Geküβt von einem Fremden - Barbara Cartland - E-Book

Geküβt von einem Fremden E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

In London wartet Davina auf die Rückkehr ihres Vaters von einer weiteren Reise ins unbekannte Ausland und muβ jeden Penny zwei Mal umdrehen. Sie hilft einer bekannten Schneiderin mit den Vorbereitungen für einen Maskenball um zu etwas Geld zu kommen. Als die Auftraggeberin eines der Kleider verweigert, schlüpft Davina abenteuerlustig in die schöne Robe und geht selbst auf den Ball. Dort trifft den eleganten Herzog von Norminster. Doch kann sie die clevere Verkleidung lange aufrechterhalten – vor allem, als der Herzog sie zu einer Hausparty einlädt? Davina beschlieβt, sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen.

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Gekuesst von einem Fremden

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1989

Gestaltung M-Y Books

1 ~ 1871

»Leider ist Ihre Mutter nicht bei bester Gesundheit, Miss Brantforde«, sagte Sir William Jenner.

Damit hatte Davina gerechnet. Schweigend wartete sie, bis der Arzt der Königin weitersprach. Dabei sah sie ihn an.

 »Kein Wunder, nachdem sie sich so überanstrengt hat! Und dazu kam noch die Angst um Ihren Vater.«

»Wenn wir doch bloß von ihm hören würden . . . Seit zwei Monaten haben wir keinen Brief bekommen.«

Sir William nickte.

»Das bedrückt Sie natürlich sehr. Jedenfalls müssen wir erst einmal dafür sorgen, daß Ihre Mutter wieder etwas optimistischer in die Welt blickt, und sie von ihren Sorgen ablenken.«

Davina hielt das für unmöglich, aber sie sprach es nicht aus.

»Ich habe mit ihrer Zofe geredet«, fuhr er fort. »Anscheinend ist sie eine sehr tüchtige Frau. Sie hat versichert, sie würde darauf achten, daß sich Ihre Mutter ungestört ausruhen kann, nur wenige Besucher empfängt und die Medizin nimmt, die ich ihr im Lauf dieses Tages schicken werde.«

»Sie waren sehr freundlich«, sagte Davina. »Mamas Zustand beunruhigt mich wirklich sehr.«

»Sehen Sie zu, daß Sie anständige, nahrhafte Mahlzeiten zu sich nimmt«, trug Sir William ihr auf, dann ging er zur Tür.

Davina folgte ihm. In der Halle lagen sein Zylinder, die Glacéhandschuhe und der Spazierstock bereit. Sanft tätschelte er die Schulter des jungen Mädchens.

»Kopf hoch, meine Liebe! Sobald Ihr Vater zurückkommt, wird sich bestimmt alles ändern.«

»Das bezweifle ich nicht. Vielen Dank für Ihren Besuch.«

 Davina öffnete die Tür, und Sir William verließ das kleine Haus am Islington Square, um in seinen eleganten Zweispänner zu steigen. Ein Lakai schloß die Tür. Als der Fahrer das Gespann in Bewegung setzte, lüftete der Arzt den Hut.

Seufzend blickte Davina der Kutsche nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann kehrte sie ins Haus zurück und schloß die Tür. Sie wußte, daß sie Sir William Jenner für diesen Besuch ein hohes Honorar bezahlen mußte. Aber in ihrer Sorge um die Mutter wollte sie keine Unkosten scheuen.

Er hatte ihr allerdings nichts mitteilen können, was sie noch nicht gewußt hätte. Lady Brantforde fehlte nichts weiter, als daß sie ihren Mann schmerzlich vermißte. Wenn er im Dienste des Außenministeriums geheime und gefährliche Missionen erfüllte, erhielt sie keine Nachricht von ihm. Und ihre Mutter befürchtete dann immer gleich das Schlimmste.

Was soll ich nur tun, fragte Davina sich. Dann erinnerte sie sich an ein anderes, sehr dringliches Problem: an die finanziellen Schwierigkeiten.

