die sogenannte Wirtschaftwunderzeit der jungen Bundesrepublik bewußt mitgestaltend erlebt hatte – zuletzt hatte ihn Otto Wolff von Amerongen gebeten, das Generalsekretariat der deutschen Sektion der Internationalen Handelskammer in Köln wahrzunehmen – bat ich ihn, sich auf exemplarische Situationen, also deren Schilderung und Bewertung aus seiner ganz persönlichen Warte heraus, zu beschränken, was nicht nur für mich als seinen Sohn, sondern auch für andere Leser der Nachkriegsgeneration von Interesse gewesen wäre.
Interessant hätte das nicht deswegen werden müssen, weil mein Vater besonders originelle oder ausgefallene Ansichten geboten hätte, sondern weil er ein im Gegenteil nicht ganz untypischer Vertreter der Generation war, die in ihrer Mehrheit Hitler zur Macht verholfen hat und schon daher pauschal von den Nachgeborenen verurteilt worden war. Das Exemplarische also dieses individuellen Schicksals interessierte mich als eine Art Brennspiegel für sehr komplexe Abläufe, die exakt deshalb leichter am ausgewählten Beispiel faßbar werden können.
Im Ergebnis ist mein Vater – er war 1976 immerhin schon 82 – meinem Drängen nicht gefolgt, was mich seinerzeit enttäuscht hat. Vielleicht war er schon zu schwach oder zu müde. Oder es waren doch Scham und Schuld, die ihm den Mund verschlossen.
Gut weitere 30 Jahre später stellen meine eigenen drei Kinder mir Fragen zu Ereignissen, die für sie bereits in weiter Ferne liegen und sie fremd, verstaubt und exotisch anmuten wie etwa die Adenauer Ära, die 68er Jahre, die deutsche Wiedervereinigung, die Ermordung Alfred Herrhausens, das Wirken der Treuhandanstalt oder die Verwandlung der ehemaligen Staaten Mittel- und Osteuropas in marktwirtschaftliche Demokratien westlichen Vorbilds. Mein Lebensweg hat mich nicht in allerhöchste Verantwortungen geführt, doch war ich in kritischen Phasen vor und bei entscheidenden Entwicklungen häufig so nah und gut positioniert, daß ich relevante Einblicke nehmen konnte, die ich wenigstens meinerseits festhalten und weitergeben möchte.
Jede Zeit hat die zu ihr passende, jeweils dominante Erklärung dafür, was und warum in der unmittelbar vorigen Phase richtig und was falsch lief und warum. Meist ist das mit Verzerrungen, einseitigem Lob, Schuldzuweisungen oder Verurteilungen verbunden. Erst aus größerem zeitlichen Abstand ergibt sich ein differenzierteres Bild, wobei aus der Wahrnehmung von Zeitzeugen bisweilen korrigierende Einsichten gewonnen werden können.
Im Folgenden will ich mich nicht nur um Ehrlichkeit bemühen, sondern auch darum, anstatt vollständig eher exemplarisch zu sein, um erstens nicht zu langweilen und zweitens, um zu eigenem kritischen Urteil anzuregen, und zwar sowohl über die Wahrnehmung der Zeit nach 1945 wie über sich selbst.
Denn auch die Selbstwahrnehmung, die eigene Positionsbestimmung wie die Bewertung von äußeren Vorgängen, Personen und Prioritäten ändern sich im Laufe des Lebens aufgrund gemachter Erfahrungen und – hoffentlich und manchmal - auch infolge gewonnener Einsichten. Soweit ich mir dessen bewußt bin, gehe ich hier und da auch auf derartige Veränderungen ein. Insofern ergibt sich neben der Schilderung äußerer Geschehnisse und Erlebnisse eine Art parallele innere Entwicklung, die mit dem Alter zunehmend wichtig wird.
Diese ist nicht direkt vermittelbar wie etwa Faktenwissen, ist also auch etwa für direkte erzieherische Bemühungen ungeeignet. Die Aufzeichnung von Ereignissen des Glücks oder eigenen Verdienstes sind eine Sache, der Umgang mit Herausforderungen, Widrigkeiten und Anfechtungen eine andere. Meine Kinder können daher, wenn sie das überhaupt möchten, vermutlich aus meinen Irrtümern, Fehlern, Scheitern und mehrfachen Anläufen mehr lernen als aus dem, was glatt und gut gelaufen ist.
