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Aufwühlend und rau wie die Nordsee Malerische Dünen, kilometerlange Strände, kreischende Möwen … Das verschlafene Dorf Billersby an der deutsch-dänischen Nordseeküste lockt nur wenige Touristen an, und die Einheimischen lieben ihre Ruhe. Doch mit der ist es schlagartig vorbei, als ein Bernsteinsammler in den frühen Morgenstunden am Strand qualvoll an Weißem Phosphor verbrennt. Sofort zieht der Unfall mediale Aufmerksamkeit auf sich. Die Ermittlerinnen Connie Steenberg und Nora Boysen bemerken schnell: Sie haben nicht viel gemeinsam, sie sind eher wie Feuer und Wasser. Trotzdem müssen sie zusammenarbeiten, um den Fall zu lösen. Der Debütroman von der preisgekrönten Drehbuchautorin Anne-M. Keßel verspricht jede Menge Spannung und fieberhafte Ermittlungen mit einem ganz besonderen Ermittlerinnenteam.
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Für meine Eltern
Die Personen und auch ihre Namen sowie die Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sowie tatsächlichen Begebenheiten sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Und: Dies ist ein Roman, kein Sachbuch. Das bedeutet, dass vieles von dem, was hier steht, realistisch und wahr ist – vieles aber auch nicht! In diesem Sinne: Gute Unterhaltung!
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer.
Lektorat / Redaktion: Ronja Keil
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: mauritius images / Uwe Steffens;
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Cover & Impressum
Prolog
DIENSTAG
1 – Der Morgen war …
2 – Das aggressive Klopfen …
3 – Nora rannte im …
4 – Connie Steenberg …
5 – Die Betroffenheit nach …
6 – »Du weißt schon, …
7 – Im Keller war es …
8 – Kurz darauf stand …
9 – Ohne Blaulicht, aber …
10 – Eine halbe Stunde …
11 – Connie Steenberg …
12 – Joost starrte mit …
13 – »… person you are …
14 – Kaum dass sie …
15 – Die Außenstelle …
16 – Als sie das Rolltor …
17 – Stille. Niemand …
18 – »Sie sind ja immer …
19 – Zum wiederholten …
20 – Connie hatte nicht …
21 – »Du bist so ein …
MITTWOCH
22 – Noras viel zu …
23 – Der schwarze Van …
24 – »Die Hintertür ist …
25 – »Halt an! HALT …
26 – Nicht nur bei …
27 – »Ich denke, es …
28 – Sie saß schon seit …
29 – »Orla Holst hat …
30 – Die Sonne stand …
31 – Connie hatte im …
32 – Als Nora und …
33 – »Das ist Schikane! …
34 – Es war genau so, …
35 – Eine Stunde später …
36 – Die Wohnung lag …
37 – Der Sturm, den …
38 – Er hatte gewartet, …
DONNERSTAG
39 – Nora betrat als …
40 – Hellmann drückte …
41 – Nora saß in Connies …
42 – Er hatte es über…
43 – Hellmann fing Nora …
44 – Das Freizeichen …
45 – Die Autofahrten …
46 – Nora verstärkte …
47 – Die Marleen schaukelte …
48 – Es war bereits …
49 – »Vielen Dank für …
50 – Es war kurz vor …
51 – Beinahe hätte es …
52 – Es waren höchstens …
FREITAG
53 – Die Feuchtigkeit …
54 – Riecks bei jedem …
55 – Vom Liegeplatz der …
56 – Der Verkehr war …
57 – »Mehrere Zehntausend …
58 – Das Gaspedal war …
59 – Niklas’ Haut fühlte …
60 – Wenig später saßen …
61 – Als Nora wieder …
62 – Die ganze Fahrt …
63 – »Und du bist wirklich …
SAMSTAG
64 – Der Alarm riss …
65 – »Aber du hast …
66 – Der Junge hat …
67 – Das Blaulicht teilte …
68 – Es dauerte noch …
SONNTAG
69 – Philippe Moreaux …
Epilog
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die Nacht war stürmisch gewesen. Und noch immer zogen die letzten Ausläufer des Frühjahrssturms über die Küste. Wie eine dicke, ausgebeulte Decke hetzten die Wolken über die Dünen, weg vom Meer, hinein ins Land.
Sein Oberkörper stemmte sich gegen die ihm entgegenschlagenden Böen, während ihm der Wind dünnen Nieselregen quer ins Gesicht spie. Seine Brille war regenblind, aber er kannte den Weg. Unbeirrt stapfte er weiter den schmalen Sandpfad entlang durch die Dünen. Am Set oder auf dem roten Teppich trug er ausschließlich Kontaktlinsen, da war er eitel. Aber hier, weit weg vom Scheinwerferlicht, konnte er sich ein wenig gehen lassen.
In der schwarzblauen Dämmerung des heraufziehenden Morgens war kein anderes Lebewesen zu sehen. In der Landschaft verstreut standen ein paar Ferienhäuser, aber in keinem brannte Licht. Alle schliefen noch. Es war, als wäre er der einzige Mensch auf Erden.
Das Tosen hinter den Dünen schwoll an. Durch ein Dünental hindurch konnte er kurz das Meer aufblitzen sehen. Rau und aufgewühlt, gestaffelte Wellenreihen in einem dunklen Graublau, gekrönt von weißer Gischt. Er lächelte. Das war gut! Der Sturm wirbelte den Meeresboden auf, und mit etwas Glück würde er vielleicht Bernstein finden, den die Flut an den Strand spülte. Das Frühjahr war zwar bereits fortgeschritten, aber die salzige Nordsee immer noch winterkalt. Nur unter diesen Bedingungen gab sie das Gold des Meeres frei.
Bei dem Gedanken glaubte er plötzlich, die wärmende Hand seiner Mutter zu spüren. Sie war eine leidenschaftliche Bernstein-Sammlerin gewesen. Seine frühesten und schönsten Kindheitserinnerungen waren geprägt von kalter Gischt, die über seine nackten Füße spülte, während er – kaum groß genug, um selbst zu laufen – an ihrer Hand den Strand entlangtapste, auf der Suche nach den goldenen Klumpen.
Sie würde sich bestimmt freuen, wenn er ihr die diesjährige Ausbeute mit ins Heim brachte. Dann, so hoffte er, würde vielleicht wieder der alte Glanz in ihre Augen treten, das Erkennen und die Freude, die seit Jahren hinter dem Vorhang grausamen Vergessens verborgen lagen.
Nur deswegen war er an diesem stürmischen Tag in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Denn wenn es nach Asta gegangen wäre, hätten sie im Warmen bleiben können. Obwohl: Einmal draußen, kannte sie kein Halten mehr. Er schob sich Daumen und Zeigefinger in den Mund, die nach Salz und Urlaub schmeckten, und stieß einen kurzen Pfiff aus. Sofort ruckte ein kleiner Hundekopf hinter einem Sandhügel hervor, die braunen Klappohren aufgestellt, die Knopfaugen begeistert aufgerissen. Das Fell um das linke Auge war kreisrund und pechschwarz, wie eine Augenklappe. Die braunen Ohren und das schwarze Auge stachen aus dem ansonsten schneeweißen Fell heraus. Asta war wirklich etwas ganz Besonderes. Er lächelte seine Hündin liebevoll an.
Als sie sich beide der Gegenwart des anderen vergewissert hatten, sprang Asta wieder herum und rannte schwanzwedelnd auf das Tosen hinter den Hügeln zu. Er schaute dem kleinen weißen Punkt hinterher, der fröhlich über den Dünenpfad flitzte. Wieder musste er lächeln. Nie hatte er nur eine der Frauen in seinem Leben so sehr geliebt wie dieses kleine Fellknäuel! Und keiner Frau war er nur annähernd so treu gewesen. Er wusste nicht, ob das traurig war oder normal in einer Welt, in der die wenigsten noch eine Verbindung bis zum Lebensende eingingen, sondern immer nur Seilschaften für eine kurze gemeinsame Wegstrecke. In der man sich gegenseitig nützlich sein konnte und eine gute Zeit zusammen hatte, bis andere den Weg kreuzten und man neue Gelegenheiten ergriff.
Asta hingegen liebte ihn um seiner selbst willen. Bei den Frauen war er sich da nie so sicher. Dafür verdiente er zu viel Geld und generierte zu viele Klicks auf den Social-Media-Kanälen. Insofern waren seine Beziehungen immer ehrlich gewesen: Er sonnte sich in Jugend und Schönheit seiner Lebensabschnittsgefährtinnen und gab ihnen dafür ein wenig Aufmerksamkeit, verlieh dem Leben dieser Frauen ein kleines bisschen Bedeutung. Was er dafür hinter verschlossenen Türen wollte, war klar. Und das hatten auch alle gewusst, die sich auf ihn eingelassen hatten. Fast alle …
Zum Schutz gegen den Wind senkte er schnell wieder den Blick und schaute stur auf seine Schuhe, die Schritt um Schritt dem Meer entgegengingen. So traf ihn die Stimme völlig unvorbereitet.
