Geißel der Menschheit - Edward Russell Lord Russell of Liverpool - E-Book

Geißel der Menschheit E-Book

Edward Russell Lord Russell of Liverpool

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Beschreibung

"Da erst konnte er begreifen, daß die Nation, die der Welt Goethe und Beethoven, Schiller und Schumann schenkte, ihr auch Belsen und Auschwitz, Ravensbrück und Dachau bot." Lord Russell of Liverpool Thomas Mann schreibt am 18. März 1955: "[...] Skandal über Skandal. In Westdeutschland wird Russells Buch über den Nazismus unterdrückt. Die Schweiz muss all diese gemeine Rückfälligkeit mitmachen! [...]" Thomas Mann: Tagebücher 1953-1955 Inge Jens (Hg.), S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 1955, Seite 327 Als Berater des britischen Oberkommandanten für alle Kriegsverbrecherprozesse hatte Lord Russell of Liverpool einen tiefen Einblick in Wesen und Struktur der Naziherrschaft. In seinem Buch "Geissel der Menschheit" lieferte er 1954 auf Basis von Augenzeugenberichten, Geheimdokumenten aus Wehrmachtsarchiven und Prozessprotokollen seine "Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen". Sein sowohl sachlicher als auch erschütternder Tatsachenbericht über das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte kann als erste umfassende Bilanz der deutschen Verbrechen im Dritten Reich gelten. "Nur wenn wir aus der Vergangenheit eine Lehre ziehen, gibt es eine wirkliche Hoffnung für die Zukunft", beendet Liverpool sein Vorwort. Ein Satz, der bis heute nichts an Aktualität verloren hat.

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Seitenzahl: 402

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Ebook Edition

Edward Russell, Lord Russell of Liverpool

Geißel der Menschheit

Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen

Titel der englischen Originalausgabe The Scourge of the Swastika: A Short History of Nazi War Crimes © Lord Russell of Liverpool Deutsche Originalfassung von Roswitha Czollek, überarbeitet von Emil Fadel

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-782-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Einleitung von Moshe Zuckermann
Vorwort zur westdeutschen Ausgabe
Prolog
I Die Instrumente der Hitlertyrannei
II Misshandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen
III Kriegsverbrechen auf Hoher See
IV Misshandlung und Ermordung der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet
ITALIENER!
V Zwangsarbeit
VI Konzentrationslager
Auschwitz
Belsen
Buchenwald
Dachau
Neuengamme
Ravensbrück
VII Die »Endlösung der Judenfrage«
Epilog
Anhang
Namensregister
Anmerkungen

Einleitung von Moshe Zuckermann

Im Prolog zu seinem 1956 auf Deutsch erschienenen Buch Geißel der Menschheit schreibt Lord Russell of Liverpool: »Während des zweiten Weltkrieges […] wurden von deutscher Seite Kriegsverbrechen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß begangen. Sie waren Bestandteil der nazistischen Konzeption des totalen Krieges und wurden auf Grund eines vorher ausgearbeiteten und vereinbarten Planes verübt, dessen Ziel es war, die Einwohner der überfallenen und besetzten Gebiete zu terrorisieren und auszubeuten und alle die Menschen zu vernichten, die den deutschen Eroberern und der Naziherrschaft besonders feindlich gesinnt waren.«

Mit Bezug auf die in den Nürnberger Prozessen angeklagten Hauptkriegsverbrecher im deutschen Generalstab und Oberkommando zitiert Lord Russell das gefällte Urteil, in welchem es unter anderem heißt, diese Männer seien »in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazikumpane akademisch und ohne Folgen geblieben […], sie waren eine rücksichtslose militärische Kaste […]. Viele dieser Männer haben mit dem Soldateneid des Gehorsams gegenüber militärischen Befehlen ihren Spott getrieben. Wenn es ihrer Verteidigung zweckdienlich ist, so sagen sie, sie hatten zu gehorchen; hält man ihnen Hitlers brutale Verbrechen vor, deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde, so sagen sie, sie hätten den Gehorsam verweigert. Die Wahrheit ist, dass sie an allen diesen Verbrechen rege teilgenommen haben oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen größer angelegte und empörende Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte.«

Es hätten viele andere Textstellen herangezogen werden können, aber schon diese beiden aus dem Prolog mögen als paradigmatisch für Lord Russells gesamtes Werk angesehen werden. Es fällt zunächst auf, dass der Autor das Präzedenzlose der deutschen Kriegsverbrechen, zugleich aber auch ihren unglaublichen Umfang ins Auge fasst. Dieser Punkt muss hervorgehoben werden, denn sosehr sich der Diskurs auf die deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Forschung späterer Jahre gemeinhin auf den an den europäischen Juden verbrochenen Holocaust und seine Einzigartigkeit fokussierte, darf nicht übersehen werden, dass die Untaten der Nazis mehr umfassten, als die Monstrosität des Holocausts. Lord Russell befasst sich zunächst mit den institutionellen Apparaten der Nazi-Tyrannei, ihren Strukturen und Funktionen (etwa denen der SS, der Gestapo und der Wehrmacht), um dann ihre Praxis und Wirkmächtigkeit bei der Verübung unterschiedlicher Kategorien von Kriegsverbrechen kenntnisreich anzuvisieren. Erörtert werden Verbrechen, die an Kriegsgefangenen, aber auch bei Vorfällen auf hoher See begangen wurden; gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Verbrechen wie auch die Schrecken der Zwangs­arbeit und der Konzentrationslager; Ereignisse wie die Massaker von Lidice und Malmedy sowie die Zerstörung des Warschauer Ghettos. Dargestellt und analysiert werden auch die von der deutschen Bevölkerung verübten Lynchmorde an Gefangenen der alliierten Luftwaffe; der Tod von vier Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und schlimmste, von einzelnen deutschen Offizieren begangene Verbrechen.

Es erhebt sich freilich die Frage, welche aktuelle Relevanz dieses Unterfangen heute noch haben kann. Man mag einwenden, dies alles sei ja schon längst bekannt, die Forschung habe doch bereits den größten Teil dieser Verbrechen, ihrer Mechanismen, Abläufe und Ideologie zutage gefördert. Was kann man schon, so besehen, einer Schrift abgewinnen, die vor über sechzig Jahren publiziert worden ist? Nun, für den kundigen Fachmann mag die erneute Veröffentlichung dieses Buches in der Tat überflüssig sein. Es ist allerdings anzunehmen, dass er dieses bedeutende Werk aus der Vergangenheit ohnehin schon gekannt hat. Gleichwohl muss hervorgehoben werden, dass Lord Russells Buch nicht (nur) für die Fachwelt geschrieben worden war; es erhob durchaus den Anspruch, einem breiten Publikum zu unterbreiten, welch verbrecherischen Schrecken und unvorstellbares Grauen das Naziregime verursacht und generiert hat. Nicht von ungefähr avancierte das unter dem Originaltitel The Scourge of the Swastika 1954 in London veröffentlichte Werk zum Bestseller in Großbritannien, so auch die zwei Jahre später vorgelegte deutsche Übersetzung in beiden deutschen Staaten. Das Buch wurde zudem in andere Sprachen übertragen und mit Erfolg in vielen Ländern publiziert.