1 Hagen Fleischer: Im Kreuzschatten der Mächte – Griechenland 1941 – 1944; Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1986; 819 Seiten, ISBN 978-3-8204-8581-3. Eine insgesamt vernichtende Gesamtdarstellung der deutschen Besatzungszeit bei Mark Mazower: Inside Hitler’s Greece/The Experience of Occupation, 1941–44, Yale University Press New Haven 1995; als Yale Nota Bene Paperback 2001, ISBN 0-300-08923-6
Am 28. Februar 1945 wurde ich in der südthüringischen Kreisstadt Meiningen geboren, einem früher recht schmucken kleinen Ort von weniger als 25.000 Einwohnern, der als Residenz eines die Künste und das Theater liebenden Herzogs einmal geglänzt hatte. Mein Vater, Dr. Günther Altenburg, arbeitete zu jener Zeit, also kurz vor Ende des Krieges, als Ministerialdirigent und Leiter einer von Berlin nach Wien ausgelagerten Dienststelle des Auswärtigen Amtes für Bulgarien und Rumänien. Meine Mutter Sabine, geborene Roever, war ebenfalls wegen der ständigen Bombenangriffe auf Berlin mit meiner Schwester Irene zu ihrer Mutter, einer Richterwitwe, nach Thüringen ausgewichen. Meine beiden älteren Geschwister, Hans-Günther und Gesa-Christine, waren in einem Sammellager bei Nürnberg untergebracht worden.
Kurz nach dem deutschen Zusammenbruch wurde mein Vater von den Amerikanern im ehemaligen Konzentrationslager Dachau interniert. Einer Verurteilung in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen entging er vor allem dank entsprechender Zeugenaussagen von ihm Geretteter und Geschützter, aber sein Mitwissen um Verbrechen, die in Griechenland nicht erst nach seiner Rückversetzung nach Berlin im September 1943 stattgefunden hatten, haben ihn für den Rest seines Lebens belastet. Ein besonderes Gewicht kommt dabei der Deportation der Kolonie von ca 50.000 überwiegend sephardischen Juden von Thessaloniki nach Auschwitz durch die SS zu, die Vater immerhin mit allerlei bürokratischen Tricks um fast ein Jahr verzögern konnte (vor allem unter Hinweis auf die staatsbürgerrechtliche Primärzuständigkeit Spaniens und Italiens), was während dieses Aufschubs zahlreiche Rettungs- und Fluchtaktionen möglich machte. Noch vor seiner Versetzung in die Berliner Zentrale des Auswärtigen Amtes im Herbst 1943 nahm das Unheil jedoch seinen ungebremsten Lauf. In Berlin hatte mein Vater anders als an der griechischen Peripherie deutscher Macht kaum noch den persönlichen Spielraum und die Gelegenheit, unterschiedliche Dienststellen gegeneinander auszuspielen. So wurde er dort zwar nicht Initiator, aber doch vielfach Mitwisser und Werkzeug von Vorgängen, deren Dokumentation beim Zusammenbruch zum großen Teil aus den offiziellen Aktenbeständen entfernt wurde. Inzwischen ist, etwa über das (aus externen Quellen zumindest bruchstückhaft wieder komplettierte) politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, eine Vielzahl dieser unsäglichen Vorgänge wieder belegt.
Die alltägliche Sorge und Verantwortung für das Überleben einer Familie mit vier kleinen Kindern war bei Kriegsende plötzlich über meine damals erst 29-jährige Mutter hereingestürzt, die bis dahin ein wohl nicht allzu beschwerliches Leben an der Seite eines höheren Diplomaten mit entsprechendem Personal hatte führen können. Vor allem die Athener Jahre hatte sie genießen können als blendend aussehende junge Frau des Missionschefs. Der stand nun in einer Reihe mit Kriegsverbrechern. Auch nach seiner Entlassung aus Dachau im November 1946 blieb er innerlich lange Zeit wie gelähmt, ehe er sich den Alltagsanforderungen der Ernährung und sonstigen Versorgung seiner zahlreichen Familie zuzuwenden wieder imstande war.
Meine Mutter schaltete dagegen sofort um und besorgte sich am Meininger Landestheater einen Posten als Assistentin/Sekretärin. Meine früheste Kindheitserinnerung geht zurück auf die Aufführung einer Adaptation von Gerdt von Bassewitz’ Kinderbuch „Peterchens Mondfahrt“ am Meininger Theater, insbesondere auf den Donner der Kanone, als Peterchen mit dem Maikäfer Sumsemann auf den Mond geschossen wird.
Die nächste Erinnerung bezieht sich auf die Flucht mit meiner Mutter aus der inzwischen von den Amerikanern geräumten und sowjetisch besetzten Zone Thüringens nach Bayern zusammen mit meiner Schwester Irene. Im Fall einer Kontrolle durch die Russen hatte sie mit dem Lokomotivführer des Zuges, mit dem der Besatzungszonengrenzübertritt stattfand, gegen Geld vereinbaren können, daß sie sich als seine Frau ausgeben dürfe, weshalb wir ihn mit „Papi“ anreden mußten.