»Dieser Wind! Heftig, oder!?«
Er sah auf und erkannte durch seine besprenkelten Brillengläser eine Frau, die wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. Ihr rundes Gesicht war durch die festgezurrte Kapuze einer neonfarbenen Funktionsjacke umrandet. Ungeschminkt, wie sein kennender Blick feststellte. Ende vierzig, Anfang fünfzig, den Fältchen und Grübchen nach zu urteilen. Durch den flatternden Stoff des Discounter-Anoraks zeichnete sich eine füllige Figur ab. Das knallige Pink würde den Rettungskräften im Falle eines Unglücks zwar eine schnelle Bergung ermöglichen, war aber ebenso wie der Schnitt eher unvorteilhaft und verlieh ihr das Aussehen eines dicken, freundlichen Bonbons.
Er hatte schon lange auf keiner Dicken mehr gelegen. Mit denen konnte er sich öffentlich zwar nicht sehen lassen, aber sie waren so schön dankbar. Und offen für Neues. Er hatte immer viel Spaß mit ihnen.
»Sie müssen mit dem Hund raus, nicht wahr? Ich bin ja immer so früh auf. Und das Wetter macht mir nichts aus. Aber heute ist es schon sehr stürmisch. Finden Sie nicht auch?«
Die Frau sprach Deutsch mit ihm. Offenbar hielt sie ihn für ihresgleichen. Doch selbst wenn er nicht mit Brille und Windbreaker, sondern mit Kontaktlinsen, von der Maskenbildnerin perfekt frisierten Haaren sowie in einem Maßanzug vor ihr stünde, würde sie ihn nicht erkennen. Wahrscheinlich noch nicht einmal, wenn ihm die eisgläserne Krone Mythopias auf dem goldgelockten Perückenhaupt sitzen und er laut brüllend Schild und Schwert schwingen würde, so wie in seiner bisher bedeutendsten Rolle. Er spürte einen Stich im Magen, ein kleiner Gruß seiner gekränkten Eitelkeit. Die Deutschen liebten zwar Dänemark, die »hyggelige« Gemütlichkeit, Pølser und Lakritz – aber sie interessierten sich weder für die Sprache noch für die Politik und schon gar nicht für die Kultur des Landes. Das pinke Bonbon hatte keine Ahnung, wer da vor ihm stand.
Er spürte den Zwiespalt, der sich in seine Eingeweide bohrte. Genau deswegen kam er eigentlich so gerne nach Billersby, in dieses verschlafene norddeutsche Provinznest; weil er hier unerkannt entspannen konnte und schnell genug zurück in Dänemark war, wenn der Job oder das Heim seine Präsenz erforderten. Aber es kränkte auch jedes Mal sein Ego, wenn er realisierte, dass sein Prominentenstatus außerhalb Dänemarks bei null lag. Dabei war doch erst vor wenigen Wochen ein Interview mit ihm in einem der größten deutschen Hochglanzmagazine veröffentlicht worden. Der Versuch seines PR-Managers, ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen, hatte – ganz offensichtlich – nicht funktioniert.
Die Frau schaute ihn immer noch mit ihren freundlichen Maus-Augen an. Sie erwartete offenbar eine Antwort. Also knipste er sein Filmstarlächeln an, das hoch bis zu den Augen reichte, obwohl es reine Fassade war. Er nickte der Frau zu, dann zwängte er sich an ihr vorbei. Er wollte weg, bevor sie ihn mit weiteren Monologen aufhielt. Eilig stapfte er auf den Dünenkamm zu. Er meinte, den Blick der Frau in seinem Rücken zu spüren, drehte sich aber nicht mehr um, sondern folgte zielstrebig den kleinen, frischen Löchern, die Astas Pfoten in die nasse Sanddecke gestanzt hatten. Sie war den steilen Sandpfad, der eher einer Abbruchkante glich, bereits hinunter zum Strand gerannt. Nun wartete sie schwanzwedelnd darauf, dass er ihr endlich folgte. Doch er verweilte noch einen Moment auf dem Dünenkamm und betrachtete das aufgeschäumte Meer, das sich scheinbar endlos vor ihm ausbreitete.
Er schloss die Augen und ließ seinen Oberkörper langsam nach vorne fallen, der Schwerkraft folgend. Für den Bruchteil eines Augenblicks erlag er dem kindlichen Wunsch, die Arme auszubreiten und einfach davonzufliegen, bis er in letzter Sekunde seinen Fall abfing, entschlossen einen Fuß nach vorne setzte und mit weit ausholenden Schritten den steilen Sandpfad hinunterstakste. Asta umsprang ihn bellend, und gemeinsam liefen sie zum Meer, dorthin, wo die Nordsee mit gischtigen Zungen am Strand leckte.
In einiger Entfernung, versteckt zwischen den Dünen, starrte ein Augenpaar auf den Mann, der mit dem kleinen weißen Hund den Spülsaum entlangging, den Blick suchend zu Boden gesenkt, sich ab und zu bückend. Immer wieder betrachtete der Mann prüfend kleine Gegenstände in seiner hohlen Hand, um sie dann entweder zurück ins Meer zu schleudern oder in seiner Hosentasche zu versenken.
Perfekt! Es lief alles nach Plan.
Der Beobachter nestelte ein klobiges Handy aus seiner Tasche. Mit einem langen Daumendruck auf das Tastenfeld aktivierte er die jungfräuliche SIM-Karte, dann schaltete er auf Videomodus. Während in einer Ecke des Displays ein roter Punkt zu blinken begann, fokussierte der Kamerasucher den Mann am Strand.
Die langsam aufgehende Sonne brach durch die Wolken und tauchte die Regenkulisse am Horizont in einen silbrig hellen Saum. Doch wesentlich heller als der anbrechende Tag war die grellweiße Stichflamme, die plötzlich aus der Hosentasche des Strandspaziergängers schoss!
Der Beobachter wandte seinen Blick nicht vom Display, in dem die Silhouette des Mannes hektisch zu strampeln und um sich zu schlagen begann. Der Regen schien keine löschende Wirkung zu haben, denn innerhalb weniger Sekunden breitete sich das Feuer aus, hatte bereits vom gesamten Hosenbein Besitz ergriffen und sprang nun auf die Jacke über. Die ganze rechte Körperhälfte des Mannes stand in Flammen! Er schrie und rannte panisch ins Meer. Das Bellen des ihn umspringenden Hundes wurde lauter, schriller. Das Tier spürte die Todesangst seines Herrchens und folgte ihm bellend in die Wellen. Dort fiel der Mann auf die Knie, die Fluten brachen über ihm zusammen – aber er brannte einfach weiter!
Die Überraschung ließ ihn schlagartig verstummen. Doch schon kurz darauf wehte der Wind neben dem hysterischen Gekläffe auch wieder seine markerschütternden Schmerzensschreie über den Dünenkamm. Der Mann brannte lichterloh und schrie wie von Sinnen – weil er verstanden hatte, dass das Meer ihm nicht die erhoffte Rettung brachte. Und weil niemand kam, um ihn zu retten.
Der Beobachter lächelte und filmte weiter die menschliche Fackel im Meer, bis die Schreie schließlich verstummten und der brennende Mann im seichten Wasser zusammenbrach.
Der Morgen war noch jung und die Luft vom nächtlichen Sturm wie gewaschen: frisch und feucht. Nora joggte über das nasse Kopfsteinpflaster, die dunkelblaue Wollmütze mit dem Polizei-Schriftzug tief über Ohren und Stirn gezogen. Neben Noras gleichmäßigen Laufschritten war nur das Aufklatschen der Wassertropfen zu hören, die von den noch regennassen Reetdächern auf die Straße perlten. Und in einiger Entfernung das leise Tuckern von Dieselmotoren.
Nora genoss diese morgendliche Einsamkeit, in der Billersby noch schlief und sie die leeren Straßen und den weiten Himmel für sich alleine hatte. Sie sog die kühle Luft tief in ihre Lungen ein und lächelte. Der Morgen roch nach Salz und Meer. Nach Heimat.
Nora kannte jede Straße, jedes Haus. Sie war hier aufgewachsen. Zwar waren auf Wikipedia stolze viertausendachthunderteinunddreißig Einwohner notiert, aber im Grunde war Billersby ein sehr überschaubarer Mikrokosmos, ein Dorf; die meisten Einwohner waren einander bekannt, wenn nicht sogar miteinander verwandt.