Wenn es also um die breite Öffentlichkeit geht, ist die Wiederveröffentlichung dieses Klassikers ganz und gar nicht überflüssig. Denn in populären Sphären sedimentiert sich kulturelles, mithin historisches Wissen gemeinhin kodiert. Selbst gebildete Rezipienten bewahren Gelesenes und Angeeignetes als kodierte Schlagworte, Slogans oder Parolen, die zwar stets abrufbar sein mögen, aber mit zunehmender Distanz zum Zeitpunkt der Aneignung immer mehr verblassen beziehungsweise sich eben zum Code verhärten oder gar versteinern. Man kennt als elementar Gebildeter »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«, die Namen Ludwig XVI., Robespierre, Danton und Napoleon, wohl auch Bastille, Guillotine, Terror und Tricolore als Begriffsmatrix der Französischen Revolution, kann vermutlich einiges mit ihnen assoziieren, aber damit hat es sich auch schon für gewöhnlich. Sehr oft wird die spärliche Rezeption zudem ideologisch befrachtet – die Französische Revolution ist dann nur Gewaltherrschaft oder nur Freiheitskampf. Zur Erörterung der dialektischen Beziehung von Freiheit und Gewalt reicht es nicht mehr. Nimmt man noch Jan und Aleida Assmanns Konzept des kommunikativen Gedächtnisses hinzu, demzufolge das kollektive Gedächtnis innerhalb von ein bis zwei Generationen verblasst oder gar erlischt, lässt sich behaupten, dass das, was ehedem den mündlich-aktuellen Diskurs der Großelterngenration ausmachte, beim Diskurs der Enkelgeneration weitgehend in Vergessenheit gerät. Im Fall der Nazigeneration dürfte sich der Vergessensakt der Enkelgeneration noch eklatanter ausnehmen, nicht zuletzt, weil er sich einem Verdrängungsakt der großelterlichen Generation anschloss. Diese Verdrängung zeitigte nicht zuletzt den Stellenwert, den die Wehrmacht im deutschen kollektiven Gedächtnis über Jahrzehnte einnahm. Bis zur Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter Jan Philipp Reemtsma von 1995 bis 1999 und dann korrigiert von 2001 bis 2004 war die Wehrmacht als kriegerische Gewaltinstitution einigermaßen tabuisiert. Erst die Widerstände gegen die Ausstellung in Teilen der allgemeinen Öffentlichkeit machten klar, wie wenig im Grunde bei der Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen bereits abgehakt und ad acta gelegt werden konnte. Gerade unter diesem Gesichtspunkt, und ja, auch aufgrund der zunehmenden Geschichtsverdrossenheit und des Verlangens nach dem »Schlussstrich«, das den Neonazismus in der politischen Sphäre Deutschlands mit all seinen sozialen und ideologischen Ableitungen salonfähig zu machen vermochte und immer noch vermag, ist die Neuauflage von Lord Russells Geißel der Menschheit höchst zeitgemäß.

Aber es gibt einen weiteren Aspekt, warum die erneute Veröffentlichung des Buches mehr als willkommen ist. Als Gesandter der Britischen Rheinarmee gehörte der gelernte Anwalt Lord Russell zu den wichtigsten Rechtsberatern während der Kriegsverbrechertribunale nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun erfährt man aber aus den biographischen Notizen zu seiner Person, dass er wegen der Veröffentlichung seines Buches im Jahre 1954 von seinem Regierungsposten zurücktrat beziehungsweise zurücktreten musste. Der »offizielle« Grund dafür war die Anschuldigung, Lord Russell habe seine Position missbraucht, um persönlichen Profit aus den von ihm untersuchten Kriegsverbrechen zu schlagen. Als aber der Daily Express Auszüge aus dem Buch veröffentlichte, schimmerte ein anderer möglicher Grund durch. Die Auszüge wurden nämlich unter der Überschrift »Das Buch, das sie verbieten wollten« publiziert. Warum sollte man die Veröffentlichung eines Buches mit dem Untertitel Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen in Großbritannien verbieten wollen? Einen Hinweis auf die Beantwortung dieser Frage erhält man aus einer weiteren biographischen Notiz zu Lord Russell und seinem Werk: »Das Buch wurde 2008 in den USA neu aufgelegt und mit einem Vorwort von Alistair Horne versehen. Dieser war 1954 Auslandskorrespondent des Daily Telegraph in Deutschland und hatte die ursprüngliche Veröffentlichung scharf kritisiert, weil sie einem Antigermanismus Vorschub leistete, der die internationale politische Wiedereingliederung AdenauersBundesrepublik Deutschland behindern konnte und Angst vor dem Aufbau deutscher Streitkräfte im international kontrollierten Rahmen der NATO schürte. In der neuen Ausgabe verschiebt Horne den Fokus der Rezension weg von der Einmaligkeit deutscher Übel auf die Dimension des Bösen, zu dem der Mensch überhaupt fähig ist.«

Um dies vertieft zu erörtern kann man von der Frage ausgehen, wie es dazu kam, dass das Land der Täter, welches Auschwitz verbrochen hatte, und das Land der Opfer, das sich als Zufluchtsstätte aller verfolgten Juden der Welt verstand, ganze sieben Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zum kontroversen Tauschvertrag der sogenannten Wiedergutmachungsabkommen von 1952 gelangten. Mit Moral hatte dies nur in einem zynischen ideologischen Sinne etwas zu tun. Denn was auf der Tagesordnung stand, war die im Rahmen des ausgebrochenen Kalten Krieges zu befestigende Neuordnung der Welt und die mit dieser neuen Weltteilung einhergehende Ortsbestimmung Deutschlands, welches es freilich alsbald zweifach geben sollte. Einzig aus diesem geopolitischen Zusammenhang ist zu erklären, dass nicht Henry Morgenthaus Vision, Deutschland zum Agrarland degenerieren zu lassen, sondern George C. Marshalls Plan, dem westlich besetzten Deutschland wirtschaftlich wieder zum Aufschwung zu verhelfen, Gehör und Aufnahme fand. Die westdeutsche Republik sollte als Bastion des Westens gegen den expandierenden Kommunismus errichtet und gestärkt werden. Mit dieser Funktionalisierung Deutschlands im Kontext der Konsolidierung des globalen Blocksystems ging allerdings einher, dass das jüngst erst als Naziregime zusammengebrochene Deutschland wieder als geläuterte Nation in die »Völkergemeinschaft« aufgenommen werden musste, was – abgesehen von diversen »Entnazifizierungsmaßnahmen« und anderen äußeren Purifizierungspraktiken – nicht zuletzt auch mit dem staatsoffiziellen Willen zur »Wiedergutmachung« der Verbrechen an den Juden demonstriert werden sollte. Der gerade zu jenem Zeitpunkt gegründete Judenstaat bot sich dafür wie von selbst an. Abgesehen von den privaten »Entschädigungen«, konnte an ihm das Verlorene abbezahlt werden. Und Israel? Wie reagierte das Land, das aus der Shoah entstanden war? Nun, Israel konnte das Geld nur zu gut gebrauchen. Eine bald schon einsetzende Masseneinwanderung (vor allem aus den orientalischen Ländern), die Notwendigkeit, schnellstmöglich eine Infrastruktur für das zivile Leben zu schaffen, nicht minder aber auch der Bedrohung durch die feindlichen arabischen Nachbarländer mit der Bildung einer schlagkräftigen Armee zu begegnen, steigerten Israels objektive Abhängigkeit von massivem Kapitalimport zur akuten Krise. Die Wirkung auf die politische Handlungsfähigkeit des Landes, das um seine schiere Existenzfähigkeit kämpfte, war katastrophal. So gesehen ist es nachvollziehbar, dass Ben-Gurion pure Zweckrationalität walten ließ und sich weder von den emphatischen Demonstrationen gegen die Abkommen aufseiten der rechten Revisionisten der israelischen Politlandschaft, Begins Cherut-Partei, noch von den lautstarken Protesten der sozialistischen Zionisten und antizionistischen Kommunisten beirren ließ. Die Finanzierung des zionistischen Staatsprojekts musste für ihn, Gründer und führenden Staatsmann Israels jener Jahre und pragmatischen Führer einer aktivistischen politischen Tradition, den absoluten Vorrang vor jedweder moralischen Erwägung wahren. Um seine Politik durchzusetzen und seine Gegner abzuwehren, war er sogar bereit, die alte BRD als ein »anderes Deutschland« zu apostrophieren.

Nur verständlich also, dass man sich beidseitig auf den Handel einließ: Deutschland zahlte, und Israel ließ sich bezahlen. In der spezifischen Konstellation jener Tage war besagte Instrumentalisierung von Vergangenem für ein Gegenwärtiges, das sich dem jüngst Geschehenen zu entschlagen suchte, realpolitisch vielleicht eine unumgehbare Notwendigkeit. Und es ist in diesem geopolitischen Kontext der Nachkriegszeit, dass man den Versuch, Lord Russells Buch zu verhindern, begreifen muss.

