Gegenschlag - Will Jordan - E-Book + Hörbuch

Gegenschlag Hörbuch

Will Jordan

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Beschreibung

Bei einem Anschlag in Washington D.C. werden mehrere russische Abgeordnete getötet. Ryan Drake, Chef einer CIA-Eingreiftruppe, traut seinen Augen kaum. Hat sich die ehemalige Agentin Anya, die er vor Jahren aus einem russischen Gefängnis befreit hat, einer terroristischen Vereinigung angeschlossen? Die Suche nach Antworten führt Drake bis nach Moskau. Er ist hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht als CIA-Agent und seiner Loyalität zu Anya. Kann Ryan Drake sie stoppen? Will er das überhaupt?

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Zeit:18 Std. 2 min

Sprecher:Mark Bremer
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Buch

Er befreite sie. Er vertraute ihr. Jetzt muss er sie jagen.

Ryan Drake, ehemaliger Soldat und Eliteagent derCIA, wird in Washington Zeuge eines Anschlags durch Scharfschützen. Der Angriff findet auf offener Straße statt und gilt der Autokolonne einer russischen Gesandtschaft, die für die innere und äußere Sicherheit ihres Landes zuständig ist. Viele Mitglieder der russischen Delegation kommen ums Leben, und Drake stellt entsetzt fest, dass ausgerechnet Anya den Angriff angeführt hat – die mysteriöse und gefährliche Agentin, zu deren Schutz er einst alles riskierte. Drake will nicht glauben, dass Anya zu einer solchen Tat fähig ist, dennoch wird er mit seinem Team nach Sibirien geschickt, um die Wahrheit herauszufinden. Und bald ahnt Drake: Anyas Verrat wird unvorstellbare Geheimnisse ans Tageslicht bringen, die mehr Sprengkraft besitzen, als er es je für möglich gehalten hätte.

Autor

Will Jordanhat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gerne, boxt oder liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte und hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in seinen Romanen erwähnt wird. Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh.

Von Will Jordan bereits bei Blanvalet erschienen:

Mission: Vendetta

Der Absturz

Gegenschlag

Operation Blacklist

Codewort Tripolis

Das CIA-Komplott

Kommando Black Site

Projekt Pegasus

Angriffsziel Circle

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WILL JORDAN

GEGENSCHLAG

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.”
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Betrayal« bei Arrow, London.
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Will JordanCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCovergestaltung: © Johannes Frick, NeusäßCovermotiv: © Tom Weber/milpictures.com und ShutterstockRedaktion: Michael RahnBS · Herstellung: samSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN 978-3-641-15912-2V005
www.blanvalet.de

Für Susan, die mir gezeigt hat, was wirklich zählt.

PROLOG

Beslan, Schule Nr. 1, 3. September 2004

Benommen von Furcht und Erschöpfung, hob Natascha den Blick von den alten zerschrammten Bodendielen, die sie seit etlichen Stunden unablässig anstarrte.

Ihr Wächter stand etwa zehn Meter von ihr entfernt und paffte achtlos eine Zigarette. Während er rauchte, lag das sperrige Sturmgewehr in seiner Armbeuge. Er hatte grobe, ungehobelte Gesichtszüge, charakteristisch für Männer in diesem Teil des Landes. Die Haut war von Aknenarben übersät, und er war unrasiert. Der Blick seiner grauen ausdruckslosen Augen war starr geradeaus gerichtet, ohne etwas wahrzunehmen.

Was ging wohl hinter diesen seelenlosen Augen vor?

Ein gedämpftes Husten neben ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre unmittelbare Umgebung. Mehr als fünfhundert Männer, Frauen und Kinder jeden Alters waren in der Turnhalle zusammengepfercht. Sie standen so dicht zusammen, dass sie kaum Platz hatten, sich auch nur zu setzen. Es herrschte eine erdrückende Hitze, und über allem lag der Gestank von Schweiß, Furcht und Urin.

Man hielt sie seit zwei Tagen und Nächten hier fest, ohne dass sie hätten schlafen oder sich erleichtern können, und es war ihnen verboten, sich zu bewegen oder auch nur miteinander zu reden. Als man sie unter viel Geschrei und Schüssen hier zusammengetrieben hatte, waren viele Kinder nahezu hysterisch vor Panik gewesen. Einige hatten vergeblich gefleht, die Turnhalle verlassen zu dürfen, so als wäre dies der Sportunterricht, von dem man sich irgendwie befreien lassen konnte. Andere, die noch zu jung waren, um zu begreifen, was hier vorging, hatten sich wie Schafe Hilfe suchend um ihre Lehrer geschart, den einzigen Trost, den sie hatten.

Aber nach drei Tagen ständiger Angst, Schlafmangel und Androhung von Gewalt waren die Nerven aller Anwesenden vollkommen überreizt, und Natascha hörte nur noch ein gelegentliches Husten, ein Stöhnen oder ein ersticktes Schluchzen. Die Menschen waren körperlich und geistig gebrochen und warteten düster auf das, was da kommen mochte.

Die meisten von ihnen hielten ihre Blicke gesenkt und versuchten, nicht aufzufallen, versuchten, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Sie alle hatten den Wert der Anonymität kennengelernt. Am ersten Tag hatten ihre Häscher einen Mann einfach nur deshalb hingerichtet, weil er sich nicht schnell genug hingekniet hatte, und einen anderen dafür, dass er das heimische Ossetisch und nicht russisch gesprochen hatte.

Am zweiten Tag hatten sie zwanzig der gesündesten und leistungsfähigsten Männer zusammengetrieben und sie in den ersten Stock hinaufgeführt. Nur wenige Augenblicke später hatte es gekracht, und dann hörte man das Knattern von automatischen Waffen. Keiner der Männer war zurückgekehrt.

Nataschas leerer Magen knurrte, und die Muskeln in ihrem Unterleib verkrampften sich schmerzhaft. Sie hatte nichts mehr gegessen, seit sie in die Halle getrieben worden waren; ihr Körper erinnerte sie mit wachsender Dringlichkeit daran. Sie war ein schlankes Mädchen von etwa zwölf Jahren und hatte ohnehin nicht viel Fleisch auf den Rippen, aber als jetzt die Folgen des Nahrungsmangels einsetzten, fühlte sie sich schwach und schwindelig.

Sie leckte sich die trockenen Lippen und versuchte, die Gedanken an kühles, erfrischendes Wasser zu unterdrücken. Wie oft hatte sie das Glas Wasser am Mittagstisch abgelehnt und ihren Vater um ein Glas Fruchtsaft oder eine süße Limonade angebettelt. Jetzt hätte sie für ein Glas Wasser getötet.

Ihre Gedanken wurden von Rufen aus dem Gang vor der Turnhalle unterbrochen. Sie und die anderen Gefangenen zuckten vor Furcht zusammen. Aber trotz ihres plötzlich heftig pochenden Herzens versuchte Natascha zu lauschen und den Grund für den Lärm herauszufinden. Denn trotz des offensichtlichen Ärgers in den Stimmen schienen sie nicht miteinander zu streiten. Es klang mehr so, als würden sie einfach nur schreien, um ihrem Frust Luft zu machen und zu versuchen, ihre nachlassende Entschlossenheit zu stärken.

Sie sprachen tschetschenisch. Natascha verstand zwar nicht, was sie sagten, aber das spielte auch keine Rolle. Selbst sie konnte die Veränderung bei ihnen spüren.

Einige, wie der rauchende Mann vor ihr, waren älter, ruhiger und hatten ihre Gefühle unter Kontrolle. Die meisten jedoch waren jung, wild und tollkühn. Nachdem sich dieses unbehagliche Patt hinzog, ohne dass ein Ende in Sicht kam, wurden die Männer immer frustrierter und aggressiver. Offenbar entwickelte sich die Lage nicht so, wie sie es erwartet hatten. Irgendetwas stimmte nicht.

»Es wird bald passieren«, flüsterte Natascha.

»Was meinst du damit?« Mit Jelena war sie schon so lange befreundet, dass sie sich gar nicht mehr an eine Zeit ohne sie erinnern konnte. Sie war ein bisschen pummelig, nicht direkt fett, aber mollig. Sie würde sich zu einer üppigen Schönheit entwickeln; später dann, als Erwachsene, würde sie korpulent und matronenhaft werden.

Das Mädchen hockte auf dem Boden, und ihr dunkles Haar hing ihr schlaff und feucht ins Gesicht. Sie hob zwar nicht ihren Blick, aber Natascha sah, dass ihre Augen vom vielen Weinen gerötet waren.

Sie beugte sich zu ihr hinunter und deutete mit einem Nicken auf den Mann mit dem Gewehr. Er hatte seine Zigarette weggeworfen und ging jetzt vor der Tür auf und ab. Die breiten Schultern hatte er vor Anspannung zusammengezogen. »Sie werden immer nervöser. Sie werden schon bald irgendetwas unternehmen.«

»Was denn?«

»Ich weiß es nicht.« Sie schluckte, obwohl ihre Kehle trocken und wund war. »Vielleicht töten sie uns alle.«

»Das können sie doch nicht machen! Die Soldaten draußen werden sie daran hindern!« Aber es war nur ein schwacher Protest und klang zudem nicht sonderlich überzeugend.

