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Als Gracila Shering herausfindet, daß ihr Verlobter, der Herzog, in Wirklichkeit ein Verhältnis mit ihrer Stiefmutter hat, sieht sie den einzigen Ausweg aus einer solch schrecklichen Ehe in der Flucht. Gracila findet Zuflucht bei einem alten Diener, der jetzt im Dienst von Virgil, Lord Damien, steht, einem Mann, der von der viktorianischen Gesellschaft wegen seinem skandalösen Verhalten ausgestoßen wurde. Als Virgil unerwartet aus dem Exil zurückkehrt, werden Gracila neue Probleme bereitet, die nur ein Akt der Dankbarkeit der Königin lösen kann.
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Seitenzahl: 187
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2015
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Millet band die grüne Schürze um und machte sich an seine Lieblingsbeschäftigung. Silber putzen war für ihn nicht Arbeit, sondern Entspannung.
Das ewige Geschwätz der Dienerschaft, die ihm unterstand, ging ihm zuweilen ordentlich auf die Nerven, und so hatte er sie allesamt ins Bett geschickt und war froh, mit seinen Gedanken allein sein zu können.
Doch er sollte nicht lange allein sein. Schon nach wenigen Minuten klopfte es an der Tür der Geschirrkammer, und Millet ärgerte sich.
„Wer ist da?“ fragte er.
Die Tür ging auf, und der Nachtwächter, ein Mann, der ebenso alt war wie Millet, steckte den Kopf herein.
„Ach, Sie ...“ Millet schüttelte den Kopf. „Keine Zeit, ich habe zu tun, wie Sie sehen.“
„Da will Sie aber jemand sprechen, Mr. Millet“, sagte der Nachtwächter.
„Mich?“
Ehe Millet fragen konnte, wer es wagte, ihn zu so später Stunde sprechen zu wollen, huschte eine zierliche Gestalt an dem Nachtwächter vorbei und kam in die Geschirrkammer.
Millet traute seinen Augen nicht. Eine Frau? Sie trug einen Schleier über dem Gesicht, und Millet hatte keine Ahnung, wer die Frau hätte sein können.
Als der Nachtwächter jedoch verschwand und die Frau den Schleier vom Gesicht zog, traute Millet seinen Augen erst recht nicht.
„Mylady!“ rief er und stand sofort auf.
„Ich weiß, Mitty“, entgegnete eine junge Stimme. „Mit mir haben Sie nicht gerechnet. Und schon gar nicht so spät.“
„Da sollten Sie auch wirklich nicht mehr unterwegs sein, Mylady.“
Millet holte einen Stuhl aus einer Ecke, wischte den Sitz mit seiner Schürze ab und stellte ihn neben den unerwarteten Gast.
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er.
Das junge Mädchen nahm den Hut und das Cape ab, legte beides auf den Tisch und setzte sich.
Es war, als hätte plötzlich die Sonne Einzug gehalten. Das Licht der Petroleumlampe strich über das goldblonde Haar und schien in den großen, taubenblauen Augen zu verweilen. Die langen, gebogenen Wimpern verliehen diesen Augen den Ausdruck eines Kindes, das mit menschlichen Problemen noch nicht in Berührung gekommen war.
„Sie sind aber doch nicht allein gekommen, Mylady?“ fragte Millet.
Das junge Mädchen lächelte.
„Doch“, antwortete es. „Das heißt, Caesar ist bei mir. Ich habe ihn draußen festgebunden.“
„Sie sind mutterseelenallein durch die Nacht geritten?“ fragte Millet entsetzt. „Seine Lordschaft würde das nie billigen.“
„Seine Lordschaft wird so manches nicht billigen, also kommt es darauf auch nicht mehr an.“
Millet runzelte die Stirn und sah das junge Mädchen an. So hatte er es bisher noch nie sprechen hören.
Da es ihm als Diener nicht anstand, Fragen zu stellen, wartete er ab. Er wußte, daß Lady Gracila ihm von sich aus erklären würde, warum sie hier und nicht, wie es sich gehört hätte, zu Hause auf Schloß Sherington war.