Sir Terence hatte als Diplomat gearbeitet, bevor er bei seiner Hochzeit in den Ruhestand getreten war. Aufgrund seiner umfassenden Fremdsprachenkenntnisse verließen sich die Beamten des Außenministeriums in heiklen Situationen immer noch auf seinen Beistand. Davinas Vater sprach nie über seine Missionen. Er reiste einfach in irgendein fernes Land, und sie wußte nicht, was er dort eigentlich machte.

Immerhin hatte sie herausgefunden, daß er vor vier Monaten zum Grafen Granville, dem Außenminister, gerufen worden war. Eine Woche später verschwand er.

Davina war jetzt achtzehn, und die Eltern hatten ihr eine Saison in London versprochen. In Abwesenheit des Vaters war es ihr und ihrer Mutter überlassen worden, das kleine Landhaus zu schließen. Zu Beginn des Jahres hatte Sir Terence ein preiswertes, recht hübsches Gebäude am Islington Square gemietet und Pläne für seine geliebte Tochter geschmiedet.

»Tut mir leid, mein Schatz, aber die Pflicht steht an erster Stelle«, hatte er am Abend vor seiner Abreise erklärt. »An diesen Grundsatz habe ich mich stets gehalten.«

»Natürlich mußt du deinen Auftrag erfüllen, Papa«, erwiderte sie. »Aber komm bitte so schnell wie möglich zurück! Ohne dich wäre London nur halb so schön.«

»Ich werde keinen Tag länger als unbedingt nötig fort sein«, beteuerte Sir Terence. »Das verspreche ich dir.«

Jetzt, im Juli, war die Saison praktisch vorbei, und Davina hatte keinen einzigen Ball oder Empfang besucht.

Zuerst hatte ihre Mutter einfach nur gewartet und geglaubt, Sir Terence würde jeden Moment zurückkehren. Sie war unfähig gewesen, der Gesellschaft ohne die Begleitung ihres Mannes gegenüberzutreten. Nur er kannte die richtigen Leute und war immer in Verbindung mit Persönlichkeiten geblieben, die - falls er darum gebeten hätte - seine Frau und seine Tochter bereitwillig einladen würden. Während er verreist war, wußten die beiden nichts mit sich anzufangen.

Nun hatten sich zwei Monate in London dahingeschleppt, und Davina wünschte inbrünstig, sie hätten das ländliche Heim nie verlassen. Dort konnte sie wenigstens reiten, und im Kreis ihrer Nachbarn hatte sie sich stets wohl gefühlt.

Die Tage zogen sich endlos hin, seit ihre Mutter immer verzagter wurde und sich für nichts interessierte, was außerhalb des Hauses geschah. Sie wartete nur noch auf den Postboten, weil sie hoffte, endlich einen Brief von ihrem Mann zu erhalten.

»Was hält ihn nur davon ab, uns zu schreiben?« fragte sie in einem fort, doch darauf gab es keine Antwort.

Davina betrat den kleinen Salon, wo sie sich mit ihrer Mutter aufzuhalten pflegte, wenn diese nicht im Schlafzimmer ruhte. Automatisch wanderte ihr Blick zu dem Stapel von Rechnungen auf dem Schreibtisch am Fenster.

Sir William hatte betont, ihre Mutter müßte die bestmögliche Nahrung bekommen. Aber gutes Essen war teuer. Hühner und junge Enten, die auf dem Land nur wenig kosteten, erzielten in London astronomische Preise, ebenso frische Eier, Butter und dicke Sahne.

Als würden die Rechnungen Davina magnetisch anziehen, ging sie zum Tisch und starrte darauf. Sir Terence hatte ihnen bei seiner Abreise eine beträchtliche Summe für den Haushalt übergeben, aber angenommen, daß er in einem, spätestens in zwei Monaten zurückkehren würde. Er hatte beabsichtigt, mit seiner Tochter die Rennen in Ascot zu besuchen, die Anfang Juni stattfanden, und für den Mai war die Teilnahme an einem distinguierten Empfang geplant worden.