Da sie vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten und isoliert waren, konnte niemand sagen, was da draußen passierte. Sie hatten das Brummen von starken Motoren gehört, das Wummern von Rotoren und gelegentlich lautes Geschrei unter den Männern, aber nicht mehr. Selbst wenn die gesamte russische Armee draußen versammelt wäre, hätte das für sie nicht den kleinsten Unterschied gemacht.

»Sie haben sie gestern auch nicht daran gehindert, all diese Männer zu töten«, erklärte Natascha. »Warum sollte es heute anders sein?«

»Vielleicht ergeben sie sich ja. Sie wollen doch ganz sicher nicht hier sterben!«

Natascha bemerkte sofort den Haken an diesem Argument. »Vielleicht sind sie aber auch wie die Männer, die mit den Flugzeugen in Amerika in diese Hochhäuser geflogen sind. Vielleicht macht es ihnen nichts aus zu sterben.«

Jelena schniefte und zuckte mit den Schultern, als wäre ihr das egal. »Also? Was können wir tun?«

Das war die Frage. Natascha war kein Soldat. Aber wie bei jedem Lebewesen war der stärkste Instinkt in ihr der Überlebenstrieb.

»Warte auf mein Zeichen«, sagte sie. Sagten Leute das nicht immer in solchen Augenblicken? Sie hoffte nur, dass sie überzeugender klang, als sie sich fühlte. »Wenn es losgeht, bleib bei mir.«

Als Jelena den wachsenden Trotz und die Verzweiflung ihrer Freundin wahrnahm, riss sie die Augen auf. »Du wirst uns umbringen!«, zischte sie. Die Angesprochene hob das Kinn. Eine winzige Flamme der Wut flackerte in ihr auf.

»Besser, als einfach zuzulassen, dass diese Mistkerle uns umbringen!«, stieß Natascha zwischen den Zähnen hervor und blickte ihre Freundin an. »Jelena, sieh mich an. Sieh mich an!« Zögernd hob das Mädchen seinen Blick vom Boden und sah ihr in die Augen. »Ich kann uns hier rausbringen, aber nur, wenn du mir vertraust. Vertraust du mir?«

In Jelenas Augen schimmerten Tränen, aber sie nickte trotzdem. »Ja.«

Natascha packte ihre Hand. »Wir kommen hier raus. Ich verspreche es dir.«

Kaum hatte sie das gesagt, ertönte erneut Geschrei im Flur vor der Halle. Doch diesmal hörte es sich anders an. Die Männer riefen sich keine Aufmunterungen zu, sondern sie stritten untereinander. Ihre Aggression wuchs zusehends.

Dann waren plötzlich zwei weitere Schützen in der Turnhalle. Es waren junge Männer, hager und mit wild aufgerissenen Augen, die von Pferden in einer Stampede. Sie schwangen ihre Sturmgewehre, als wollten sie im nächsten Moment losfeuern. Als die Geiseln das spürten, versuchten sie zurückzuweichen, vergeblich. Jeder Versuch war nutzlos, denn sie wurden durch die reine Masse der Körper daran gehindert.

Der Raucher mischte sich jetzt ebenfalls in den Streit ein. Er stellte sich den jungen Männern in den Weg, um zu verhindern, dass sie noch näher kamen, und versuchte, sie dazu zu bewegen, vor die Tür zurückzugehen. Er war, jedenfalls in Nataschas jugendlichen Augen, eine beeindruckende Gestalt, groß und breit. Aber seine jüngeren Kameraden ließen sich offenbar nicht davon einschüchtern.

Sie waren hier aufgetaucht, um etwas zu unternehmen, und sie würden sich durch nichts aufhalten lassen.

Es ging ganz schnell. Der ältere Mann streckte die Hand aus, um den ersten Soldaten neben sich am Arm zu packen, aber der stieß ihn von sich, sodass der Ältere sein Gleichgewicht verlor. Er knurrte wütend und trat erneut zu den beiden, drehte sein Sturmgewehr um, um es wie einen Knüppel zu schwingen. Aber der zweite junge Mann hatte das erwartet. Er hob sein Sturmgewehr, zielte auf die Brust des älteren Mannes und feuerte.

Der Knall, mit dem sich die Waffe entlud, hallte laut wie Donner durch die Halle, in den sich die furchtsamen Schreie der Geiseln mischten. Der ältere Mann stürzte wie ein Sack Kartoffeln zu Boden, und Blut spritzte aus seiner Wunde.

Jetzt krochen die Geiseln förmlich übereinander vor Entsetzen, als die beiden Schützen weiter in die Halle stürmten. Sie schrien und brüllten, als hätten sie sämtliche Selbstbeherrschung verloren. Einer von ihnen hob sein Sturmgewehr und feuerte eine Salve in die Decke. Putz und Holzsplitter regneten auf die Menschen herunter.

Natascha packte die Hand ihrer Freundin. Jetzt. Das war der Moment. Sie mussten jetzt handeln. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, Blut strömte durch ihre müden Muskeln und verlieh ihr neue Kraft.

Das Geräusch begann als schwaches Rauschen von draußen, das unter den Schreien und Rufen von fünfhundert Männern, Frauen und Kindern kaum vernehmbar war. Aber es wurde rasch lauter und intensiver, bis alle in der Turnhalle es hörten. Natascha drehte sich zur Quelle des Geräuschs herum, verdutzt trotz ihrer Furcht, während sie überlegte, was das bedeuten konnte.

Der Blitz dauerte nur einen Sekundenbruchteil, aber er war so hell, dass er sich auf ihrer Netzhaut einbrannte und ein verschwommenes Nachbild vor ihren Augen zurückließ. Einen Augenblick später folgte dem Blitz ein Feuerball, der durch die Ziegelwände brach und Stützträger, Dachbalken, Bodendielen und die so zerbrechlichen menschlichen Leiber ohne Gnade zertrümmerte.

Natascha wurde von der Druckwelle von den Füßen gerissen. Ihr Kopf krachte mit voller Wucht auf den harten Boden. Einen Moment sah und spürte sie nur Schwärze, reine, absolute Schwärze. Sie war in ihrer eigenen Welt, in einer Welt ohne Schmerzen, Müdigkeit oder Furcht, in der Welt des Nichts.

Dann nahm sie wie aus weiter Ferne die Geräusche um sie herum wieder wahr. Die panischen Stimmen, die Schmerzensschreie und die Furcht, das rhythmische Hämmern von automatischen Maschinenpistolen, das wilde Pochen ihres eigenen Herzens und ein fernes Brausen, das sie nicht identifizieren konnte.

Es kostete sie sehr viel Mühe, die Augen zu öffnen. Die Welt um sie herum glich einem Albtraum.

Etwas hatte die gegenüberliegende Mauer der Halle zertrümmert, war durch die Ziegel und den Mörtel gebrochen und hatte diese in einen tödlichen Schrapnellhagel verwandelt, der jeden zerfetzte, der das Pech hatte, im Weg zu sein. Überall war Blut, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden vermischten sich auf entsetzliche Weise mit den Rufen jener, die zu flüchten versuchten.

Die Explosion hatte das Dach in Brand gesetzt, und das Feuer leckte bereits an den hölzernen Dachbalken. Dichter dunkler Qualm erfüllte die Luft. Sie spürte die Hitze selbst dort, wo sie stand, auf der anderen Seite des großen Raumes.

Wieder wurde gefeuert, innerhalb und auch außerhalb der Schule. Offenbar war zwischen den Bewaffneten innerhalb und der russischen Polizei und Armee außerhalb der Halle ein heftiger Kampf entbrannt. Das Gebäude erzitterte bis auf die Grundmauern, als eine weitere Explosion erfolgte.

Natascha starrte das Loch in der Wand an. Es war eine zerfetzte, qualmende Bresche von etwa drei Metern Breite, voller Trümmer und Leichen. Aber hinter dem Rauch konnte sie das Tageslicht sehen.

Das war es! Das war der Ausweg! Hoffnung flammte in ihr auf. Das war ihre Chance!

Sie drehte sich kurz um und griff nach Jelena, die auf dem Boden neben ihr lag. »Jelena! Komm hoch! Wir können jetzt raus!«, schrie sie, während der Rauch in ihrer Lunge brannte. Das Feuer toste jetzt direkt über ihnen, brennende Holzstücke und Isoliermaterial fielen überall um sie herum zu Boden.

Das junge Mädchen rührte sich nicht. Es lag zusammengerollt, die Knie bis zur Brust hochgezogen, auf dem Boden, und ihre Augen blickten starr geradeaus, ohne irgendetwas zu sehen.

»Jelena! Wach auf!« Verzweifelt holte Natascha aus und gab ihrer Freundin eine Ohrfeige, so kräftig wie möglich. Der Schlag schien das Mädchen aus seiner Erstarrung zu reißen, und es blickte furchtsam zu Natascha hoch.

»Komm schon!« Natascha zerrte ihre Freundin vom Boden hoch. »Wir müssen hier weg!«

Die Leute rannten in blinder Panik umher; einige versuchten, verletzten Freunden zu helfen, andere suchten einfach nur nach einem Ausweg. Natascha umklammerte immer noch Jelenas Hand und zog sie weiter; sie wurden von allen Seiten gestoßen, während die Menschen sich vorwärtsdrängten. Alle wollten zu der Bresche in der Wand.