„Setzen Sie sich wieder, Mitty“, sagte Lady Gracila, die den Butler schon von klein auf so genannt hatte.
„Ich soll mich setzen?“ fragte Millet erstaunt.
„Natürlich. Seien Sie doch nicht immer so respektvoll und distanziert. Wie beim Tod meiner Mutter, als Sie der einzige waren, der mich trösten konnte, brauche ich wieder Ihre Hilfe.“
Millet setzte sich und sah Lady Gracila besorgt an. Das junge Mädchen war blaß und machte einen bedrückten Eindruck.
„Mylady haben etwas auf dem Herzen“, sagte er vorsichtig. „Darf ich wissen, worum es sich handelt?“
„Ich bin von zu Hause weggelaufen, Mitty“, antwortete Lady Gracila.
„Wie bitte?“ Millet runzelte die Stirn. „Das können Sie nicht tun, Mylady. In ein paar Tagen ist Ihre Hochzeit.“
„Ich kann den Herzog nicht heiraten“, erklärte Lady Gracila. „Unmöglich! Und deshalb müssen Sie mir helfen, Mitty. Ich habe gewartet, bis alles geschlafen hat, habe einen Brief an meinen Vater hinterlassen, bin aus dem Haus geschlichen, habe Caesar gesattelt und bin hierher geritten.“
„Aber Mylady ...“
Millet kam nicht zu Wort. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Mitty“, unterbrach Lady Gracila den alten Butler, „aber holen Sie bitte erst meine Sachen. Ich habe die wenigen Dinge, die ich jetzt noch besitze, auf das Pferd geladen.“
Millet wollte protestieren, kam aber wieder nicht zu Wort.
„Bitte, Mitty“, sagte Lady Gracila. „Bitte, tun Sie mir den Gefallen.“
Mit einem Seufzer ging Millet aus der Kammer und zog die Tür hinter sich zu.
Als sie allein war, schlug Lady Gracila die Hände vor das Gesicht.
Er muß mich hier behalten, dachte sie. Wohin soll ich denn sonst gehen? Hier vermutet mich niemand.
Ehe sie aus dem Schloß geflohen war, hatte sie verzweifelt überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte. Sie hatte bisher nie Geld gebraucht und daher auch nie sehr viel mehr als ein paar Shillings bei sich gehabt.
Die wenigen Schmuckstücke aus dem Erbe ihrer Mutter, die nicht im Safe verschlossen waren, hatte sie natürlich mitgenommen. Den Rest hatte sie zurücklassen müssen. Der neue Butler, der mit dem guten alten Mitty leider nichts gemein hatte, hätte nie ohne Genehmigung ihres Vaters den Safe geöffnet.
Sie hatte versucht, einen klaren Kopf zu behalten und nicht hysterisch zu werden. Wegzulaufen war die einzige Möglichkeit gewesen, denn eine Heirat mit dem Herzog kam nicht in Frage.
Wie dumm sie doch gewesen war! Sie hätte seinen Antrag gar nicht erst annehmen dürfen.
Ihre Stiefmutter hatte alles eingefädelt und es auf ihre geschickte Art fertiggebracht, daß sie auf keinerlei Widerstand gestoßen war.
Sie war eine intelligente, schlaue Frau, und Gracila hatte erst viel zu spät begriffen, daß sie im Vergleich zu ihr ein ahnungsloses, gutgläubiges Wesen war.
Daß der Herzog von Radstock ausgerechnet sie zur Frau haben wollte, hatte sie aufregend gefunden. Jedes Mädchen, das sie kannte, hatte sie glühend beneidet.
Der Herzog war nicht nur eines der einflußreichsten und wohlhabendsten Mitglieder des Hochadels, er war auch ein sehr sportlicher Mann und besaß Pferde, die bei fast allen wichtigen Rennen den Sieg davontrugen.
