Gegenlicht: Romi & Nova - Patrick Wunsch - E-Book

Gegenlicht: Romi & Nova E-Book

Patrick Wunsch

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Beschreibung

März. Zwei Mädchen, junge Frauen vielleicht - eine aus gutem Hause, doch mit zu großer Freiheitsliebe, die andere aus gewöhnlichen Verhältnissen, doch idealistisch - und ein Mann, der gern Künstler wäre, begeben sich auf eine sorgfältig geplante Reise. Zwischen Aufbruch und Rückkehr liegen persönliche Entwicklungen, die über Kreuz verlaufen. So viel sich einerseits den Idealen abgewinnen lässt, so viel richtet andererseits falscher Mut zur falschen Zeit an. Eine Geschichte, die zeigt, warum die essenziellen Lebenskonzepte keine Geschmackssache sind.

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März. Zwei Mädchen, junge Frauen vielleicht – eine aus gutem Hause, doch mit zu großer Freiheitsliebe, die andere aus gewöhnlichen Verhältnissen, doch idealistisch – und ein Mann, der gern Künstler wäre, begeben sich auf eine sorgfältig geplante Reise. Zwischen Aufbruch und Rückkehr liegen persönliche Entwicklungen, die über Kreuz verlaufen. So viel sich einerseits den Idealen abgewinnen lässt, so viel richtet andererseits falscher Mut zur falschen Zeit an. Eine Geschichte, die zeigt, warum die essenziellen Lebenskonzepte keine Geschmackssache sind.

© 2020 Patrick Wunsch

Illustration Umschlag: Isabel Zeuge (Drowned Orange)

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-03474-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-03475-4

ISBN E-Book: 978-3-347-03476-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Marja. 

1

Freiheit, sagte man, sei das Wichtigste. Eine Vorstellung machte man sich nicht: Alles konnte Freiheit, und Freiheit alles sein.

Freiheit aber war es nicht, die sie empfand, allein auf breiter Straße, keine Menschenseele vor sich. Und vor der Vergangenheit konnte man nicht fliehen, wohl aber vor einer Bedrohung in der Gegenwart – etwas zumindest, das sich wie eine solche anfühlte.

Das Zwielicht lag linker Hand bereits über der Stadt und ließ die Schatten, die von Dächern und Mauern hingen, auf die Straßen hinabfließen. Schwere Wolken bedeckten den Himmel zur Rechten, Ungetüme in Dunkelgrau, von Gold überzogen, durchsetzt von Glut.

Zwischen den Altstadtbauten, die Romi passierte, lagen Düsternis und Stille. Der Mantel flatterte vom Windhauch, der von einer Gasse in die gegenüberliegende zog.

Sie sah über die Schulter, so beiläufig, wie es gelingen mochte, darauf bedacht, keine Nervosität zu zeigen. Die Sonne blendete, dass kaum auszumachen war, wie nah der Verfolger, die Silhouette, der Schatten mit Konturen gleißenden Lichts gekommen war. Die Schritte, versetzt zu ihren eigenen, waren zielstrebig, steif. Schritte, die jemand mit blitzenden Augen und zusammengebissenen Zähnen machte oder jemand, dem, einem Raubtier gleich, die Beute im Blick, der Speichel aus dem Mund, der schäumende Geifer aus der scharfzahnigen Schnauze troff. Ein großer Mann war es, sah Romi nun, der sie, um Unauffälligkeit bemüht und darauf bedacht, der Umgebung regelmäßig einige Aufmerksamkeit zu widmen, bereits eine Weile gefolgt war. Ein Glatzkopf dunklen Teints, mit dichten Augenbrauen und Ziegenbart. Und harten Sohlen.

Es hatte zu schneien begonnen. Einzelne Flöckchen taumelten herab, wehten aufs Gesicht, während Romi die Schritte beschleunigte – und lediglich den Eindruck zu erwecken hoffte, anderengrunds in Eile zu sein. Das Schmelzwasser kühlte Stirn und Wangen, die sich erhitzt hatten, ließ das Haar in feuchten Strähnen über die Schläfen fließen. Eine rasche Handbewegung befreite die Sicht. Der Blick sprang umher: Verstecke für den Notfall, wo gab es sie? Wo schattige Nischen, Schlupfwinkel, beleuchtete Lokale mit Menschen darin? Jeder Atemzug, den sie immer schneller und tiefer nehmen musste, füllte mit eisig beißendem Schmerz die Lungen. Nach der nächsten Biegung rannte Romi los. Sie rannte und rannte, bis sie an die Tür der Kneipe kam, den Arm zur Klinke ausstreckte, beim Satz hinein gegen die Stufe stieß und ins Innere strauchelte. Schwindel überkam sie, sobald sie innehielt. Sie sah, jeweils mit der Hand dagegengestützt, durch das Milchglas, dann durch eines der Fenster und ein anderes: Der Mann, der sie verfolgt hatte, war nicht mehr zu sehen.

Durchatmen. Ein Schauer der Erleichterung; Gänsehaut.

»Alles in Ordnung?«

Romi wandte sich um. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich denke schon. Entschuldige, ich bin ein wenig durch den Wind.«

»Im wahrsten Sinne, möchte man sagen! Und früh auch, meine Güte! Ich dachte, du kommst mit den öffentlichen.«

Romi sah auf die Armbanduhr. »Wirklich, fünf Minuten früher! Ich bin gerannt«, sagte sie, rang sich einerseits ein Lächeln ab und andererseits nach Luft. »Ha! Wie lange mag das her sein?«

»Aber warum denn das, um Himmels willen?«

Romi seufzte. »Sagen wir: Ich habe mich vertan.«

Es brauchte eine Weile, bis sie einigermaßen zur Ruhe gekommen war. Dann legte sie den Mantel ab, unter dem sie bereits Arbeitskleidung trug, schleppte sich auf einen der Hocker an der Theke, streckte die Arme darüber aus und fragte mit gegen das Holz gedämpfter Stimme nach Wasser, das sie bekam und in einem hinunterstürzte. »Ah!«, machte sie. »Das tut gut!«

Dazu kein Kommentar. »Ein schönes Teil«, hieß es stattdessen.

»Der Mantel?« Romi lächelte. »Oh ja, das finde ich auch.«

»Perfekter Schnitt für deine Figur, wie angegossen. Und echtes Leder.«

»Natürlich.«

»Wusste gar nicht, dass ich dich so gut bezahle.«

Romi erwiderte das Grinsen, während sie sich einen neuen Zopf zu binden begann. »Wenn du mir verzeihen willst, bei der Wahrheit zu bleiben: Tust du auch nicht. Papa hat ihn mir geschenkt.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

»Immer noch der Alte, was?«

Wie jeden Donnerstag, half Romi in der Fakultät aus. Das gediegene, leicht angestaubte Etablissement befand sich im Besitz von Nike, einer Frau Mitte dreißig, mit der Romis Vater einige Zeit zusammengelebt hatte. Wie lange war es her, drei Jahre, vier? Gepasst hatten sie nie zueinander, nach der Trennung aber war – und Nike wurde nicht müde, die Unwahrscheinlichkeit dessen zu betonen – die gute Beziehung zwischen Tochter und Exfreundin bestehen geblieben.

Um kurz nach sechs war die Kneipe – eine Taverne, wie Romi sie nennen wollte, altmodisch und rustikal und auf bestimmte Weise stimmungsvoll – weiterhin ruhig. Man hörte das Knarzen der Dielen, wenn man von einem aufs andere Bein trat. Einige Stammgäste waren bereits da, die Redseligkeit mussten sie sich noch antrinken. Sie grübelten vor sich hin oder sahen danach aus, starrten in halb leere Bierkrüge.

»Klemmt wieder?«, fragte Nike und half Romi mit dem Zapfhahn. »Verdammtes Teil«, sagte sie unter Anstrengung. »Und schon wieder was zu reparieren.« Während das Bier endlich lief, warf sie einen Blick in den Raum. »Ist es wirklich okay, wenn ich dich allein lasse?« Sie zog die Stirn kraus.

Kaum zögerlich nickte Romi. »Ich komme zurecht.«

Nike, die Hand auf Romis Schulter gelegt, seufzte. »Danke, Schätzchen. Wenigstens auf dich kann ich mich verlassen.« Sie zog die Jacke an, nahm den Regenschirm. Dann erhob sie die Stimme in den Raum. »Dass mir keine Klagen kommen, Herrschaften!«

Man blickte auf.

»Lasst das Mädel ihre Arbeit machen, verstanden?« Sie wandte sich noch einmal zu Romi um, winkte und ging hinaus.

Ungewöhnlich spät trafen die ersten solcher Gäste ein, um die es sich zu kümmern galt. In kleinen Gruppen trudelten sie ein, sodass Romi die Zeit vergönnt war, in Ruhe Bestellungen aufzunehmen, Gläser und Flaschen zurechtzustellen, hier und da kurze Gespräche zu führen, übers Wetter etwa, denn draußen vor dem Fenster taumelte der Schnee nun in dicken Flocken herab.

Romi rühmte sich nicht selbst damit, hatte jedoch einige Male das Kompliment erhalten, keine schlechte Kellnerin zu sein. Und wirklich: Sie balancierte volle Tabletts, während sie sich zwischen Mobiliar und heftiger Gestikuliererei hindurchzwängte, wusste Getränke ohne Zögern zuzuordnen, räumte Tische en passant ab. Sie hatte ein natürliches Talent.

Neun war es, da hatte sich die Kneipe gefüllt, wenngleich das bei der Überschaubarkeit der Räumlichkeiten nicht viel hieß. Für einen Donnerstagabend allerdings war es ein überraschendes Getümmel. Zwei Veranstaltungen hatten in der Nähe stattgefunden: eine Messe zu aktuellen Anwendungsbeispielen künstlicher Intelligenz in Spieleentwicklung und Marketing sowie die Ausstellung irgendeines Malers und Fotografen von Nischenberühmtheit, von dem Romi nie gehört hatte.