Was kann nur passiert sein? überlegte sie, und ihre angstvollen Gedanken ließen sie schaudern. Doch dann sagte sie sich energisch, daß sie den Kopf nicht hängen lassen durfte, wenn sie ihre Mutter aufmuntern wollte.

Trotzdem konnte sie die Geldsorgen nicht verdrängen. Der Haushalt war nur klein. Auf die Köchin Bessie, die schon seit zwölf Jahren für die Brantfordes arbeitete, konnten sie nicht verzichten, ebenso wenig auf Amy, die bald ihren fünfzigsten Geburtstag feiern würde. Sie war zwei Jahre später als Bessie zu ihnen gekommen. Außerdem gab es noch Lady Brantfordes Zofe, Davinas ehemaliges Kindermädchen. Nanny gehörte zur Familie, ein Leben ohne sie war undenkbar.

Wir könnten aufs Land zurückfahren, erwog Davina. Aber wenn Papa hierherkommt und uns nicht antrifft, wird er böse sein. Er hat uns ausdrücklich gesagt, wir sollen in London auf ihn warten.

Sie wandte sich von den Rechnungen ab und schlenderte zum anderen Ende des Raumes. Dort blieb sie vor einem Aquarell stehen. Sie vermutete, daß der Eigentümer des Hauses es gemalt oder von einem Freund zum Geschenk erhalten hatte.

Es war kein besonders hübsches Bild, und plötzlich hörte sich Davina flüstern: »Das könnte ich besser.«

Und dann hatte sie eine Idee. Sie verstand nicht, warum sie nicht schon längst darauf gekommen war. Immerhin besaß sie zwei Talente - Malen und Nähen. Beim Gedanken an ihre künstlerischen Leistungen erinnerte sie sich an ihre Lehrerin. Wie dumm, daß sie während all der Monate in London keine Verbindung mit Lucy aufgenommen hatte . . . Das hatte sie stets vorgehabt. Doch sie hatte die Genesung ihrer Mutter abwarten wollen, ehe sie eine Droschke mieten und zu dem Modesalon nahe der Bond Street fahren wollte, der von Lucy Crofton geleitet wurde.

Ich werde Lucy sofort besuchen, entschied Davina und rannte die Treppe hinauf. Wie erwartet, machte Amy gerade im Schlafzimmer Ordnung.

»Setzen Sie Ihren Hut auf, Amy«, befahl Davina. »Wir gehen aus.«

»Dafür habe ich keine Zeit, Miss Davina. Und wo wollen Sie überhaupt hin?«

»Zu Miss Crofton. Sie erinnern sich doch an sie?«

»Natürlich!« knurrte Amy. »Eine große Dame ist das jetzt, nach allem, was man so hört. Viel zu vornehm, um Landleute von unserer Sorte zu empfangen.«

Sie sprach mit der Vertraulichkeit einer langjährigen Dienerin und bedachte nicht, daß Davina mittlerweile erwachsen war.

»Unsinn! Lucy wird sich freuen, mich wiederzusehen. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich eben allein zu ihr.«

Davina wußte um die Wirksamkeit dieser Drohung. Ihre Mutter bestand darauf, daß sie in London niemals ohne Begleitung das Haus verließ.