„Der Familienschmuck der Radstocks ist einmalig“, hatte Gracilas Stiefmutter betont. „Nicht einmal die Königin kann mit Brillanten derselben Reinheit und Größe aufwarten.“ Sie hatte den Anflug von Neid in der Stimme nicht verbergen können. „Als Herzogin von Radstock bist du königliche Kammerjungfer und wirst zu jedem Staatsempfang eingeladen. Es heißt ja auch, daß die Königin eine Schwäche für den Herzog hat, was mich bei ihrer Vorliebe für gutaussehende Männer nicht wundert.“
Das alles hatte sehr verlockend geklungen.
Gracila liebte Pferde, und da sie selbst immer in einem großen Schloß gelebt hatte, empfand sie es als angenehm, sich auch in Zukunft nicht einschränken zu müssen.
Daß der Herzog sich nicht erst an sie, sondern direkt an ihren Vater gewandt hatte, enttäuschte Gracila. Doch dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand ein, und sie sagte sich, daß dies insofern verständlich war, als der Herzog wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, er könne abgelehnt werden. Schließlich war er die beste Partie ganz Englands.
Die Tatsache, daß der Herzog schon einmal verheiratet gewesen war, hatte Gracilas Stiefmutter nur kurz erwähnt. Die erste Frau war schließlich tot, und es erschien wenig sinnvoll, sich weiter über die Vergangenheit oder den Umstand auszulassen, daß der Herzog Gracilas Vater hätte sein können.
Da die Phantasie mit Gracila durchgegangen war und sie sich immer wieder vorgestellt hatte, welches Leben sie als Herzogin von Radstock führen würde, hatte sie völlig vergessen, in dem Herzog den zukünftigen Ehemann zu sehen.
Er war für sie eine ziemlich nebulöse Gestalt gewesen, vergleichbar mit den mythischen Helden des Altertums, die ihr allerdings manchmal wirklicher vorgekommen waren als die Menschen ihrer Umgebung.
Da Gracila so viel jünger war als ihre Brüder und Schwestern und weil sie sich aus diesem Grunde viel mit sich selbst hatte beschäftigen müssen, hatte sie ihre Abwechslung in den Büchern gefunden, die sie buchstäblich verschlang.
Wenn sie las, tauchte sie in eine Märchenwelt ein, in der alles schön war und in der jeder glücklich leben konnte. Unsympathische Frauen mit scharfen Stimmen, Frauen wie ihre Stiefmutter, existierten in dieser Welt nicht.
Es lag nicht daran, daß die neue Gräfin von Sheringham den Platz ihrer Mutter eingenommen hatte und die volle Aufmerksamkeit von Gracilas Vater in Anspruch nahm, sondern an der Tatsache, daß Daisy Sheringham eben kein netter Mensch war.
Gracila konnte sich dieses instinktive Gefühl der Abneigung selbst nicht erklären. Sie wußte lediglich, daß sie versucht hatte, es zu überwinden, doch ohne jeglichen Erfolg.
Aus diesem Grund hätte sie bereits in dem Augenblick mißtrauisch sein sollen, als ihre Stiefmutter ihr mitgeteilt hatte, daß sie die Frau des Herzogs werden solle.
Wie konnte ich nur so blind sein, dachte Gracila jetzt.
Und durch diese Blindheit war der Schock um so größer gewesen. Erst an diesem Nachmittag hatte sie erfahren müssen, wie die Dinge in Wirklichkeit standen, und noch jetzt empfand sie die bittere Wahrheit als physischen Schmerz.
Der Herzog war gekommen, um die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen.
Bis zum heutigen Tag hatte Gracila den Herzog nur selten gesehen. Und allein war sie mit ihm nur ein einziges Mal gewesen.Gracila hatte nicht einmal gewußt, daß der Herzog zu Gast war, und war daher höchst erstaunt gewesen, als sie in den Roten Salon gerufen worden war und ihn dort mit ihrem Vater zusammen vorgefunden hatte.