Romi fand kaum Gelegenheit, den Stammgästen, nun redseliger, die gewohnte Aufmerksamkeit zu widmen. Wie hektisch das Fräulein sei, rief man ihr hinterher, ob sich denn nicht die Zeit für einen Schnaps finden ließe. Auch die unbekannten Gäste begannen, da ihnen die Atmosphäre der Kneipe familiär anmuten musste, Romi wie eine vertraute Person anzusprechen. Ein Mann, dem im ersten Moment eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Unternehmer, Elon Musk, nicht abzusprechen war, wies darauf hin, dass ein großer Bildschirm oder eine Leinwand, auf die man etwa die Übertragung von Sportveranstaltungen projizieren konnte, der Lokalität regelmäßig solche Besucherströme würde bescheren können – wenn auch, wie er einräumen musste, die Klientel, die man auf diese Weise ansprach, eine anstrengendere sein mochte. Ein anderer, dessen Züge ein wenig an den – ihr allerdings nur dem Aussehen nach bekannten – kanadischen Psychologieprofessor Jordan Peterson erinnern mochten, bemerkte, als Romi die Bestellung aufnahm, sinngemäß, dass die physische Attraktivität der Bedienung der Ästhetik der Einrichtung in nichts nachstand. Ein dritter Mann legte Romi die Hand auf den Unterarm, während sie mit Zapfen beschäftigt war. »Entschuldigen Sie bitte, haben Sie wohl eine Weinkarte?«, fragte er. Romi meinte, dass er einem Richard David Precht, der den Bart noch weiter hatte wachsen lassen, ähnlich sah, genauso schelmisch und, auf eine sympathische Weise, mit leichter Überheblichkeit lächelnd. »Falls nicht, nehme ich Ihre Empfehlung.«

»Meine Empfehlung, mein Herr? Trauen Sie denn einem Mädchen Weingeschmack zu?«

»Jawohl, Fräulein. Nur zu, überraschen Sie mich.«

Romi überraschte ihn.

Es war gegen halb elf, als es begann. Dass ein Glas zerbrach, nahm Romi, zu diesem Zeitpunkt mit einer großen Bestellung beschäftigt, nur am Rande wahr. Erst als ein zweites und ein drittes in kurzer Abfolge in der ungefähr gleichen Richtung zerschellten, blickte Romi auf. Die Irritation in ihrem Blick verleitete die Männer an der Bar, nachdem sie sich für einen Moment umgedreht hatten, zur überflüssigen Bemerkung, dass sich weiter hinten wohl etwas ereignet habe. Nein, es scheine noch im Gange zu sein. »Das sieht nicht gut aus für ihn.«

»Ach herrje«, murmelte Romi, die ahnte, welche Art von Ärger es geben mochte. Zögernden Schrittes kam sie hervor, versuchte zu erspähen, was sich hinterm Rang der Zuschauer abspielte. Doch nur hören konnte sie es. Sie vernahm, unter allgemeinem Gegröle, einen Aufschrei, einen dumpfen Aufprall und eine Erschütterung, von der die Tische wackelten und die Gläser darauf klirrten.

Romi stellte sich auf die Zehenspitzen; es genügte nicht, um über die Menge hinwegzusehen. Was war geschehen? Eine Frau mittleren Alters trat an Romi heran: Sie habe am Rande wahrgenommen, wie ein Mädchen belästigt wurde. »Aber nein, Fräulein«, sagte sie, »nicht auf diese Weise belästigt. Ein dunkelhäutiges Mädchen war es, belästigt von einem rassistischen Widerling. Dem da!«

Romi kannte den Mann. Er lag am Boden, überwältigt von einem großen, dunkelhäutigen Anderen, dem Bruder oder Freund des Mädchens vielleicht. Romi nahm den Mut zusammen, drängte sich durch die Umstehenden und kniete nieder, legte beschwichtigend die Hand auf die des schwarzen Hünen, der sich zögerlich erhob. Dem Niedergerungenen gab sie freundlich, aber bestimmt zu verstehen, dass er nicht länger willkommen sei. Wenn es auch ihre Pflicht, zumindest vernünftig gewesen wäre, sah sie davon ab, Polizeigewalt anzudrohen, und gebot dem Publikum Einhalt, das sich bereit zeigte zu mancher Art von Selbstjustiz.

Der Herangehensweise folgte die erhoffte Wirkung: Der Bezwungene stemmte sich am Mobiliar hoch, wankte einen Moment, torkelte dann voran Richtung Ausgang. Ob es Romis Aura war und die Abwirkung ihrer ruhigen Methode oder ob doch tieferes Verständnis für die Situation bestand, es herrschte Schweigen, bis der Mann aus der Tür war, verschwunden im Schneegestöber.

Romi atmete durch; durch die Menge ging ein Raunen. Man zollte Anerkennung, klopfte der mutigen Kellnerin auf die Schulter, hieß die Entscheidung für den friedlichen Weg schließlich doch gut und begab sich nach und nach wieder zu den Plätzen.

Den Opfern spendierte Romi Getränke, »auf den Schrecken«, wie sie sagte: Dem Hünen brachte sie ein neues Glas des Weins, an dem er Gefallen gefunden hatte, dem Mädchen eine Zitronenlimonade.

Mit einem Seufzer setzte sich Romi dazu. »Es tut mir sehr leid, was Ihnen widerfahren ist«, sagte sie.

Der Schnee bedeckte den unteren Teil der Fenster bereits einige Zentimeter hoch, und es fiel mehr.

»Jeder soll ja seine Meinung haben«, fand das dunkelhäutige Mädchen, »solange es eine Meinung bleibt.«

»Sie haben eine sehr liberale Einstellung.«

Dem widersprach das Mädchen nicht, doch sonst etwas zu sagen hatte sie ebenso wenig.

»So müsste es jeder halten, mit Politik und Moral«, sagte da der Hüne, dessen Stimme sanfter war, als man ihm zutraute. »Falls die Mehrheit die Meinung nicht teilt, wird man sehen, was man davon hat; in der Demokratie regeln sich die Dinge von selbst, ohne Verbote. In der Theorie jedenfalls.«

Romi lächelte milde. »In der Theorie«, stimmte sie zu.

Von da an verlief alles ruhig. In Respekt vor der – wie es in allgemeiner Ausgelassenheit hieß – »Heldin des Abends«, näherte man sich ihr beinahe demütig, um neue Getränke zu bestellen, bat vielmehr, als dass man es für selbstverständlich ansah, bedient zu werden. Das galt selbst für die Gäste, die einige Gläser geleert hatten, von denen Höflichkeit für gewöhnlich nicht mehr zu erwarten war.

Als es gegen ein Uhr dreißig ging und das Lokal sich zu leeren begann, klopfte Precht der Heldin auf die Schulter, brachte als einer der Letzten seine Bewunderung für die seines Erachtens vernünftige Abfertigung des Störenfriedes zum Ausdruck. Ohne zu hören, was Romi, in Verlegenheit gebracht, erwidern mochte, erkundigte er sich nach dem Angebot an Heißgetränken. »Einen Espresso würde ich nehmen«, sagte er. »Oder einen Milchkaffee.«

»Sehr wohl«, sagte sie. Einer Antwort aufs Lob enthielt sie sich.

Der Professor ließ sich vernehmen, um lautstark die Ideologie der radikalen Rechten zu verdammen. Als er aber dazu ansetzte, auf, wie er sagte, »nicht unähnliche Probleme« der Linken zu sprechen zu kommen, bat Romi ihn, die Sache ruhen zu lassen. Der Professor verstummte, spülte den Groll mit einem Schluck Weizenbier hinunter.

Musk hielt sich von zurück, was einen Kommentar zu den Geschehnissen betraf. Er leerte sein Getränk in kleinen, regelmäßigen Zügen, legte den Bierdeckel, die verzeichneten Kosten sowie ein achtbares Trinkgeld auf den Tresen und verschwand.

Der hartnäckige Rest der Gastschaft löste sich auf, bis noch ein einzelner Mann verblieb. Als er auf Nachfrage nichts bestellte, schlug Romi ihm in aller Freundlichkeit vor, den Heimweg anzutreten, damit beide einige Stunden Schlaf bekämen. Der Herr war einverstanden; nur ein wenig weiblichen Charme brauchte es, um die angenehme Sorte Betrunkener von einer Idee zu überzeugen.

Es ging gegen drei, als Romi abschloss. Angenehme Stille kehrte ein, als Romi über die Theke gebeugt saß, im schwachen Schein des Barkühlschranks, ein Glas Leitungswasser vor sich. Ein Abend wie jeder zweite für mich, dachte sie, ein Abend wie kaum ein anderer für die meisten Gäste. Was man alles erlebte! Und doch, für die Ewigkeit war das nichts. Vergegenwärtigte man sich, dass manche Menschen keine Wahl hatten und mit der Tätigkeit des Kellnerns ihr Leben lang auskommen mussten, bekam man da nicht Mitleid? Tag für Tag Bestellungen aufnehmen, Tabletts tragen, abräumen, ohne Aussicht auf Veränderung?

Dann aber hob Romi den Kopf, und sie blickte hinaus in die Nacht, die gewiss für manch anderen noch längst kein Ende genommen hatte. Keine Veränderung, dachte sie, ist das denn wirklich so schlimm? Ein geordnetes Leben? Zu wissen, woran man war, eine klare Erwartung zu haben an die kommenden Jahre: War es nicht möglich, dass darin das Privileg einfacher Leute bestand?