Amy murmelte einen unverständlichen Protest vor sich hin und eilte aus dem Schlafzimmer, während Davina ihren Schrank öffnete. Sie nahm das schönste Kleid heraus, das sie sich genäht hatte und das eine hochelegante Tumüre aufwies. Dazu paßte ein attraktiver Hut mit Bändern, die sie unter dem Kinn verknotete.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war sehr schlank, weil sie sich in ihrer Heimat viel an der frischen Luft bewegt hatte. Auf den Pferden ihres Vaters war sie über die Felder galoppiert. Nach solchen Ausflügen hatte sie dem alten Reitknecht regelmäßig geholfen, die Tiere zu striegeln. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von großen, taubengrauen Augen beherrscht. Diese Farbe war erstaunlich, denn zu dem blonden Haar und der hellen, durchscheinenden Haut hätten normalerweise blaue Augen gehört. Die schimmernden grauen Augen jedoch veranlaßten jeden, der Davina genauer musterte, zu der Erkenntnis, daß sie sich von anderen schönen Frauen unterschied. Sie besaß ein unwiderstehliches Lächeln, das von zwei Grübchen noch betont wurde.

Ihr Vater hatte einmal behauptet: »Du siehst aus wie eine Frühlingsfee, mein Liebling, und das ist das größte Kompliment, das ich dir machen kann.«

 Davina verstand das nicht, aber Sir Terence dachte an die glückseligen Gefühle, die der Frühling seinem Herzen alljährlich bescherte. Er liebte das erste zarte Grün an den Bäumen, die Unschuld der Schneeglöckchen, die Reinheit der Primeln und den sanften, verführerischen Duft der Waldveilchen. In jedem Frühling fühlte er sich wieder jung und glaubte, die Welt wartete nur darauf, von ihm erobert zu werden.

Und weil er klug war, nahm er an, daß seine Tochter solche Gefühle irgendwann auch in einem anderen Mann wecken würde. Er selbst würde sie immer lieben, weil sie ihn inspirierte und ihm Erkenntnisse bescherte, die er zuvor nicht gekannt hatte.

Diese Sehnsucht hatte Davina von ihm geerbt. Für sie war die ganze Welt neu, aufregend und wundervoll. Doch zur Zeit hatte sie ein wenig Angst, weil sie auf den Beistand des Vaters verzichten mußte. Ihre Mutter war krank, und weil sie sich selbst überlassen blieb, wirkte London so groß und furchterregend auf sie.

Doch als Amy die Treppe herunterkam, waren Davinas Lebensgeister wieder erwacht, und sie konnte es kaum erwarten, ihr Vorhaben zu verwirklichen.

 »Komm, Amy! Diesen weiten Weg können wir nicht zu Fuß bewältigen. Wir nehmen eine Droschke.«

»Stimmt was nicht mit Ihren Füßen?«

»Es ist eine Frage der Zeit«, erwiderte Davina, ohne zu erklären, was sie damit meinte.

Amy brummte immer noch unwillig vor sich hin, als sie eine Droschke fanden und Davina dem Kutscher befahl, in die Maddox Street zu fahren.

»An die Hausnummer erinnere ich mich nicht, aber der Modesalon gehört Madame D’Arcy.«

»Ja, den Laden kenne ich«, entgegnete der Mann.

Sie nahmen in dem Wagen Platz. Davina öffnete ein Fenster und bewunderte die Häuser, an denen sie vorbeikamen.

 »London ist so groß.«

»Zu groß für unsereins«, meinte Amy. »Und da Ihr Vater nicht da ist, wären wir auf dem Land viel besser dran. Bei unseresgleichen.«

So dachte auch Davina. Aber derzeit war ein Umzug unmöglich. Erstens mußten sie auf Sir Terences Rückkehr warten, und zweitens würde Mama in ihrem angegriffenen Zustand die Reise nicht verkraften.

Es dauerte ziemlich lange, bis die Droschke vor einem Laden hielt. Aufgeregt blickte Davina hinaus. In dem kleinen Schaufenster waren nur ein einziger elegant geschmückter Hut und ein Paar lange Glacéhandschuhe ausgestellt. Sie gab dem Kutscher ein großzügiges Trinkgeld, das er annahm, ohne sich zu bedanken. Dann fuhr er davon, und sie betrat, von Amy gefolgt, das Geschäft.

 Eine schwarzgekleidete Verkäuferin eilte ihr entgegen und begrüßte sie in etwas affektiertem Ton: »Guten Morgen, Madame. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte Madame D’Arcy sprechen.«

Die Verkäuferin zögerte.