Denn dass sich Alistair Horne 1954 gegen einen »Antigermanismus« verwahren zu sollen meinte, hatte ja nichts mit einer wie auch immer zu denkenden Deutschlandliebe zu tun. Was sollte es schon an Deutschland, an Westdeutschland zumal, ein Jahrzehnt nach Auschwitz zu lieben geben? Nein, es ging um Realpolitik, beziehungsweise, um Realpolitik in der infolge des Zweiten Weltkriegs entstandenen geopolitischen Situation. Die Angst vor dem Kommunismus, mithin die Bedrohung, die für den Westen vom sich im Zuge des Kalten Krieges zunehmend konsolidierenden Blocksystems ausging, war es, die es opportun erscheinen ließ, ein notwendiges, bahnbrechendes Buch wie Geißel der Menschheit verbieten zu wollen. Da man Deutschland für die Neuaufstellung des neuen globalen Machtverhältnisses brauchte, durften keine (absolut nachvollziehbaren) antideutschen Ressentiments zugelassen werden. Lord Russells Buch konnte man da nicht gebrauchen.

Und darin ist der zweite wesentliche Grund für die Angemessenheit einer neuerlichen Veröffentlichung dieses Buches zu sehen. Denn nicht nur handelt es sich um ein epochales Werk, das sehr frühzeitig leistete, was zum Paradigma der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit gerinnen sollte. Darüber hinaus lehrt uns der Kontext seiner Entstehung, mithin der realpolitisch motivierte Versuch seiner (freilich erfolglos gebliebenen) Unterdrückung, auch etwas über das Problem der ideologischen Instrumentalisierung von Geschichte und die durch machtlogische, heteronome Interessen herausgeforderte Wahrhaftigkeit. Die Neuauflage von Lord Russells Geißel der Menschheit ist, so besehen, auch eine geschichts- und ideologiekritische Bestrebung.

Vorwort zur westdeutschen Ausgabe

Am 30. November 1952 nahm Präsident Heuss an einer Gedenkfeier des Lagers Belsen teil, wobei ein Denkmal für die, die dort starben, enthüllt wurde. Er sagte zu den Anwesenden, die von nah und fern zur Einweihung gekommen waren, dass die Deutschen niemals vergessen sollten, was Männer und Frauen ihrer eigenen Nationalität in den Schandjahren verbrochen haben.

Dies war die Zeit, in welcher Hitler das Reich, wie er selbst sagte, in seiner Handfläche hielt, als Nazibehörden jede Bewegung des Einzelnen kannten, wo in jeder Straße ein Spion war und ein Spitzel in fast jedem Haus.

Es gibt Deutsche, die nicht wissen, wie diejenigen gelitten haben, die Gegner des Nationalsozialismus waren. Es gibt Deutsche, die nicht die geringste Vorstellung besitzen, welch furchtbare Verbrechen während der Kriegsjahre in dem besetzten Europa durch die SS, den SD und die Gestapo, Hitlers Instrumente der Tyrannei, begangen wurden. Es muss aber ihr Wunsch sein, wie es der Wunsch aller Freunde Deutschlands ist, dass derartiges sich nicht wiederholt.

Die Zukunft Deutschlands hängt von der politischen Weisheit des deutschen Volkes ab. Was unter Hitler geschah, dessen eigenes Wort Gesetz war, liegt noch nicht so weit zurück und war zu furchtbar, als dass es vergessen sein könnte. Nur wenn wir aus der Vergangenheit eine Lehre ziehen, gibt es eine wirkliche Hoffnung für die Zukunft.

Lord Russell of Liverpool, November 1955

Prolog

Auch vor 1939 hatte es in modernen Kriegen zwischen zivilisier­ten Nationen bedauerliche Vorfälle gegeben, die Kriegsverbrechen gleichkamen. In Belgien und Frankreich begingen deutsche Truppen während ihres raschen Vormarsches auf Paris in den Anfangsstadien des Ersten Weltkrieges viele Exzesse. Städte und Dörfer wurden geplündert und in Brand gesteckt, Frauen vergewaltigt und unschuldige Menschen ermordet.

Im Dezember 1914 ernannte Premierminister Asquith einen Ausschuss prominenter Persönlichkeiten unter dem Vorsitz von Viscount Bryce zur Untersuchung der Verbrechen, die die deutschen Truppen während der ersten Kriegsmonate in Belgien und Frankreich begangen haben sollten.

Im Jahre 1915 veröffentlichte der Ausschuss seinen Bericht. Wie die Mitglieder darin feststellten, gelangten sie auf Grund des Beweismaterials zu der unumstößlichen Schlussfolgerung, dass in vielen Teilen Belgiens beabsichtigte und systematisch organisierte Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet und allgemein im Zuge der Kriegführung sowohl in Belgien als auch in Frankreich »unschuldige Zivilisten, Männer wie Frauen, in großer Zahl ermordet, Frauen vergewaltigt und Kinder umgebracht wurden«.

Sie stellten fest, dass Offiziere der deutschen Armee im Rahmen einer Terrorisierungskampagne Plünderung, Brandstiftung und mutwilliges Zerstören von Eigentum befahlen oder duldeten, ohne dass dies unter Berufung auf eine angebliche militärische Notwendigkeit hätte gerechtfertigt werden können. In vielen Fällen wurden auch die Gesetze und Bräuche des Krieges verletzt, so zum Beispiel durch die Verwendung von Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, als Kugelfang für die deutschen Truppen, durch die Tötung von Verwundeten und Gefangenen sowie durch Verletzung der Einrichtungen des Roten Kreuzes und Nichtbeachtung der weißen Flagge als Zeichen der Übergabe.

Zum Schluss erklärten die Ausschussmitglieder, ihre Feststellungen seien zwar sehr schwerwiegend, aber die Pflicht gebiete ihnen, sie als völlig erwiesene Tatsachen aufzuzeichnen: »Mord, Sinnenlust und Plünderung herrschten in vielen Teilen Belgiens in einem Ausmaß, das in keinem Krieg zwischen zivilisierten Völkern während der letzten drei Jahrhunderte seinesgleichen hatte.«

Aber wenn diese Verbrechen auch mehr als nur zufällige »Ausschreitungen« isolierter Einheiten oder einzelner Divisionen waren, wurden sie doch nicht im Zuge einer organisierten Terrorkampagne verübt, die vor Ausbruch der Feindseligkeiten geplant war und in gehorsamer Befehlserfüllung gewissenhaft verwirklicht wurde. Während des Zweiten Weltkrieges hingegen wurden von deutscher Seite Kriegsverbrechen in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß begangen. Sie waren Bestandteil der nazistischen Konzeption des totalen Krieges und wurden auf Grund eines vorher ausgearbeiteten und vereinbarten Planes verübt, dessen Ziel es war, die Einwohner der überfallenen und besetzten Gebiete zu terrorisieren und auszubeuten und alle die Menschen zu vernichten, die den deutschen Eroberern und der Naziherrschaft besonders feindlich gesinnt waren.

Vor dem Krieg hatten die Nazis durch das »Führerprinzip« im eigenen Land eine Tyrannei errichtet, die fast ohnegleichen in der Geschichte war. Sie förderten und nährten den Rassenhass durch die »Herrenrassentheorie«, deren letztes und zwangsläufiges Ziel die Weltherrschaft ist. Sie hetzten Bruder gegen Bruder, Kinder gegen Eltern, Christen gegen Juden. Sie versuchten, ein ganzes Volk zu Verbrechern zu machen, und wer sich nicht verführen ließ, wurde terrorisiert und schließlich ins Konzentrationslager geworfen. Nur wenn man sich vergegenwärtigt, was zwischen 1933 und 1939 in Deutschland geschah, kann man die Verbrechen, die während des Krieges in den besetzten Gebieten begangen wurden, im richtigen Zusammenhang sehen. Unterdrückung der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, Beherrschung des Gerichtswesens, Vermögensbeschlagnahme, Beschränkung des Rechtes auf friedliche Versammlung, Brief und Telegrammzensur, Abhören von Telefongesprächen, Reglementierung der Arbeit, Abschaffung der Religionsfreiheit: Das sind die Mittel, mit denen ein Tyrann seine Untertanen in Fesseln schlägt. Wenn Hitler seine »Herrenrasse« schon so gering schätzte, ist es da verwunderlich, dass er die Völker der überfallenen Länder für weniger als Ungeziefer hielt?