2

In der Leidenschaft des ersten Kusses hatte sie die Tür auf- und den Bärtigen brüsk hineingestoßen. Der Raum, der sich als Abstellkammer herausstellte, verwandelte sich, sobald die Tür geschlossen war, in einen Mikrokosmos von Düsternis, Atem und Ungeduld; hastig öffnete sie den Gürtel, den Hosenknopf, den Reißverschluss, ging auf die Knie. Nachdem sie den halben Abend dem Versuch gewidmet hatte, ihn von seiner Freundin zu isolieren, verlief nun alles schnell und viel zu schnell. Auf ihre Kosten kam Nova nicht, weshalb sie nicht nur erstaunt, sondern mehr noch erfreut war, dass die Freundin sich hinterher keineswegs als die Megäre zeigte, für die man sie zunächst hatte halten müssen. Im Gegenteil.

Nun, am nächsten Morgen, lag Nova zwischen ihnen unter den Decken – zu zwei Dritteln unter seiner, zu einem Drittel unter ihrer –, während vom Fenster her kalte Luft über Stirn und Wangen zog, ihr bald das Näschen einzufrieren drohte. Sie wandte sich rechtsherum, legte die Wange an den muskulösen Rücken vor sich. Es roch nach Alkohol und Schweiß. Durch kaputte Jalousien drang das Dämmerlicht ins Zimmer, auf den Fuß des Bärtigen, schief und knorrig, dunkel behaart noch auf den Zehen, die Nägel schlecht geschnitten, scharfkantig, brüchig. Nova drehte sich auf die andere Seite. Die Freundin schnarchte, die spröden Lippen halb geöffnet. Eine fettige Strähne hing wie ein toter Wurm übers rotgesprenkelte Gesicht.

So leise sie konnte, schlüpfte Nova unter der Decke hervor, recht umständlich vielleicht, und kletterte aus dem Bett. Erst als sie stand, spürte sie die Kopfschmerzen. Ihr fielen die süßen Cocktails ein, die sie getrunken hatte: Einen Sweet Baya zuerst, dann einen Liberté, und dann? Tequila Sunrise? Ein starker Kater war es nicht; sie durfte einen einzigen Drink zu viel gehabt haben.

Nova zitterte; nur für Shorts war die Wohnung über Nacht zu kalt geworden. Sie warf sich ihren Mantel über, den sie auf der Lehne des Sofas fand, trat, wohl im Anflug von Übermut, auf den Balkon. Es war ein schönes Bild, die weißen Dächer der Stadt, die unterhalb des Hügels lagen, dahinter Violett und Feuerfarben. Ein Anblick, den man lange hätte genießen können, wäre nicht die Eiseskälte gewesen, die durchs Haar fegte, unter den Stoff drang, Nova abermals und heftiger zum Zittern brachte. Zog sie den Mantel auch enger, war ihr bald, als überzöge sich ihr Körper mit Raureif, und schon war sie sprungs zurück in der Wohnung.

Zeit, zu gehen! Sogleich legte sie die silbernen Ohrringe an, drei an der Zahl, und den silbernen Armreif, mit einer Reihe kleiner Saphire besetzt. Die Sequenzen des Abends tauchten auf, außer Ordnung, verschwommen; ans Ablegen des Schmucks erinnerte sie sich nicht. Und danach? Reue jedenfalls war da nicht. Was als gelegentliches Abenteuer begonnen hatte, war zur Gewohnheit geworden. Taten, die sich nicht mehr an einem Ideal bemaßen, sich nicht mehr bewerten ließen. Weil die Orientierung fehlte. Der Kompass verlorengegangen war. Keineswegs mit Missmut also stellte Nova fest, dass ein betrunkener Dreier und, nun, etwa ein Besuch im Theater mit der Familie ihr so gut wie einerlei waren im Hinblick auf die emotionalen Auswirkungen. (Hätte man sie allerdings gefragt, warum sie dann das eine tat und nicht das andere, wäre sie um eine Antwort in Verlegenheit geraten.)

Sechs Kontaktversuche hatte es gegeben. Sechsmal der gleiche Anrufer: »Vater« stand da. Nova aber wusste, dass, riefe sie zurück, eine wenig liebevolle Stimme sie nicht einmal begrüßen, sondern umschweifslos beginnen würde, nach Aufenthaltsort, Gründen der Flucht sowie, in den üblichen Floskeln, Konsum und Aktivitäten der letzten Nacht zu fragen.

Sie ignorierte den Vater also, widmete sich Anregenderem: Für den kurzen Flirt zwischendurch hatte Nova eine App. Eine Anzahl knapper Nachrichten erwarteten sie, Begrüßungen, Fragen nach dem Befinden, wonach sie suche. Sie ärgerte sich über den Mangel an Kreativität; andererseits: Was sollte man sich bemühen, wenn es hunderte andere gab, die sich mit dem Minimum an Höflichkeit und am Ausdruck von Intelligenz und Intellekt zufriedengaben? Interessante Nachrichten hatte sie nur eine. Sie las:

Wir lernen uns auf der Geburtstagsfeier deiner Klassenkameradin kennen. Als du erfährst, dass ich in der Nähe wohne, nimmst du mich beiseite: Du brauchst eine Schlafgelegenheit, weil du nicht heim willst, und quartierst dich bei mir ein. Wir machen uns nicht viel später auf den Weg. Hier angekommen, trinke ich Wasser gegen den Kater, als du anfängst, dich vor meinen Augen bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Du fragst, ob du unter die Dusche springen darfst. Ich antworte halb im Scherz, dass ich dann aber mitkomme. Überraschend willigst du ein. Solange ich dich nicht berühre. Natürlich kann ich, sobald die Tür zum Bad geschlossen ist, nicht mehr an mich halten …

So las es sich sinngemäß; tatsächlich hatte er kaum ein Wort korrekt einzutippen vermocht. Da schüttelte Nova den Kopf: Nie könnte sie mit ihm korrespondieren, wie es in Absicht stand, zu groß der Stolz hinsichtlich ihrer Bildung, die Wertschätzung von Sprache, als dass ein solches Desaster von Text etwas anderes hätte erregen können als Zorn und Verachtung. Und dennoch, die Idee war nicht schlecht! Vielversprechend! Also antwortete Nova:

Tja, Fantasie hast du! Schick mir noch eine andere Idee.

Weitere Nachrichten hatte sie empfangen, die an die echte Novalie von Hardenberg gerichtet waren, nicht an juliette_contrejour. Einundzwanzig Stück waren es von dreizehn Kontakten – kein ungewöhnliches Aufkommen für eine Nacht. Nova nahm es zur Kenntnis, antwortete niemandem.

Sie stellte fest, dass es gegen sieben ging: höchste Zeit, sich fortzustehlen. Eigentlich hätte Nova auf die Toilette gewollt, sich den Scheitel nicht nur einigermaßen mit den Fingerspitzen nachgezogen, doch die Gefahr, die Schlafenden zu wecken, war groß. Man wusste nie, zu welchen Komplikationen es am nächsten Morgen kommen mochte, wenn alles nüchtern in Betracht gezogen wurde. Also kleidete sich Nova an – Büstenhalter, Oberteil, Kaschmirpullover, Jeans, Fellstiefel –, legte den Mantel wieder um, vergewisserte sich mit einem Griff in die Innentasche, dass das Portemonnaie noch da war, und schlich hinaus.

Klirrende Kälte. Stille. Das Morgengrau durchdrungen von ersten Sonnenstrahlen. Vornübergebeugt saß Nova auf einer Holzbank, den See, der ein Weiher sein mochte, als ovale Weißfläche vor sich. Den Abzweigungen war sie gefolgt, wie die Verheißung von Natur und Einsamkeit am größten war, und hier angekommen. Nun spie sie Wölkchen vor sich hin, die fort- und emporwogten, sich in der Luft auflösten.

Im Allgemeinen war Nova geneigt, den Signalen des Körpers zu vertrauen, und als ihr der Magen knurrte, begab sie sich ohne Umwege zum nächsten Bäcker, der ihr bekannt war. Durchschnittlich groß und von schlanker Statur – man mochte behaupten, sie wäre von filigraner Gestalt –, konnte sie erstaunliche Mengen vertilgen. Sie entschied sich für drei Gänge, bestehend aus einem Croissant, einem Brötchen mit Hähnchenbrust und Quarkbällchen. Dazu ließ sie sich einen Milchkaffee zum Mitnehmen zubereiten, den sie nicht zu sparsam süßte.

Tüte und Becher in den Händen, beeilte sie sich, eine Sitzgelegenheit zu finden, um Gebäck und Getränk zu verzehren. Sie fand einen Spielplatz, stellte den Becher auf die eine und setzte sich auf die andere Schaukel. Sie schlang das Croissant und ein Quarkbällchen hinunter, trank den Kaffee und fühlte sich deutlich besser – und bereits satt. Sie ging weiter, entschlossen, den Rest des Gebäcks dem erstbesten Menschen zu schenken, der ihr über den Weg laufen würde. Ein Junge mit bunt gemustertem Tornister, der zunächst höflich ablehnte, nahm Brötchen und Quarkbällchen schließlich entgegen.