 »Leider ist Madame sehr beschäftigt. Aber ich kann Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen.«

»Würden Sie Madame D’Arcy bitte mitteilen, Miss Davina Brantforde sei gekommen?«

Die Frau zauderte immer noch, aber Davinas selbstsicheres Auftreten schien sie zu beeindrucken, denn sie verschwand durch eine Tür im Hintergrund.

Davina sah sich im Laden um. Er war nicht sehr groß, und sie hatte erwartet, viel mehr Kleider vorzufinden. Doch sie entdeckte nur zwei - ein schickes Abendmodell mit großer Turnüre und erstaunlich tiefem Dekolleté und ein Tageskleid, das sie nur zu gern anprobiert hätte.

Die Verkäuferin kam zurück und erklärte wesentlich freundlicher als zuvor: »Wenn Sie mich bitte begleiten würden, Madame . . .«

Davina zeigte auf einen Stuhl.

 »Warten Sie hier, Amy. Sicher wird Miss Lucy Sie später sehen wollen.«

Sie folgte der Verkäuferin in das Hinterzimmer. Ihr Blick fiel auf eine Lucy Crofton, die sich seit der letzten Begegnung sehr verändert hatte.

Lucys mittlerweile verstorbener Vater hatte als Lehrer in dem kleinen Dorf gearbeitet, wo die Brantfordes lebten. Es war ein intelligenter, gebildeter Mann gewesen, der einen viel höheren Posten hätte einnehmen können. Doch darin hatte er nie sein Ziel gesehen. Sein Dasein wurde von zwei Interessen bestimmt - Geschichte und Malerei. Die Stellung an der Dorfschule verhalf ihm zu einem Haus, für das er keine Miete zahlen mußte. Und dort verbrachte er jeden Augenblick, in dem er die Bauernkinder nicht unterrichten mußte, mit Malen und Lesen.

Seine Tochter war beinahe ein Genie. In einem Alter, in dem andere Mädchen noch mit Puppen spielten, hatte sie schon gezeichnet und gemalt. Bald nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag starb ihr Vater. Einige Jahre zuvor hatte sie ihre Mutter verloren, und da sie in ihrer Heimat keine Verpflichtungen mehr erfüllen mußte, beschloß sie, nach London überzusiedeln. Sir Terence hatte schon einige Zeit vorher ihr Talent erkannt und sie beauftragt, Davina Zeichen- und Malstunden zu geben.

Vor drei Jahren hatte sie das Dorf verlassen und sich schon wenige Monate später in der Hauptstadt einen Namen gemacht - nicht als Malerin, sondern als Modezeichnerin.

»Das hätte ich nie erwartet«, bemerkte Lady Brantforde, nachdem die Familie davon erfahren hatte.

»Ich glaube, Lucy wollte schon immer eine kreative Tätigkeit ausüben«, entgegnete Sir Terence, »und mit etwas Hilfe wird sie sicher große Erfolge feiern können.«

»Mit etwas Hilfe?« fragte seine Frau neugierig.

Sir Terence lächelte schwach, bevor er in vielsagendem Ton erwiderte: »Nun, Lucy ist ein sehr attraktives Mädchen, meine Liebe.«

Davina hatte den Sinn dieser Antwort nicht verstanden.

Jetzt stellte sie fest, wie verändert Lucy aussah, und blinzelte verwirrt.

Erfreut streckte ihr Lucy beide Arme entgegen.

»Davina! Wie wundervoll, dich wiederzusehen! Wann bist du in London angekommen?«

»Bereits vor zwei Monaten. Ich wollte dich schon lange besuchen, aber es war alles so schwierig.«

»Schwierig, meine Liebe? Erzähl mir davon!«

Lucy stand neben einem Modell, das Davina wie ein Phantasiekostüm erschien, und sagte zu den beiden Mädchen, die daran arbeiteten: »Seht zu, daß ihr damit fertig werdet! Ich gehe nach oben.«

Sie nahm ihre Freundin bei der Hand und führte sie aus der Werkstatt, wo sich noch weitere sonderbare Kleider befanden. Keines sah so aus, wie Davina sich das vor ihrer Ankunft ausgemalt hatte.