Nach und nach gingen in den Wohnstuben die ersten Lichter an. Der Schein glomm warm und weich durch die Ritzen der Fensterläden, und es kam Nora so vor, als wollten die Billersbyer freundlicherweise den Weg ihrer Joggingrunde beleuchten.
An der Post mit dem altertümlichen Briefkasten, der nur einmal täglich geleert wurde, bog sie in einen kleinen, kaum sichtbaren Querweg ab. Die Abkürzung zum Hafen. Die Gasse war so eng, dass Autos hier nicht fahren konnten. Aber die meisten Wege in Billersby legte man eh zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. Die holprigen Kopfsteinstraßen wurden hauptsächlich von Lieferanten oder fußfaulen Touristen befahren.
Ohne ihr Tempo zu verlangsamen, wich Nora einem von der Hauswand hängenden Rosenzweig aus und sprang leichtfüßig über ein vom Sturm verwehtes Fahrrad. Dann endete die Gasse, und der Vorplatz des Hafens tat sich vor ihr auf.
Das kleine Hafenbecken war umrahmt von alten, roten Backsteinbauten mit Treppengiebeln, deren Spitzen vereinzelt mit Wetterfahnen in Form von Dreimastern oder Fischen gekrönt waren. Diese Häuserfront bildete schon seit über hundert Jahren das Herzstück von Billersby. Hier war der Marktplatz, hier wurde gekauft, gelebt, geschnackt und getratscht, hier kamen Jung und Alt zusammen. Nora konnte sich an kaum einen Tag ihres Lebens erinnern, an dem sie den Hafen von Billersby nicht gesehen hatte, und doch erblickten ihre Augen den Glanz dieser friesischen Schönheit jeden Morgen wie zum ersten Mal.
Nora lief die Promenade entlang, vorbei am Deichgraf mit seinen acht Gästezimmern und der Windsbraut, wo – so wurde gemunkelt – unter der Theke ein Selbstgebrannter ausgeschenkt wurde, der ungeübte Trinker kurzzeitig erblinden ließ. In Töven’s Backstube nebenan brannte schon Licht, das Enna Tövens groß gewachsene Silhouette auf das nasse Pflaster warf. Noras Fuß federte durch den Schatten der Bäckerin, dann hatte sie auch schon das Café Möwe erreicht, das allerdings noch in völliger Dunkelheit lag.
Früher war dort ein kleines Buddelschiffmuseum gewesen. Doch als der olle Jansen mit über dreiundneunzig starb, hatte sich keiner gefunden, der das Kleinod weiterführen wollte. Also hatte ein Burn-out-Banker aus Frankfurt den Laden gekauft und die Buddelschiffe liebevoll als Deko für sein ansonsten sehr modern eingerichtetes Café übernommen. Nora war unsicher gewesen, ob sich das CaféMöwe in Billersby lange halten würde. Aber offenbar hatte sie den Bedarf an Soja-Latte-macchiato, Vanilla-Chai und veganen Cupcakes unterschätzt. Nach nur einem Jahr war das Möwe aus Billersby nicht mehr wegzudenken. Einheimische wie Touristen liebten das Café, wohl auch wegen der unzähligen Buddelschiffe, in denen der kinderlose Jansen irgendwie weiterlebte.
Sie joggte weiter, vorbei an einem über die Grenzen von Billersby hinaus bekannten Fischrestaurant, dem kleinen Teekontor sowie dem Büro des Hafenmeisters und erreichte schließlich, im äußersten Giebelhaus, die winzige Polizeiwache. Nora stemmte einen Fuß auf die ausgetretenen Stufen des Aufgangs und dehnte ihre müden Beine. Wie oft sie hier schon hinaufgegangen war, konnte sie gar nicht mehr zählen. Und wie oft sie bis zur Pensionierung noch hier hochgehen würde, auch nicht …
Für einen Wimpernschlag überfiel Nora Wehmut. Wäre alles nach Plan gelaufen, wäre sie jetzt in Flensburg, als festes Mitglied eines Ermittlerteams und mit einem Stern mehr auf den Schulterklappen. Nie würde sie Joosts Gesicht vergessen, als sie ihn über ihr Versetzungsgesuch unterrichtet hatte. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, aber sie hatte auch so gewusst, dass er sie sich als seine Nachfolgerin wünschte. Doch mit Anfang dreißig hatte Nora sich zu jung gefühlt, um in Billersby schon ihre Endstation zu sehen. Sie wollte zeigen, dass sie mehr draufhatte, als falsch parkende Touristen zu ermahnen oder den Tathergang der sich alljährlich zum Edda-Fest häufenden Körperverletzungen zu ermitteln.
Die Ausschreibung der Kriminalpolizei in Flensburg war ihr wie ein Zeichen vorgekommen. Wie eine Einladung, ein bisschen mehr aus ihrem Leben, aus ihren Möglichkeiten zu machen. Und nachdem sie sich einem anspruchsvollen Aufnahmeverfahren gestellt hatte, war ihr aus einer Vielzahl an Bewerbungen die Stelle tatsächlich zugesprochen worden.
Noras Glück war grenzenlos gewesen. Auch wenn Joosts entgeisterter Gesichtsausdruck sie getroffen hatte. Doch ihr Chef und Ziehvater hatte seine persönliche Enttäuschung schnell wieder in den Griff bekommen und sich schon kurz darauf ehrlich für sie gefreut. Er kannte ihre Ambitionen, und natürlich wünschte er ihr nur das Beste für den weiteren Karriereweg.
Mit Menkes Reaktion umzugehen war für Nora schon schwieriger gewesen. Die beiden waren nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch seit Ewigkeiten enge Freunde, sie kannten sich seit Kindertagen. Doch als Nora ihm von ihrem Weggang nach Flensburg erzählt hatte, hatte Menke ihr panisch seine Liebe gestanden! Er hatte geglaubt, sie so halten zu können. Aber auch das hatte Nora, die seine über eine Freundschaft hinausgehende Zuneigung schon lange gespürt, aber immer wieder sanft zurückgewiesen hatte, von ihrem Entschluss, nach Flensburg zu gehen, nicht abrücken lassen.
Mit Joosts anfänglicher Enttäuschung und Menkes Liebesschmerz hatte sie noch irgendwie umgehen können, aber nicht mit der Sache mit Niklas. Das traf sie völlig unvorbereitet – und mitten ins Herz.
Wie er zitternd vor ihrer Tür gestanden hatte. Mit dem Überlandbus aus Berlin nach Hamburg, dann weiter per Anhalter in Richtung Norden, den Rest zu Fuß. Neunzehn Kilometer. Im Regen. Nicht mehr wirklich drauf, aber auch noch nicht richtig clean. Mit jedem Schritt schleppte er sich durch eine Realität, in der er zu schwer zum Schweben, aber zu leicht für Bodenhaftung war.
Natürlich war Nora nicht nach Flensburg gegangen. Sie hatte keine Sekunde gezögert und war geblieben.
Dass ausgerechnet Thies ihr ins Gewissen geredet und geraten hatte, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, war ihr wie Hohn vorgekommen. Und hatte sie in ihrem Entschluss nur bestärkt. Sie war nicht wie Thies. Sie rannte nicht weg, sie stellte sich den Anforderungen, die das Leben an sie stellte.
Der ganze Ärger darüber, dass Niklas nicht mal zur Beerdigung ihres Vaters gekommen war, dass er sie mit allem allein gelassen hatte, weil er sich in Berlin selbst verwirklichte und zu wissen glaubte, dass sie stark war und allein klarkam, er aber tatsächlich keinen Schimmer davon gehabt hatte, wie sehr sie ihn gebraucht hätte – all das war schlagartig vergessen. Jetzt brauchte er sie, und sie war da. So, wie es immer gewesen war. Und immer sein würde.
Ein Jahr war das jetzt her. Joost hatte sich so sehr gefreut. Doch er war nicht dumm; er wusste, dass Nora auf der kleinen Wache in Billersby unter ihren Möglichkeiten blieb. Deswegen hatte er ihr den Fall des ausgebrannten Autowracks übertragen.