Später begab sich Nova, ohne bestimmtes Ziel, Richtung Stadt. In aller Ruhe schlenderte sie durch die Straßen. Betrachtete Schaufenster und sich selbst in den Scheiben. Ging durch einen Supermarkt, ohne etwas zu kaufen. Ließ sich beim Friseur die Spitzen schneiden, wobei ihr auffiel, dass die alten Damen, die im Wartebereich durch die Magazine blätterten, weit bessere Laune an den Tag legten als die jungen. Als Nova fertig war, probierte sie beim benachbarten Optiker Brillen an, unter ästhetischem Aspekt. Es arbeiteten, wie sie feststellte, nur Beraterinnen, die allesamt von solcher Attraktivität waren, dass es sich kaum um Zufall handeln konnte. Als ihr die Lust vergangen war, nahm Nova auf der Treppe vor der Kirche Platz, beobachtete Passanten. Der Anteil von Rentnern war gering, der Anteil von Mittel- und Oberstufenschülern, die vermutlich den Unterricht schwänzten und Energydrinks oder Mischbier tranken, erstaunlich hoch. Nova flanierte über Schnee, der unter den Sohlen nachgab, besah Geschäft um Geschäft, ruhte auf Bänken und Mauern aus und genoss die wärmende Sonne, die sich mit eisigem Wind abwechselte. Gegen Mittag geriet sie in eine Schneeballschlacht – und gewann.

So verflog die Zeit. Am Ende blieb wenig davon – nur kleine Auffälligkeiten, doch die Stunden dazwischen: für immer fort! Ein betrüblicher Gedanke eigentlich, wie viel Zeit im Leben nur Füllmaterial war.

Am frühen Nachmittag knurrte erneut der Magen, und so betrat Nova die nächstbeste Passage, fand einen Vegetarier. Was soll's!, dachte sie. Die Salatbox in den Händen, schritt sie an den Schaufenstern entlang zum Ausgang. »Bon appétit, der Herr!«, rief sie einem ebensolchen hinterher, der mit einer Tüte von der Imbissbude vorüberging. Sie lächelte, während er einen irritierten Blick über die Schulter warf. Sie stellte die Pappe auf einen überfüllten Müllbehälter. Ein guter Salat war es nicht gewesen – kein Fleisch, nicht einmal Tunfisch, keine Pinienkerne, das fade Dressing –, doch zumindest war sie einigermaßen satt geworden.

Nova nahm die U-Bahn in die Altstadt. Es war nicht die Zeitersparnis, die sie verleitet hatte, sondern Neugier. In der U-Bahn ließ sich manches erleben, wenn man Glück hatte. An diesem Tag hatte sie keins. Anstelle interessanter Szenen zwischen einfachen Menschen erlebte sie die Einfachheit der Menschen selbst. Im Gedränge offenbarte sich die Trägheit der Masse in Form der Unmöglichkeit, sich aus dem Türbereich zu entfernen. Es erwies sich ohne erkennbaren Grund als undurchführbar, den Aufforderungen des Bahnfahrers Folge zu leisten, der wiederum sich der Geduld, die den sitzenden Fahrgästen bald fehlte, doppelt und dreifach hätte rühmen dürfen. Möglicherweise war es vielmehr Gleichgültigkeit. Dass sich die Weiterfahrt verzögerte, störte Nova nicht. Sie saß einem angenehm verträumten, also unaufdringlichen jungen Mann gegenüber, war nicht in Eile, genoss den Ausblick auf die Parkanlagen, der nicht an Faszination verlor.

Plötzlich legte sich eine Hand, knochig und zitternd, auf Novas Schulter. »Oh, ich bitte um Verzeihung«, sagte die Stimme, hoch, doch krächzend, schwach vom Alter. »Die Augen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Nova stand auf, der Dame den Platz anbietend. Sie bestand darauf. »Bitte sehr«, sagte sie, eine Vorbeugung andeutend.

»Danke«, sagte die Dame schließlich und setzte sich.

An der nächsten Haltestelle drängte sich Nova in die Menge, kämpfte sich hindurch, entschuldigte sich bei manchen, schob andere zur Seite und trat schließlich auf den Bahnsteig. Sie blieb stehen, wo sie sich nicht im Weg wähnte, hob den Blick: Nichts als dunkle Wolken! Gutes verhieß das nicht. Vielleicht war es Zeit für die Rückkehr. Als sie die ersten Schritte tat, tänzelte eine einzelne Schneeflocke vorüber, dann weitere. Ehe sie sich's versah, herrschte ein ordentliches Schneetreiben, das einzig von visueller Schönheit war, sobald der Wind anhob und Nova die Kälte und Feuchtigkeit ins Gesicht und in die Haare blies.

Gottverdammt, ja, man musste es zugeben: Die Freiheit konnte sich von einer weniger angenehmen Seite zeigen.

3

Kühle Luft wehte vom gekippten Fenster heran. Im Räkeln glitten die Zehen über das gewärmte, weiche Frottélaken. Sie genoss die Wärme und Gemütlichkeit des abgedunkelten Zimmers, auf angenehme Weise schlaftrunken, in der Fantasie mal hier, mal dort, nirgendwo lange genug, um klare Gedanken zu fassen.

Zeit schien unwichtig. Sie hatte ausreichend davon, genug jedenfalls, dass sie sich für eine Weile dem Eindruck hingeben konnte, die Ewigkeit stünde ihr zur freien Verfügung. Es war aus eigenem Antrieb, dass Romi, sich streckend, die Decke beiseiteschob und sich an den Rand der Matratze setzte. Sie verharrte eine Weile vornübergebeugt, die Arme auf den Oberschenkeln und die Hände gefaltet. Atmete durch.

Als die letzte Müdigkeit verschwunden war, erhob sich Romi und schaltete die Musikanlage ein; die Uhr zeigte bereits drei. Auf dem Holzstuhl lag ordentlich die Arbeitskleidung des Vorabends: die weiße Bluse, die schwarzen Hotpants, an den Beinen ausgefranst, die dünne schwarze Strumpfhose. Romi durchschritt barfuß das Zimmer und trat ans Fenster. Zur Musik von Melted her Maiden's Heart – ruhigen Klavier- und Gitarrenklängen, begleitet vom warmen Surren eines Cellos und zurückhaltendem, regelmäßigem Schlagzeug – starrte sie ins Schneegestöber. Der Bariton setzte ein, dem, so durchdringend er sein mochte, angenehm zuzuhören war. Romi träumte vor sich hin, bis das Stück nach einer Viertelstunde mit langem Ausklang zu Ende ging. Sie seufzte, als fielen ihr die Noten, die sie vernommen und die sich als Elementarteilchen zur vagen, doch durchdringenden Empfindung zusammengefügt hatten, in bleierner Schwere vom Herzen.

Dann wandte sie sich um, nahm, was sie anzuziehen gedachte, aus dem Schrank und begab sich ins Badezimmer. Gedämpft nur drangen die Oboen des Interludiums durch den Türspalt, als Romi die Pyjamahose samt Höschen hinunterstreifte und sich setzte. Nach und nach fiel ihr ein, was sie vor dem Erwachen geträumt hatte. Ja, ein bizarres Schauspiel war es gewesen, an das sie sich mit Verwunderung erinnerte:

An der Bushaltestelle wartend, ließ sie den Blick über Felder und Wälder schweifen, als sie plötzlich einer Schildkröte von der Größe eines Pottwals gewahrte, die in trägen, schlängelnden Bewegungen gen Himmel emporstieg. Die Masse des Tieres konnte unmöglich durch die behäbigen Bewegungen kompensiert werden, und doch erreichte das Tier immer größere Höhen. Dann aber wurde der Aufstieg langsamer, die Schildkröte sank rückwärts. Es war abzusehen, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Und tatsächlich verließ den Koloss die letzte Kraft. Es waren, so schätzte Romi, an die hundert Meter, die das Reptil, selbst ohne jede Regung, in die Tiefe stürzte. Der Aufprall erschütterte die Erde, dass Romi es noch aus der Ferne spürte. Sie zögerte einen Moment, ehe sie loseilte. Es bestand keinerlei Hoffnung, dass dieses seltsame Tier zu retten war, vielleicht aber würde es sich als notwendig herausstellen, ihm das Sterben zu verkürzen – nicht dass Romi dazu bereit gewesen wäre, doch etwas tun musste man ja! Sie stolperte durchs Unterholz in den Wald hinein, suchte eine Weile. In einem Krater fand sie den massiven Panzer, aus dem heraus, grotesk verdreht, die schuppigen Extremitäten der Schildkröte hingen. Als sie näherkam, erkannte sie, dass der Panzer nicht gänzlich der einer Schildkröte war: Die vordere Hälfte ging über in die goldfarbene Karosserie einer Dampflokomotive; der Kopf war hinter dem metallenen Fächer des Kuhfängers verborgen, dass es an einen überdimensionalen Maulkorb denken ließ. Die Verschmelzung aus alter Maschine und Reptil rührte sich zunächst keinen Zentimeter, dann aber begannen Klauen und Schwanz in langsam fließender Bewegung, die gewohnte Position wiedereinzunehmen. Ehe sich zeigen konnte, ob und welche Verletzungen vorlagen, war Romi erwacht.

Nun saß sie da, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, und fragte sich, wie das alles zu interpretieren war. Im Traum zeigten sich, so sagte man, Elemente des Vortages, deren Bedeutungen in der Nacht ergründet und verarbeitet wurden, doch was hatte es auf sich mit dem Warten an der Bushaltestelle, mit dem Aufstieg der Schildkröte, dem Absturz, der Verschmelzung von Metall und Organismus?

Romi stand auf, spülte, knöpfte das Oberteil auf, warf Pyjama und Höschen in den Wäschekorb. Dann begab sie sich unter die Dusche, putzte die Zähne, zog ein kurzes schwarzes Trägerkleid mit Spitzensaum an – sie hatte nicht vor, das Gebäude zu verlassen –, flocht und band sich vor dem Spiegel einen Zopf, schminkte sich, legte die Armbanduhr an. Und los, dachte sie. Motivation hin oder her: Was getan werden musste, musste getan werden, und was nur getan werden sollte – ebenfalls.