Sie stiegen eine schmale Treppe hinauf. Im Oberstock öffnete Lucy eine Tür und ging in ein hübsches Schlafzimmer. Davina war verblüfft. Die seidenen Bettvorhänge wallten von einer vergoldeten Blumenkrone am Plafond herab. Mehrere große, goldgerahmte Spiegel und Intarsienmöbel ergänzten die Einrichtung. Der Teppich schien ein Aubusson zu sein, oder es handelte sich zumindest um eine sehr gute Imitation.

»Was für ein schöner Raum!« rief Davina.

»Wir müssen uns hier unterhalten, weil mein Salon mit Kostümen für den morgigen Ball vollgestopft ist.«

»Ein Ball?«

»In Marlborough House. Du mußt doch davon gehört haben!«

»Ich glaube, ich habe in der Zeitung etwas darüber gelesen. Aber in meiner Sorge um Mama konnte ich kaum an etwas anderes denken.«

»Ist deine Mutter krank?«

»Krank und deprimiert. Und ihr Zustand wird sich wohl kaum bessern, ehe Papa zurückkommt.«

»Wo ist Sir Terence?«

»Vor vier Monaten reiste er ab, um eine seiner geheimen Missionen zu erfüllen«, erklärte Davina. »Er wollte rechtzeitig zurückkehren, um mich während der Londoner Saison in die Gesellschaft einzuführen. Aber nun haben wir schon seit zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört.«

Ihrer Stimme war anzumerken, wie unglücklich sie war, und Lucy sagte mitfühlend: »Oh, du Ärmste! Es tut mir so leid, daß deine Mutter krank ist. Aber Sir Terence wird sicher wohlbehalten wiederkommen, so wie immer.«

Davina lächelte gezwungen.

»Daran zweifle ich nicht. Aber nun sitzen wir schon so lange untätig in London herum. Wir haben nichts gesehen und nichts unternommen und sehnen uns nur nach unserem Landhaus.«

»Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?« fragte Lucy. Sie warf einen eigenartigen Blick auf ihr Bett und fügte dann in verändertem Ton hinzu: »Vielleicht hat es deine Mutter verboten.«

»Natürlich nicht. Warum sollte sie? Mama mag dich sehr, Lucy. So wie wir alle. Ich wollte dich gemeinsam mit ihr besuchen, aber sie fühlte sich zu schwach, um auszugehen.«

Lucy musterte Davina, als wollte sie sich vergewissern, daß diese Antwort der Wahrheit entsprach.

Dann sagte sie: »Nun bist du ja endlich hier. Kann ich irgendetwas für dich tun? Nimm kein Blatt vor den Mund. Wenn du ein neues Kleid haben willst. . .«

Davina unterbrach sie.

 »Ich möchte arbeiten.«

»Arbeiten?« wiederholte Lucy überrascht.

»Papa gab uns vor seiner Abreise etwas Geld. Aber das haben wir inzwischen fast verbraucht. Sir William Jenner schärfte mir ein, Mama müsse anständig essen, aber du weißt ja, wie teuer das ist.«

»Selbstverständlich muß sie etwas Gutes zu essen bekommen«, bestätigte Lucy.

»Vielleicht findest du es anmaßend von mir«, begann Davina zögernd, »aber ich habe mir überlegt - vielleicht könnte ich dir irgendwie helfen . . . Du hast mich doch im Zeichnen unterrichtet.«

Lucy starrte sie an.

»Meinst du das ernst?«

»Oh ja. Die Miete für unser Stadthaus ist fällig, in letzter Zeit häufen sich die Rechnungen, also muß ich allmählich etwas unternehmen.«

»Du könntest mir tatsächlich helfen.«

»Wirklich?« rief Davina aufgeregt.