Vor vier Wochen hatte plötzlich das schwarze Metallgerippe des ehemaligen Opel Kleinwagens auf der Landstraße zwischen Billersby und Locklund gestanden, wie das Skelett eines gestrandeten Wals. In einer fast schon absurden Ernsthaftigkeit hatte Joost so getan, als sei das eine Ermittlung, die den Kapitalverbrechen der Kripo Flensburg ebenbürtig war. Nora wusste, dass er es nur gut meinte, dass er ihr eine Nuss zu knacken geben wollte. Und daher ärgerte es sie umso mehr, dass sie bisher weder den Halter des Fahrzeugs noch die Vandalen, die es abgefackelt hatten, hatte ermitteln können. Da das Auto komplett ausgebrannt war, gab es keinerlei Fingerabdrücke oder andere verwertbare Spuren. Noch hatte Nora den Fall nicht zu den Akten gelegt. Auch wenn es keine weiteren Hinweise mehr gab und Joost ihr signalisiert hatte, dass er den Vorfall lediglich für eine asoziale Form der Müllentsorgung hielt. Aber sie wusste, dass sie diese Akte nicht schließen würde, bevor sie das Rätsel gelöst hatte. Und wenn es bis zu ihrer Pensionierung dauern würde. Sie konnte wahnsinnig hartnäckig sein. Niklas nannte das verbissen, sie selbst bevorzugte den Terminus ausdauernd.
Und solange sie diesen Fall nicht aufgeklärt hatte, durfte sie überhaupt nicht von größeren Ermittlungsaufgaben träumen! Nora wusste, dass diese Selbstgeißelung auch eine Ausrede war, um mit ihrem Verbleib in Billersby demütiger umzugehen.
Aber der Wunsch nach einer beruflichen Perspektive war in den letzten Monaten ohnehin erst von ihren Sorgen und dann von ihrer Dankbarkeit, dass Niklas endlich von seinem Drogen- und Medikamentenmissbrauch losgekommen war, in den Hintergrund gedrängt geworden. Ihr Bruder hatte sich wieder komplett gefangen. Und war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Mit der Marleen fuhr Niklas nun regelmäßig zum Krabbenfischen hinaus. Kein schlechtes Geschäft, wenn man sich darauf verstand. Und liebte, was man tat. Für beides hatte er Flint.
Nora wechselte das Bein und dehnte die andere Seite, während ihr Blick das Hafenbecken entlangwanderte. Wenn vor der prächtigen Promenadenfront die bunt beflaggten Krabbenkutter lagen, war der Hafen von Billersby ein fast schon kitschiges Fotomotiv. Jetzt allerdings war das Hafenbecken leer.
Fast leer …
Nora zog überrascht die Brauen hoch. Warum lag die Marleen noch an ihrem Ankerplatz? Niklas und Flint müssten doch längst draußen sein!
Nora straffte sich und lief quer über den Platz auf den kleinen roten Kutter zu. Hinter dem Führerhaus kam Flint zum Vorschein. Der alte Seebär saß missmutig an Deck, eine kalte Pfeife im Mundwinkel, und flickte Netze.
»Moin!«
Ein stummes Nicken war seine Antwort. In den über dreißig Jahren, die der Bootsmann mit ihrem Vater auf der Marleen zum Fischen gefahren war, hatte er größtenteils nonverbal kommuniziert.
Nora schaute suchend über das Deck.
»Ist Niklas nicht hier?«
Flints Antwort: ein ärgerliches Pfeifenzucken.
Noras Blick wanderte über die Netze, die durch Flints rissig raue Hände glitten. Trocken. Ihre Hoffnung, dass die Marleen von einem Nachtfang schon wieder zurück im Hafen war, zerbröselte wie alter Seetang. Der Kutter hatte ganz offensichtlich schon seit geraumer Zeit keine Krabben mehr aus der Nordsee gezogen.
Ihre Sportuhr piepte. Der Timer! Sie musste nach Hause, duschen, sich umziehen. Bald begann ihre Schicht. Aber heute Abend würde sie bei Niklas vorbeischauen. Mal nachfragen, wie er sich seine weitere Krabbenfischer-Karriere vorstellte.
Seit ihrem Streit hatte sie sich fest vorgenommen, ihm eine längere Leine zu lassen. Seine Vorwürfe hatten sie getroffen. Weil sie zutrafen. Mit vierundzwanzig konnte er selbst auf sich aufpassen. Er war ihre Beschützerhaltung leid. Sie musste aufhören, immer die Kontrolle haben, immer alles wissen und planen zu wollen. Vertrauen, Nora! Lange Leine!
Nora nickte Flint freundlich zu, dann wandte sie sich zum Gehen.
»Wenn Niklas nich’ mehr fischen will, soll er’s sagen. Ich komm auch woanders unter.« Nora hatte fast vergessen, wie Flints Stimme klang. Das letzte Mal hatte sie sie am offenen Grab ihres Vaters gehört. Damals war sie leise und brüchig gewesen, von ehrlicher Trauer um einen alten Kameraden fast erstickt. Jetzt hingegen färbte Zorn sein Timbre dunkel.
Überrascht drehte sich Nora zu ihm um.
»Wie meinst du das?«
Flint stand auf, spuckte über die Reling ins Hafenbecken, ohne dass ihn die Pfeife dabei irgendwie störte, und schaute Nora aus alten, klugen Augen an.
»Als ich heute Morgen kam, war der Motor noch warm. Keine Ahnung, was er nachts mit der Marleen macht. Aber mich versetzt er immer wieder. Das is’ nich’ fein!«
Eine steile Falte grub sich zwischen Noras Brauen. Doch sie zwang sich zu einem freundlichen Gesicht.
»Das tut mir leid, Flint. Ehrlich. Ich rede mit ihm.«
Der Alte quittierte Noras Versprechen mit einem Nicken, dann wandte er sich wieder den Netzen zu.
Lange Leine am Arsch! Nora zückte ihr Handy. Doch noch während sie Niklas’ Nummer wählte, sprintete sie los.
Das aggressive Klopfen ließ keinen Zweifel daran, wer vor seiner Haustür stand.
Niklas sprang aus dem Bett, in das er sich erst vor einer Stunde gelegt hatte, und hastete zu dem Wäscheknäuel, das in einer Ecke auf dem Boden lag. Nora durfte auf keinen Fall seine nassen Klamotten sehen! Sonst würde sie wieder ihre nervigen Fragen stellen. Hastig stopfte Niklas die nassen Sachen in den Schrank und drückte die alte Holztür so fest zu, dass die Scharniere ächzten.
Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Die Haustür schwang auf. »Niklas? Bist du da?«
Wütend stürmte Niklas auf seine Schwester zu. »Der Schlüssel ist für Notfälle!« Nora hob beschwichtigend die Hände: »Hätte ja einer sein können.«
Eilig fuhr Noras Blick Niklas vom Scheitel bis zur Sohle ab. Die Muskeln an Brust und Oberarmen, die sich selbst unter dem zerknitterten Schlaf-T-Shirt abzeichneten, dazu die zerwühlten blonden Haare, der aufgrund einer seit Tagen hinausgeschobenen Rasur immer dichter werdende Stoppelbart sowie die von dunklen Ringen verschatteten, aber dennoch – oder gerade deshalb – strahlend blauen Augen: Selbst in völlig ramponiertem Zustand machte ihr Bruder noch eine gute Figur. Er wirkte zwar völlig übernächtigt, aber zumindest schien er unversehrt.
»Wieso gehst du nicht ans Handy?«
»Weil ich geschlafen habe!«
»Und wieso schläfst du noch? Die Tide war um vier.«
»Hat die Polizei in Billersby wirklich nichts Besseres zu tun, als meine Arbeitszeiten zu kontrollieren?«
Niklas’ Sarkasmus saß! Tatsächlich hatten Joost, Menke und sie kaum etwas Besseres zu tun … Sofort musste sie wieder an das ausgebrannte Autowrack denken. Das einzige ungelöste Rätsel in Billersby.
»Nora, warum bist du hier?«
»Flint wartet am Hafen auf dich.«
Niklas seufzte hörbar. »Das ist ein Ding zwischen Flint und mir. Misch dich da nicht ein!«
»In Ordnung.« Nora nickte bedächtig und drehte sich langsam zur Tür. »Ich frage mich einfach, wann du das letzte Mal mit der Marleen draußen warst.« Ruckartig krallten sich ihre blauen Augen an Niklas fest. »Zum Fischen, meine ich.«
Der Schreck durchfuhr Niklas wie ein Stromstoß!
Fuck! Wusste sie etwas?
Er spürte, wie Nora ihn fixierte. Jetzt nur nicht nervös werden.
Gleichgültiges Achselzucken. Dann schaute er sie an.