In Bayern wurden Irene und ich zunächst in einem Kinderheim in Kreuth am Tegernsee untergebracht, meine älteren Geschwister Hans-Günther und Gesa in einem Heim in Waltrudering bei München. Ich erinnere mich an kühle Nächte, in denen mein Bett wegen der Überbelegung des Kinderheims auf dem Balkon stand und ich mir Wärme und Aufmerksamkeit verschaffte, indem ich mir in die Hose machte, nicht nur klein.
Die erste gemeinsame Wohnung mit dem zunächst noch fremden Vater wurde in dem Dorf Vötting bei Freising im ersten Stock des Hofes der freundlichen Bauernfamilie Kammerlohr gefunden. Das war sicher eine Zeit der Enge und auch materieller Not, aber sie ist mir in paradiesischer Erinnerung. Im immer gemütlich warmen Stall gab es Kühe, die gemolken werden durften und aus deren Milch in einem Faß Butter geschlagen wurde. In der Scheune konnte man sich verstecken; eine Schar frecher Gänse, wenn man noch frecher war, konnte man über den Hof jagen. Meine eineinhalb Jahre ältere Schwester spielte bei den Dorfjungen eine hervorgehobene Rolle als Prinzessin oder jedenfalls irgendwie Chefin, unter deren besonderem Schutz ich stand. Bisweilen wurde ich von meinen Eltern mit der Milchkanne in den nahen Gasthof geschickt, um Faßbier zu holen. Wenn meine Mutter uns allabendlich bei bereits gelöschtem Licht Gutenachtlieder vorsang, kreischte sie bisweilen auf, wenn ihr eine Maus, von denen es wegen eines Kornspeichers über unserer Wohnung viele gab, allzu arg durch das Loch in ihrem alten Schafsfellpantoffel in den großen Zeh zwickte. Beim Anschalten des Lichtes flüchteten die Mäuse hinter die Vorhänge, dann an diesen empor auf die Gardinenstangen, von wo sie auf meine Mutter herab zu feixen schienen. Oder die Mäuse pflegten meinem Vater bei der morgendlichen Naßrasur im Badezimmer zuzusehen, offenbar durstig und begierig, ein paar Tropfen Wasser aufzuschnappen, die hierbei gewöhnlich auf den Boden fielen.
Zwischen meinen Eltern gab es häufig Spannungen und gereizte Wortwechsel. Die Rückkehr zu einer patriarchalischen Ehe, die meinem Vater vielleicht gelegen hätte, war nach der Zeit der Trennung und der Übernahme der praktischen Verantwortung für Familie und Kinder durch meine Mutter indes vollkommen ausgeschlossen. Zu Anfang der Ehe mochte das anders gewesen sein aufgrund des 22-jährigen Altersunterschiedes zwischen meinen Eltern. Mein Vater hatte sich außerdem reichlich lockere Junggesellenallüren auf langjährigen Auslandsaufenthalten in Rom und Sofia angewöhnt, bevor er sich erst mit Ende Dreißig zur Ehe entschloß. Vielleicht spielte anfänglich auch ein gewisses Gefälle eine Rolle zwischen der Fremdsprachenkorrespondentin aus dem kleinen, provinziellen Meiningen und dem weltläufigen, promovierten Diplomaten der höheren Laufbahn mit gutbürgerlichem Königsberger Hintergrund. Aber meine Mutter sah nicht nur gut aus, sondern sie war auch intelligent, ehrgeizig und diszipliniert. Aufgrund eines sehr guten Abiturzeugnisses war sie Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes geworden und hatte mit diesem Stipendium ein Jahr in Lausanne Französisch studieren und das nationalsozialistische Deutschland durch die Brille des Auslandes beobachten können. Die Ehe ging jedenfalls nicht in die Brüche. Meine Eltern behielten während ihrer gesamten Ehe ein gemeinsames Schlafzimmer bei und trotz gelegentlicher Krachs erinnere ich mich nicht nur an Respekt und Toleranz zwischen ihnen, sondern an große gegenseitige Aufmerksamkeit und spontane Zärtlichkeiten von beiden Seiten.
Eine Rückkehr ins Auswärtige Amt war für meinen Vater ausgeschlossen, da vom Level Missionschef an aufwärts zunächst eine generelle Wiederaufnahmesperre für Diplomaten des Dritten Reiches in den Dienst der jungen Bundesrepublik Deutschland galt. Aber 1950 fand er endlich einen Job im internationalen Handelsunternehmen von Alfred Töpfer in Hamburg. Die Familie zog um nach Hamburg-Bergedorf in das Erdgeschoß einer herrschaftlichen Villa aus den Gründerjahren im Schlehbuschweg 17, die der Reeder- und Händlerfamilie Komrowski gehörte. Meine Mutter hatte das prachtvolle Haus auf einem Familienspaziergang zufällig entdeckt und mein Vater hatte mit seinem Charme die alte Frau Komrowski, die im Obergeschoß wohnte und die wir Kinder später „Mucke“ nennen durften, im Nu gewonnen.