Dass das deutsche Volk in seiner Gesamtheit nicht ohne weiteres nachgab und die Nazidoktrin und das Naziprogramm nicht bereitwillig akzeptierte, wird nicht bestritten. Andernfalls hätte es keine SS, keinen SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) und keine Gestapo gegeben. Nur durch Terror, Folter, Hunger und Tod vernichteten die Nazis im eigenen Land die Gegner ihres Regimes, und ihre Unterdrückungsorganisationen sammelten dadurch die Erfahrungen, die sie später im Ausland mit solcher Gründlichkeit und Brutalität anwandten, dass sie zum Alpdruck und zur Geißel des besetzten Europa wurden.

Die in diesem Buch beschriebenen Verbrechen waren keine Zufallserscheinungen; das beweist allein schon ihr Ausmaß. Die Versklavung von Millionen Menschen und ihre Verschleppung nach Deutschland, die Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, die massenweise Hinrichtung von Angehörigen der Zivilbevölkerung, die Erschießung von Geiseln und die »Endlösung« der Judenfrage: Das alles war von langer Hand geplant. Daran kann es keinen Zweifel geben, denn die Nazis lieferten selbst mit all den sorgfältig aufbewahrten Protokollen, Berichten, Verzeichnissen, Befehlen und anderen Dokumenten, die den Alliierten nach der Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Europa in die Hände fielen, unanfechtbares Beweismaterial. Denn wenn die Nazis Kriegsgefangene mit verbotenen Arbeiten beschäftigten, erstatteten sie der entsprechenden Armeeformation Meldung; wenn sie plünderten, legten sie lückenlose Verzeichnisse ihrer Beute an; wenn sie Juden und andere Menschen vergasten, sandten sie ausführliche Berichte an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA); wenn sie Geiseln erschossen, schlugen sie an den öffentlichen Gebäuden Listen an, »pour décourager les autres« [»um die Übrigen zu entmutigen«, Anm. des Verlags]; wenn sie zwangsweise schmerzhafte und abscheuliche Experimente an Insassen ihrer Konzentrationslager Vornahmen, legten sie sorgfältig Handakten an. Sobald sie ein Verbrechen begingen, trugen sie mit charakteristischer Gründlichkeit dokumentarische Belege darüber zusammen.

In seinem Buch Mein Kampf hatte Hitler Jahre zuvor geschrieben:

Die stärkere Rasse wird die schwächere verdrängen, denn der Lebenswille in seiner letzten Form wird die absurden Schranken der sogenannten Humanität der Individuen einreißen, um den Weg frei zu machen für die Humanität der Natur, die die Schwachen vernichtet, um ihren Platz den Starken zu geben.

Das ist das Gesetz des Dschungels; kein Wunder, dass es so viel Elend, Todesangst, Zerstörung und Tod in seinem Gefolge hatte. Und wie wurden diese verbrecherischen Pläne ausgeführt? Das deutsche Oberkommando und der Generalstab können sich nicht aller Verantwortung entziehen.

Als Hitler im Jahre 1933 durch den alten Feldmarschall von Hindenburg an die Macht berufen wurde, rümpften zweifellos viele dieser Militärs die Nase über ihn. Aber es dauerte nicht lange, bis die meisten von ihnen seine Komplizen wurden; und wer wie Werner von Fritsch nicht mitmachte, wurde mit bezeichnender Unverfrorenheit beseitigt. Von da an hatte Hitler die ganze Pyramide des deutschen Offizierskorps mit dem militärischen Ja-Sager Keitel an der Spitze geschlossen hinter sich. Diese Männer leisteten ihm Vorschub und unterstützten ihn bei der Planung und Durchführung des Aggressionskrieges und bei der Verübung zahlloser Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erst als die Woge der Nazierfolge merklich abebbte, wurde in den Gängen des deutschen Kriegsministeriums kritisches Geflüster hörbar.

Der Internationale Militärgerichtshof zur Aburteilung der deutschen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg lehnte es ab, den Generalstab und das Oberkommando zu einer verbrecherischen Organisation zu erklären. Im Nürnberger Urteil wird indessen von diesen Männern gesagt:

Sie sind in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazikumpane akademisch und ohne Folgen geblieben, sie waren eine rücksichtslose, militärische Kaste. Viele dieser Männer haben mit dem Soldatentod des Gehorsams gegenüber militärischen Befehlen ihren Spott getrieben. Wenn es ihrer Verteidigung zweckdienlich ist, so sagen sie, sie hatten zu gehorchen; hält man ihnen Hitlers brutale Verbrechen vor, deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde, so sagen sie, sie hätten den Gehorsam verweigert. Die Wahrheit ist, dass sie an all diesen Verbrechen rege teilgenommen haben oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen größer angelegte und empörende Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte.

Das Führerkorps, die Gestapo, der SD und die SS aber waren die Hauptinstrumente der Tyrannei, deren sich Hitler bediente. Sie waren es, die diese schrecklichen Verbrechen ausführten: die Massenmorde in den Konzentrationslagern, die Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, die Verschleppung ausländischer Arbeiter zur Zwangsarbeit, die inquisitorischen Verhöre, die Folterungen und die Experimente an menschlichen Versuchskaninchen. Dieses gefürchtete »Schwarze Korps« mit Heinrich Himmler an der Spitze lastete fünf Jahre lang gleich einer schwarzen todesschwangeren Gewitterwolke auf dem besetzten Europa.

Das erste Kapitel dieses Buches beschreibt die Entstehung, die Bildung und den Aufbau dieser Organisationen sowie die sadistische Grausamkeit, die all ihre Handlungen kennzeichnete.

IDie Instrumente der Hitlertyrannei

Unmittelbar nach seinem Machtantritt begann Hitler, mit der Nazipartei den gemeinsamen Plan, die gemeinsame Verschwörung zu verwirklichen, deren Ziele bereits in Mein Kampf dargelegt worden waren und die durch Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreicht werden sollten. Der organisatorische Rahmen dieser Verschwörung war die Nazipartei; das Führerkorps bildete gleichsam den zivilen Befehlsweg, auf dem der Hauptplan in die Tat umgesetzt wurde. Jedes seiner Mitglieder wurde jährlich neu vereidigt: »Ich schwöre Adolf Hitler unverbrüchliche Treue. Ich schwöre ihm und den Führern, die er mir bestimmt, unbedingten Gehorsam.«

Vom »Führer« ausgehend, ergoss sich der Strom der Nazidoktrin über Gauleiter, Kreisleiter, Ortsgruppenleiter, Zellenleiter und Blockwarte in jedes Heim. Der Gauleiter war für den Gau, der Kreisleiter für den Kreis und der Blockwart für etwa fünfzig Haushalte verantwortlich. Jeder dieser Funktionäre hatte auf seiner Ebene einen Stab von Mitarbeitern, die das Leben der Bürger von allen Seiten her beeinflussten: auf dem Gebiet der Erziehung, der Propaganda, der Presse, des Finanzwesens und der Justiz.

Unmittelbar nach Hitler kamen die Reichsleiter: Rosenberg, von Schirach, Frick, Bormann, Frank, Ley, Goebbels und Himmler. Jeder war dem Führer für ein bestimmtes Gebiet der Nazipolitik unmittelbar verantwortlich. Sie führten die Anweisungen ihres Führers aus. Es galt als ihre Hauptaufgabe, »dem Führer in der Partei immer ein scharf geschliffenes Schwert zu erhalten«. Sie befassten sich mit der allgemeinen Politik, nicht mit Einzelheiten der Verwaltung. Der Bedeutung nach folgten an nächster Stelle die Verwaltungsfunktionäre, über die einmal gesagt wurde, dass jeder von ihnen ein kleiner Cäsar war.