Doch Noras Blick war weitergewandert und richtete sich starr auf etwas unter seinem Bett. Niklas sah, was Nora sah: den Zipfel einer aufgerissenen Kondompackung. Jackpot! Seine Unordentlichkeit rettete ihm den Arsch. Musste Nora ja nicht wissen, dass das schon seit einer Woche da lag …
»Weißt du, man kann auf so einem Boot auch noch was anderes machen, als immer nur beschissene Krabben aus dem Meer zu holen. Etwas, was wirklich Spaß macht.«
»Kenn ich sie?«
Noch bevor Niklas entrüstet schnaufen konnte, hob Nora schon entschuldigend die Hände. »Das geht mich jetzt wirklich nichts an.«
Doch Noras herausfordernder Blick stand in krassem Gegensatz zu ihren Worten. Es war klar, dass sie über kurz oder lang einen Namen hören wollte. Die altbekannte Wut kroch Niklas’ Rücken hoch, kribbelte durch seine Arme und sammelte sich in seinen zu Fäusten geballten Händen. Hatte sie aus ihrem letzten Streit denn gar nichts gelernt? Wieso hatte sie ihren beschissenen Beschützerinstinkt und ihre professionelle Neugierde nicht besser im Griff? Wieso konnte sie nicht einfach Ruhe geben? Warum machte sie es ihm verdammt noch mal so schwer?
Das schrille Klingeln von Noras Handy zerriss die angespannte Stimmung. Ein kurzer Blick aufs Display, dann nahm sie den Anruf an. Sofort schallte eine aufgeregte Stimme aus der Lautsprechermuschel. Niklas verstand nichts von dem, was aus Menke heraussprudelte, erkannte aber auf Noras Gesicht den Ernst der Lage.
»Ich bin in zehn Minuten da!«
Nora beendete das Telefonat und steckte das Handy wieder in die Reißverschlusstasche ihrer Joggingjacke. Dann wandte sie sich Niklas zu. »Ich muss los.«
Noras ernste Miene passte so gar nicht zu dem, was sonst in Billersby in den Aufgabenbereich der Polizei fiel.
»Was Schlimmes?«
Niklas hatte plötzlich Angst, dass sie jetzt eine Autokollision erwähnen würde, deren Todesopfer sie seit Kindertagen kannten. Oder einen tödlichen Treppensturz. Irgendetwas in der Art, das einem wieder vor Augen führte, wie klein Billersby und wie endlich das Leben war.
»Am Strand … ist jemand verbrannt.«
»Was?«
Niklas starrte Nora fassungslos an. Die ging entschlossen zur Haustür.
Doch dann drehte sie sich noch einmal ruckartig um, zog ihn an sich und drückte ihn so fest, dass er glaubte, ihr Herz in seinem Brustkorb schlagen zu spüren. Die Wärme ihres Körpers und der vertraute Geruch von Geborgenheit, der in den Haaren seiner Schwester hing, ließen ihn kurz weich werden. Nora war Familie. Nora war Sicherheit. Sie würde sich für ihn in Stücke hauen lassen. Wofür er im Gegenzug zu feige wäre. Er schämte sich für diesen Gedanken und schwor sich, ihr in Zukunft ein besserer Bruder zu sein.
Ihre Lippen kitzelten sein Ohr.
»Ich hab dich lieb.«
Ihr Flüstern war wie Wasser in der Wüste.
Und sofort tat es ihm wieder leid.
Nora rannte im Laufschritt über die Hafenpromenade. Mittlerweile war morgendlicher Aktionismus an die Stelle der verschlafenen Stille getreten. Das Städtchen war zum Leben erwacht. Vom nächtlichen Regensturm waren lediglich Pfützen geblieben, die ein paar Kinder in Gummistiefeln zum Spielen einluden, während ihre Eltern sich um das Frühstück bemühten. Bei Töven’s Backstube standen die Kunden Schlange, und auch im Café Möwe brannte jetzt Licht.
Nora zog an, nahm die drei Stufen des Treppenaufgangs mit einem einzigen Sprung und stürmte in die Polizeistation.
»Da bist du ja endlich!«
Nora umrundete Menke, der aufgekratzt hinter dem kleinen Empfangstresen stand, durchquerte das Büro und riss im Hinterzimmer ihre Spindtür auf. Zum Duschen blieb keine Zeit, das mussten jetzt Deo und die frische, nach Sprühstärke riechende Uniform richten.
Menke war ihr eilig gefolgt und stand im Türrahmen.
»Joost ist noch am Strand. Zusammen mit dem Notarzt und den Sanitätern.«
»Was genau ist denn passiert?«
Nora riss sich die Trainingsjacke vom Leib und zog sich das verschwitzte T-Shirt über den Kopf. Sofort drehte Menke sich weg. »Wissen wir noch nicht genau. Eine Spaziergängerin ist vom Hundegebell angelockt worden. Sie hat den Mann gefunden.«
»Name?« Nora besprengte ein Handtuch mit Wasser und wischte sich eilig den Schweiß von Gesicht, Armen und Achseln.
»Wissen wir noch nicht«, sprach Menke an den Türpfosten gerichtet. »Soweit das vor Ort feststellbar war, hatte der Mann keine Personalien bei sich.«
»Ich meine die Spaziergängerin. Die Zeugin.«
»Ach so.«
Menke zog einen kleinen Notizblock aus seiner Brusttasche und blätterte durch die Seiten, während Nora sich großzügig mit Deo einsprühte und ihre Uniform anzog.
»Hier. Frau Carl. Charlotte Carl. Aus Hamburg. Macht gerade Urlaub in einem der Ferienhäuser in den Dünen.«
»Okay. Weiter!«
Noch nie hatte Menke sich über Noras manchmal etwas ruppige Art beschwert. Im Gegenteil, er wusste, dass sie nur so mit ihm sprach, wenn die Zeit drängte und es wichtig war. Er gehörte nicht zu den Männern, die sich schnell auf den Schlips getreten fühlten und dann beleidigt waren. Das mochte Nora an ihm. Auch, wenn er sich seit dem Flensburg-Geständnis wie ein verklemmter Idiot benahm.
»Sie hat ihn gefunden, aber sofort erkannt, dass sie nicht viel mehr tun kann, als Hilfe zu holen. Der Mann lag halb im Wasser. Großflächig verbrannt. Joost hat am Telefon gesagt, dass die Kleidung mit dem Fleisch verschmolzen ist! Alles nur schwarz und rot und rohes Fleisch und Brandblasen.«
Menkes Stimme zitterte leicht, so sehr erschütterte ihn die Vorstellung.
Nora legte sich den Einsatzgürtel mit dem Waffenholster um und ließ die Schnalle mit einem lauten Knacken einrasten.
»Tot?«
»Schwer verletzt. Verbrennungen dritten Grades. Über dreißig Prozent der Körperfläche ist betroffen! Er wird gerade ins Uniklinikum nach Flensburg gebracht. Der Notarzt rechnet ihm keine großen Chancen aus …«
Nora drehte Menke, der immer noch den Türpfosten anstarrte, sanft zu sich herum.
»Denkst du, was ich denke?«
Endlich hob Menke den Blick. Aufgewühlt fuhr er sich mit der Hand über seine raspelkurz getrimmten, feuerroten Haare. »Daran habe ich auch schon gedacht. Scheiße …«
»Jawohl, eine riesengroße Scheiße!« Sie fuhren herum. Die Tür der Polizeistation war aufgeflogen und krachend gegen die Innenwand geschlagen. Mörtel rieselte aus dem Loch, das die Türklinke dort in den Putz gerammt hatte. Wie eine Naturgewalt rauschte Dienststellenleiter Joost Enders herein. »Jetzt ist es also passiert!«
Wütend ließ er sich in den Drehstuhl hinter einem Schreibtisch fallen, nahm die Uniformmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Halbglatze. Sein sonst von der Meerluft gerötetes Gesicht hatte einen ungewohnt bleichen Ton angenommen und sich farblich dem grauen Vollbart angeglichen. Sein Blick fiel auf Menkes halb aufgegessenes Frühstück auf der gegenüberliegenden Tischseite. Er schluckte gequält. »Pack das mal weg! Bitte!«
Eilig ergriff Menke sein angebissenes Mettbrötchen und ließ es in einer Tupperdose unter dem Tisch verschwinden.
»Früher oder später musste so etwas ja passieren«, murmelte Joost gedankenverloren. »Weil doch niemand diese winzigen Hinweisschilder am Strand liest!« Noch nie hatte Nora ihren Chef so betroffen erlebt.
»Also ist es bestätigt?«, fragte sie leise.
»Noch nicht offiziell.« Joost Enders schaute Nora und Menke ernst an. »Aber wie soll man sonst einsam am Strand in Flammen aufgehen?«
»Weißer Phosphor …«, flüsterte Menke. Wie ein böses Omen hingen seine Worte im Raum, unsichtbar und doch real. Nach einer gefühlten Ewigkeit zerriss Nora das betretene Schweigen, das die gesamte Wachstube ausfüllte.