Dies war die endgültige Rückkehr aus einer mehr nomadenhaften Flüchtlingsphase in „bürgerliche“ Verhältnisse, die zu Silvester ausgiebig gefeiert wurde, wobei auch ich mein erstes Glas Wein leeren durfte. Auch diese Zeit habe ich in guter Erinnerung. Am Sonntag Morgen durften alle vier Kinder zum Schmusen ins elterliche Ehebett. Und dann gab es sommerabendliche Kahnausflüge der gesamten Familie auf dem Flüßchen Bille, herrliche Versteckspiele in dem ausgedehnten Park neben dem Haus. In dessen Mitte stand eine Riesenkastanie, die in meinen Träumen noch viele Jahre später eine große Rolle spielte. Ich träumte immer wieder und mit Wonne, im zum Garten hin geöffneten Fenster zu stehen, meine Arme auszubreiten, um auf diese Weise in den Park hinauszufliegen, über den Kastanienbaum und weit um ihn herum wie ein großer Maikäfer.
In Bergedorf wurden wir vier Geschwister auch alle um-, bzw. neu eingeschult, aber schon bald erhielt mein Vater eine Dauerposition als Geschäftsführer der Außenhandelsabteilung des Deutschen Industrie- und Handelstages in Bonn und wir mußten wieder umziehen.
Die Bonner Wohnung, in der wir dann bis zu meinem Abitur wohnen bleiben sollten, war nicht ganz so großzügig wie die Bergedorfer Verhältnisse. Es handelte sich aber um eine immerhin recht geräumige Altbauwohnung in der ersten Etage der Königstraße 7, einschließlich einer Dachstube für eine Hausangestellte zur Entlastung meiner Mutter.
Während man heutzutage Zentralheizung inclusive Warmwasser als Standard unterstellt, gab es damals vielfach, wie auch in der Königstraße, lediglich Etagenheizungskessel, die mit Kohlebriketts gefeuert wurden. Die Briketts mußten täglich aus dem Kohlenkeller hoch in die Wohnetage geschleppt werden, was in unserer Familie die Aufgabe der Jungens war, während das warme Wasser in mehreren Etagengasboilern erhitzt wurde. Mit Gas wurde auch gekocht. Außerdem gab es zunächst weder Geschirrspül- noch Waschmaschinen, weshalb eine Hausangestellte bei vier Kindern keinen besonderen Luxus darstellte.
Daneben blieben genügend Haushaltspflichten für uns vier Kinder übrig. Grundsätzlich waren meine beiden Schwestern der Ansicht, daß ihnen zu Hause mehr Pflichten im Haushalt aufgebürdet wurden als meinem Bruder und mir. Meine Schwestern etwa mußten abwaschen, was vielleicht mehr Zeit in Anspruch nahm als das zwar schwere, aber zügigere Heraufschleppen der Briketteimer. Beim Fegen, Wachsen und Bohnern des Treppenhauses mußten wir Jungens auch ran. Ob insgesamt eine „repressive Arbeitsteilung“ zulasten meiner Schwestern vorherrschte, wie von diesen behauptet, will ich als vielleicht bevorzugte Partei nicht entscheiden.
Insgesamt fühlten sich meine beiden Schwestern möglicherweise sandwichartig eingequetscht zwischen dem ältesten und dem jüngsten Bruder innerhalb einer Altersspanne von insgesamt nur fünf Jahren. Den Vorwurf der angeblichen oder tatsächlichen Bevorzugung der Brüder mußte sich meine Mutter jedenfalls häufiger anhören. Das subjektive Gefühl von zuviel Druck mag auch dazu beigetragen haben, daß sich unter uns Geschwistern, nachdem wir einmal das elterliche Zuhause verlassen hatten, kein sonderlich starkes Zusammengehörigkeitsgefühl herausbildete. Alle schienen froh zu sein, diesem Druck endlich entronnen zu sein, der weniger von Unstimmigkeit unter uns Geschwistern herrührte als von den Eltern und da wohl primär von Seiten meiner Mutter. Von ihr schien eine permanente Hochleistungserwartung auszugehen, womöglich in Kompensation des ihr seit den glänzenden Athener Tagen zugestoßenen Statusverlustes.
Ich als jüngstes Geschwister hatte insgesamt zweifellos eine privilegierte Position, da alle Barrikaden besonderer Rechte (Ausleihen des elterlichen Autos, spätes Ausgehen, Freundin nach Hause mitbringen) von meinem Bruder bereits frühzeitig erobert worden waren und mir kampflos und früher als ihm zufielen.