Deutschland war in Gaue aufgeteilt worden, an deren Spitze jeweils ein Gauleiter stand, der dem Führer für sein Gebiet unmittelbar verantwortlich war. Der Gau war weiter unterteilt in Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blocks. So konnte der Nazifunktionär auf alle Gebiete des Lebens Einfluss nehmen; und der kleinste Cäsar – der Blockwart – war der größte Tyrann von allen. Er war es, der jeden Haushalt bespitzelte; er war es, der in jeder Familie einen Zuträger hatte; auf seiner Ebene bekam jeder einzelne die ganze Wucht der Nazipropaganda zu spüren.

Dem Parteihandbuch zufolge war es die Pflicht des Blockwarts, »die Verbreiter schädigender Gerüchte feststellen zu lassen« und seinen Vorgesetzten zu melden.

Der Blockwart muss nicht nur ein Prediger und Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung gegenüber den seiner politischen Betreuung anvertrauten Volks- und Parteigenossen sein, sondern er muss auch dahin wirken, dass seinem Blockbereich angehörende Parteigenossen praktische Mitarbeit leisten […].

Außerdem hatte der Blockwart über jeden Haushalt eine Akte zu führen. In der Person des Blockwarts stand jedem kleinen Deutschen sein Führer von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und es gab eine halbe Million von ihnen. So hielt Hitler das ganze Reich am Zügel.

Wie im Frieden, so war es auch im Kriege. Es gab einen Gauleiter in Holland und einen Gauleiter im Elsass; Polen, die baltischen Staaten, die sogenannten Ostgebiete, sie alle hatten ihren Gauleiter, und die Erfahrungen, die man in den Anfängen des Nazismus im eigenen Land gemacht hatte, wurden nun im Ausland verwertet. Dasselbe System, das die Deutschen unter den Willen des Führers gezwungen hatte, sollte dazu dienen, die Völker der Länder, die von seinen Armeen überfallen worden waren und unter deutscher Besatzung standen, gleichfalls zu unterjochen.

Es gab zweifellos viele Deutsche, die niemals glühende Nazis waren. Sie betrachteten Hitler als einen gemeinen Emporkömmling und seine Spießgesellen als üble Schläger. Aber von diesen Deutschen gehörte keiner der SS an, die den Kern des Nazismus bildete und deren Mitglieder ausnahmslos fanatische Jünger ihres Führers waren, die keine andere Bindung gegenüber Gott oder den Menschen kannten.

Zu Beginn des Prozesses gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg erschien in den Spalten einer Lokalzeitung der Bericht eines Journalisten über den Besuch eines Lagers, in dem SS-Angehörige interniert waren. Alle hatten ihm nur die eine Frage gestellt: »Was haben wir denn anderes getan als unsere Pflicht?« Wenn man die Mittäterschaft bei mehreren Millionen Morden und die Anstiftung dazu als Pflichterfüllung bezeichnen kann, dann hatten sie darüber hinaus tatsächlich kaum etwas anderes getan.

Dieses Buch enthält Kapitel über die Vernichtung der Juden, die Versklavung und Verschleppung von Arbeitern aus den besetzten Gebieten, die Erschießung von Geiseln, die Massenhinrichtung von Zivilisten sowie die Ermordung und Misshandlung von alliierten Kriegsgefangenen. Bei all diesen Verbrechen spielten die SS, der SD und die Gestapo eine führende Rolle. Im Frieden waren diese Organisationen von den Naziführern mit der »Unschädlichmachung« (ein euphemistisches Synonym für Ermordung) jeder Opposition betraut worden. Im Krieg sollten sie jeden Widerstand gegen die deutsche Besatzung brechen. Die Ähnlichkeit der Methoden, die zur Verwirklichung dieser Ziele angewandt wurden, gewährleistete, dass der normale Dienst dieser Organisationen im Frieden gleichzeitig ihre Ausbildung für den Krieg darstellte. Durch Verfolgung, Terror, Folterungen und die allgegenwärtige Drohung des Konzentrationslagers hatten sie in Deutschland Hitlers Herrschaft gesichert. Im Kriegsfalle sollten sie mit den gleichen, jetzt ausgiebig erprobten und vervollkommneten Mitteln die Einwohner der von den deutschen Truppen überfallenen und besetzten Länder niederhalten.

Im Jahre 1929, vier Jahre vor Hitlers Machtantritt, war Heinrich Himmler zum »Reichsführer SS« ernannt worden; er übernahm damals den Befehl über die Schutzstaffeln, die zu jenem Zeitpunkt nur 280 Mitglieder zählten, und ging daran, diese Truppe zu einer privaten Armee und Polizei auszubauen, in die nur zuverlässige und fanatische Anhänger des Führers aufgenommen wurden. Als Hitler Reichskanzler wurde, hatte die SS eine Stärke von 52 000 Mann erreicht. Als ihre Aufgabe wurde es bezeichnet, den Führer und die innere Sicherheit des Reiches zu schützen, und Himmler ließ niemanden im Zweifel über die Methoden, mit denen man vorzugehen beabsichtigte:

Wir werden unablässig unsere Aufgabe, die Garanten der Sicherheit Deutschlands im Innern zu sein, erfüllen, ebenso wie die deutsche Wehrmacht die Sicherung der Ehre, der Größe und des Friedens des Reiches nach außen garantiert. Wir werden dafür sorgen, dass niemals mehr in Deutschland, dem Herzen Europas, von innen oder durch Emissäre von außen her die jüdisch-bolschewistische Revolution der Untermenschen entfacht werden kann. Unbarmherzig werden wir für all diese Kräfte, deren Existenz und Treiben wir kennen, am Tage auch nur des geringsten Versuchs, sei er heute, sei er in Jahrzehnten oder in Jahrhunderten, ein gnadenloses Richtschwert sein.

Ein gnadenloses Schwert waren sie zweifellos, aber sie kannten weder Ehre noch Gerechtigkeit.

Für solche Aufgaben brauchte man eine hochorganisierte Streitmacht, und so wurde die aus zwölf Hauptämtern bestehende Oberste Führung der SS gebildet. Der Kern der SS, die Allgemeine SS, war der Stamm, von dem sich die übrigen Organisationen abzweigten. Sie war nach militärischen Gesichtspunkten aufgebaut und gliederte sich in Oberabschnitte, Abschnitte, Standarten und andere untere Formationen bis hinunter zu den Scharen. Bei Kriegsausbruch zählte sie in ihren Reihen 240 000 Schurken übelster Sorte. Ihre Mitglieder waren in der Regel nicht auf bestimmte Aufgaben spezialisiert; sie wurden zu jeder Art von SS-Dienst herangezogen und waren, um einen Ausdruck aus dem Militärwesen zu benutzen, die gemeinen Soldaten der Schutzstaffeln. Es war eine ihrer abscheulichen Aufgaben, das Personal für die Konzentrationslager zu stellen, und fast alle Wachmannschaften dieser Lager kamen aus den Reihen der Allgemeinen SS.

Der Bedeutung nach folgte an nächster Stelle der Sicherheitsdienst, der später im ganzen besetzten Europa ebenso wie im Reich selbst unter den gefürchteten Initialen SD bekannt wurde. Ursprünglich nur der Geheimdienst der SS, erlangte er, nachdem Hitler zum Reichskanzler gemacht worden war, immer größere Bedeutung, und 1939 war er eine der Hauptabteilungen des RSHA. Sein Chef, Reinhard Heydrich, hatte ihn inzwischen zu einem weitverzweigten Spionagesystem ausgebaut, das mit Argusaugen das Privatleben jedes deutschen Bürgers überwachte und zum alleinigen Spionage- und Gegenspionageorgan der Nazipartei wurde.

Drei Jahre nach Hitlers Machtantritt wurde Himmler unter Beibehaltung seiner Funktion als Reichsführer SS zum Chef der Polizei im Innenministerium ernannt, und damit begann die Reorgani­sation der deutschen Polizei. Sie wurde in zwei verschiedene Zweige aufgegliedert: die uniformierte Polizei oder Ordnungspolizei (Orpo) und die Sicherheitspolizei (Sipo), die 1939 mit dem SD unter der Leitung des RSHA zusammengefasst wurde.