Sie schulterte ihren Rucksack, ein Exemplar mit deutlichen Gebrauchsspuren. Ehe sie hinaustrat, riss sie das Kalenderblatt von gestern ab. Der zweite März konnte nicht mit großer Weisheit aufwarten: Wer über jeden Schritt lange nachdenkt, der steht sein Leben lang auf einem Bein. – Buddha. Romi schnaubte. Doch stolpern wird man auch nicht, sagte sie sich. War das nichts wert?

Halb fünf. Die ersten Gäste traten ein, doch das musste Romi wenig kümmern. Stammgäste waren es nur, die sich mit einem Bier ruhigstellen ließen, stumm dasaßen, an den Gläsern nippten, vor sich hin starrten. Romi saß an der Theke, über Unterrichtsnotizen gebeugt, blätterte, die Lesebrille auf der Nase und den Füller zwischen den Fingern, durch den Ordner, der zu einigem Gewicht gelangt war. Sie genoss es, die Streberin darzustellen, angestarrt zu werden wie die Irrsinnige, die sie möglicherweise war, an einer Kneipentheke fürs Abitur lernend. (Dass sie aus anderen Gründen angestarrt werden mochte, kam ihr nicht in den Sinn.)

Hätte sie in der Schule sein müssen? Natürlich. Hätte sie dort, dem Lehrplan unterworfen und inmitten ihrer wenig geschätzten Mitschüler, effektiver gelernt? Mitnichten. Sie hatte sich diesen Tag freigenommen, wenn man so wollte – so fühlte es sich an –, genoss es, selbst zu entscheiden, mit welchen Themen sie sich in welcher Intensität beschäftigte. Und die Ruhe, die genoss sie vor allem.

Sie trank aus, goss sich ein weiteres Glas stillen Wassers ein. Der Stoff, den es zu lernen galt, war nicht schwierig, nichts davon; Romi war bewusst, dass sie das meiste längst beherrschte, dass sie sich lediglich abmühte, damit aus vierzehn Punkten fünfzehn wurden, doch so musste es sein: Zu lernen erfüllte sie mit dem – subjektiven – Gefühl, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen und mit der – objektiven – Gewissheit, zu mehr Disziplin fähig zu sein als die anderen.

Aus dem Weißschleier, der schön anzusehen war, hatte sich zum späten Nachmittag ein ordentliches Schneechaos entwickelt. Der Sturm heulte auf, wieder und wieder; zuweilen trug man sich mit Bedenken, ob die alte Konstruktion den Wettergewalten standhalten würde. Es war ein Knarren und Knarzen, das durch die Wände ging, durch Tür- und Fensterrahmen. Das Gebäude ächzte.

Von einem kräftigen Windstoß begleitet, schwang die Tür auf, und ein Mädchen kam herein, das silberblonde Haar feucht gesträhnt, halb zerzaust. Der Mantel – ein eleganter Kurzmantel in Beige, wie Töchter reicher Eltern ihn tragen und solche, die so auszusehen versuchten – war dunkel gesprenkelt, wo Schnee geschmolzen war. Es gab noch einen freien Platz an der Theke, den sie einnahm. »So voll hier?«, fragte sie. »Bei dem Wetter?« Das flüchtige Lächeln, das sie in die Runde warf, verweilte bei Romi, galt vor allem ihr. »Muss sich ja um eine gute Schänke handeln, wenn die Leute bei dem Wetter den Weg auf sich nehmen. Sieht gar nicht danach aus, eher wie eine schäbige Spelunke. Was meines Erachtens«, setzte sie rasch hinzu, »keine negative Bewertung ist.«

Die Form der Wangen, die seidenglatte Haut, die großen graublauen Augen und der aufgeweckte, neugierige Ausdruck darin, die kleine Nase, die zwar anmutigen, zuweilen jedoch auffällig unbeschwerten, beschwingten Bewegungen: Das Mädchen wirkte jung; gut möglich, dass sie nicht einmal alt genug war, ein Bier zu bestellen. Die Aufmachung war es, die zweifeln ließ, ob ihr Alter dem Eindruck entsprach. Egal, wie jung du sonst aussiehst, dachte Romi, mit einem edlen Mantel bist du eine Frau.

Als dieser ab- und über den Schoß gelegt war, musterte Romi den Körper des Mädchens, soweit er sich unterm – wenn auch eng anliegenden – Kaschmirpullover abzeichnete. (Der übrigens vom schönsten, blickfängerischsten Petrol war, das Romi sich vorstellen konnte.) Die bescheidene Oberweite und die schmale Taille ließen für sich ebenfalls keinen eindeutigen Rückschluss aufs Alter zu; im Gesamten jedoch – und hier trugen die in bestimmten Momenten beherrschte Mimik und Bewegung entscheidend zu diesem Eindruck bei – mochte die Erscheinung, wenn man Romi fragte, letztendlich gut und gerne die einer mindestens Sechzehnjährigen sein.

Romi musterte und schätzte noch einen Moment, als sich das Mädchen auf die Theke lehnte; es lag ihr fern, sich nach dem Alter zu erkundigen. Sie tat sich schwer damit, und schließlich ging es sie nichts an, solange das Mädchen nicht um ein alkoholisches Getränk bat.

Etwas Vampirisches hatte sie im Übrigen an sich, dessen man beim näheren Hinsehen gewahr wurde: Eine vornehme Blässe und aristokratischen Stolz, einen luchshaften Blick, der an die Reißzähne denken ließ, einen Durst darin, als sie die Karte studierte. Man mochte sich in der Präsenz eines Wesens glauben, das gefährlicher war, als es den Anschein machte.

Nichtsdestotrotz empfand Romi sogleich eine Sympathie, wie man sie manchen Fremden gegenüber in unerklärlicher Intensität verspüren mochte. Und vielleicht empfand sie – im Ansatz – sogar das Bedürfnis, sich mit der Unbekannten anzufreunden.

Als ob dieses Bedürfnis auf Gegenseitigkeit beruhte, wurde Romi, als die Vampirin wieder aufblickte, ein bezauberndes Lächeln zuteil – dem die dreiste Frage nach einer exklusiven Toilette folgte. »Nur wenn's keine Umstände macht«, sagte das Mädchen, ohne aber die gebührende Bescheidenheit mitklingen zu lassen.

»Nun, ähm«, begann Romi verdutzt. »Wir verfügen selbstverständlich über eine Personaltoilette. Einfach dort entlang. Letzte Tür links.« Ohne zu wissen, wie sie dazu kam, fügte sie hinzu: »Oder nimm meine. Warum nicht.« Das sagte sie, und doch war es ihr plötzlich peinlich, und sie spürte heiße Röte auf den Wangen. »Ich wohne nämlich dort oben«, sagte sie rasch und deutete hinauf.

»Ach, wirklich?«, fragte das Mädchen. »Du wohnst direkt hierüber?«

»Nun, so halb.« Romi lächelte verlegen. »Ich kenne die Besitzerin dieses Gebäudes gut«, versuchte sie eine Erklärung, »und offenbar hat sie mich gern um sich. Deshalb habe ich auch hier ein kleines Zimmer. Mit Bad, wie gesagt.«

»Na, das nenne ich einen schönen Zufall, dass du hier wohnst! Wenn das so ist, wähle ich natürlich die private Variante – sofern dein Bad, nun ja, einigermaßen in Schuss ist? Man will ja niemanden in Verlegenheit bringen.«

»Selbstverständlich ist es in Schuss«, sagte Romi und lachte leise. »Vollkommen! Wenn ich mich um eine einzige Angelegenheit nur kümmern könnte, müsste es mein Bad sein.«

»Das klingt nach einer Toilette, wie ich sie suche.«

»Dann komm«, sagte Romi und ging voran.

Sie sah sich, eine Stiefelette bereits auf der Treppe, über die Schulter hinweg im Lokal um. Sie befand die Gäste für harmlos; es bestand gewiss kein Risiko in einer kurzen Abwesenheit.

Das Mädchen lächelte wie zuvor. »Ich weiß das zu schätzen, meine Liebe«, sagte sie. »Wer macht schon so ein Angebot?«

»Es ist eine Ausnahme«, entgegnete Romi. »Und ehrlich gesagt, ich wundere mich selbst.«

Allem Anschein nach unternahm das Mädchen einen Versuch, mit Romi zu schäkern. »Dann liegt's an mir, ja?«, fragte sie.

»Gewiss«, antwortete Romi frei heraus.

Sie stiegen hinauf, durchschritten den Flur.

»Da sind wir«, sagte Romi.

Das Mädchen ging hinein. Grinste durch den Türspalt. »Wehe, du lauschst.«

4

»Eine Diskothek, oh, bloß nicht!« Das schöne Mädchen schüttelte den Kopf. »Das war nie meine Welt!« Ihre blauen, im rechten Licht saphirfarbenen Augen waren von leichter Mandelform, wenn sich auch kaum einschätzen ließ, wie viel dem Eyeliner – einem asiatischen Anstrich im wörtlichen Sinne – zuzurechnen war. Wenn er auch nicht gleich als kummervoll zu bezeichnen war, lag in dem Blick etwas, das einen Hang zur Melancholie nahelegte.

Nach ihrer Rückkehr hatte Nova wieder an der Theke Platz genommen und Romi angesichts der Milderung des Wetters den Vorschlag unterbreitet, der ihr auf der Toilette gekommen war. Nach Abenteuer war ihr – und nach Begleitung auf demselben. Die Diskothek, die ihr zu besuchen vorschwebte, hatte lange nicht mehr auf dem Plan gestanden; es wurde Zeit, sich dort blicken zu lassen. Es war eine exklusive Lokalität, und vor einer neuen Bekannten ließ sich damit, allein indem man eingelassen wurde, nicht schlecht angeben. Kaum jemandem ohne gewisse Beziehungen gelang das; andernfalls musste man von äußerster Attraktivität oder unverschämt reich sein, um von sich zu überzeugen. Nova erfüllte alle diese Kriterien.