Mein älterer Bruder Hans-Günther war Mamis Liebling. Das war sein Sonderstatus als ältester Sohn, der nicht etwa bedeutete, daß meine Mutter die übrigen drei Geschwister vernachlässigt hätte, aber sie hing einfach innerlich besonders stark an ihrem ersten Kind, was umgekehrt wohl auch zu einer besonders starken Mutterbindung meines Bruders führte. Unter den übrigen Geschwistern nahm er eine unangefochtene Führungsrolle wahr und betrachtete mich Dotz als gelegentlich nützlichen Gehilfen, ansonsten aber eher mit einer Mischung von Desinteresse und Herablassung. Meinen Vater erinnere ich in dieser Phase als ziemlich entfernt.
Als Jüngster rutschte ich einfach so mit durch, weder besonders kontrolliert, noch gepiesackt oder verhätschelt. Somit wurde ich vielleicht auch nicht ganz so stark geprägt von meinen Eltern. Eine stärkere elterliche Prägung läßt sich bei meinen Geschwistern schon an der Äußerlichkeit ablesen, daß mein Bruder sich wie der Vater nach Studium und Promotion für das Auswärtige Amt entschied und meine beiden Schwestern Diplomaten zu Ehemännern wählten, was für mich als Jüngsten Grund genug war, ganz egal was, aber bestimmt etwas anderes anzustreben. Der verlorene Status der Missionschefin in Athen spielte bei dieser Prägung vor allem seitens meiner Mutter wohl die Rolle eines geheimen, ihr selbst womöglich kaum bewußten seelischen Magneten. Diesen Status sollten ihre Kinder gleichsam wieder zurückerobern. Das wurde nie von ihr ausgesprochen, vielmehr hätte meine Mutter meine Schwestern ganz sicher lieber mit wohlhabenden angehenden Geschäftsmännern verbunden gesehen, was meine Schwestern mit totaler Empörung quittierten. Somit setzte sich die heimliche Sehnsucht der Mutter bei meinen drei älteren Geschwistern vollkommen unterschwellig und damit um so sicherer durch.
Mein Vater hatte zu dem radikalen Wechsel seiner beruflichen Lebensumstände eine zunehmend entspannte Einstellung. Seine Nachkriegsposition als Wirtschaftsvertreter bot ihm interessante Aufgabenstellungen. So war er an den Verhandlungen über bilaterale Außenhandelsabkommen mit den Ländern des Balkans beteiligt, in denen er sich gut auskannte. Wie andere Deutsche seiner Generation reagierte er auf den Zusammenbruch des Nationalsozialismus auf der rationalen Ebene mit einer pointiert proeuropäischen Einstellung, war sehr für die deutsch-französische Aussöhnung, verbesserte sein beruflich wichtigeres Englisch aber nur widerstrebend. Die Engländer mochte er nämlich nicht. Mir selbst kam der Gedanke der europäischen Einigung zuerst auf dem Umweg über den gewaltsamen und gescheiterten Versuch von Napoleon, über den ich einige Bücher in der Bibliothek meiner Eltern fand, die meisten von Octave Aubry, die ich in jungen Jahren verschlang.
Das Familienbudget blieb knapp, aber wir Kinder hatten deutlich Priorität. Die Erziehung lag primär bei meiner Mutter, während der Vater eher auf Distanz hin beaufsichtigte und seine nur gelegentlichen, manchmal gänzlich unerwarteten Interventionen zuweilen etwas Gereiztes und Jähzorniges an sich hatten. Zugleich war er gemütvoll, harmoniebetont und rasch versöhnungsbereit, wenn er mal wieder explodiert war. Mutters Regime dagegen war straff, klar und wurde nicht diskutiert: es wurde gegessen, was auf den Tisch kam, sonntags wurden alle drei Mahlzeiten bei fester Tischordnung und Tischgebet gemeinsam eingenommen, dann wurde gemeinsam der lutherische Gottesdienst besucht und anschließend spazieren gegangen.
Unter uns Kindern bildeten sich je nach Anlaß drei unterschiedliche Koalitionen: Erstens die Jungs gegen die Mädchen (beim Streiche Ausdenken gegenüber den Eltern waren die Jungs kreativer); zweitens die Großen (Hans-Günther und Gesa) gegen die Kleinen (Irene und ich), wenn es um Fragen von Privilegien, des Ausgehens und Feste Feierns ging, gaben die Großen den Ton an, während Irene und ich ziemlich exklusiv den Ausgang unseres Cockerspanielrüden Barry besorgten; drittens die Dicken (Gesa und ich) gegen die Dünnen (Hans-Günther und Irene) fanden sich seltener in Koalition, so etwa beim Musizieren zu Weihnachten, wenn Gesa mein Geigespiel auf dem Klavier begleitete.