Dann stolperte sie über etwas und blickte hinab. Sie sah die Leiche eines ihrer Freunde, der wie eine Puppe auf dem Boden lag. Sein Oberkörper war von den Trümmern zerfetzt worden, sodass sie die Rippen und verbrannten Muskeln sehen konnte, und die Explosion hatte ihm ein Bein weggerissen. Einen Moment lang starrte sie wie gebannt auf die zerschmetterten Knochen und das zerfetzte Fleisch seines Beinstumpfs. Seine leblosen Augen waren zur Decke gerichtet und reflektierten die Flammen.

Sie wusste, dass sie entsetzt sein sollte, Ekel und Trauer bei diesem Anblick empfinden müsste, aber sie hatte keine Zeit für solche Gefühle. Ihr Verstand funktionierte im Überlebensmodus und kümmerte sich nur um die Dinge, die er brauchte, um sie am Leben zu halten. Also trat sie einfach über die Leiche hinweg, unterdrückte das entsetzliche Bild und konzentrierte sich darauf hinauszukommen.

Die Schießerei draußen wurde heftiger. Sie hörte ein Fauchen, das von Granatwerfern zu kommen schien, und die dumpfen Schläge, wenn die Geschosse im Schulgebäude einschlugen. Überall um sie herum waren Rauch und Feuer und Verwirrung und Geschrei; Menschen kletterten in ihrem Entsetzen über Leichen und Verletzte.

Sie war fast da. Sie konnte schon das Tageslicht draußen sehen.

»Jelena! Komm weiter!«, schrie sie und riss mit einer Kraft an der Hand ihrer Freundin, die ihre körperliche Schwäche Lügen strafte. »Wir müssen …!«

Sie bekam nicht die Chance, den Satz zu beenden. Die Mutter eines der Kinder stürmte in blinder Panik vor, stolperte und prallte seitlich gegen sie. Die Wucht des Aufpralls riss Natascha von den Füßen, sodass sie auf dem Boden landete. Sie versuchte, Jelenas Hand festzuhalten, aber sie wurden in unterschiedliche Richtungen gestoßen. Bevor sie verstand, was geschah, war ihre Freundin weg.

»Jelena!«, schrie sie und versuchte, sich aufzurichten. Aber jedes Mal, wenn sie das tat, rannte jemand gegen sie oder stolperte über sie und riss sie erneut zu Boden. »Jelena, warte auf mich!«

Sie schrie vor Schmerz auf, als ein Stiefel gegen ihren Oberkörper prallte, schmerzhaft auf ihren Brüsten landete und ihr den Atem nahm. Sie hustete und versuchte vergeblich, die heiße, rauchige Luft einzuatmen. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand den Brustkorb eingetreten.

Dann hörte sie über dem Brausen des Feuers, dem Knattern der Maschinengewehre, dem Hämmern ihres Herzens und den Schreien der entsetzten Menschen die hohe dünne Stimme ihrer Freundin. »Tasha! Ich kann nicht! Ich kann nicht!«

Sie erhaschte einen kurzen Blick auf das ängstliche Gesicht des Mädchens, das von der Masse der Menschen weggerissen wurde, und im nächsten Moment war ihre Freundin verschwunden.

Sie versuchte, ihr zu folgen, wurde jedoch von kräftigen Händen zurückgerissen, die sich um ihren Hals legten. Sie zogen sie vom Loch in der Mauer weg. Ihr wurde klar, dass einer der Bewaffneten sie gepackt hatte. Verzweifelt trat sie um sich und wehrte sich gegen seinen Griff, nahm ihre letzte Kraft zusammen, um sich loszureißen.

Zwecklos. Er war doppelt so groß wie sie und viel, viel stärker. Mit einem Arm nahm er sie in den Schwitzkasten und schlug ihr mit der Faust der anderen Hand an die Schläfe. Schmerz und weißes Licht schienen in ihrem Kopf zu explodieren, als sie in seinen Armen erschlaffte.

Mit einem heftigen Ruck wurde sie von den Füßen gerissen und durch die brennende Turnhalle zurückgeschleppt. Benommen registrierte sie, dass sie sich jetzt in dem Gang befand, der die Turnhalle und die Cafeteria der Schule miteinander verband. Der ganze Korridor war von blutigen Fußabdrücken bedeckt, und auf der linken Seite sah sie eine Leiche an der Wand lehnen. Die Kleidung und die Haut des Mannes waren von Schusswunden übersät.

Ihr Häscher bog um eine Ecke und schleppte sie in den Speisesaal. Dort herrschte vollkommenes Chaos. Die Fenster waren zertrümmert, überall lagen Stühle auf dem Boden, und die Tische waren umgekippt worden, um als Barrikaden für etwa ein Dutzend Bewaffnete zu dienen, die hier offenbar Stellung bezogen hatten.

»Sie haben uns reingelegt!«, schrie einer von ihnen auf Russisch, während er mit zitternden Fingern versuchte, ein frisches Magazin in sein Gewehr zu schieben. »Sie werden uns alle töten!«

Seine Gefährten feuerten blindlings auf die Reihen der Mietshäuser jenseits des Schultores. Das Donnern ihrer Waffen in dem engen Raum war ohrenbetäubend. Der Boden war von Glassplittern, Patronenhülsen und leeren Magazinen übersät, überall war Blut.

»Beweg dich!«, schrie ihr Häscher ihr ins Ohr, als er sie zum Fenster stieß. »Los, komm schon!«

Sie versuchte zu gehorchen, aber ihre Beine wollten sie nicht tragen. Sie war immer noch benommen von dem Schlag gegen die Schläfe, aber ein harter Tritt in ihren Hintern genügte, um sie voranzutreiben. Sie segelte nach vorn und riss sich ihre Knie auf den Glassplittern auf. Aber sie spürte den Schmerz kaum noch.

Sie erstarrte vor Entsetzen, als sie auf den Hof unterhalb der Fenster blickte und die Szenerie wahrnahm, die sich ihr bot. Der Schulhof war von den Leichen übersät: Kinder, Lehrer und Eltern, die das Pech gehabt hatten, in das Kreuzfeuer der beiden Parteien zu geraten. Direkt unter sich sah sie die Leiche eines pummeligen Mädchens mit dunklem Haar, das sich zu einem Ball zusammengerollt hatte, als wollte es sich auf diese Weise verstecken. Jelena.

Aber die Trauer, die sie bei diesem Anblick hätte empfinden sollen, hatte keine Zeit, in ihr Bewusstsein zu dringen.

Ein dunkles Rumpeln zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie starrte mit offenem Mund auf den gewaltigen Panzer, der sich durch die Ziegelmauer schob, die die Grenze des Schulgeländes darstellte. Er brach durch diese steinerne Barriere, als wäre sie nicht vorhanden. Der Geschützturm schwang langsam und gelassen hin und her, und der lange Lauf der Kanone suchte eifrig nach einem Ziel. Dann hielt er inne, einen Moment geschah nichts, dann feuerte er. Das Donnern ließ den Boden erbeben. Die Granate schlug in einem der Klassenräume im ersten Stock des Hauptgebäudes ein. Glas, Trümmer und brennendes Holz regneten auf den Spielplatz.

Gleichzeitig wurde Natascha klar, dass sie nicht allein am Fenster stand. Etliche Männer und Frauen unterschiedlichen Alters hatte man neben ihr aufgestellt. Sie alle standen regungslos da, einige weinten vor Angst, andere waren seltsam still, als fügten sie sich in das, was mit ihnen geschah. Hinter ihnen kauerten die Gewehrschützen, die sie als menschliche Schutzschilde benutzten.

Bevor sich Natascha so weit erholt hatte, dass sie wieder aufstehen konnte, wurde sie am Arm vom Boden hochgerissen. Sie spürte den Kampfanzug des Mannes an ihrem Rücken und das raue Schaben seines Bartes an ihrer Wange. Donner explodierte neben ihr, als er mit seiner Waffe feuerte. Er schoss in den Schulhof, ohne sich auch nur die Mühe zu machen zu zielen.

Links von ihr schrie eine der männlichen Geiseln vor Schmerz auf und stürzte zu Boden. Blut strömte aus seiner Brust und seinen Beinen. Ihm folgte die Frau, die neben ihm gestanden hatte. Eine Kugel hatte ihr den Schädel wie eine Eierschale zertrümmert. Sie brach ohne einen Laut zusammen.

Entsetzen überkam Natascha, als ihr klar wurde, dass sie nicht von den Bewaffneten getötet worden waren, sondern von den russischen Soldaten, die sich einen Weg in die Schule freikämpften. Sie bockte und trat mit den Füßen um sich, kreischte und wand sich in einem letzten verzweifelten Versuch zu entkommen.

Das hier ist nicht real, schrie ihr Verstand ihr zu. Das kann einfach nicht wahr sein. Ihr Leben war so sicher und ruhig verlaufen, jeder Tag wie der vorherige. So etwas konnte ihr nicht passieren. Das war einfach nicht möglich …

All ihre Gedanken verstummten, als ein 7,62-Millimeter-Projektil in ihre Brust einschlug, ihre Rippen zertrümmerte, ihre inneren Organe zerfetzte und aus ihrem Rücken austrat, bevor es das Gleiche mit ihrem Häscher machte. Ihre Beine gaben unter ihr nach, und sie stürzte zu Boden. Ihre Augen starrten ausdruckslos zur Decke, als die letzten Sekunden ihres kurzen Lebens verrannen.