Die Geheime Staatspolizei oder Gestapo, wie sie allgemein hieß, war eine staatliche Organisation. Sie wurde 1933 in Preußen durch Göring ins Leben gerufen. Sie war eine politische Polizei. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Polizei befasste sie sich nicht mit der Verhütung und Aufdeckung von Verbrechen, sondern mit der Unterdrückung jedes unabhängigen politischen Denkens und jeder individuellen politischen Überzeugung. Ihre Aufgabe war es, jede Opposition gegen das Hitlerregime zunichte zu machen.

Schließlich war das System der Unterdrückung völlig ausgebaut; in der Mitte dieses Spinnennetzes saß Himmler, umgeben von seiner SS, und dahinter reckte sich drohend der Schatten der Konzentrationslager. So wurde Deutschland »ganz und gar vom Nationalsozialismus ergriffen«, wie sich Hitler 1938 in einer Reichstagsrede ausdrückte. So wurde die Nation mobilisiert. Und zu welchem Zweck? Für die Aggression, für die Eroberung, für die Weltherrschaft, für den totalen Krieg. Und der Krieg kam – mit Invasionen und Erfolgen, bis zwei Drittel Europas den deutschen Stiefel im Nacken hatten. Und die SS, der SD und die Gestapo waren zur Stelle, damit es so bliebe. Die Maschine der Nazityrannei war gut geschmiert. Jahre zuvor mit Sorgfalt und Geschick entworfen und konstruiert, war sie schon in Friedenszeiten praktisch erprobt worden. Nun sollte ihre große Stunde kommen!

Bei ihrem Vorstoß auf feindliches Territorium wurden die deutschen Armeen von sogenannten Einsatzgruppen der Sipo und des SD begleitet, die eigens zu diesem Zweck gebildet worden waren und von Gestapo- und Kripoangehörigen im Range von SS-Offizieren befehligt wurden. Die Mannschaften der Einsatzgruppen waren Angehörige der Waffen-SS und der Orpo. Ihre Einheiten wurden den Armeegruppen und Armeen zugeteilt und operierten gewöhnlich in der Etappe. Sie standen zwar unter dem taktischen Befehl des Armeebefehlshabers, erhielten ihre Sonderaufgaben jedoch vom RSHA, dem sie direkt verantwortlich waren. Wenn diese Sonderaufgaben erfüllt waren und die Kampfhandlungen weiter vorrückten, erhielt das Besatzungsregime eine weniger provisorische Basis. Die Einsatzgruppen wurden zu Standquartieren der Sipo und des SD mit eigenen Zuständigkeitsbereichen. Sie hatten unter dem Militärbefehlshaber des besetzten Gebietes, aber unabhängig von ihm, ihren eigenen Befehlsweg mit direkter Verbindung zum Chef der Sicherheitspolizei und des SD. In den von deutschen Truppen besetzten Ländern war das ausführende Organ gewöhnlich die Gestapo, die eine viel breitere Organisation darstellte als der SD oder die Kripo. Von 1943 bis 1945 hatte sie rund 50 000 Mitglieder, während die Kripo und der SD nur 15 000 bzw. 3 000 zählten. Die Initialen SD dienten gewöhnlich im deutschen Spionage- und Polizeidienst offiziell und inoffiziell gleichzeitig als Bezeichnung für die Sipo und den SD, und in diesem Sinne werden sie auch in den weiteren Kapiteln dieses Buches verwendet. In den besetzten Ländern trugen die Gestapoangehörigen, wenn sie nicht in Zivil arbeiteten, im Allgemeinen den schwarzen Uniformrock der SS mit dem Abzeichen des SD.

Vom Anfang bis zum Ende des Krieges waren die SS-Leute Spezialisten für »Schweinereien«, und nicht zufällig wurden gerade sie damit betraut, den Auftakt zur Invasion Polens zu geben. Alles war sorgfältig für den Überfall vorbereitet. Am 22. August 1939 machte Hitler in einer Rede vor seinen Oberbefehlshabern auf dem Obersalzberg folgende Ausführungen:

Die Vernichtung Polens steht im Vordergrund. Das Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht das Erreichen einer bestimmten Linie. Ich werde einen propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig ob er glaubhaft ist. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht […]. Ich habe nur Angst, dass mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt […]. Der Weg für den Soldaten ist frei, nachdem ich die politischen Vorbereitungen getroffen habe.

Und zu diesem Zweck inszenierten die Nazis mit Hilfe der SS Grenzzwischenfälle. Einer von ihnen war der Überfall auf den Sender Gleiwitz an der polnischen Grenze. Durch diese Aktion, die als »Unternehmen Himmler« bekannt war, sollte der Anschein erweckt werden, als sei von polnischer Seite ein Überfall auf den Sender verübt worden. Reinhard Heydrich sagte bei der Instruktion des SD-Beamten, der die Aktion ausführen sollte: »Ein handfester Beweis für polnische Angriffe ist für die Auslandspresse und für die deutsche Propaganda nötig.«

Fünf oder sechs SD-Leute sollten den Rundfunksender angreifen und lange genug besetzt halten, dass ein Polnisch sprechender Deutscher aus ihrer Begleitung eine Rede in polnischer Sprache halten konnte. Darin sollte gesagt werden, dass jetzt die Zeit für einen Konflikt zwischen Deutschland und Polen gekommen sei; alle Polen müssten sich zusammenschließen und jeden Deutschen niedermachen, der ihnen Widerstand leiste. Nach Erhalt dieser Instruktionen begab sich der Einsatzleiter nach Gleiwitz, wo er auf das Stichwort von Heydrich warten sollte. Bei dieser Gelegenheit suchte er Heinrich Müller auf, den Chef des Amtes IV des RSHA, der sich zu der Zeit im gleichen Bezirk aufhielt und der ihm von einem weiteren geplanten Grenzzwischenfall berichtete. Diesmal sollten Angriffe polnischer Soldaten auf deutsche Truppen vorgetäuscht werden. Die Gestapo wollte für dieses Unternehmen eine Anzahl verurteilter Krimineller zur Verfügung stellen, die in polnischer Uniform tot auf dem Schauplatz der Handlung Zurückbleiben sollten, nachdem man ihnen zuvor tödlich wirkende Spritzen verabreicht und mit Gewehren Schusswunden beigebracht hätte. Dadurch sollte der Eindruck erweckt werden, als seien diese »Polen« bei einem Angriff auf deutsche Truppen gefallen. Einen dieser Strohmänner, die in allen Korrespondenzen mit dem Deckwort »Konserven« bezeichnet wurden, wollte die Gestapo auch für das Gleiwitzunternehmen zur Verfügung stellen.

Der Zwischenfall von Gleiwitz ereignete sich am Abend vor der deutschen Invasion Polens; er wurde von dem SS-Führer des Stoßtrupps folgendermaßen beschrieben:

Am Mittag des 31. August 1939 bekam ich von Heydrich per Telefon das Schlüsselwort, dass der Anschlag um acht Uhr abends desselben Tages zu erfolgen habe. Heydrich sagte: »Um diesen Anschlag auszuführen, melden Sie sich bei Müller wegen der ›Konserven‹.« Ich tat dies und wies Müller an, den Mann in der Nähe der Radiostation abzuliefern. Ich […] ließ ihn am Eingang der Station hinlegen. Er war am Leben, aber nicht bei Bewusstsein. Wir nahmen die Radiostation wie befohlen, hielten eine drei oder vier Minuten lange Rede über einen Notsender, feuerten einige Pistolenschüsse ab und verließen den Platz.

Und wie die SS den Vorhang zur Invasion Polens aufgezogen hatte, so sollte sie ihn am Schluss der Vorstellung auch fallen lassen. Im April 1945 arbeitete Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner Pläne für die Zerstörung der Konzentrationslager und die Beseitigung ­all ihrer Insassen aus. Alle Beweise für das Ausrottungsprogramm sollten vernichtet werden. Diese Pläne, die unter den Deckworten »Wolke A-1« und »Feuerwolke« bekannt waren, kamen niemals zur Ausführung. Das Drama endete, ehe der Vorhang fallen konnte.