Sport und Musik wurden von unseren Eltern über den Schulstundenplan hinaus systematisch gefördert, parce que et comme il le faut. Tennisstunden mußten wir alle nehmen, ohne besonders ausgeprägte Neigung oder Talent bei irgendeinem von uns Vieren. Die Schwestern wurden ohne nachhaltigen Erfolg zu Ballettstunden angehalten. Mein Bruder erhielt außerdem Klarinettenunterricht und wurde auf diesem Weg ab den Teenagejahren ein recht prominentes Mitglied der „Rhine River Jazz Band“. Meine beiden Schwestern lernten Klavier, Gesa anhaltender als Irene, während ich ab dem sechsten Lebensjahr einigermaßen engagiert Geigenunterricht nahm.
Das gemeinsame Zwangsspazierengehen am Sonntag haben wir Kinder gehaßt. Ebenso die andauernde Besichtigung von Kirchen, Museen und anderen Sehenswürdigkeiten während der gemeinsamen Sommerferien. Aber genau diese frühe Routine hat sich später zur lieb gewonnenen Angewohnheit gewandelt, wofür ich insbesondere meinem Vater dankbar bin. Noch heute erinnere ich mich, wie wir uns Paris von einem kleinen Hotel in der Nähe des Étoile praktisch gänzlich zu Fuß erschlossen haben. Dasselbe gilt für die großen Städte Österreichs, der Schweiz, Norditaliens, der Niederlande und Belgiens. Diese Ferienreisen unternahmen wir zum großen Teil in einem alten Ford M 12, zu Sechst!, mit mir als dem Jüngsten quer im Rückfenster liegend.
Lebhaft interessiert an Geschichte, Kunst und Literatur, stand mein Vater den moderneren Entwicklungen dennoch fremd gegenüber. In der Literatur ging er mit bis ungefähr Gottfried Keller, Adalbert Stifter oder Heimito von Doderer, aber nicht viel weiter. Böll, Grass, die ganze Gruppe 47 mochte er nicht. Bei der großen Max Ernst Retrospektive von 1962 im Kölner Wallraff Richartz Museum empörte er sich, als er im Katalog das Zitat fand, für Max Ernst sei das kaiserliche Gymnasium in Brühl das „Arschloch des Teufels“ gewesen. Das war unvereinbar mit seiner nachhaltig monarchistisch geprägten Grundeinstellung. Aber er hat uns ans Lesen gekriegt - über das Vorlesen. Insbesondere in der Vorweihnachtszeit las er uns gern abends bei selbst gebackenen Plätzchen aus den Erzählungen und Kurzgeschichten von Keller und Stifter vor. Er selber hatte auch – vermutlich während der relativ geruhsamen früheren Junggesellenjahre in Rom und Sofia - Plato und Nietzsche und die deutschen Klassiker gelesen, die alle im Bücherregal standen. Da fanden sich auch Geschichtsbücher wie die von Leopold Ranke und zahlreiche Werke zur jüngeren Zeitgeschichte, mit deren Bewertung durch die Historiker Vater aber nur selten einverstanden war.
In bewußtem Gegenakzent zu meinem Vater verweigerte ich zwar nicht das Lesen, aber las zunächst nicht die Klassiker, sondern gerade Böll und Grass (Die Blechtrommel!), oder Frisch und Dürrenmatt. Aber das waren wohl auch schulische Einflüsse. In Bezug auf die Schularbeiten bot sich mein Vater lediglich für das Latein zum gemeinsamen Büffeln an. Das glaubte er als Absolvent eines humanistischen Gymnasiums noch gut zu beherrschen, obwohl er für uns Kinder als Zugeständnis an den Wandel der Zeiten das neusprachliche Gymnasium als angemessener verfügt hatte. Er pflegte gern zu sagen, daß wir Kinder ihn jung hielten. Aber er sah es trotzdem lieber, wenn wir seinen Vorstellungen entsprachen anstatt spielerisch auf uns einzugehen. Auch das mag generationsspezifisch sein, da sich die Vorstellungen zu Erziehung und zur Nähe zwischen Eltern und Kindern stark gewandelt haben. Nach den antiautoritären Exzessen der 60er Jahre weiß ich in der Erinnerung das strikte, aber ziemlich gleichgewichtige und in der Praxis minimalistische und auf grundsätzliches Vertrauen zu ihren Kindern gegründete Regime meiner Eltern durchaus zu schätzen.
Aus der Bonner Grundschulzeit erinnere ich meine fesche Klassenlehrerin Frau Tolle, meine beiden ersten Lieben Eva-Maria und Stella und eine Reihe von Jungenfreundschaften. Daneben das aufwendige Anfertigen eigener Laternen aus schwarzer Pappe und buntem Transparenzpapier für den jährlichen St. Martinszug am 11. November, das Betrachten des Rosenmontagszuges zu Karneval und gelegentlicher Staatsbesuche im Bonner Rathaus aus den Bürofenstern meines Vaters am Markt.