»Weißt du denn mittlerweile, um wen es sich handelt?«
Joost schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte aus dem Fenster. Über die Hafenpromenade schlenderten ein paar wenige Urlauber, leicht zu erkennen an den Caprihosen, die sie fast schon trotzig trugen, obwohl die sommerlichen Temperaturen noch auf sich warten ließen. »Wahrscheinlich einer der Frühsommertouristen.«
»Oder jemand, der privat zu Besuch hier ist. Wird denn jemand vermisst?« Nora schaute fragend zu Menke. Der schüttelte den Kopf: »Niemand. Weder hier noch sonst irgendwo in Nordfriesland, zumindest nicht in den letzten vierundzwanzig Stunden.«
Erneut wischte sich Joost den Schweiß von der nackten Schädelplatte. »Dafür ist es eventuell noch zu früh. Wenn er mit dem Hund spazieren gehen und danach irgendwo Frühstück kaufen wollte, vermisst ihn vielleicht noch niemand.«
»Apropos Hund.« Nora schaute Joost fragend an. Der machte eine frustrierte Handbewegung.
»Die Töle ließ sich nicht von ihrem Herrchen trennen. Als ich sie mitnehmen wollte, hat sie nach mir geschnappt.«
»Und wo ist der Hund jetzt?«
»Wahrscheinlich auch im Krankenhaus.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte doch: Der Köter ist seinem Herrchen keinen Zentimeter von der Seite gewichen.«
Noras irritierter Blick ließ Joost ärgerlich die Schultern zucken: »Was denn? Hätte ich ihn erschießen sollen? Einer der Sanis hat ihn mitgenommen. Sollen die sich jetzt um ihn kümmern. So, genug geredet. Es gibt jede Menge zu tun!« Mit einem Ruck richtete Joost seine massige Statur auf, fummelte sein Handy aus der Brusttasche und reichte es Menke.
»Hier drauf sind die Fotos von der Auffindesituation. Wir müssen eine Akte anlegen.«
Menke nahm das Handy und stöpselte es an einem der sich zahlreich auf seinem Schreibtisch schlängelnden Kabel an. Der Lüfter des Rechners setzte sich röchelnd in Gang, langsam baute sich eine Seite mit Fotokacheln auf. Augenblicklich entwich die Farbe aus Menkes Gesicht. Nora beugte sich über seine Schulter, um auch einen Blick auf den Monitor werfen zu können. Was sie sah, ließ sie vor Entsetzten die Luft anhalten.
Die Fotos zeigten einen unkenntlichen menschlichen Körperteil, der wie ein verkohltes Stück Grillfleisch aussah: außen schwarz, die Haut in Fetzen hängend, übersät mit aufgeplatzten, gelblich nässenden Brandblasen. Im Inneren dieses schwarzen Hautkraters leuchtete eine blutig rote Fleisch- und Muskelmasse. An den Wundrändern brodelte weißer Speck, der mit einer blauen Substanz verschmolzen war. Das Polyester einer Windbreakerjacke! Die Schmerzen mussten unvorstellbar sein!
Nora spürte, wie sich ihr Magen unangenehm zusammenzog.
Das Telefon klingelte. Joost riss den Hörer von der Gabel. »Polizeidienststelle Billersby, PHK Enders.«
Während Joost angestrengt lauschte, wandte Nora sich der Landkarte zu, die hinter Menkes Schreibtisch an der Wand hing.
»Weißt du, wo genau der Mann gefunden wurde?«
Menke deutete auf einen Abschnitt, der mittig zwischen Billersby und Locklund lag. Fünfundzwanzig Kilometer erstreckte sich der Strand zwischen den beiden Städtchen. Die Stelle, auf der Menkes Finger lag, war nicht mit dem Auto erreichbar, sondern nur zu Fuß durch die breite Dünenlandschaft zu begehen. Das erklärte wohl Joosts Abschwitzen …
Aber wie waren die Rettungskräfte überhaupt an die Stelle gelangt? Menke las Noras Gedanken: »Er ist mit dem Heli abtransportiert worden. Es zählte jede Minute.«
»Und trotzdem: zu langsam!«
Nora und Menke schauten Joost an, der resigniert den Hörer auf die Gabel drückte.
»Das war das Krankenhaus.« Fassungslosigkeit lag auf seinem Gesicht. »Jetzt haben wir den ersten Toten.«
Connie Steenberg langweilte sich schrecklich.
Seit einer halben Stunde hatte sich in dem Haus, das sie beobachtete, nichts getan. Keine Bewegung. Kein Schattenwurf. Nicht einmal die Gardinen hatten gewackelt.
Sie kannte das Haus gut. Sie war früher oft zu Besuch gewesen. Ob immer noch der hässliche, überlebensgroße Porzellanpudel am untersten Treppenabsatz stand? Sie hätte ihn umtreten und es wie einen Unfall aussehen lassen sollen, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch dazu war es jetzt zu spät. Sie würde für sehr lange Zeit nicht mehr über diese Schwelle treten, wenn überhaupt jemals wieder. Und bis dahin würden sich das Spießertum und der schlechte Geschmack im Inneren ausbreiten wie ein Krebsgeschwür.
Connie seufzte und wedelte eine aufdringliche Fliege weg. Langsam wurde das Sitzen ungemütlich. Sie verlagerte ihr Körpergewicht von der einen auf die andere Pobacke und schob einen kleinen Zweig aus ihrer Sicht.
Im Haus rührte sich immer noch nichts.
In der Ferne erklang ein Schiffshorn. Offenbar lief der Verkehr nach der stürmischen Nacht wieder nach Plan. Der Hafen war das Kernstück der Stadt und zudem der größte Nordseehafen Dänemarks. Connie liebte Esbjerg. Nicht nur, weil es ihre kleine Familie hierher verschlagen hatte. Sondern ganz besonders wegen des Hafens.
Früher, vor ein, zwei Jahrzehnten, hatten die Fischfabriken ihren Gestank durch die ganze Stadt getrieben. Jetzt legten nur noch wenige Berufsfischer an, der Wandel vom Fischerei- zum Industriehafen war längst vollzogen. Am Kai türmten sich die Containerberge. Blau, Gelb, Orange, Grün. Sie zu zählen, half. Alle blauen, alle grünen, alle gelben. Wenn Connie den Kopf frei kriegen und ihre inneren Scherben wieder zusammensetzen musste, dann kam sie zum Hafen und zählte. Oder sie setzte ihre Angst und ihren Hass auf einen der Container und schiffte ihn aus. Schickte den Ballast auf Reise, weit hinaus auf See, bis ihr Atem wieder ruhig und der Blick in die Zukunft klar war. Hier konnte man Pläne schmieden, die einen weiterleben ließen.
Das letzte Mal war sie kurz vor ihrer Zwangsbeurlaubung im Hafen gewesen. Weil sie das Gefühl der kalten Wut hatte abschütteln müssen, die mit langen schwarzen Fingern ihren Hals hochgekrochen war und ihr die Luft abgedrückt hatte. Und den Frust, dass einem immer nur die kleinen Fische ins Netz gingen. Aber nie der Kopf an der Spitze. Nicht der Strippenzieher, dem man nie etwas nachweisen konnte. Der die Befehle gab und Millionen damit verdiente. Der irgendwelche Knechte mit Lieferwagen nach Osteuropa schickte, um junge, sehr junge Frauen mit dem Traum von einem besseren Leben nach Skandinavien zu locken.
Im Wagen schon war der Traum vorbei. Den Mädchen wurden die Pässe abgenommen. Dann wurden sie eingeritten. Connie hatte ein Video davon gesehen, eine verwackelte Handyaufnahme.
Sie hatten sich die Frau zu zweit vorgenommen. Sie lag mit dem Rücken auf einer hüfthohen Warenpalette, in perfekter Höhe, damit einer der beiden Männer sich im Stehen an ihr vergehen konnte. Während ein zweiter Mann breitbeinig auf ihrem Brustkorb hockte und ihr die Arme wegdrückte, konnte der Erste ihr mühelos Hose und Slip von den Beinen reißen. Die Frau war absolut bewegungsunfähig gewesen. Und panisch vor Angst. Sie hatte genau gewusst, was passieren würde. Sie hatte geweint und gefleht. Und dann geschrien vor Schmerz, im Rhythmus der Stöße zwischen ihren Schenkeln. So lange, bis der Mann auf ihrem Brustkorb ebenfalls seine Hose geöffnet und ihr den Mund gestopft hatte.
So erging es allen Frauen. Sie wurden geschändet, gebrochen, auf den Strich geschickt. Bis ihre Körper verbraucht waren und Connie und ihre Kollegen die toten Hüllen auf den Müllkippen fanden.
Connie ballte ihre Hände zu Fäusten. Erst ein leises Knirschen ließ sie innehalten. Ihr Blick fiel auf das fliederfarbene Kinderhandy, dessen Schutzschale sich in ihrer Wutfaust verschoben hatte.