Sie empfand keinen Schmerz. Sie empfand nichts außer einem diffusen Gefühl der Trauer und des Bedauerns, dass sie ihre Familie niemals wiedersehen würde, niemals mehr das Lachen ihrer Mutter hören oder von ihrem Vater getadelt werden würde, weil sie ihr Wasser beim Abendessen nicht getrunken hatte.

Ihr letzter Gedanke war ganz schlicht.

Warum wir?

Dann erlosch ihr Blick, und sie sah und dachte nichts mehr.

TEIL EINS

DER ANSCHLAG

Bei dem später so genannten Beslan-Massaker starben 334 Menschen. 728 wurden verletzt. Der größte Teil der Todesopfer waren Frauen und Kinder.

1

CIA-Hauptquartier, Langley, 19. Dezember 2008

Ryan Drake sah zu, wie der Mann vor ihm sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte und vergeblich versuchte, einen bequemeren Stand zum Feuern zu finden. Er hielt das M4-Sturmgewehr in einem Winkel an seine Schulter, der ihm Probleme machen würde, wenn er abdrückte. Aber Drake verzichtete darauf einzugreifen.

Er war als Beobachter hier, nicht mehr. Seine Rolle bestand darin, den Kandidaten zu prüfen und zu entscheiden, ob er für das Shepherd-Programm geeignet war. Drake genoss diese Aufgabe nicht gerade. Er war es nicht gewohnt, sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie gute Männer scheiterten.

»Kandidat bereit?«, fragte er, als der Schütze sich aufgestellt hatte. Er konnte es dem Mann nicht verübeln, dass er nervös war. Sie wussten beide, was von diesem Moment abhing.

Es gab keine zweite Chance, wenn es um die Shepherd-Teams ging. Entweder bestand man die Prüfung beim ersten Mal, oder man ging nach Hause.

»Ist schon eine Weile her, dass ich das gehört habe.« Cole Mason sah zu ihm zurück und lächelte etwas gezwungen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Schießstand vor sich richtete. Die Anspannung in seinem Körper war auch für Drake deutlich sichtbar. »Ich bin bereit.«

»Entsichern.« Drake beobachtete, wie der Mann den Sicherheitshebel seiner Waffe umlegte. Sie war für diese Übung mit scharfer Munition geladen, und selbst ein erfahrener Profi durfte sich dabei keinerlei Nachlässigkeiten erlauben.

Drake ließ Mason ein paar Sekunden Vorbereitungszeit, in denen er selbst überprüfte, ob sein Ohrschutz fest aufsaß. Dann drückte er den Knopf der kleinen Fernbedienung in seiner Hand, um die Übung mit scharfer Munition zu starten.

Sofort wurde das Licht auf dem Schießstand gedämpft, und die angespannte Stille wich lauten Explosionen, dem Knattern von schweren Maschinengewehren und den Schreien panischer Zivilisten. Das alles kam aus Lautsprechern, die an strategischen Punkten im ganzen Raum verteilt waren. Die Explosionen wurden von Stroboskop-Blitzen und grellem orangefarbenem Licht begleitet, was die Verwirrung und die Orientierungslosigkeit einer echten Kampfsituation simulieren sollte.

Man musste Mason zugutehalten, dass er sich weder von den visuellen noch von den akustischen Reizen irritieren ließ. Er hatte so etwas schon häufig erlebt und würde ganz bestimmt bei einer Simulation nicht in Panik geraten. Jedenfalls wusste er, worauf er achten musste.

Und das kam ein paar Sekunden später. Die Pappmaschee-Verkörperung eines gewehrschwenkenden Soldaten tauchte unvermittelt hinter einer Wand auf, begleitet von einer weiteren Salve simulierten Gewehrfeuers.

Mason reagierte sofort. Er schwang den Lauf seines Sturmgewehrs nach links, wartete einen Herzschlag lang, um zu zielen, beugte sich dann vor und feuerte. Seine Geschosse schlugen zwar ein paar Zentimeter neben dem Zentrum der Pappmascheefigur ein, aber noch innerhalb der tödlichen Zone. Das Ziel kippte nach hinten, eindeutig »tot«.

»Komm schon, Cole«, flüsterte Drake. Er wollte, dass der Mann Erfolg hatte.

Die nächste Salve verlief besser und traf mehr oder weniger mitten ins Ziel, das nur zehn Meter von ihm entfernt plötzlich auftauchte. Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte Drake. Vielleicht würden Masons jahrelange Erfahrung und Ausbildung seine körperlichen Einschränkungen ausgleichen.

Aber seine Hoffnung wurde sehr bald zunichtegemacht, als das nächste Ziel im Fenster eines Gebäudes am anderen Ende des Schießstandes auftauchte. Es sollte einen Scharfschützen darstellen, der auf sie feuerte. Masons erste Salve verfehlte ihr Ziel komplett, und obwohl seine zweite traf, waren die Kugeln über den ganzen Pappkameraden verteilt. Drake sah, wie Mason bei dem Rückstoß seiner Waffe zusammenzuckte und dann seine Schulter kreisen ließ, als wollte er sie lockern. Es stank bereits nach verbranntem Kordit.

Der Mann warf das leere Magazin aus, griff nach einem neuen, das auf einem Tisch vor ihm lag, und rammte es in die Waffe, gerade als drei weitere Gestalten vor ihm auftauchten. Zwei von ihnen waren unschuldige Zivilisten und sollten Geiseln repräsentieren, die dritte war ihr Häscher.

Mason wusste, dass er nur wenige Augenblicke für eine Reaktion hatte, hob das Gewehr an die Schulter und feuerte, getrieben vom Zeitdruck.

Sein hastiger Feuerstoß zerfetzte die Pappgeisel neben seinem eigentlichen Ziel. Wäre es eine lebende Person gewesen, hätte sie zweifellos tödliche Verwundungen davongetragen.

Drake senkte den Blick, weil er nicht zusehen wollte, wie die Übung weiterverlief. Er kannte bereits das Ergebnis. Aber es dem Mann mitzuteilen war eine Aufgabe, bei der ihm die Maschinerie hier nicht helfen konnte.

Diese unerfreuliche Pflicht fiel ihm ganz allein zu.

Es war ein kalter feuchter Freitagabend in der Hauptstadt. Eisiger Regen wurde von dem böigen Wind durch die Luft gepeitscht, während die Pendler sich ihren Weg durch den dichten Feierabendverkehr kämpften. So kurz vor Weihnachten machten viele auf dem Heimweg noch einen Abstecher zum nächstgelegenen Einkaufszentrum in der Hoffnung, auf den letzten Drücker noch ein paar günstige Einkäufe vor dem Wochenende tätigen zu können.

Eine Frau blieb an einer belebten Kreuzung stehen und wartete auf eine Lücke im Verkehr, um die Straße zu überqueren. Sie trug einen schweren Wintermantel und hatte den Kragen gegen den kalten Wind hochgeschlagen. Ihr kurzes blondes Haar war unter einer schwarzen Mütze versteckt.

Über der Schulter trug sie eine Sporttasche aus Leder. Sie sah aus wie irgendeine Büroangestellte der Hauptstadt, die noch kurz vor den Feiertagen im Gymnastikstudio einen Work-out machen wollte. Eine ältere, müde wirkende Frau mit einer plumpen Figur lächelte ihr mitfühlend zu, als sie an ihr vorbeiging. Die andere Frau erwiderte das Lächeln nicht.

Schließlich fand sie eine Lücke im Verkehr und ging mit schnellen, kontrollierten Schritten über die Straße. Sie bog in eine ruhigere Seitenstraße ein und ging zu einem Wohnblock, von dem aus man den nahe gelegenen Freeway überblicken konnte. Das Brummen des Verkehrs und das gelegentliche Gehupe folgten ihr, als sie nach links abbog und zum Haupteingang ging. Sie öffnete die Sicherheitstür.

Die Treppe dahinter war sauber und gepflegt, so wie vor zwei Tagen, als sie zum letzten Mal hier gewesen war. Damals war ein Fahrrad an das Treppengeländer gekettet gewesen, aber das war jetzt verschwunden. Das Treppenhaus war nicht geheizt, aber die Wärme drang aus den Wohnungen, sodass die Temperatur hier ein paar Grad höher war als draußen.

Sie verschwendete keine Zeit, sondern ging zur Treppe und stieg hinauf. Der Inhalt der Sporttasche war offensichtlich schwer und auch sperrig, und als sie den zweiten Stock erreicht hatte, spürte sie Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Die enge Mütze klebte ihr unangenehm am Kopf, aber sie ignorierte das Gefühl.

»He, alles okay?«, fragte der Mann, der auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks stand. »Oder brauchen Sie Hilfe?«

Sie warf einen Blick auf den großen, leicht übergewichtigen Mann, der gerade aus seiner Wohnung getreten war. Er trug eine Brille, hatte einen Kinnbart und war dem winterlichen Wetter gemäß gekleidet. Wahrscheinlich hatte er gerade gehen wollen, als er sie gesehen hatte.