Sie hatte einen Knicks gemacht, aber nicht gewagt, den Blick zu heben.
„Gracila“, hatte ihr Vater gesagt, „deine Stiefmutter hat dir mitgeteilt, daß der Herzog um deine Hand angehalten hat, was uns eine große Ehre ist. Der Herzog wünscht mit dir zu sprechen, und ich ziehe mich daher zurück.“
Damit war ihr Vater gegangen, und Gracila hatte Herzklopfen bekommen wie noch nie in ihrem Leben. Jetzt hatte sie natürlich erst recht nicht mehr gewagt, den Blick zu heben.
„Ich bin überzeugt davon, daß wir zusammen glücklich sein werden, Gracila“, hatte der Herzog gesagt. „Ich hoffe, der Ring, den ich Ihnen mitgebracht habe, gefällt Ihnen.“
Er hatte ihre linke Hand genommen und ihr einen Ring mit einem großen Brillanten angesteckt.
„Vielen - Dank“, hatte Gracila gestammelt. „Der Ring ist - er ist sehr schön.“
„Er ist seit fast fünfhundert Jahren im Besitz der Familie“, hatte der Herzog gesagt. „Es gibt noch ein dazu passendes Collier und ein Diadem. Beides werden Sie tragen, wenn wir erst verheiratet sind.“
„Vielen Dank.“
Da der Herzog nichts weiter sagte und Gracila dies seltsam fand, sah sie ihn an.
Sein Blick war merkwürdig. Gracila hatte das Gefühl, als würde sie gemustert.
Dann lächelte der Herzog plötzlich. „Sie sind sehr schön, Gracila“, sagte er. „Ich bin sicher, daß man schnell feststellen wird, daß Sie die schönste aller Herzoginnen von Radstock sind, und es hat in dieser Familie eine ganze Reihe von sehr schönen Frauen gegeben.“
„Vielen Dank“, entgegnete Gracila.
Und dann fragte sie sich plötzlich, ob er sie jetzt wohl küssen würde.
Doch er führte lediglich ihre Hand zu seinen Lippen, und in diesem Augenblick kam auch schon ihr Vater wieder in den Salon.
Später hatte sie herauszufinden versucht, wie sie zu dem Herzog stand.
Er war zweifellos ein sehr gutaussehender Mann, doch seine Haut wirkte alt, seine Haare waren an den Schläfen schon grau, und seiner Figur fehlte die athletische Spannkraft eines jungen Menschen.
Gracila hatte sich gefragt, ob sie gern von ihm geküßt worden wäre, und hatte erstaunt feststellen müssen, daß sie diesbezüglich keine Meinung hatte.
Sie war noch nie in ihrem Leben geküßt worden, hatte sich einen Kuß jedoch immer als Ausdruck großer Liebe und als etwas Wundervolles vorgestellt. Aus Büchern glaubte sie zu wissen, daß die Liebe tiefe Gefühle erweckte und Menschen zu großen Taten veranlassen konnte.
Sie hatte sich immer wieder gefragt, ob sie tiefe Gefühle für den Herzog empfand, hatte sich aber keine Antwort geben können. Auch dann noch nicht, als der Herzog am Tag darauf wieder abgereist war.
Und heute, eine Woche vor dem Hochzeitstag, als er zurückgekommen war, hatte sie sich fest vorgenommen, es herauszufinden.
Während der stundenlangen Anproben für ihre Garderobe hatte sie an nichts anderes gedacht.
Gracila hatte sich ihren zukünftigen Mann immer als einen ritterlichen Menschen von der Abenteuerlust eines Odysseus und der Ausstrahlung und Schönheit eines Lord Byron vorgestellt. Weil ihre verschiedenen Gouvernanten Lord Byrons Gedichte strikt abgelehnt hatten, hatte Gracila sie heimlich in der Bibliothek gelesen.
Und nach den Anproben hatte sie plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürt, die Gedichte zur Hand zu nehmen und zu versuchen, mit deren Hilfe Klarheit zu bekommen.