Kinderhandy. Wer hatte sich so etwas eigentlich ausgedacht? Wieso mussten Kinder Handys haben? Mit Touchscreen und Internetverbindung und Apps und allem Drum und Dran. Kein Wunder, dass Zehnjährige kaum noch lesen und schreiben konnten, wenn alles, was sie von klein auf lernten, nur Tippen, Klicken und Wischen war.
Zumindest hatte das Teil noch keinen Fingerabdrucksensor oder Gesichtsscanner. Das ganze perverse Technikzeug, das die Welt kein bisschen besser, ihre Welt hingegen umso schwerer machte.
Ihr Daumen fuhr über den Entriegelungsbalken. Sofort ploppte das zuletzt benutzte Programm auf. Der Social-Media-Account eines Hundes.
InstaAsta war ein kleiner weißer Terrier mit braunen Klappohren und einem pechschwarzen Augenklappenfellfleck. Und mit zweihundertsiebentausend Followern ein verdammter Internetstar!
Connie scrollte durch das Profil. Dafür, dass der Hund in einem täglichen, manchmal sogar stündlichen Rhythmus neue Fotos und Videos hochgeladen hatte, war seit gut vierundzwanzig Stunden nichts Neues mehr hinzugekommen.
Connie hob den Blick vom Display und schaute einer Möwe nach, die mit ruhigem Flügelschlag über den Himmel zog.
Es wurde Zeit, dass mal wieder etwas passierte.
In ihrem und in Astas Leben.
Da schwang die Haustür auf.
Eine Frau in einem spießigen Businesskostüm schob ein kleines Mädchen mit Schulranzen auf dem Rücken hinaus in den Vorgarten. Connies Herz machte einen Sprung.
Die Frau verriegelte die Haustür. Erst kurbelte der Schlüssel im Türschloss. Dann in den zwei zusätzlich montierten Querbalken darüber. Es war, als machte sie Fort Knox dicht. Wovor, um Himmels willen, hatte sie Angst? Dass jemand den Porzellanpudel klaute?
Durch das Klimpern der Schlüssel drang ihre helle Stimme: »Und nach der Schule holen wir dein Handy bei Stine ab. Okay?«
Das kleine Mädchen sprang über die Steinplatten, die einen Weg durch das ordentlich getrimmte Rasenmeer zwischen Fort Knox und der Straße bildeten. Ihr Schulranzen wippte dabei lustig auf und ab. Genauso wie ihre blonden Zöpfe. Sie hüpfte genau unter den Baum, in dem Connie saß und der ein wenig Schatten auf den Gartenweg warf.
Sie guckte nicht nach oben. Sie ließ sich überhaupt nichts anmerken. Was für eine nervenstarke, abgebrühte Siebenjährige! Connie glühte vor Stolz.
Endlich zog die Frau den Schlüssel aus dem letzten Schloss und drehte sich um.
»Gut, jetzt aber los, Spatz!«
Die Bewegung des Mädchens schien mitten im Sprung zu gefrieren. »O nein, Mama, meine Brotdose liegt noch auf dem Küchentisch!«
Connie musste schmunzeln. Die Frau an der Tür hingegen ließ müde die Schultern hängen. Sie seufzte. »Ach, Jonna. Erst dein Handy, jetzt die Brotdose. Wenn dein Kopf nicht festgewachsen wäre, würdest du ihn wohl auch irgendwo liegen lassen …« Das kleine Mädchen guckte betont reumütig. Also straffte die Frau sich und rammte wieder den Schlüssel ins Schloss. »Na gut, ich hol sie schnell.«
Alle Verriegelungsmechanismen wurden der Reihe nach wieder aufgeschlossen. Rasseln. Klimpern. Kurbeln. Dann entschwand die Frau ins Innere.
Kaum war sie im Hausflur verschwunden, wandte das kleine Mädchen den Blick nach oben und grinste Connie durch das Laub der Baumkrone an. Die schaute tadelnd zu ihr hinunter.
»Du sollst deine Mutter nicht anlügen, Jonna!«
»Hab ich nicht! Ich hab gesagt, ich hab’s bei meiner besten Freundin liegen gelassen.«
Connies Herz pumpte glühende Liebe durch jede Faser ihres Körpers.
Jonnas freches Grinsen entblößte eine beeindruckende Zahnlücke. »Das mit Stine hat Mama sich selbst dazugedacht. Ich habe nur nicht widersprochen.«
Jonnas Mundwinkel schlugen an den Ohren an. Connie musste wider Willen lächeln. Kleiner, schlauer Frechdachs.
Durch die offen stehende Haustür schallten Schritte über den Flur. Schnell warf Connie Jonna das Handy zu, die es eilig in ihrer Jackentasche verschwinden ließ.
»Danke, Oma!«
Wieder durchströmte Connie ein warmes Glücksgefühl.
Dann fiel die Haustür krachend ins Schloss, und Jonna würdigte den Baum, in dem Connie hockte, keines Blickes mehr.
»So, jetzt aber schnell!«
Connie sah, wie ihre Tochter Lærke Jonna eine bunte Brotdose in die Hand drückte und sich wieder an ihre Schließertätigkeit machte. Dann gingen die beiden hastig unter Connie vorbei über den Steinplattenweg zur Straße, stiegen in einen dunkelgrünen Volvo-Kombi und fuhren los. Connie sah dem Auto nach, bis es hinter einer Straßenbiegung verschwunden war. Dann spannte sie ihre Kniekehlen fest um den Ast, ließ ihren sehnigen Oberkörper nach hinten fallen und den Blick über die ruhige Spießerwohngegend schweifen. Auf dem Kopf waren die perfekt gestutzten Hecken, die sauber gefegten Einfahrten und die ordentlich gezupften Blumenbeete halbwegs zu ertragen. Dann straffte sie ihren sehnigen Körper, rotierte mit der Hüfte einmal um die eigene Achse und landete schließlich mit Schwung auf dem Rasen des Vorgartens. Neben den Steinplatten.
Lässig pustete sich Connie ein Blatt aus den Haaren. Dann ging sie langsam den Bürgersteig entlang die Straße hinunter. Die wenigen Passanten, die ihr entgegenkamen, sahen in ihr eine mondäne Frau von neunundvierzig Jahren. Groß, schlank, mit den geschmeidigen Bewegungen eines Raubtiers.
Lediglich sehr aufmerksame Zeitungsleser hätten in ihr vielleicht die Kriminalkommissarin erkannt, über die vor einigen Wochen landesweit berichtet worden war. Wegen ihres unglaublichen Erfolgs bei der Aufdeckung eines Mädchenhändlerrings. Und des anschließenden Untersuchungsverfahrens aufgrund des Verdachts, sie habe den verantwortlichen Kopf der Organisation nicht verhaftet, sondern auf einer fingierten Flucht erschossen.
Das Gerücht hielt sich hartnäckig. Aber es gab keine Zeugen. Und auch die Tatwaffe war nie gefunden worden. Also wurde das Verfahren eingestellt. Denn nachweisen konnte man ihr nichts.
Connie musste lächeln, als sie daran dachte.
Dann bog sie ab. Richtung Hafen.
Die Betroffenheit nach dem Anruf aus dem Krankenhaus hatte für einen langen Augenblick zwischen ihnen in der Dienststube gestanden; wie ein ungebetener Gast, den man gerne loswerden würde, aber nicht weiß, wie. Schließlich war es Joost gewesen, der die Stille mit seinem wütenden Bariton zerrissen hatte.
»Wir werden nicht zulassen, dass es zu weiteren Toten kommt! Wir sperren den kompletten Strandabschnitt zwischen Billersby und Locklund. Sofort!«
Menke schaute seinen Onkel überrascht an.
»Aber … wie sollen wir das denn kontrollieren? Zu zweit?«
»Gar nicht. Wir ziehen kilometerweit Flatterband durch die Dünen. Durchgang verboten! Und sobald dieser schreckliche Unfall durch die Presse ist, wagen sich eh nur noch Dummköpfe oder Lebensmüde an den Strand. Apropos Presse: Gib der Pressestelle in Flensburg durch, was wir haben.« Sofort begann Menke eine Nummer zu wählen und nach kurzer Begrüßung in den Hörer zu diktieren: »Ein Toter. Männlich. Identität noch ungeklärt. Verstorben in der Uniklinik Flensburg nach Luftverbringung per Rettungshubschrauber. Todesursache noch nicht final bestätigt, wahrscheinlich großflächige Verbrennungen dritten Grades. Verdacht auf Weißen Phosphor am Strand zwischen Billersby und Locklund. Weitere Infos folgen.«
Joost fingerte aus den Tiefen seiner Hosentasche einen Autoschlüssel hervor und warf ihn Nora zu. »Du fährst bitte ins Krankenhaus. Ich will wissen, was genau passiert ist. Und wer der Tote ist. Vielleicht findest du etwas in seiner Kleidung, das Auskunft über seine Identität gibt.«
»Oder über die Hundemarke. Der Hund muss ja auf irgendwen registriert sein.« Menke hatte aufgelegt und sich in das Gespräch eingeklinkt. Nora nickte ihm und Joost zu, dann steuerte sie auf den Ausgang zu. Die beiden Männer folgten ihr.