»Nein, es geht schon, danke«, antwortete sie und lächelte ihn dankbar an. »Die Treppe ist ein besserer Work-out, als ich ihn in dem verdammten Gymnastikstudio bekomme.«

Er lächelte und schien sie sofort sympathisch zu finden. »Verstehe. Ich sollte selbst auch ein bisschen mehr trainieren«, setzte er hinzu. Ihr fiel auf, dass er seinen Bauch eingezogen hatte. Das machten Männer häufig, wenn sie mit Frauen über Training redeten.

Sie wandte sich ab und setzte ihren anstrengenden Aufstieg zum obersten Stockwerk fort. Sie war froh, als sie hörte, wie der Mann nach unten ging und dann die schwere Eingangstür geöffnet wurde und wieder zuschlug. Er würde sich vielleicht später an sie erinnern, aber das spielte keine Rolle. Dann war sie längst verschwunden.

Über eine kurze Treppe, die an einer Feuertür endete, kam man zum Dach des Gebäudes. Die Tür war natürlich alarmgesichert. Sie hatte die Sicherung jedoch bei ihrem Besuch vor zwei Tagen bereits lahmgelegt und den Sensor überbrückt. Dadurch glaubte das System, die Tür wäre nach wie vor verschlossen.

Sie warf einen kurzen Blick zurück zur Treppe, um zu überprüfen, ob sie beobachtet wurde. Dann drückte sie kraftvoll auf die lange Stange, mit der man die Tür öffnete, und trat hinaus. Ein kalter Windstoß schlug ihr entgegen. Er zerrte an ihrem Mantel und trieb ihr Tränen in die Augen. Nach dem einigermaßen warmen Treppenhaus war dieser plötzliche Temperaturunterschied fast wie ein Schock.

Aber er bot ihr auch einen willkommenen Augenblick der Erfrischung. Mittlerweile war ihr Körper sehr gut dem kalten Klima angepasst, und im Vergleich zu einigen anderen Orten, die sie besucht hatte, war der Winter in Washington, D. C., nicht der Rede wert.

Ihr Atem bildete eine Wolke in der kalten Luft, als sie den Bereich betrachtete, der ihr als Standort dienen würde. Er war ideal für ihre Bedürfnisse. Wie die meisten Gebäude in Amerika war das Dach von Satellitenschüsseln, Entlüftungsventilen und Schornsteinen übersät. All diese Apparaturen würden ihr einen exzellenten Schutz gewähren, wenn sie an die Arbeit ging.

Vor ihr lag der Freeway 395 wie ein Fluss aus Beton, verstopft von dem zähen Feierabendverkehr. Das war sehr gut. Je langsamer sich ihre Ziele bewegten, desto einfacher war ihr Job.

2

Drake saß in seinem kleinen, engen vollgestopften Büro im ersten Stock des alten Hauptquartiers von Langley und blickte von seinem Computer hoch, als es an der Tür klopfte. Er konnte sich denken, wer es war.

»Herein!«, rief er.

Und richtig, als die Tür sich öffnete, stand Cole Mason da. Er war groß, sah gut aus, war etwa Ende dreißig und hatte die dunklen Augen, die gebräunte Haut sowie das schwarze Haar seiner italienischen Vorfahren. Nur sein Name entsprach diesem Bild nicht ganz. Er war das Resultat der Flucht seiner Großmutter in den dreißiger Jahren vor dem Italien Mussolinis. Sehr clever von ihr.

Mason hatte geduscht und sich umgezogen. Statt des T-Shirts und der Kampfanzughose – die übliche Garderobe bei Schießübungen – trug er jetzt einen grauen Anzug, der seine breiten Schultern und seinen muskulösen Körperbau betonte. Ganz offenbar hatte er in den letzten Monaten sehr häufig ein Fitnessstudio besucht, wild entschlossen, seine frühere Kraft und Fitness wiederzuerlangen.

Aber trotz dieser äußerlichen Zurschaustellung körperlicher Fitness verriet sein Blick seine mangelnde Zuversicht, als er über die Schwelle trat und sich mit einem spöttischen Lächeln in Drakes chaotischem Arbeitszimmer umsah.

»Wie ich sehe, ändern sich einige Dinge nie.«

Drake wich seinem Blick aus. Andere Dinge veränderten sich bedauerlicherweise sehr wohl.

Mason war kein eifriger junger Rekrut, der direkt von der Grundausbildung der Agency kam, sondern ein erfahrener Veteran, der bei einem ganzen Dutzend von Einsätzen unter Drake in einer der kleinen Elitegruppen gedient hatte, die man Shepherd-Teams nannte. Ihre Aufgabe bestand darin, zu den feindseligsten und gefährlichsten Orten auf der Welt zu reisen und vermisste, in Gefangenschaft geratene Agenten oder in seltenen Fällen auch abtrünnige Operatives der Agency wieder einzusammeln. Und dafür waren nur die Besten der Besten geeignet.

Mason hatte Erfahrung, eine schnelle Auffassungsgabe, und er behielt auch unter Druck einen kühlen Kopf. Deshalb war er erste Wahl als stellvertretender Kommandeur für ihre unglückliche Mission in Russland im letzten Jahr gewesen. Man hatte Drake die riskante Aufgabe übertragen, in ein sibirisches Gefängnis einzubrechen und eine Agentin zu retten, die nur unter ihrem Codenamen bekannt war, Maras. Trotz aller Widrigkeiten hatten sie ihr Ziel erreicht, aber eine verirrte Kugel hatte auf der Flucht Masons Schulter zertrümmert. Dadurch war er außer Gefecht gesetzt gewesen und hätte fast sein Leben verloren.

Das war sehr übel, wenn so etwas einem guten Mann widerfuhr, und mehr als einmal hatte sich Drake mit dem Gedanken gequält, dass er dafür verantwortlich war. Jetzt, nach achtzehn Monaten, etlichen Operationen und einer quälenden Periode der Rehabilitierung hatte Mason sich beworben, um wieder als Außenagent bei den Shepherd-Teams eingesetzt zu werden. Die Entscheidung, ob er fähig war, diese Aufgabe zu erfüllen, hatte man Drake überlassen. Eine eher zweifelhafte Ehre.

»Setz dich, Kumpel.« Drake deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Mason setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er zappelte angesichts des unangenehmen Schweigens, das Drakes Worten folgte, nervös herum. Drake hasste so etwas; er hasste es, guten Leuten schlechte Nachrichten überbringen zu müssen, er hasste es, über die Zukunft eines Mannes von seinem Schreibtisch aus zu entscheiden. Das passte nicht zu ihm. Das war nicht er.

Trotzdem war er jetzt hier und musste seinen Job erledigen.

»Erstens möchte ich dir sagen, wie unglaublich es ist, dass du überhaupt wieder hierher zurückgekommen bist«, begann er. »Die Arbeit, die du dir im letzten Jahr gemacht hast …«

»Ryan, wir kennen uns schon so lange«, unterbrach Mason ihn. »Du kannst dir diesen Unsinn schenken. Komm einfach zur Sache, einverstanden?«

Er lächelte, als wäre das hier ein harmloses Geplänkel unter Freunden, vielleicht in der Hoffnung, die Spannung zu lindern, aber Drake spürte die nervöse Erwartung hinter diesem entwaffnenden Lächeln. Wahrscheinlich hätte er sich an Masons Stelle genauso gefühlt.

Wenn der Mann die Wahrheit hören wollte, würde er sie ihm sagen.

»Also gut, die Sache ist die.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte, während er seinen Freund ansah. »Es hat keinen Sinn, lange darum herumzureden, also sage ich es einfach direkt. Leider hast du die Prüfung nicht bestanden. Es tut mir leid, Kumpel, aber ich kann nicht bestätigen, dass du fit bist für die Rückkehr in den aktiven Dienst.«

Mason schwieg lange. Er reagierte überhaupt nicht. Er sah nur Drake über den Schreibtisch hinweg an, als wartete er darauf, dass der noch etwas sagte, dass er irgendetwas hinzufügte, das dem Ganzen noch eine Wendung gab.

Aber das passierte nicht. Drake konnte ihm nichts dergleichen anbieten.

In den Shepherd-Teams gab es keinen Platz für Leute, die ihr Ziel erst beim dritten Versuch erreichten, wenn sie dann endlich kapiert hatten, was sie erwartete, und wussten, wie sie damit umgehen mussten. Genauso wenig wie es im Feld eine zweite Chance gibt, gab es sie bei der Ausbildung und der Auswahl. Sie waren rücksichtslos, weil sie es sein mussten.

»Du kennst selber die Maßstäbe, die man bei den Shepherd-Operatives anlegt«, fuhr Drake fort. Er redete mehr, um die Stille zu füllen, als aus dem Glauben heraus, dass seine Worte sonderlich tröstend waren. »Der Hammer hängt verflucht hoch, und ich kann ihn für niemanden tiefer hängen, ganz gleich wie gern ich das auch tun würde.«

»Das war’s also, stimmt’s?« Ein Unterton von Verbitterung und Frust schlich sich in Masons Stimme. »Ich bin erledigt. Du schickst mich weg. Ich soll packen und nach Hause fahren, hab ich recht?«

»Selbstverständlich nicht. Es gibt noch andere Jobs in der Agency …«

»Welche denn? Soll ich Burger in der verfluchten Kantine braten?«, fuhr Mason hoch. Er stand auf, als der Zorn ihn übermannte. »Du glaubst, dass ich dafür fit genug bin?«

»Das habe ich nicht gemeint.« Drake wusste, dass er diese Angelegenheit behutsam angehen musste. »Du hast jahrelange Erfahrung im Außendienst. Du könntest als Ausbilder arbeiten, Einsätze planen … Was auch immer du willst. Es gibt jede Menge Möglichkeiten …«

»Nein, Ryan.« Der ältere Mann schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich bin für diesen Mist genauso wenig geeignet wie du. Wir sind beide Field-Operatives. Wir sind es immer gewesen und werden es immer sein.«

Nur dass einer von uns nicht mehr für diesen Job geeignet ist, dachte Drake unwillkürlich. So etwas über einen Mann zu denken, den er als Freund betrachtete, war hart, aber sie hatten auch einen harten Job, bei dem man sich keinerlei Schwäche oder Beeinträchtigung erlauben konnte.