Das Mädchen, das ihr gegenüber so freundlich gewesen war, verdiente eine Gegenleistung, und so hatte sich Novalie etwas einfallen lassen. In der Stille des kleinen, altmodischen Badezimmers hatte sie sich ausgemalt, mit der attraktiven Begleitung im Echtsilber aufzukreuzen, wo sie gemeinsam – eine charismatische junge Lady und eine mysteriöse Schönheit in Schwarz – alle Blicke auf sich ziehen würden.

Zu Novalies Verwunderung aber zierte sich das Mädchen. »Die Geschichten der Klassenkameraden, die ich mitanhören durfte«, erklärte sie sich, »waren mir immer unangenehm genug gewesen. Wie froh ich immer war, nicht Teil der Eskapaden gewesen zu sein!« Ein schwacher Duft nach Vanille war zu vernehmen, als sie sich abwandte, dem skeptischen Blick auswich, den Nova hinüberwarf. »Ich schätzte mich glücklich«, fuhr sie fort, »Freundinnen zu finden, die ebenso wenig erpicht darauf waren, sich bei Flimmerlicht und Bassdröhnen von betrunkenen Südländern begaffen und belästigen zu lassen.« Sie schien darüber zu erschrecken, wie abschätzig die Stimme ihr geraten war. »Nun, wie dem auch sei: Ich fühle mich wohl geehrt ob der Einladung, muss jedoch ablehnen.«

»Wie du dich ausdrückst!«, lachte Nova. Sie stupste ihr Gegenüber sanft an den Arm. »Komm«, sagte sie beschwörend, »mit mir wird’s anders. Auch wegen der Location – du wirst Augen machen! Und wenn's dir trotzdem nicht zusagt, gehen wir wieder, schnurstracks, versprochen.«

»Ich werde früh müde sein.« Die Lippen des Mädels fielen auf; besonders volle waren es nicht, auch keine besonders roten, doch hatten sie einen hübschen Schwung, der jedem schüchternen Lächeln, jedem Ausdruck von Missmut oder Skepsis eine ganz ungewollte Intensität verleihen mochte. »Ich werde immer früh müde, wenn ich ausgehe.«

Nova zuckte mit den Augenbrauen. »Das wird sich zeigen.«

Das schöne Mädchen lächelte verlegen. Atemberaubend war sie aus diesem Winkel! Das Halbprofil schien im zerstäubten Licht ohne Makel; nicht vollkommener hätte man die Konturen eines Mädchengesichts zeichnen können. Selbst die Schatten folgten den richtigen Linien. Viel zu schön war das Mädchen, sich in einer schäbigen Spelunke verborgen zu halten, statt sich die Welt teilhaben und sich ein wenig bewundern zu lassen! Das dunkelbraune Haar – schwarz gefärbt, hatte es auszubleichen begonnen – war an den Seiten geflochten und hinten gebunden, aufwändig, wie Nova es mangels Geduld nie tat, ordentlich genug und unordentlich genug, die Schultern, das Schlüsselbein, das Dekolleté von vornehmer Blässe, weiß beinahe, wohlgeformt wie von Göttinnenhand. Wie reglos aber saß das himmlische Geschöpf da, einer Alabasterstatue gleich. Einer Statue, die nach einer Weile schließlich sprach: »Was meinen Sie denn dazu, mein Herr?« Die Frage richtete sich an den Mann, der neben Nova an der Theke saß und dem Aussehen nach ein Professor sein mochte.

Es war erstaunlich, wie viel Eleganz sich allein in der geringfügigen Drehung des Oberkörpers mit dem gleichzeitigen leichten Hinneigen des Kopfes entfaltete. Mit wie viel – was war es nur? – Anmut, Grazie das Mädchen die Hand in den Schoß legte, wo die Finger ohne Notwendigkeit zur Korrektur auf dem Oberschenkel zur Ruhe kamen. So nah an mechanischer Perfektion war die Bewegung, wie es ein Mensch, der in jeder – wenn auch seltenen, scheinbar nie überflüssigen – Regung solche Lebendigkeit auszustrahlen vermochte, nur erreichen konnte. (Natürlich dachte Novalie nicht in solchen Begrifflichkeiten. In ihrer literarischen Kultiviertheit mögen sie jedoch zum Ausdruck bringen, welch wundersame Qualität Novalies Empfindungen annahmen.)

Der Körper selbst befand sich in bezauberndem Kontrast zum Gesicht: Während sich in den Zügen reichlich Kindliches gehalten hatte – der Art, wie es einer Frau und im Übrigen, in gewissem Maße, einem Mann Liebenswürdigkeit und Vertrauensseligkeit verlieh –, ließ sich dies über die Gestalt wirklich nicht sagen. Die Schultern waren nicht unbedingt breit, doch ausgeprägt genug, dass sie zur Oberweite passten, und auch die Taille wies stimmige Proportionen auf. Die Haut war weiße Seide, und durch den Stoff des Kleides sah man, spürte man geradezu, wie weich sie darunter sein musste. Bei genauem Hinsehen erkannte man die leise Ahnung einer Wölbung am Bauch – als wäre es vielleicht eine weitere dünne Stoffschicht –, die man, je nach Situation, nur niedlich oder reizvoll finden konnte.

»Ich kann keine Meinung haben«, gab der Professor Antwort, »die es wert wäre, gehört zu werden. Es ist Ihr Leben, Fräulein.«

»Ich meinesteils habe eine Meinung«, ließ sich der Mann eins weiter vernehmen. »Ich muss der jungen Dame zustimmen, Fräulein.« Etwas an ihm erinnerte Nova an einen Philosophen. »Manches kann sich zutragen, wenn man, wie Sie es nannten, ausgeht.«

Das Fräulein – ja, Novas Empfinden nach traf die Bezeichnung durchaus gut zu – neigte den Kopf. »Als da wäre?«

Der Philosoph machte eine ausschweifende Geste. »Ein interessantes Gespräch«, sagte er, »ein Flirt, ein unerwartetes Wiedersehen und vieles andere mehr.«

»Ach!« Das Fräulein lehnte sich nach hinten, deutete eine gewisse Empörung an, die zum größten Teil gespielt sein musste, und sagte: »Dass Sie mir in den Rücken fallen, mein Herr!« Sie war, wie Nova feststellte, bemerkenswert gut gekleidet. Es war, als gehörte die Kellnerin nicht hierher, sondern in ein gediegeneres Etablissement, hätte sich verirrt, wäre unversehens angeheuert worden. Wie eine Prinzessin wirkte sie, die inmitten ihres zerfallenen Reichs thronte. Lächelte entrückt, die Hände weiter, übereinandergelegt, auf dem Oberschenkel, mit schwarz lackierten Fingernägeln.

»Na ja«, sagte der Mann, »was ich meine, ist: So viele neue Erfahrungen sind es wert, gemacht zu werden. Ich sage: Wer nicht wagt, der nicht lebt!«

Die Prinzessin des Staubs schien nicht überzeugt. »Und was sagen Sie dazu?«, wandte sie sich an den Nächsten.

Der war dem Gespräch interessiert gefolgt, hatte ausgeharrt, die Meinung kundtun zu dürfen. »Hätte ich damals solche Gelegenheiten nicht beim Schopfe gepackt«, sagte er, »wäre ich höchstens zwei-, dreimal ein bisschen verliebt gewesen.« Er erinnerte Nova an einen Mann, den sie in der Zeitung gesehen hatte. Einen Unternehmer, wenn sie sich recht entsann. »So aber hatte ich das Glück, von mehr als zwanzig, vielleicht dreißig hinreißenden Damen verschmäht zu werden.«

»Sie sind immerzu für andere da, Fräulein«, sagte der Dritte und Letzte, in dem Nova niemanden zu erkennen glaubte als einen streng dreinblickenden, älteren Mann, »und nicht für sich. So schätze ich Sie ein. Nun«, sagte er mit einem Schmunzeln, »habe ich etwa Unrecht? Sie wirken wie jemand, der immerzu darauf bedacht ist, nicht den geringsten Fehler zu machen. Dabei ist die Jugend doch zu nichts anderem gedacht! Sie ziehen die Theorie der Praxis vor, lesen und grübeln, statt sich auszuprobieren. Natürlich schätzt man Sie dafür, jedoch in den meisten Fällen aus egoistischen Gründen. Daher rate ich Ihnen – und zwar mit aller Dringlichkeit –, die Einladung anzunehmen und die junge Dame auf ein kleines Abenteuer zu begleiten.«

»Sie haben Angst vor etwas, denke ich«, ließ der Philosoph sich vernehmen. »Daran ist nichts falsch. Sie haben allerdings nicht etwa Angst vor Menschenmengen oder lauter Musik, sondern vor einer Situation, die Ihrer Tugendhaftigkeit widerstrebt. Dazu lässt sich nur eins sagen, und zwar, dass wahre Tugendhaftigkeit nicht in der Disziplin besteht, sich von den Ausschweifungen fernzuhalten, sondern ihnen in der Konfrontation zu widerstehen.«

»Geben Sie es ruhig zu«, sagte der Unternehmer. »Im Grunde haben Sie doch darauf gewartet, dass jemand sie einmal ermutigen würde, über Ihren Schatten zu springen. Lassen Sie sich also ermutigen!«

»Ach, Sie haben sich ja verschworen!«, lachte das Fräulein daraufhin. »Schön, dann soll es so sein. Dann will ich dem Nachtleben eben eine weitere Chance geben. Diese eine, dann ist Schluss!«