Gracila war in die Bibliothek gegangen, hatte schnell den Gedichtband aus dem Regal genommen und war damit in dem Erker verschwunden, den man durch einen schweren roten Samtvorhang vom übrigen Raum abschließen konnte.
Gracila hatte sich in das kleine Sesselchen gesetzt, hatte die Beine hochgeschlagen, das ledergebundene Buch aufgeschlagen und durch die Seiten geblättert, bis sie ihren Lieblingsvers gefunden hatte.
Ein langer, langer Kuß, ein Kuß der Wonnen,
Der Lieb und Schönheit, der in eine Glut zusammenfaßt die Strahlen aller Sonnen;
Derartige Küsse sind der Jugend Gut
Wenn Seel und Sinn und Herz ein voller Bronnen.
Wie jedes Mal, wenn sie diese fünf Zeilen las, hatte sie gelächelt, doch einen Augenblick später war sie plötzlich auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt worden.
Stimmen waren vom entgegengesetzten Ende der Bibliothek in ihr Versteck gedrungen.
Hier findet mich niemand, hatte Gracila zufrieden gedacht und weitergelesen.
Als jedoch plötzlich ihr Name gefallen war, hatte sie aufgehorcht.
„Gracila ist so jung und so naiv“, hatte ihre Stiefmutter gesagt, „daß sie nie Verdacht schöpfen wird. Es sei denn, man sagte es ihr.“
„Das wird niemand tun“, hatte der Herzog entgegnet. „Jugend und Naivität wirken wie ein Schutzwall.“
„Da hast du recht. Mein Gott, wie sehr ich mich darauf freue, dich mühelos sehen zu können. Wir können bei dir zu Gast sein, und du hier im Schloß.“ Die Gräfin hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen. „Oh, mein Geliebter - die Jahre ohne dich waren die Hölle für mich.“
Gracila war zusammengezuckt. Hatte sie diese Worte tatsächlich gehört?
„Wir müssen trotzdem sehr vorsichtig sein“, hatte der Herzog gesagt.
„Natürlich“, hatte die Gräfin entgegnet. „Aber heute Nacht sind wir ungestört, mein Geliebter.“
„Mit George unter demselben Dach?“
„Er hat sich verkühlt und schläft in seinem Zimmer. Und ich komme zu dir. Oh Andrew, du weißt gar nicht, wie sehr ich mich nach dir sehne und wie ich dich brauche.“
„Meine arme Daisy! Aber wir mußten so handeln. Wie hätte ich auch nur ahnen können, daß Elsie sechs Monate nach deiner Heirat stirbt?“
„Das Schicksal war gegen uns“, hatte die Gräfin seufzend gesagt. „Aber jetzt werde ich dich wieder sehen können. Du ahnst nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe, wie du mir gefehlt hast. Nie in meinem Leben bin ich einem attraktiveren Mann begegnet.“ Sie hatte die Stimme gesenkt. „Und nie einem leidenschaftlicheren Liebhaber.“
Gracila hatte geglaubt, zu Stein erstarren zu müssen. Und dann hatte Stille geherrscht, und sie hatte gewußt, daß der Herzog ihre Stiefmutter küßte. Einen Augenblick später hatte sie gehört, wie die Tür zur Bibliothek geschlossen wurde, und war wieder allein gewesen.
Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und war unfähig gewesen zu begreifen, was sie hier mit angehört hatte.
Doch dann hatte sie der Wahrheit ins Gesicht gesehen.
Der Herzog war der Geliebte ihrer Stiefmutter und war es auch schon vor der Heirat mit ihrem Vater gewesen.
Als ihr Vater wieder geheiratet hatte, war Gracila gar nicht auf den Gedanken gekommen, in ihrer Stiefmutter eine begehrenswerte Frau zu sehen.
In Büchern hatte sie von Frauen mittleren Alters gelesen, die auf dramatische und oft tragische Weise die Liebe suchen, aber sie hatte nicht geglaubt, je selbst damit konfrontiert zu werden.