Mason beruhigte sich ein wenig. »Hör zu, wir haben jahrelang zusammengearbeitet, stimmt’s? Du kennst mich, du weißt, wozu ich fähig bin. Also gut, ich habe heute nicht jeden Test bestanden, den sie mir vor die Nase geknallt haben. Und wenn schon? Ich kann immer noch da draußen bestehen, dort, wo es drauf ankommt.« Er hielt einen Moment inne, als spürte er, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten. Dann machte er den Schritt trotzdem. »Es … es wäre nicht sonderlich schwierig, meine Ergebnisse ein klein wenig zu verändern. Wir wissen beide, dass andere das schon gemacht haben. Warum also nicht bei mir? Du weißt, dass ich das auch für dich tun würde, wäre die Situation umgekehrt.«

Das war ein ganz anderer Mann als der, von dem sich Drake nach der Mission in Sibirien verabschiedet hatte, das wurde ihm jetzt klar. Der coole Mason, den er gekannt hatte, hätte nicht einmal im Traum an das gedacht, was er jetzt einfach so vorgeschlagen hatte. Andererseits war das auch vor den schmerzhaften Operationen gewesen, den quälenden Monaten der Reha, den finanziellen Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, wenn man nur ein halbes Gehalt bekam, während die Zukunft immer noch unklar blieb.

Drake verstand genau, warum Cole das tat, warum er das Bedürfnis hatte, alles wiederzuerlangen, was er verloren hatte, warum er sich beweisen musste, dass er kein nutzloser Kumpel war, der nicht einmal ein Gewehr ordentlich abfeuern konnte. Er hätte sich an seiner Stelle möglicherweise genauso gefühlt. Aber genau das war ein Gedankengang, den er sofort verdrängen musste.

»Cole, hör mir jetzt genau zu.« Er stand auf. »Ich werde dir jetzt etwas sagen, das du nicht hören willst, was du aber um unserer beider willen hören musst. Ich weiß genau, dass du mich niemals freiwillig im Stich lassen würdest. Du warst einer der besten Operatives, mit denen ich je zusammengearbeitet habe, aber es ist einfach eine Tatsache, dass du jetzt eine Belastung darstellst. Das ist zwar alles andere als schön, aber es ist die Wahrheit. Wenn ich dich für den Außendienst als einsatzfähig einstufen würde, würde ich das Leben jedes Teams riskieren, in dem du tätig sein würdest. Du hast genau gesehen, was vorhin auf dem Schießstand passiert ist. Es hätten Keira oder ich sein können oder irgendein unschuldiger Zivilist, der ins Kreuzfeuer geraten ist. Würdest du damit leben wollen für den Rest deines Lebens?« Er seufzte und blickte kurz auf seinen Schreibtisch hinunter. »Du hast gesagt, du würdest mir den Rücken decken, wenn die Situation umgekehrt wäre. Also, wenn das stimmt, dann würde ich von dir erwarten, dass du mir denselben Vortrag hältst, den ich gerade dir gehalten habe. Ich wäre stinksauer auf dich und würde dich wahrscheinlich ziemlich lange links liegen lassen, aber irgendwann würde ich begreifen, dass du recht gehabt hast. Ich bitte dich, die Sache auf sich beruhen zu lassen, Kumpel. Mach es nicht noch schlimmer für dich selbst.«

Seine Worte genügten, um Masons Ärger zu dämpfen. Drake sah, wie er zögerte, wie er begriff, dass seine Unzulänglichkeiten heute nicht einfach nur Pech waren, sondern eine unausweichliche Tatsache. Trotz all der Operationen und der Rehabilitation und des Trainings war er nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war.

»Es tut mir leid, aber ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Ist dir sicher ziemlich schwergefallen, Ryan, stimmt’s?«, fragte Mason verbittert.

Drake schwieg.

Mason spürte, dass sein Freund nichts mehr dazu sagen würde, und hob trotzig das Kinn.

»Also gut, ich nehme an, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Seine Stimme klang jetzt kalt und geschäftsmäßig. »Danke für die Chance. Vielleicht sehen wir uns irgendwann noch mal.«

Er schüttelte Drake die Hand und zerquetschte ihm fast die Finger, als wollte er die Kraft zeigen, die er noch besaß.

»Ist schon eine sonderbare Welt, oder?«, meinte er schließlich, ließ Drakes Hand los und verließ das Büro.

Drake atmete langsam aus und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er hatte gerade die Karriere eines Mannes von seinem gemütlichen Schreibtisch aus zerstört. Der Computer, an dem er seine endgültige Bewertung von Masons Vorstellung tippte, war jetzt seine Waffe, und sie war genauso effektiv und grausam wie ein Gewehr.

Aber das war nicht er. Das hier war nicht die Person, die er sein wollte.

Er rieb sich die Augen und stieß sich von dem Schreibtisch ab. Dann drehte er sich mit dem Stuhl herum und starrte durch sein kleines Fenster auf die schwach beleuchtete Welt draußen. Hinter den Bäumen, die das CIA-Hauptquartier umringten, lagen die fernen Lichter von Washington, D. C. Sie wurden von bedrohlichen grauen Wolken verhüllt. Es war ein früher Dezemberabend, und es wurde schnell dunkel. Eisregen klatschte gegen die Scheibe.

Erneut durchdachte Drake die Ereignisse jenes letzten Jahres; den gefährlichen Angriff auf das entlegene russische Gefängnis, die Entscheidungen, die er getroffen hatte, die Dinge, die er anders hätte angehen können. Er hatte das schon häufiger getan, als er zählen konnte, aber Masons Auftauchen heute hatte die Erinnerungen daran erneut ausgelöst.

In der Rückschau betrachtet, hatte diese Mission nichts Gutes ergeben. Die Rettung dieser rätselhaften Gefangenen hatte eine Ereigniskette ausgelöst, die Drakes Leben fast ein Ende gesetzt hätte, ganz zu schweigen von dem seiner Schwester und ihrer Familie in England. Sie hatte seine Karriere ruiniert und ihn in eine unangenehme Pattsituation mit mächtigen Männern gebracht, die seinen Tod wollten. Und heute war er mit einer anderen Erinnerung an die Konsequenzen seiner Handlungen konfrontiert worden.

»Scheiß drauf«, knurrte er und stand auf.

Der Bericht konnte bis morgen warten. Es war ohnehin nicht mehr als eine Autopsie. Was auch immer er hineinschrieb, es würde an der Tatsache nichts ändern, dass der Patient sozusagen tot war. Und er wollte sich an diesem Abend nicht mehr daranmachen, erklären zu müssen, wie und warum das passiert war.

Er schnappte sich den Mantel vom Haken hinter der Tür, schob seine Hände in die Taschen und tastete nach seinen Wagenschlüsseln.

Anya legte die schwere Sporttasche zur Seite, kniete sich daneben und öffnete den Reißverschluss. Ein sorgfältig eingewickeltes Paket kam zum Vorschein. Es war ein KSVK-Präzisionsgewehr, auseinandergenommen, damit es leichter transportierbar war.

Mit effektiver, gelassener Leichtigkeit, die von langer Praxis zeugte, machte sie sich daran, die Waffe wieder zusammenzubauen. Sie setzte erst den Verschlussmechanismus zusammen, bevor sie den großen, fast einen Meter langen Lauf befestigte. Dann betätigte sie einmal prüfend den Abzug, und ein Klicken bestätigte, dass alles in Ordnung war. Danach setzte sie das Zielfernrohr auf die Schiene oben an der Waffe.

Die letzte Aufgabe bestand darin, das Magazin einzusetzen. Sie schlug es nicht mit der Handfläche fest, wie man es in Filmen sieht, sondern drückte es einfach nur in den Mechanismus, bis sie das Klicken spürte, mit dem die Zapfen einrasteten. Sie zog einmal daran, um sich zu vergewissern, dass das Magazin gesichert war.

Dann holte sie aus ihrer Tasche einen Bluetooth-Kopfhörer und steckte ihn in ihr linkes Ohr. Anschließend aktivierte sie ihr Handy und wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Ihr Anruf wurde sofort entgegengenommen.

Niemand sagte etwas, nur das Klingeln hörte auf.

»Ich bin auf Grün«, meldete sie. »Wann fangen wir an?«

»Unsere Freunde sind unterwegs. Fünfzehn Minuten.«

»Verstanden.«

Es gab keinen Grund, sich länger zu unterhalten. Sowohl sie als auch ihr Kontaktmann wussten, was zu tun war; jetzt ging es einfach nur darum, den schwierigsten Teil bei der Arbeit eines Scharfschützen anzugehen – das Warten.