Mit mir wechselten einige weitere Grundschulkameraden nach vier Jahren in dieselbe Klasse der Sexta - wie es damals noch hieß - des neusprachlichen Zweiges des Ernst Moritz Arndt Knabengymnasiums, das nach einem Neubau später in Friedrich Ebert Gymnasium umbenannt wurde. Dessen Direktor, Herr Oberstudiendirektor Dr. Ernst Kirsch, der uns bis zum Abitur begleiten sollte und auch einige Jahre in meiner Klasse Deutsch unterrichtete, war noch ganz „alte Schule“, also immer in Anzug und Krawatte, wie aus dem Ei gepellt, sehr steife Haltung und sehr rigide in seiner Auffassung von Ordnung und Benehmen, also auch ohne Toleranz für jede Art von kritischem Dialog.
Die politisch damals korrekte Lektüre dieser für unsere Lehrer mehr als für uns Schüler traumatischen Nachkriegsjahre waren Autoren wie Wolfgang Borchert oder Gerd Gaiser. Detaillierte Ausführungen zu ihrer eigenen Rolle während der Nazizeit konnten wir von ihnen natürlich nicht erwarten. Umso weniger konnten wir mit dieser ziemlich verquälten Trümmer- und Vergangenheitsbewältigungsliteratur anfangen. Als besonders ekelhaft erinnere ich einen unserer evangelischen Religionslehrer, einen ziemlich fetten kleinen Kerl, der zum wöchentlichen Schulgottesdienst am Mittwoch morgen in einer Kirche in Bonn-Kessenich gerne einen scharf gebügelten, hochglänzenden lilabläulichen Anzug mit greller Krawatte anlegte und dann die Augen hinter seinen dunkel getönten dicken Brillengläsern gen Himmel aufzuschlagen pflegte, mit seinen dicken, kurzen Fingern die in der Bibel aufgeschlagene Stelle mehrmals mit einer beschwichtigenden Handbewegung über beide Seiten herunter glattstrich und dann satt seufzte: „Es waren sechs Millionen Juden…sechs Millionen!“ Wir bekamen auch die entsprechenden Filme zu sehen von der Befreiung etwa der KZs durch die Amerikaner mit Bergen toter Menschen, die per Bulldozer abtransportiert wurden. Wir konnten das zwar nicht ganz nachvollziehen, aber verstanden soviel, daß das mit Hitler irgendwie furchtbar gewesen sein mußte. Ein unfaßbares, unbenennbares Grauen ging davon aus, mit dem aber weder unsere Eltern noch unsere Lehrer etwas zu tun gehabt haben wollten. Mit der Glaubwürdigkeit vieler unserer Lehrer hatten wir daher Probleme. Mit ihren ostentativen Bußübungen hatten wir wenig im Sinn. Und wir Jungen hatten doch mit diesen Judenmorden erst recht nichts zu tun.
Wie immer, so gab es auch unter unseren Lehrern positive Gestalten, wie z.B. einen anderen evangelischen Religionslehrer, Herrn Schülke, der meinem bereits schon einmal sitzen gebliebenen Freund Jes Rau, den ich wegen seiner antiautoritär-provokanten Art sehr bewunderte, auf die unverschämte Frage: „Glauben Sie etwa an diesen ganzen Brassel?“ ungerührt lächelnd und sanft antworte: „Ja, Rau, ich glaube an diesen ganzen Brassel!“ Oder es gab den Jesuitenpater Dr. Ennen, der in unserer Klasse Lateinunterricht gab und diese Gelegenheit ungeniert dazu benutzte, auch uns evangelische Schüler seines Unterrichts mit Texten des Frühscholastikers Anselm von Canterbury oder des konservativen Kirchengelehrten des frühen 13. Jahrhunderts, Robert von Grosseteste, statt nur mit Cäsar und Cicero vertraut zu machen. Seine Begründung dafür war, daß wir ihm dankbar sein sollten, da das Küchenlatein der Scholastik für uns Holzköpfe doch leichter verständlich sei als die Hochsprache des klassischen Roms. Häufiger, aber augenzwinkernd, schilderte er seine Frustrationen mit uns, die er mit der Unmöglichkeit verglich, in Lampen, in denen sich kein Öl befindet, Licht anzuzünden. Dieser verschmitzte und humorvolle Jesuit brachte es am Ende sogar fertig, uns mit Ovid und Vergil vertraut zu machen und ihren Zauber lieben zu lernen. Außerdem warnte er uns angelegentlich vor den Verführungskünsten der graciles capellae (zierlichen Zieglein) mit halsfernem Kragen vom benachbarten Elly Heuss Knapp Mädchengymnasium.