Der SD und die Gestapo waren gemeinsam für den Massenmord an Millionen unschuldiger Zivilisten in den besetzten Gebieten und für die Folterung und Misshandlung von Tausenden weiterer Menschen verantwortlich. »Nacht-und-Nebel«-Gefangene, Geiseln, alliierte Soldaten, Seeleute und Flieger, die an Stoßtruppkommandos teilgenommen hatten – sie alle wurden dem SD zur »Sonderbehandlung« übergeben.1 Durch das System der Einsatzgruppen waren der SD und die Gestapo auch für die Ermordung von zahllosen Juden im Rahmen des »Endlösungs«-Programms verantwortlich.

In einem späteren Kapitel dieses Buches findet sich ein Bericht über das Blutbad, das diese Gruppen in der Ukraine und auf der Krim unter Obergruppenführer Ohlendorf anrichteten, zu dessen Aussagen einer der Anwälte der Vereinigten Staaten von Amerika im Nürnberger Prozess sagte:

Die Menschheit wird nicht sobald seine ekelerregende Schilderung der verderbten Totschläger vergessen, denen sich selber der Magen umdrehte bei dem entsetzlichen Anblick, der sich ihnen beim Öffnen der Türen dieser Todes wagen am Rand der Gräber bot. Das waren die Männer, die mit der Zigarette im Mund am Rand von Panzergräben saßen und ihren nackten Opfern mit automatischen Waffen kaltblütig ins Genick schossen. Das waren die Männer, die ihren eigenen Leichenzählungen zufolge rund zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder ermordeten. Das waren die Männer des SD.

Sie gingen in ihren Methoden manchmal so weit, dass es selbst Leuten wie dem Generalkommissar für Weißruthenien zu viel war. Nachdem der SD auf Litauen losgelassen worden war, wandte sich dieser Kommissar über den Gauleiter von Riga schriftlich an Rosenberg, der damals Reichsminister für die besetzten Ostgebiete war, und wies, fast noch in entschuldigendem Ton, darauf hin, dass das Verhalten des SD »beinahe an Sadismus grenze«. Nach den Einzelheiten seines Berichtes zu urteilen, dürfte das jedoch noch eine beschönigende Bezeichnung gewesen sein.

Dass man Schwerverwundete lebendig begraben hat, die sich dann aus den Gräbern wieder herausgearbeitet haben, ist eine so bodenlose Schweinerei, dass der Vorfall dem Führer und dem Reichsmarschall gemeldet werden müsste. […] Die Zivilverwaltung in Weißruthenien gibt sich die größte Mühe, die Bevölkerung entsprechend den Weisungen des Führers und des Reichsministers für Deutschland zu gewinnen. Mit den hier geschilderten Methoden lässt sich dieses Bemühen nicht in Einklang bringen.

In den Kriegsgefangenenlagern wurden Sonderbeauftragte des SD und der Gestapo stationiert, um die Gefangenen zu sieben und alle auszusondern, die sie für rassisch oder politisch unerwünscht hielten. Diese Gefangenen wurden dann zwecks »Sonderbehandlung«, was im Todesvokabular der SS Ermordung bedeutete, ins Konzen­trationslager gebracht. Der SD war auch zusammen mit der Gestapo für die Ausführung des »Kugelerlasses« vom vierten März 1944 verantwortlich. Nach diesem Erlass sollten geflüchtete kriegsgefangene Offiziere und Unteroffiziere, mit Ausnahme der britischen und amerikanischen, bei ihrer erneuten Festnahme ausnahmslos dem SD übergeben werden. Sie kamen dann ins Konzentrationslager Mauthausen, wo sie durch Genickschuss umgebracht wurden.

Die genannten Organisationen wurden außerdem von Reichsminister Fritz Sauckel dazu benutzt, gewaltsam ausländische Arbeiter für sein Sklavenarbeitsprogramm zu beschaffen. Sie halfen, das Projekt in den besetzten Gebieten zu verwirklichen, und wenn die unglücklichen Verschleppten in Deutschland eintrafen, wurden sie von der Gestapo überwacht. Diese war auch dafür verantwortlich, dass sie bei einer etwaigen Flucht aus den Arbeitslagern, in denen sie für die Dauer ihrer physischen Arbeitsfähigkeit interniert waren, wieder festgenommen wurden.

Im August 1942 erließ Keitel einen Befehl, demzufolge der SD und die Gestapo unverzüglich Gegenmaßnahmen ergreifen sollten, wenn über dem besetzten Gebiet oder über Deutschland einzelne Fallschirmspringer mit Sonderaufträgen abgesetzt werden: »Soweit Einzelabspringer durch Angehörige der Wehrmacht festgenommen werden, sind sie unter Benachrichtigung der zuständigen Abwehrstelle unverzüglich der nächsten Dienststelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD zu übergeben.«

Viele solcher »Einzelgänger« wurden während der Besetzung über Frankreich abgesetzt, wo sie Verbindung zur französischen Widerstandsbewegung aufnehmen und mit ihr zusammenarbeiten sollten. Es war Aufgabe des SD und der Gestapo, diese Personen ausfindig zu machen und sich mit ihnen zu befassen; wurden sie von der Wehrmacht gefangengenommen, mussten sie unverzüglich dem SD übergeben werden. Nach der Vernehmung kamen sie in ein Konzentrationslager, aus dem nur wenige zurückkehrten. Auch eine Anzahl junger Frauen, die auf Veranlassung der französischen Abteilung des britischen Kriegsministeriums von England aus über Frankreich abgesetzt wurden, fanden auf diese Weise den Tod.2

Im Oktober 1942 erließ Hitler persönlich den »Kommandobefehl«, der besagte, dass alle Angehörigen der alliierten Streitkräfte, die sich an Kommandounternehmen beteiligten, nach ihrer Gefangennahme getötet werden würden. Mitglieder solcher Kommandos, die einzeln als Agenten oder Saboteure arbeiteten und in irgendeinem besetzten Land der Wehrmacht oder der Zivilpolizei in die Hände fielen, mussten nach diesem Befehl sofort dem SD übergeben werden. Diese Männer, die Uniformen trugen und offen auf feindlichem Gebiet landeten, hatten Anspruch darauf, als Kriegsgefangene behandelt zu werden. In Ausführung des Führerbefehls wurden sie jedoch in großer Zahl von den deutschen Truppen, deren Gefangene sie waren, dem SD übergeben. Die meisten von ihnen wurden dann innerhalb von 24 Stunden hingerichtet, während einige wenige ins Konzentrationslager kamen.

In einigen der besetzten Länder erhielten der SD und die Gestapo auch die Vollmacht, Personen, die sich selbst nichts hatten zuschulden kommen lassen, aber mit angeblichen Rechtsbrechern verwandt waren, nach eigenem Gutdünken hinzurichten oder ins Konzentrationslager zu schicken. Diese typisch nazistische Methode, sich an den unschuldigen Angehörigen von Widerstandskämpfern, die der Festnahme bisher entgangen waren, zu rächen, trug die hochtrabende Bezeichnung »Sippenhaft«. Derartige Vollmachten erhielt die Gestapo zum Beispiel Mitte 1944 in Polen, als sich die Lage dort verschärft hatte und die »härtesten Maßnahmen« gegen »volksfremde Mörder und Saboteure« ergriffen werden sollten.

Der Reichsführer SS befahl daher im Einvernehmen mit dem Generalgouverneur Hans Frank, bei Anschlägen auf Deutsche und bei Zerstörung lebenswichtiger Anlagen durch Gegner des Besatzungsregimes nicht nur den Schuldigen zu erschießen, sondern alle seine männlichen Verwandten hinzurichten und die weiblichen Angehörigen im Alter von über sechzehn Jahren ins Konzentrationslager zu schicken.

Die Gestapo führte auch Verhöre »dritten Grades« an Kriegsgefangenen durch. Zu ihren Methoden gehörten »Brot- und Wasserdiät, schwerer Kerker, Dunkelhaft, Schlafentzug, erschöpfender Drill und Auspeitschen«. Auch das Abreißen von Finger- und Zehennägeln diente als Mittel, um widerspenstige Gefangene zum Reden zu bringen.