Drake verließ den Spirituosenladen und drückte die sorgfältig verpackte Weinflasche an seinen Körper. Er hatte den Kopf gesenkt und den Mantelkragen gegen den Eisregen und Hagel hochgestellt, die ihm bei jeder Bö ins Gesicht fegten. Es war ein mieser Abend, und so, wie es aussah, würde er höchstwahrscheinlich nicht viel besser werden.

Er hatte sich für einen fünf Jahre alten Sauvignon Blanc entschieden, weil er glaubte, dass die meisten Leute dieses Zeug tranken. Aber jetzt überlegte er, ob er stattdessen nicht besser eine Flasche Chablis Chardonnay hätte kaufen sollen.

»Himmel, Ryan, es ist nur eine Flasche Wein«, sagte er leise und verabreichte sich eine mentale Ohrfeige.

Allerdings war es in diesem Fall erheblich mehr als nur eine Flasche Wein, es war ein Friedensangebot. Und dazu keine besonders große Entschädigung angesichts dessen, wie er den beabsichtigten Empfänger in den letzten Monaten behandelt hatte. Aber es war das Beste, was ihm eingefallen war.

Er näherte sich gerade seinem Wagen, als er spürte, wie sein Handy in der Hosentasche vibrierte und eine ankommende SMS meldete.

Einen Moment war Drake versucht, nicht zu reagieren. Er vermutete, dass die Nachricht etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte, und er war nicht in der Stimmung, sich mit irgendeinem langweiligen Verwaltungshengst an einem Freitagabend um achtzehn Uhr abzugeben.

Aber er war kein Mensch, der eine Nachricht einfach nicht las. Seine Neugier und ein frustrierenderweise angeborenes Pflichtgefühl zwangen ihn, einen Blick darauf zu werfen. Er legte die Flasche auf den Beifahrersitz, aktivierte sein Handy und rief den Text auf. Seine Neugier verstärkte sich sofort, als er auf dem Display sah, dass der Absender »unbekannt« war.

Aber noch faszinierender war die Botschaft selbst.

RYAN – WIR MÜSSEN REDEN. 1ST STREET UND DELAWARE AVENUE. IN ZEHN MINUTEN.

Drake spürte eine düstere Vorahnung, als er die Botschaft erneut überflog. Bei dieser Form der Kommunikation war es zwar unmöglich, etwas über den Absender zu sagen, aber der Stil der Nachricht passte zu einer Frau, der es nicht fremd war, solche geheimnisvollen Treffen kurzfristig anzuberaumen.

Eine Frau, die er seit seiner Rückkehr von einer Mission in Afghanistan vor vier Monaten, bei der einer aus seinem Team getötet worden war, nicht mehr gesehen hatte.

Eine Frau, die zu ignorieren er sich nicht leisten konnte. Wenn sie das Risiko eingegangen war, ihn mitten in Washington, D. C., zu kontaktieren, musste sie ihm irgendetwas Wichtiges mitzuteilen haben.

Wie dem auch sei, er durfte dieses Treffen keinesfalls verpassen.

Er schob das Telefon in die Tasche und warf der Flasche Wein auf dem Beifahrersitz einen kurzen Seitenblick zu. Er spürte einen flüchtigen Anflug von Bedauern, weil er wusste, was diese Flasche repräsentierte.

Aber das Friedensangebot würde wohl warten müssen. Er ließ den Motor an und fädelte sich in den dichten Verkehr ein. Dabei trat er das Gaspedal durch, um den Zusammenstoß mit einem heranbrausenden Bus zu vermeiden.

3

Im Zentrum von D. C. herrschte ein Zustand des organisierten Chaos, als Drake versuchte, sich den Weg durch den Feierabendverkehr zu bahnen. Er manövrierte seinen Wagen durch Lücken, durch die er eigentlich nicht hätte passen dürfen, nahm Seitenstraßen und alle möglichen Abkürzungen, die ihm nur einfallen wollten.

Trotz all seiner Bemühungen musste er jedoch sein Fahrzeug in einer Wohnsiedlung etliche Blocks südlich vom vereinbarten Treffpunkt abstellen und zu Fuß weitergehen. Er bemühte sich, den Hagel und den Eisregen zu ignorieren, die mittlerweile täglich auf die Hauptstadt herunterprasselten. Es war ein höchst unangenehmer Abend, aber er verschwendete keinen Gedanken an das Wetter.

Wenn er recht hatte, wartete im Moment eine Person ein paar Blocks entfernt auf ihn, nach der er den größten Teil der letzten achtzehn Monate gesucht hatte.

Anya, die Frau, die er letztes Jahr aus einem russischen Gefängnis befreit hatte. Unter ihrem Codenamen Maras war sie einmal eine der besten Operatives der Agency gewesen. Und seit dieser Nacht hatte sie einen zwar unregelmäßigen, aber nachdrücklichen Einfluss auf sein Leben gehabt, denn ihre Anwesenheit bedeutete häufig Aufruhr und Gefahr.

Aber sosehr es ihm auch missfiel, das zugeben zu müssen, sie war auch sein Rettungsanker. Sie war die einzige Person auf der Welt, die das Netz aus Verrat und Lügen entwirren konnte, das bis hoch in die obersten Ränge der Agency reichte. Doch nur die Zeit würde erweisen, ob sie tatsächlich den Schlüssel dafür besaß, die Dinge wieder zurechtzurücken.

Allerdings bestand durchaus auch die Möglichkeit, dass es sich bei diesem rätselhaften Kontakt gar nicht um Anya handelte. Für diesen Fall war er vorbereitet. Er griff in seine Tasche und spürte den harten Umriss der Sig Sauer 9 Millimeter Automatik, die er aus dem Handschuhfach seines Wagens genommen hatte, bevor er ihn abgestellt hatte. Zurzeit lag dort immer eine Waffe griffbereit.

Die Ecke 1st und Delaware war, bei Licht betrachtet, ein ziemlich unauffälliger Ort für ein solches Treffen. Drake sah sich um und bemerkte wenig Interessantes auf den von Bäumen gesäumten Straßen, abgesehen von einem Wohnblock im Nordosten, dem mehrere Reihen zweistöckiger Wohnhäuser gegenüberlagen. Die Fahrzeuge, die dort parkten, bestätigten seinen Verdacht, dass dieses Viertel alles andere als wohlhabend war.

An der südöstlichen Ecke stand eine Baptistenkirche. Den Geräuschen nach zu urteilen, die aus der Kirche drangen, schien es einer dieser Orte zu sein, wo man häufig Gospels sang und Tamburine schlug. Wenigstens diese Leute hatten einen guten Abend.

Der Verkehr rauschte auf beiden Hauptstraßen vorüber. Hier war er weniger dicht als auf dem großen Freeway ein Stück weiter im Norden, aber trotzdem stark genug, um das Überqueren der Straße schwierig zu machen. Es gab fast keine Fußgänger hier bis auf einen übergewichtigen alten Mann, der seinen Hund auf eine Grasfläche in der Nähe der billigen Wohnhäuser führte. Drake konnte ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken, weil der Mann vorgab, ihm würde nicht auffallen, dass sein Hund sich hinhockte und einen großen dampfenden Haufen auf dem Gras hinterließ. Er ging weiter, als wäre nichts passiert. Drake hatte die gleiche Taktik benutzt, als man ihn gezwungen hatte, morgens mit dem Hund der Familie Gassi zu gehen.

Das Einzige, was in diesem Bild urbaner Langeweile fehlte, war Anya. Was an sich nicht überraschend war. Sie kontrollierte immer Zeit und Ort ihrer Treffen und sorgte dafür, dass er sie nicht fand, bis sie gefunden werden wollte. Allerdings sah es ihr nicht ähnlich, sich zu verspäten.

Drake klappte seinen Jackenkragen hoch und warf einen Blick auf seine Uhr. Seit ihrer SMS waren mehr als zehn Minuten vergangen. Wo steckte sie?

Die Lichtverhältnisse auf dem Dach verschlechterten sich rapide. Es war Winter, die Sonne war vor etwa einer halben Stunde untergegangen, und langsam legte sich die Dunkelheit über die Hauptstadt. Für Anya war das perfekt. Der hell erleuchtete Highway erleichterte es für sie, ihre Ziele ins Auge zu fassen, während die Dunkelheit ihre Position hier oben auf dem Dach verhüllte.

Allerdings hätte sie sich auch keine Sorgen machen müssen. Es gab nur sehr wenige Gebäude in der Nachbarschaft, von denen aus man auf dieses Dach hätte blicken können. Das war einer der Gründe, warum sie diesen Platz ausgesucht hatte.

»Eine Minute.«

Sie biss die Zähne zusammen und wuchtete die unhandliche Waffe auf das Metall des Abluftventils neben ihr. Sie setzte sie auf der eingebauten Stützgabel ab, während sie die Waffe durchlud und die erste Kugel in die Kammer schob.

Die Kammer der KSVK fasste fünf Patronen 12,7 X 108- Millimeter panzerbrechende Munition. Diese war stark genug, um die Metallhaut eines durchschnittlichen Schützenpanzers zu durchschlagen und jeden darin zu töten. Zwei Ziele, fünf Patronen und keine Zeit, das Magazin zu wechseln.