»Allerdings. Du würdest mir sogar einen Gefallen tun.«

»Wieso denn das?«

»Die Kleider, die du unten gesehen hast, und andere, die ich dir gleich zeigen werde, sind alle für den Kostümball im Marlborough House bestimmt, den der Prinz und die Prinzessin von Wales morgen abend geben werden.«

»Ich dachte mir schon, daß es historische Gewänder sind, konnte mir aber nicht vorstellen, aus welcher Epoche.«

Lucy lachte.

»Diesmal ist keine bestimmte Epoche vorgesehen. Vielleicht denkst du an den Stuart-Ball, den die Königin vor zwanzig Jahren im Buckingham Palast veranstaltet hat. Damals mußten sich alle Gäste so kleiden, wie es in jener Zeit üblich war.«

»Soviel ich mich erinnere, habe ich vor kurzem etwas darüber gelesen«, erwiderte Davina und fuhr lächelnd fort: »Aber da ich zum Zeitpunkt dieses Balls noch nicht auf der Welt war, hat es mich nicht besonders interessiert.«

»Ich war damals sieben. Dieses Jahr hat der Prinz von Wales seinen Gästen aufgetragen, sich als historische Persönlichkeiten oder Märchengestalten zu verkleiden.«

»Was für eine wunderbare Idee!«

Entzückt klatschte Davina in die Hände.

»Der Herzog von Clarence wird als Biest aus ‚Die Schöne und das Biest‘ auftreten, und ich mache das Kleid für die Schöne.«

»Oh, zeige es mir!« bat Davina.

»Natürlich, ich zeige dir auch die Kostüme für die Kartenquadrilles.«

»Was bedeutet das?«

»Mehrere Gäste ziehen sich als Spielkarten an.«

»Wie amüsant!«

 »Ja, einige Modelle sehen sehr lustig aus«, stimmte Lucy zu. »Dieser Ball hat mir eine ausgezeichnete Gelegenheit geboten, meine Phantasie unter Beweis zu stellen.«

»Hast du viele Kostüme entworfen?«

»Eine ganze Menge. Es war eine faszinierende Arbeit.«

»Aber wenn der Ball schon morgen stattfindet - wie kann ich dir da noch helfen?«

»Man wird andere Bälle veranstalten. Und ich versichere dir - viele Gastgeberinnen werden die Idee mit den Phantasiekostümen aufgreifen, weil sie die königlichen Hoheiten nachahmen möchten.«

Nachdenklich runzelte Davina die Stirn.

»Und du glaubst, ich kann dir bei den Entwürfen helfen?«

»Sicher kannst du das. Du wirst ein paar Skizzen anfertigen. Die zeige ich den Kundinnen, die ganz besondere Wünsche haben.«

Lucy seufzte tief auf.

 »Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt. Ständig muß ich in der Werkstatt die Näherinnen antreiben, damit die Kostüme für den morgigen Ball rechtzeitig fertig werden. Deshalb komme ich kaum noch zum Zeichnen.«

»Oh Lucy, wenn ich das für dich tun könnte, das wäre wundervoll«, jubelte Davina. »Ich würde so gern bei dir arbeiten.«

»Auch ich würde mich darüber freuen - wenn du ganz sicher bist, daß deine Mutter nichts dagegen hat.«

Davina glaubte einen merkwürdigen Unterton in Lucys Stimme zu hören.

 »Es wäre besser, Mama vorerst nichts davon zu erzählen«, entgegnete sie unverhohlen. »Es würde ihr vielleicht Miss fallen, daß ich arbeite, statt daheim herumzusitzen und auf Papa zu warten.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Sicher könnte ich auch zu Hause ein paar Skizzen zeichnen und sie dir dann hierherbringen. Du müßtest mir nur genau erklären, was du dir vorstellst.«