Mein Geigenspiel führte mich auch ins Schulorchester, das bei schulischen Anlässen wie Abiturfeiern aufzutreten pflegte, aber auch bei gemeinsamen Konzerten mit dem gemischten Chor mit den Mädels des schon erwähnten benachbarten Elly Heuss Knapp Gymnasiums. Das fand ich viel aufregender als Fußball.
Und dann gab es eine Partnerschaft mit dem Lycée Bellevue im südfranzösischen Toulouse mit gegenseitigen Besuchen in den Familien ausgewählter Schülerpartner. Bei deren Auswahl wurde vermutlich nicht einfach gewürfelt, denn mir wurde mit Jean-Paul de Gaudemar (per 2009 Rektor der Académie d’Aix-Marseille, der sich schon in früheren Straßburger Jahren sehr um die deutschfranzösische Verständigung verdient gemacht hat) die sehr sympathische und ebenfalls vier Kinder zählende Familie des Soziologie- und Philosophieprofessors de Gaudemar zugeteilt.
Das geniale Chaos in dieser Professorenfamilie habe ich bei zwei Besuchen jeweils zu Ostern sehr zu schätzen gelernt, da es sich von unseren rheinpreußisch Bonner Verhältnissen ziemlich unterschied. Der Professor pflegte sich auch bei Familienmahlzeiten über Spinoza und Leibnitz zu unterhalten, wovon ich nur Bruchstücke mitbekam. An Wochenenden fuhr man in einem alten – mir vor allem aus Kriminalfilmen bekannten - riesig-bauchigen schwarzen Citroën 11 CV zu einem verfallenen Bauernhaus nach Puigcerda in die Cerdagne, einer Hochebene in den östlichen Pyrenäen nahe der Grenzen zu Spanien und Andorra auf über 1000m Höhe. In den Citroën quetschten sich neben Monsieur und Madame de Gaudemar alle vier Kinder, der deutsche Austauschbesucher und die rote Setterhündin „Dora“. Das kannte ich allerdings schon so ähnlich von zu Hause und es ging. Madame, rothaarig und temperamentvoll, sorgte simultan für Ordnung und Tempo, während Monsieur ihr die Regie in aller Seelenruhe überließ und lediglich zwischendurch stoische Kommentare aus einem - wegen einer ewig qualmenden gelben Gitane - nur halb geöffneten Mundwinkel hervorbrummelte wie etwa: „J’ai l’impression vague que ce pique-nique manque un peu d’organisation!“ Die Eltern de Gaudemar fragten mich allerdings auch z.B. nach dem Verhältnis zwischen Deutschland und Polen, von dem ich damals keinerlei Ahnung hatte und daher zu ihrem Erstaunen versicherte, daß es da überhaupt keine Probleme gebe.
Wie bei uns zu Hause gab es bei den de Gaudemars zwei Brüder und zwei Schwestern, aber in abweichender Reihenfolge und größerer Altersspreizung. In Françoise, die damals schon 18-jährige Älteste der Kinder, mit dem für Südfrankreich typischen teint mat und grau-grünen Augen, die schon ernsthafte Verehrer hatte und am Ende einer Pharmazieausbildung stand, verliebte ich mich mit meinen 14 Jahren sofort unsterblich, unerwidert und absolut lächerlich für den Rest meiner Gastfamilie. Dagegen würdigte ich die mit mir etwa gleichaltrige Agnès, der ich es wohl umgekehrt angetan hatte, keines Blickes, nahm ihre besondere Freundlichkeit in meiner Begeisterung für Françoise nicht einmal wahr, bis mich Jean-Paul bei seinem Gegenbesuch in Bonn sehr diskret sowohl auf meine Illusionen wie meine Wahrnehmungsdefizite aufmerksam machte.
Mein schon mehr erfahrener und mir daher ungeheuer imponierender älterer Schulkamerad Jes Rau hatte sich auch zu dem Austausch mit Toulouse gemeldet, aber war mit einer weniger attraktiven Austauschpartnerfamilie bedacht worden, was ihn auf die de Gaudemars etwas und auf Françoise besonders eifersüchtig machte. Eines Tages überredete er mich, das echte Leben französischer Clochards nachzuahmen. Wir kauften uns also eine große Baguette, eine Flasche Rotwein Moulin-à-Vent und einen Camembert, setzten uns an das Ufer der Garonne und verzehrten diese Kostbarkeiten mit großem Genuß und tiefen Gesprächen über das Leben. Da ich mich bei Madame de Gaudemar nicht ordnungsgemäß abgemeldet hatte, kriegte ich nach Rückkehr in ziemlich angetüteltem Zustand eine temperamentvolle Abreibung angesichts ihrer Verantwortung für meine Sicherheit.