»Dreißig Sekunden.«

Anya schätzte die Geschwindigkeit des Windes auf etwa sechs oder sieben Knoten, und er wehte mehr oder weniger direkt aus östlicher Richtung. Das würde die Patronen nicht vom Ziel ablenken, aber es würde eine leichte Senkung der Schussbahn bewirken, da jedes Projektil durch mehr Luft fliegen musste. Sie justierte die Querachse des Zielfernrohrs entsprechend und machte es sich dann dahinter bequem. Sie suchte eine angenehme Position für den Schaft an ihrer Schulter.

»Zwanzig Sekunden.«

Sie schloss die Augen und atmete langsamer und tiefer. Das beruhigte ihren Herzschlag und entspannte ihre Muskeln. Als Scharfschütze zu arbeiten war eine der anspruchsvollsten Aufgaben für jeden Operative. Jahrelanges Training und die aufwendigen Vorbereitungen fokussierten sich in einem einzigen Moment der Wahrheit. Ein Schuss, eine Chance, ein Treffer.

»Zehn Sekunden.«

Sie öffnete die Augen wieder, drückte ein Auge gegen das Zielfernrohr und beobachtete den Verkehr auf dem Freeway, bis sie fand, wonach sie suchte. Zwei silberfarbene Mercedes-Benz-Limousinen, die im Konvoi auf der Mittelspur fuhren. Die Entfernung betrug etwa siebenhundert Meter und die Geschwindigkeit der Fahrzeuge etwa sechzig Kilometer pro Stunde.

»Fünf Sekunden.«

Jetzt brauchte sie keine Ansage mehr. Sie suchte den zweiten Wagen des Konvois und nahm die rechte Seite der Windschutzscheibe ins Visier. Das Glas war dunkel gefärbt, wie es oft bei Fahrzeugen, die hochrangige Persönlichkeiten transportierten, der Fall war. Dadurch war es kaum möglich, den Fahrer zu sehen, aber das spielte keine Rolle. Sie kannte das Modell des Fahrzeugs und wusste genau, wo er sitzen würde.

Ihr behandschuhter Finger legte sich auf den Abzug.

»Jetzt.«

Sie atmete langsam aus und drückte ab.

Der Rückschlag der 12,7-Millimeter-Patrone hämmerte ihr mit voller Wucht den Schaft der Waffe gegen die Schulter. Die Explosion schickte eine Schockwelle über den Metallkorpus des Abluftstutzens vor ihr und ließ das Wasser hochspritzen. Vom Knall klingelten ihr die Ohren.

Eine halbe Sekunde später sah sie, wie das Panzerglas der Windschutzscheibe nach innen explodierte und eine rote Wolke die zersplitterten Glasscherben mit einem Schleier überzog.

Ihre rechte Hand bewegte sich sofort, betätigte den Verschlussmechanismus, der die leere Patrone auswarf und eine neue in den Lauf schob. Es klickte, und mit einem dumpfen Geräusch fiel die leere Patrone auf das Dach. Sie qualmte und zischte auf der feuchten Oberfläche.

Sie blickte nicht länger auf den zweiten Wagen des Konvois. Damit war sie fertig. Es würde nur wenige Augenblicke dauern, bis der Fahrer des ersten Fahrzeugs einen Blick in den Rückspiegel warf und begriff, dass irgendetwas nicht stimmte. Das Bild, das sie durch das Zielfernrohr wahrnahm, verschwamm kurz, als sie das erste Fahrzeug ins Visier nahm. Ihre Schulter schmerzte von dem Rückschlag der Waffe, aber sie ignorierte den Schmerz. Sie registrierte beiläufig die wachsende Panik auf dem Highway, als ihr erstes Ziel seitlich ausbrach, gegen einen Kleinbus prallte und ihn gegen die Betonmauer des Freeway drückte. Hupen gellten, und Reifen quietschen, als die Fahrzeugführer herauszufinden versuchten, was da passiert war.

Der Fahrer des ersten Mercedes hatte das ebenfalls registriert. Aber anders als die gelangweilten Pendler um ihn herum wusste er genau, was zu tun war. Er gab Vollgas. Für so etwas war er ausgebildet und wusste, dass er beschleunigen, Ausweichmanöver einstreuen und so schnell wie möglich vom Schauplatz des Attentats verschwinden musste.

Anya wusste, dass er zu einer Ausfahrt etwa hundert Meter weiter auf dem Freeway wollte. Diese gehörte zu einer großen Kreuzung mit zwei anderen Hauptverkehrsadern. Um dorthin zu gelangen, hatte er jedoch bedauerlicherweise keine andere Wahl, als sich Anya weiter zu nähern.

Da die zweite Patrone jetzt im Lauf war, schwang sie das Gewehr nach links und verfolgte ihr Ziel, als es versuchte, sich durch den dichten Verkehr zu winden. Aber die Bemühungen des Fahrers waren vergeblich. Als sie auf ihn schoss, durchschlug die Kugel die gepanzerte Scheibe und tötete ihn auf der Stelle.

Das passierte in einer scharfen Linkskurve. Der Mercedes scherte hart nach links aus und krachte gegen die Mittelleitplanke, bevor er umkippte und sich überschlug.

Zwei Schüsse, zwei Treffer. Sie hatte ihre Aufgabe erledigt. Mit dem Rest hatte sie nichts mehr zu tun.

Drake zuckte zusammen, als er den gedämpften Knall des ersten Schusses hörte, und fragte sich einen Augenblick, ob es vielleicht ein Donnerschlag am dunklen Himmel über ihm gewesen sein konnte. Aber der zweite Schuss, nur ein paar Sekunden später, zerstörte diese Illusion, vor allem als ihm ein Krachen und ein gellendes Hupkonzert auf dem nahe gelegenen Freeway folgten. Jemand feuerte auf den zäh fließenden Verkehr.

Drake kannte das Geräusch eines Scharfschützengewehres genau, und seine Erfahrung aus dem Straßenkampf sagte ihm, dass der Schuss aus der Nähe gekommen sein musste. Augenblicklich reagierte sein Gehirn, und seine Ausbildung als Operative setzte vollkommen unbewusst ein. Er überschlug rasch, was er bis jetzt wusste, und kombinierte es mit Erfahrung und Intuition, als er seine nächste Aktion überlegte.

Es war kein Zufall, dass dieser Angriff ausgerechnet zur gleichen Zeit und am gleichen Ort passiert war, an dem er sich mit Anya hatte treffen wollen. Er wusste ja nicht einmal, ob der Scharfschütze möglicherweise geschickt worden war, um sie auszulöschen. In dem Fall könnte sie entweder verletzt oder sogar schon tot sein. Er hatte keine Ahnung, woher die Leute von dem Treffen erfahren hatten, und jetzt war auch nicht der richtige Moment, um über solche Fragen lange nachzudenken. Entscheidend war, was er in den nächsten Sekunden tat.

Er selbst stand auf einer offenen Kreuzung, total ungeschützt und eine leichte Beute für einen erfahrenen Scharfschützen. Er konnte ganz gewiss nicht hierbleiben, aber jeder Fluchtversuch wäre vollkommen vergeblich gewesen. Moderne Scharfschützengewehre waren auf tausend Meter oder mehr absolut treffsicher, und er hatte nicht das geringste Verlangen, diese Erkenntnis einem Test zu unterziehen. Nein, seine beste Chance bestand darin, den Schützen aufzuspüren und selbst auszuschalten.

Die Frage war nur, wo sich der Schütze platziert hatte.

Eine städtische Umgebung mit vielen hohen Mauern und scharfen Ecken verzerrt die Akustik bei Gewehrschüssen. Die Mauern werfen die Klangwellen zurück und erschweren es einem, den genauen Herkunftsort eines Schusses zu lokalisieren. Aus diesem Grund sind Scharfschützen in einem Häuserkampf so erfolgreich. Die einzige Chance, in einem solchen Fall den Schützen zu finden, besteht darin, seine oder ihre mögliche Schussposition ausfindig zu machen.

Drake ließ den Blick rasch über seine Umgebung schweifen und musterte die nahe gelegenen Gebäude, von denen aus man einen guten Standort hatte.

Der 395 war ein erhöhter Freeway, das bedeutete, die meisten Flachdachgebäude und die Geschäfte lagen unterhalb des Straßenniveaus. Im Norden erhob sich ein Bürogebäude in den nächtlichen Himmel, das, wenn er sich richtig erinnerte, zur Michigan State University gehörte. Es war auf jeden Fall hoch genug, um von dort aus ein gutes Schussfeld auf den Freeway zu gewähren, aber solche Gebäude hatten Kameras, bewaffnete Sicherheitsbeamte und Alarmanlagen. All das musste ein Scharfschütze peinlichst genau umgehen und neutralisieren, daher würde er einen solchen Ort nach Möglichkeit meiden.

Gegenüber lag eine Kirche. Der Glockenturm war auf jeden Fall hoch genug, dass man von dort den Freeway überblicken konnte, aber niemand würde ein Scharfschützengewehr an einer Versammlung von Gläubigen vorbeischmuggeln und es dann auch noch benutzen können, ganz gleich, wie laut sie ihre Tamburine schlugen.