»Was ist mit den Ferienhaus-Leuten? Die wohnen doch mitten in den Dünen. Wie halten wir die vom Strand fern?«
Nora öffnete die Tür der Polizeistation. Sofort brandeten ihr die charakteristischen Hafengeräusche entgegen: die Möwenschreie, das Wellenschmatzen am Beckenrand, die Sprachfetzen vorbeieilender Menschen. Joosts gebrummte Antwort auf Menkes Frage hörte Nora nur noch in ihrem Rücken, während sie bereits eilig die Treppen des Aufgangs hinunterging: »Die klingeln wir alle ab und informieren sie persönlich. Strandsperre! Vielleicht finden wir so auch heraus, wer der Tote ist.«
Eine Stunde später parkte Nora den Streifenwagen vor dem Krankenhaus in Flensburg. Direkt vor dem Haupteingang saß ein kleiner weißer Hund mit braunen Klappohren und einem markanten schwarzen Fellfleck um das linke Auge. An sein Halsband hatte man behelfsmäßig zwei ineinander verzwirbelte Verbandsbandagen geknotet; das andere Ende der provisorischen Leine war an einem Fahrradständer festgebunden. Das Ganze wirkte nicht sehr reißfest; mit etwas Kraft und Entschlossenheit könnte die kleine Hündin sich sicher schnell befreien. Doch nichts schien ihr fernerzuliegen, als wegzulaufen. Stattdessen waren ihre schwarzen Knopfaugen unablässig auf den Eingang des Krankenhauses gerichtet. Jedes Mal, wenn sich die gläsernen Schiebetüren öffneten und jemand ins Freie trat, sprang sie auf ihre kurzen Beinchen und trippelte erwartungsfroh auf der Stelle. Erkannte sie dann, dass es sich um einen Fremden handelte, ließ sie traurig den Kopf hängen.
Das ausdauernde Wechselspiel aus Hoffnung und Enttäuschung hatte bereits seine Spuren hinterlassen: Der kleine Terrier wirkte erschöpft. Die schmale rosa Zunge hing ihm wie eine Krawatte vor der Brust. Doch bei jedem neuen Schatten hinter der Fronttür sprang die kleine Hündin wieder auf und fieberte ihm aufgeregt hechelnd entgegen. Es brach Nora schier das Herz, zu sehen, wie sehnsüchtig sie auf ihr Herrchen wartete.
Behutsam ging Nora in die Hocke und streichelte die Hündin, die jedoch weiter nervös den Eingang beobachtete.
Noras Finger fuhren sanft am Halsband entlang, fanden aber keine Steuermarke oder Halterplakette. Resigniert stand Nora auf und wandte sich zum Gehen.
Den ganzen Weg über die Rampe hinauf zur Schiebetür sah Nora den traurigen Blick des Hundes in ihrem Rücken – bis sich die verspiegelte Front hinter ihr geschlossen hatte und sie in der klimatisierten Kühle des Eingangsbereichs stand. Zielstrebig ging sie auf den Empfangstresen zu, zückte ihren Dienstausweis und fragte nach ihrem zuständigen Ansprechpartner.
Dr. Kubiczek war ein sportlicher Mann von Mitte fünfzig, dessen kluge Augen Nora durch ein flaschengrünes Brillengestell musterten. In der komplett weißen Krankenhausumgebung verlieh ihm die Brille – gemeinsam mit dem ebenfalls grellgrünen Kugelschreiber, der aus der Brusttasche seines Kittels ragte, und den giftgrünen Sportschuhen, die er trug – einen Hauch von Exzentrik. Und Humor. Doch der war gänzlich aus seinem Gesicht gewichen.
»Ich habe in Greifswald studiert. Glauben Sie mir, ich kenne das Verletzungsmuster. Die Ostsee liegt ja auch voll von militärischen Altlasten.« Er sah Nora über den Rand seiner Designerbrille hinweg ernst an. »Aber das hier, das ist neu für mich.«
Dr. Kubiczek schob einige großformatige Fotografien über den Schreibtisch: blutige Fleischkrater, nässende Brandblasen, verkohlte Wundränder. Ein am Bildrand angelegtes Lineal verdeutlichte die Größe der Verletzungen. Nora schluckte trocken.
Der Chefarzt tippte auf die schwarzen Stellen. »Die Nekrosen sind mehrere Zentimeter tief. Sehen Sie das?«
Nora sah nur tödliche Verletzungen. Und unglaubliche Schmerzen.
Dr. Kubiczeks Stimme klang professionell, aber angesichts der Bilder auch merkwürdig emotionslos: »Weißer Phosphor entzündet sich an der Luft ab circa zwanzig Grad Celsius von selbst. Der vermeintliche Bernstein trocknet also in der Hosentasche, erwärmt und entzündet sich, und brennt schließlich mit einer Temperatur von bis zu eintausenddreihundert Grad Celsius ab. Die Flammen lassen sich mit Wasser nicht löschen. Der Phosphor frisst sich ungehindert durch die Haut, durch das Fettgewebe, durch die Muskeln, bis auf den Knochen. Wussten Sie, dass Weißer Phosphor heißer brennt als das im Vietnamkrieg verwendete Napalm?«
Nora schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht viel über Weißen Phosphor. Nur das bisschen, was alle wussten, die an Nord- oder Ostsee lebten.
Das Zeug stammte aus Brandbomben, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Meeresgrund vor sich hin rosteten. Ab und zu, besonders nach starken Stürmen, wurden die kleinen braunen Klumpen an den Strand gespült, wo sie dann von Strandgängern für Bernstein gehalten wurden. Hin und wieder las man in der Zeitung von einem Unfall; von Verbrennungen an Händen oder Oberschenkeln, dort, wo sich der getrocknete Phosphorklumpen in der Hosentasche selbst entzündet hatte. Aber das Thema wurde nicht an die große Glocke gehängt. Denn die Gefahr war nicht zu bannen. Weshalb die Politik sie ignorierte und die Tourismusbranche sie herunterspielte.
»Soweit ich weiß, wurde dem Weißen Phosphor in den Brandbomben damals noch Kautschuk beigemischt. Die klebrige Konsistenz verhindert, dass man das Zeug einfach so aus der Hosentasche ziehen und wegschleudern kann. Im Gegenteil, es klebt an den Fingern fest. Es klebt überall fest! An der Haut, an der Kleidung! An allem!« Dr. Kubiczek schüttelte den Kopf über so viel Grausamkeit und Vernichtungswillen.
»Hatten Sie in diesem Zusammenhang schon einmal einen Todesfall?«
Dr. Kubiczek schüttelte erneut den Kopf. »Da Phosphor beim Abbrennen schmilzt, kann er sich großflächig über weite Hautpartien verteilen, was natürlich lebensgefährliche Verbrennungen nach sich zieht. Aber dass tatsächlich schon einmal jemand zu Tode gekommen ist, wäre mir neu. Das hier ist wirklich ein schrecklicher Ausnahmefall.« Der Arzt nahm die Brille ab und knetete die Bügel zwischen seinen Fingern. »Wissen Sie, dass ein Mensch bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein verbrennt, das kommt seit den mittelalterlichen Hexenprozessen eigentlich nicht mehr vor. Wenn Menschen beispielsweise bei einem Wohnungsbrand umkommen, so sterben sie in der Regel an einer Rauchgasvergiftung. Sie sind also schon erstickt, bevor die Flammen sie erreichen. Das ist natürlich auch eine schreckliche Todesart.« Dr. Kubiczek setzte seine Brille wieder auf und schaute Nora ernst an. »Aber nicht ansatzweise so grausam wie lebendig zu verbrennen! Die Haut als größtes menschliches Sinnesorgan ist extrem schmerzempfindlich. Denken Sie nur einmal an ihren letzten Sonnenbrand zurück. Bei über tausend Grad Celsius in Flammen zu stehen, das sind wirklich unvorstellbare Qualen!«
Dr. Kubiczek stand auf. »Ich begleite Sie in den Keller. Sie wollen doch sicherlich den Leichnam sehen und die persönlichen Gegenstände an sich nehmen.«
Nora nickte und erhob sich ebenfalls.
»Aber nach so vielen Jahrzehnten im Wasser, müsste sich der Stoff da nicht abgeschwächt haben?«, fragte Nora, während sie den schnellen Schritten des Chefarztes über den Krankenhausflur folgte.
Ende der Leseprobe