»Wunderbar!« Nova grinste. »Dann gibt's nur noch eine Sache zu erledigen, bevor wir gemeinsam um die Häuser ziehen, die Nacht zum Tag machen und all das.«

»Und das wäre?«

»Du solltest mir, der Einfachheit halber, deinen Namen verraten.«

Das Fräulein lachte. »Romi.«

»Romi, wirklich? Ha, da hätt's dich schlimmer treffen können, was? Romi – und weiter?«

»Morgenroth.«

»Novalie von Hardenberg.« Sie streckte die Hand aus. »Nenn mich einfach Nova.«

»Von Hardenberg«, wiederholte Romi, als sie die Hand mit dem sanften, höflichen Druck eines Dienstmädchens nahm. »Habe ich den Namen nicht schon einmal gehört?« Sie blieb vorgebeugt; das Dekolleté zeigte viel, mehr, als es selbst Nova im Alltag zu zeigen bereit war. Vor dem Busen, der Nova doppelt so groß erschien wie der eigene, hing ein Amulett an einer grobgliedrigen goldenen Kette. »Ein schöner Name jedenfalls.«

Nova zuckte die Schultern. »Ein alter Name vor allem. Und einer, dem ich kaum Ehre mache.« Sie blickte an sich hinunter, zog das Näschen kraus. »Schon gar nicht so.«

»Eine Dusche auch noch?« Romi seufzte. »Bitte, mi baño es tu baño. Soll ich dir vielleicht noch etwas zum Anziehen leihen?«

»Ich weiß«, sagte Nova, die das Grinsen nicht zu unterdrücken vermochte, »ich nutze die Hilfsbereitschaft schamlos aus. Aber sollte man das nicht, bei so schicksalhaften Umständen? Frische Kleidung brauche ich nicht, die ist noch in Ordnung, die Dusche würde ich aber gern in Anspruch nehmen. Und einen Blick in dein Zimmer werfen! Bevor wir miteinander ausgehen, möchte ich mir einen zureichenden Eindruck von dir gemacht haben.«

»Mancher würde meinen, das hätte einer Einladung wie deiner vorausgesetzt sein sollen«, bemerkte Romi. »Nun ja, wie dem auch sei. Ich habe nichts zu verbergen. Trotzdem sollte ich zunächst etwas Ordnung schaffen.«

»Das wird den Eindruck verfälschen.«

»Nein, wirklich«, beharrte Romi, »ich bestehe darauf. Es wird nicht lange dauern.«

Nova fand sich damit ab. »Ja wenn Sie insistieren!«, sagte sie scherzhaft. »Ich würde derweil noch ein Gläschen mit den Herren trinken.« Sie nickte den Männern zu, die mit höflichem Lächeln antworteten.

Romi zögerte einen Moment, dann aber erhob sie sich dienstbeflissen. »Einen Moment bitte.«

Nova winkte ab. »Lass nur! Mit einem Zapfhahn kann ich umgehen.«

»Der klemmt allerdings.«

»Auch damit komme ich zurecht.«

»Wie, so einfach?«, fragte Romi, nachdem sie durch die Kontrolle gelangt waren. Sie grinste. »Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt. Spannender«, fügte sie hinzu, wobei sie sich herüberbeugen musste, um gegen das lauter werdende Dröhnen des Basses anzukommen. In der Wärme des Inneren glitzerten die Schneeflocken im geflochtenen Zopf ihr Letztes.

»Ach, das heißt nichts«, erwiderte Nova, sich das eigene, feuchte Haar hinters Ohr streichend. »Es ist ein exklusiver Laden, das kann ich dir versichern. Aber man kennt mich hier; ich habe so was wie Narrenfreiheit. Wenn man das Geld hat, bekommt man die Freundlichkeit noch obendrauf.« Sie seufzte. »Mein Leben«, sagte sie, scheinbar aufrichtig betrübt, »ist immer furchtbar simpel gewesen.«

»Du Ärmste«, entgegnete Romi nicht ohne Ironie.

Sie kamen, dem bordeauxroten Teppich folgend, der den Sohlen nicht ungleich weichen Schnees nachgab, an die Garderobe. Legten die Mäntel ab und reichten sie hinüber, Nova auch den Pullover, der bereits zu warm wurde. Wenig geschickt bekam sie ihn über den Kopf, sich für einen Augenblick bis an die Rippen entblößend, von der Dame hinter der Theke daraufhin mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht. Nachdem das Oberteil gerichtet war – ein schlichtes blaugraues, nicht aufsehenerregend –, strich Nova darüber, schob es an der Seite in die Jeans, um einer verwegenen Note willen. Im schummrigen Licht fiel kaum auf, dass zwei Tage in der Stadt das Weiß getrübt hatten. Das Haar, zerzaust genug, bedurfte zum Kontrast einem Maß an Ordnung, dass die Verwegenheit nicht zu sehr Schludrigkeit ähnelte.

Vom Foyer aus gelangte man auf direktem Wege in die Haupthalle. Der Teppich führte rechtsherum zur Bar – einer langen, dezent beleuchteten Theke, an denen drei Bartender, Hände hinter den Rücken, auf Bestellungen warteten –, während zur Linken breite, gewundene Stufen aus dunklem Holz zur Galerie hinaufführten. Über die Balustrade, silbern glänzend und verziert, beugten sich ältere Herren mit Zylinder, die Nova schon einmal gesehen hatte. Auf die Arme gestützt, die Hände gefaltet, ließen sie den Blick über Halle und Bar schweifen wie Fürsten den Blick über ihr Reich.

Nova musterte die Begleiterin, die sich umsah und staunte, ein weiteres Mal. Ja, das schöne Mädchen kannte sich wohl aus: Nicht einmal Nova hätte mit solcher Expertise das bereits zuvor perfekte Make-up noch verfeinern, optimal an die Gegebenheiten einer Diskothek anpassen können, die besonderen Lichtverhältnisse und den Stil, in dem sich andere Mädchen schminkten. Rauchschwarz und rötlich die Augen – Glut in Asche – , blutrot der Lippenstift und mit dem Patschuliduft erweckte Romi den Eindruck einer exotischen Fremden, als wäre Kore justament zurückgekehrt, hätte sogleich den Plan gefasst, sich die Vergnügungen derer zu Gemüte zu führen, die nicht nur lebten, sondern es über die Maße taten. Auch die schwarze Corsage und der schwarze Rock mit Rüschensaum, zu dem sie schwarze Kniestrümpfe in schwarzen Lederstiefeletten trug, entbehrten nicht einer gewissen Extravaganz. Einer Extravaganz im Übrigen, welche die Blicke der Türsteher auf sich gezogen und Skepsis erweckt hatte, doch nicht ein solches Maß daran, dass Novas Bekanntheit und Charme dem nicht ohne Schwierigkeiten hätten entgegenwirken können. Das Mädchen an Novas Seite wirkte mitnichten wie jemand, der nicht ausging; sie beherrschte es, sich dafür zu kleiden, beherrschte die Theorie, ohne sich jedoch an die Praxis zu wagen. Sollte es ihr Ziel gewesen sein, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte sie es mit Bravour erreicht.

Mit Sicherheit aber lag die Aufmachung gerade darin nicht begründet: Die Blicke, die Romi fing, schien sie selten wahrzunehmen, die übrigen genoss sie nicht. Das war kein Mädchen, das sich in solcher Öffentlichkeit gern zur Schau stellte, doch ebenso wenig wollte sie sich, so vermutete Nova, einen schlechten Sinn für Mode nachsagen lassen; die Intention war eine andere, als Männer anzuziehen, wie es allerdings unweigerlich geschah. Bald ersuchte Romi um Hilfe, sich der Annäherungsversuche zu erwehren, und Nova, die wohl kaum minder attraktiv in der Erscheinung war und die Wirkung durch ihre Art zu amplifizieren wusste, schob sich zwischen Begleiterin und sich aufdrängende Anwärter, provozierte, flirtete, so aggressiv sie konnte – ohne die geringste Mühe – und brachte das Maß an Bedrängnis für Romi aufs Minimum.

»WAS SUCHST DU HIER?!«, wetterte eine Stimme so durchdringend und missfällig, dass Nova zusammenzuckte. »Das Übliche?!«

Es war klar, wessen hämische Fratze sie erblicken würde, wessen gelbe Augen über Schultern breit wie die eines Ochsen hinabstarren würden. Sie ließ dem Koloss nicht mehr als ein ungläubiges Kopfneigen zuteilwerden, wie jemandem, der sie mit einer anderen verwechselt hatte und den Fehler sogleich einsehen musste.

Der lachte grässlich. »Wie kindisch! So zu tun, als würden wir uns nicht kennen, macht nicht rückgängig, was passiert ist.«

»Ja, mag sein«, räumte Nova ein. »Allerdings wär's mir wirklich lieber. Jede schlechte Erfahrung hat auch ihre gute Seiten, wie man so sagt, aber wenn ich dich einfach aus der Erinnerung streichen könnte, würde ich's tun.«

Da schaute der Exfreund finster drein. Verschränkte die muskelbepackten Arme. »Schon klar. An meiner Person hattest du eh nie Interesse, und an anderen Schwänzen mangelt's dir nicht – also was soll's, hä?«

»Du hast ja verstanden, wie's zwischen uns steht«, blaffte Nova mit aller Vehemenz, die in einen solchen Dolchstoß zu legen war. »Gut! Hör zu, mir ist nicht nach diesem Gespräch. Lass mich in Frieden. Leb wohl, wenn's sich ergibt; ist mir aber auch egal.«

Ehe das Gegenüber noch etwas erwidern konnte, hatte Nova Reißaus genommen und Romis Hand, zog sie in die Menge und zur Tanzfläche, auf deren dunklen Marmorfliesen sich die goldenen und pastellbunten Lichter spiegelten wie wirr über den Nachthimmel tanzende Sterne. Für einen exklusiven Club wie diesen herrschte durchaus einiger Andrang – bereits um zehn Uhr dreißig – so viel wie an kaum einem Abend zuvor, den Nova im Echtsilber verbracht hatte. Auf den großen, dick gepolsterten Ledersofas, die am Rand der Tanzfläche aufgestellt waren, fläzten sich Männer in Anzügen, daneben junge Damen mit tief ausgeschnittenen Kleidern. Sekt oder Champagner und Cocktails standen auf den Glastischen, kaum angerührt.