Im ganzen besetzten Europa und in Deutschland selbst wurden nur wenige Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen, bei denen die SS, die Gestapo und der SD nicht eine führende Rolle spielten. Sie ermordeten Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder; sie erschossen Kriegsgefangene, die entkommen und wieder festgenommen worden waren, unter dem Vorwand eines erneuten Fluchtversuchs; sie errichteten, bewachten und verwalteten die Konzentrations- und Zwangsarbeitslager; sie räumten Ghettos, brannten sie nieder und schickten ihre Bewohner in Vernichtungslager; sie verschleppten Hunderttausende ausländische Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland; sie richteten gefangengenommene Mitglieder von Kommandounternehmen und Fallschirmspringer hin, und sie schützten deutsche Zivilisten, die alliierte Flieger lynchten.

In einer Rede zum Tag der Polizei sagte ihr Chef, Reinhard Heydrich:

Die Geheime Staatspolizei, die Kriminalpolizei und der SD sind immer noch von der Heimlichtuerei und dem Geraune einer politischen Detektivgeschichte umgeben. Brutalität, an Sadismus grenzende Unmenschlichkeit und Rücksichtslosigkeit werden den Männern dieses Berufes im Ausland zugeschrieben.

Der dritte und letzte Zweig der Schutzstaffeln war die Waffen-SS, eine speziell für den Aggressionskrieg ausgebildete Truppe. Ihre Entstehung wurde in einem amtlichen Naziorgan, dem Organisa­tionsbuch der Nazipartei für das Jahr 1943, wie folgt beschrieben:

Die Waffen-SS entstand aus dem Gedanken heraus, dem Führer eine auserlesene, länger dienende Truppe für die Erfüllung besonderer Aufträge zu schaffen. Diese soll es den Angehörigen der Allgemeinen SS sowie Freiwilligen, die den besonderen Bedingungen der Schutzstaffel entsprechen, ermöglichen, auch mit der Waffe in der Hand im Kriege in eigenen Verbänden zum Teil im Rahmen des Heeres für die Verwirklichung der nationalsozialistischen Idee zu kämpfen.

Aber erst bei Ausbruch des Krieges trat diese Streitmacht unter der Bezeichnung »Totenkopfverbände der Waffen-SS« in Erscheinung; aus diesen wurden später die SS-Totenkopfdivisionen, die sich gleich zu Beginn des Krieges, im Mai 1940, in Paradis (Pas de Calais) mit unauslöschlicher Schmach beluden.3

Die Waffen-SS war Himmlers »Leibgarde«. Sie unterstand zwar dem taktischen Befehl der höheren Wehrmachtsformationen, wurde jedoch durch die Verwaltungsorgane der SS, denen sie auch in disziplinarischer Hinsicht unterstellt war, ausgerüstet und versorgt. Himmler erwartete von ihr keine ritterliche Kampfesweise, und in einer Rede auf einer Konferenz kommandierender SS-Offiziere sagte er einmal, jeder SS-Rekrut müsse durch und durch von der Notwendigkeit durchdrungen sein, standzuhalten und den Rassenkampf unbarmherzig zu führen.

In den letzten Jahren ist in Deutschland ein ganzes Heer von Apologeten der Waffen-SS aufgetreten, und deutsche Generäle, die als Kriegsverbrecher verurteilt, aber inzwischen durch Gnadenakt wieder freigelassen wurden, halten auf »Stahlhelm-Treffen«4 entrüstete Reden zu ihrer Verteidigung. Die Männer der Waffen-SS, erklären diese Generäle, seien einfache, aufrechte Soldaten gewesen, die ritterlich für ihr Vaterland und ihren Führer gekämpft hätten, und es wäre eine Beleidigung für die Lebenden und die Toten, die Formation, in der zu dienen sie die Ehre gehabt hätten, als verbrecherisch zu brandmarken. Die wohlerwogene Meinung des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg aber wurde im Urteil wie folgt formuliert:

Es ist erwiesen, dass die Erschießung von unbewaffneten Kriegsgefangenen in einigen Waffen-SS-Divisionen allgemeine Praxis war […] Einheiten der Waffen-SS […] waren auch an der weit verbreiteten Ermordung und Misshandlung von Angehörigen der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete beteiligt. […] Divisionen der Waffen-SS waren für viele Massaker und Grausamkeiten in den besetzten Gebieten – so zum Beispiel für das Blutbad in Oradour und in Lidice – verantwortlich […]. Die Tat eines Angehörigen der Waffen-SS, der im September 1939 in Polen, ganz aus eigenem Antrieb, fünfzig jüdische Arbeiter, die er bewachte, tötete, wurde in der Beurteilung dahingehend beschrieben, dass er als SS-Mann ›besonders empfindlich gegen den Anblick von Juden‹ sei, und dass er ›aus jugendlichem Abenteuergeist gedankenlos‹ gehandelt habe, und eine Strafe von drei Jahren Gefängnis wurde unter einer Amnestie aufgehoben.

Das ist alles natürlich richtig; aber so viel kann man zugunsten der Waffen-SS sagen, insofern unterschied sie sich von der eigentlichen SS: Ihre Angehörigen waren Amateure des Verbrechens. Ihr Beruf war das Soldatentum; ihre Aufgabe war der Kampf, und Angelegenheiten wie Oradour-sur-Glane hatten den Charakter von Nebenvorstellungen. Die Berufsverbrecher waren die Allgemeine SS, die Gestapo und der SD.

Jeder Bericht über diese verbrecherischen Organisationen wäre unvollständig, wenn man nicht auch mit einigen Worten die Hitlerjugend erwähnte, die das Treibhaus für die künftigen SS-Männer war. Diese Organisation jugendlicher Fanatiker wurde von Baldur von Schirach in den Anfängen der Nazibewegung geschaffen. Ihre Mitglieder waren einer intensiven Beeinflussung durch die Nazipropaganda ausgesetzt; man predigte ihnen die Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages, die Notwendigkeit der Gewinnung von Lebensraum, die Herrenrassentheorie, das Führerprinzip und viele andere widerliche Nazidoktrinen und lehrte sie, wie der Nürnberger Gerichtshof in seinem Urteil sagte, die »edle Bestimmung der deutschen Jugend, für Hitler zu sterben«. Von Schirach pflanzte »die große Tradition des Sterbens für eine heilige Sache in die junge Generation in der Gewissheit, dass ihr Blut einst den Weg in die erträumte Freiheit bahnen würde«.5

In den Jahren vor 1933, als die Nazipartei sich noch auf einem Tiefpunkt befand und das Tragen ihrer Uniformen illegal war, reiste von Schirach kreuz und quer durch Deutschland und forderte die deutsche Jugend auf, in die HJ einzutreten. »Die HJ«, sagte er, »gewann in dieser Zeit ihr bestes Menschenmaterial. Wer in dieser Verbotszeit zu uns stieß […], setzte alles aufs Spiel […]. Wir fuhren mit Pistolen in der Manteltasche durch das Ruhrgebiet, während die Steine hinter uns herflogen.«

Damals gab es noch viele, die in Adolf Hitler nur den Emporkömmling Schickelgruber sahen. Es war zu erwarten, dass ein Teil der älteren Deutschen, die die Traditionen des Hohenzollern-­Deutschland kannten und zurücksehnten, nicht gerade begeistert mit dem neuen Regime zusammenarbeiten würden, ohne freilich aktiv dagegen zu sein. So erschien es äußerst wünschenswert, dass eine neue Generation heranwüchse, die kein anderes Deutschland als das Hitlers kannte. Aber die HJ diente nicht nur dazu, die jungen Menschen neben dem Schulunterricht mit der Ideologie und den Absichten der Nazipartei vertraut zu machen; 1938 wurde sie zu einer natürlichen Rekrutierungsbasis für die SS ausgebaut. Den Auftakt dazu bildete die Einrichtung des Streifendienstes, der faktisch eine eigene Polizei der HJ darstellte. In einer Vereinbarung über die Organisierung des Streifendienstes legten Himmler und von Schirach fest, dass er ähnliche Aufgaben wie die SS erfüllen und als »Sondereinheit zur Sicherstellung des Nachwuchses für die Allgemeine SS« aufgebaut werden sollte.