Sich auf dem spiegelnden Podest aufzuhalten, in flackerndem Licht den Blicken ausgesetzt, zwischen den schwitzenden Leibern, die sich im dröhnenden Bass wanden, widerstrebte Romi, das sah man. Nova aber hielt die Hand in festem Griff, nahm die andere hinzu, begann mit Bewegungen, deren weicher Fluss – passend zur durchdringenden Musik aus eingängigen Synthesizermelodien, elektronischen Klangteppichen und getragenem Beat – bald nicht nur Romi in den Bann gezogen hatte, wenngleich ihr allein der Tanz galt.

»Hör zu«, sagte Nova, an Romi gedrängt, sie immerzu streifend, dass es den Anschein von Absicht haben musste, »es könnte sein, dass der Typ von eben was fürchterlich Dummes tut. Könnte sein, dass er Vater anruft, ihm steckt, dass ich mich hier aufhalte. Achte auf die Security, Romi. Sag Bescheid, wenn diese Typen hersehen und sich komisch verhalten. Dann müssen wir sofort reagieren, uns verstecken, weglaufen vielleicht. Man darf uns auf gar keinen Fall erwischen, klar?«

Romi grinste. »Im Ernst?«

Nova grinste nicht. »Mensch, ja. Im Ernst.«

Doch Nova tanzte, und der Moment verging, und die Musik war gut, und Nova tanzte so gern, dass sich ihre Miene bald wieder ein wenig aufgehellt hatte.

Und Romi? Obwohl sie wie erstarrt blieb, obwohl es unwahrscheinlich, ausgeschlossen schien, dass sie sich nur zu einem einzigen Schwung der Hüften, zum Nicken im Takt hätte hinreißen lassen, fand auch Romi allmählich Gefallen an der Atmosphäre, an elektronischer Tanzmusik und schrillem Stroboskoplicht, an Schwüle und Blöße. Hatte sie nicht ein Lächeln auf den Lippen, am Rand der Tanzfläche, einen Bermuda Rose in der Hand? Es brachte sie zum Grinsen, wie Nova einem Fremden den Cocktail entwendete und das Glas in einem Zug leerte.

Lautes Lachen jedoch entfuhr ihr zu Unrecht, als Nova sie fortriss, hinein ins Gedränge vor der Bar, hindurch. Leiser lachend, bald kichernd wie ein kleines Mädchen folgte sie. Dann schließlich dämmerte ihr, dass die Lage tatsächlich ernst war.

»Der Vollidiot!«, zischte Nova, die stockfinster dreinblickte. Die Mädchen verbargen sich hinter einer Säule. »Er hat's wirklich getan«, knurrte sie, »der Scheißkerl!« Sie spähte erst zur einen, dann zur anderen Seite. »Komm mit«, versetzte sie, zog Romi erneut weiter. »Hier lang, schnell!«

Da sprangen die Mädchen vom Podest der Tanzfläche, drängten sich rasch weiter nach hinten, durch blaue Vorhänge, die Nova nur mit einiger Kraft zur Seite stieß, in eines der Séparées und wieder hinaus, da es besetzt war, in gebückter Haltung an der Wand entlang und um die Ecke, hinein in ein regelrechtes Wäldchen großer Zimmerpalmen in Keramikkübeln, zwischen denen sich die Mädchen für einen Moment unbeobachtet fühlten, dann einige Stufen hinab auf den Platz, in dessen Zentrum sich, umgeben von Ringen aus Fliesen unterschiedlicher Grauschattierung, ein Brunnen befand, groß genug, dass mehrere Grüppchen bequem Platz darum fanden. Ein plumper Frosch mit Krone saß im oberen Becken der Kaskade, umgeben von Fontänen, und spie das Wasser flach aus dem breiten Maul heraus. Die Mädchen duckten sich hinter Wasserspeier und Beckenrand, kauerten dort ungeachtet der irritierten Gesichter der Umstehenden. Den Sprühnebel der Fontänen auf den Wangen, das drängende Flüstern der Kaskaden im Ohr, lugten sie nervös hervor. Was nun? Wohin weiter?

Novas Blick huschte über die Menge, versuchte, die Sicherheitskräfte auszumachen. Doch die Tanzenden, in allen Formen und Farben waren sie gekleidet, beherrschten das Bild, lenkten ab. In Dunkelheit und buntem Flirren erschrak Nova wieder und wieder, vom Pullover eines jungen Mannes, der neben ihr auftauchte, dem Rock eines dicken Mädchens, einem Jäckchen, einem Schal, einem Schatten an der Wand. Schneller! Hier links! Hier rechts! Beinahe prallte sie gegen jemandes Schulter, stieß jemandem versehentlich die Flasche aus der Hand, sah lachende, grinsende, überraschte, verärgerte Gesichter in der Masse, bis die Mädchen in den Flur kamen, zu den Toiletten, und nachdem Nova sich noch einmal vergewissert hatte, dass niemand gefolgt war, wollte sie einen Satz hinein machen, hielt sich im letzten Moment am Türrahmen fest, als sie erkannte, dass es sich nicht um die Toilette der Damen handelte. Was soll's, bloß verschwinden! Sie nahmen eine Kabine; Nova schloss ab.

Sicherheit. Der Puls in der Stille. Zeit zum Verschnaufen.

»Meine Güte«, stöhnte Romi. Warmer Patschuliduft mischte sich in die üblichen Gerüche eines solchen Örtchens. »Das ist zu viel!« Sie stützte sich aufs Novas Schulter, rang nach Luft.

»Ich weiß!«, keuchte auch Nova. »Tut mir leid! Wir hätten uns einfach trennen sollen; du hast damit ja nichts zu tun.«

Romi lächelte schwach. »Unsinn«, sagte sie.

»Mitgehangen, mitgefangen?«

»Loyalität«, sagte Romi. Sie schlug einen ernsten Ton an. »Ich könnte das Gleiche von dir erwarten, nicht?«

Nova atmete durch. »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte sie grinsend, stupste Romi sanft gegen die Schulter. »Auch wenn ich keine Ahnung habe«, räumte sie ein, »was das eigentlich bedeutet.«

»Nun, es bezieht sich auf mittelalterliche Gottesurteile, bei denen …«

»Hey«, sagte Nova, »ich habe nicht gesagt, dass es mich interessiert.«

Romi räusperte sich. »… unter anderem Gift getrunken wurde«, fuhr sie fort, »und blieb man unversehrt, das heißt: durch die Intervention Gottes vor der Wirkung bewahrt, so war natürlich die Unschuld bewiesen.«

Nova blinzelte Romi an. »Schön. Danke.«

»Keine Ursache. Und nun erklär mir doch erst einmal, weshalb genau wir eigentlich auf der Flucht sind.«

»Vater«, sagte Nova gewichtig. »Er wird mich längst suchen, aber ich habe nicht die geringste Lust auf zu Hause.«

»Du bist fortgelaufen?«

»Nicht gelaufen. Geschlichen.«

Da geriet Romi in ungläubiges Entsetzen. »Das darf nicht wahr sein!«, rief sie aus. »Und ich helfe dir noch!«

»Weil du eine echte Freundin bist«, sprach Nova pathetisch und legte sich dabei die Hand aufs Herz.

Jemand kam hinein, hüstelnd, röchelnd, und nahm die Nachbarkabine.

»Was machen wir nun?«, fragte Romi im Flüsterton. »Wir können nicht ewig hier bleiben.«

»Das ist eine Toilettenkabine«, flüsterte Nova zurück. »Ziemlich viele bleiben ewig hier.«

Romi schnaubte.

»Nein, natürlich müssen wir hier raus«, gab Nova zu. »Aber ich glaube, wir haben im Eifer des Gefechts einen Fehler gemacht.«

»Was meinst du?«

»Na, hätten wir nicht versuchen sollen, rauszukommen, statt uns zu verkriechen?«

»Stimmt. Aber lass mich korrigieren: Du hast den Fehler gemacht.«

Nebenan ließ man sich, wie allzu deutlich vernehmbar, nicht irritieren von den Mädchenstimmen. Romi verzog das Gesicht, als noch andere Geräusche ertönten.

»Du hättest mich aufhalten müssen«, zischte Nova.

»Du hast einen starken Zug.«

»Du bist stärker, schätze ich.«

»Außerdem«, sagte Romi zögerlich, »war ich ein wenig neugierig, was du tun würdest. Ja, ich gebe es zu.«

»Das ist keine Vergnügung, Romi!«, entfuhr es Nova, die jedoch abermals grinsen musste.

Romi seufzte. »Aber sag mal, was würde denn schon geschehen, falls man dich erwischt? Du kannst dich einfach wieder aus dem Haus schleichen, nicht?«

Die Konsequenzen zu erwägen, interessierte Nova nicht. »Ich muss mal«, sagte sie, mit Absicht unvermittelt. »Dringend.«

Romi stutzte, nickte steif. »G-gut, ich … äh, auf der anderen Seite«, sagte sie fahrig, »ist vielleicht noch frei.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Nova, die Jeans bereits geöffnet, Knopf und Reißverschluss. Ehe Romi dem Einhalt gebieten konnte, war sie hinuntergestreift, die Shorts gleich mit.