Ihr Vater war ein Mensch, der streng und unnahbar wirkte, und weil sie immer die Jüngste in der Familie gewesen war, hatte sie ihn, zumindest als Kind, für ziemlich alt gehalten.
Ihre Mutter hatte ihren Vater sehr geliebt, aber sie war sehr viel jünger gewesen als er und er hatte in ihr stets ein zartes Geschöpf gesehen, um das man sich kümmern und das man verwöhnen mußte. Gracilas Mutter war nach deren Geburt sehr zerbrechlich und anfällig gewesen, hatte dabei auch so jung ausgesehen, daß man sie für die ältere Schwester Gracilas hätte halten können.
Erst nach ihrem Tod war es Gracila klar geworden, welch großartige Freundin ihre Mutter gewesen und wie einsam und verloren sie ohne sie war.
In jener Zeit war der Graf von einer sehr zielstrebigen und sehr weltgewandten Frau umgarnt worden.
Daisy hatte ihm alles gegeben, was er, ohne es zu wissen, in der liebreizenden Kindlichkeit seiner zweiten Ehefrau Elizabeth vermißt hatte.
Doch jetzt, im Erker der Bibliothek, hatte Gracila begriffen, warum sie ihrer Stiefmutter instinktiv mißtraut hatte und warum Dinge, die sie aussprach, oft so falsch wirkten.
Gracila war schließlich aufgestanden, hatte den Gedichtband an seinen Platz zurückgestellt und gewußt, daß sie nie einen Mann heiraten würde, der sie nicht liebte.
Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und war erst wieder zum Abendessen nach unten gegangen. Sie hatte den Herzog und ihre Stiefmutter beobachtet und das Gefühl gehabt, als einziger Zuschauer ein sehr unangenehmes Schauspiel vor sich abrollen zu sehen.
Ihr Vater war der perfekte Gastgeber gewesen, und Gracila hatte förmlich gespürt, wie glücklich er war, eine so einflußreiche Persönlichkeit zum Schwiegersohn zu bekommen.
Er ahnt es nicht einmal, hatte Gracila immer wieder denken müssen.
Zum ersten Mal hatte sie die Stiefmutter nicht als einen Menschen gesehen, nach dem sie sich richten mußte, sondern als eine Frau ohne Moral, die ihre Reize schamlos zur Schau trug.
Allerdings hatte Gracila zugeben müssen, daß dies nur jemandem auffiel, der den Schlüssel zur Lösung des Rätsels besaß.
Als sich Gracila nach dem Abendessen in ihr Zimmer zurückzog, wußte sie plötzlich, daß es nur eine Möglichkeit gab - sie mußte weglaufen.
Sie hätte es nie über das Herz gebracht, ihrem Vater die Wahrheit zu sagen, und wie hätte sie ohne diese Wahrheit die Abscheu vor der bevorstehenden Heirat begründen sollen?
Man hätte ihr entgegnet, sie sei eben im Augenblick etwas nervös, aber das würde sich schon wieder geben. Ihre Einwände wären beiseitegeschoben worden, und sie wäre gezwungen gewesen, einem Mann ihr Jawort zu geben, der sie lediglich geheiratet hatte, um das Verhältnis mit ihrer Stiefmutter fortsetzen zu können.
In dieser Nacht sollte Gracilas Vater unter dem eigenen Dach betrogen werden, und da Gracila dies wußte, mußte sie sofort handeln.
Daß sie nicht zu ihren Verwandten gehen und um ihre Hilfe bitten konnte, war ihr klar. Sie wäre auf Unverständnis gestoßen und hätte lediglich zu hören bekommen, daß man einen so einflußreichen Mann wie den Herzog nicht abweist. Noch dazu im letzten Augenblick.
Für ihre Freunde galt das gleiche. Beim Gedanken an die zehn Brautjungfern, die ihre Stiefmutter aus den besten Familien des Landes ausgewählt hatte, lief es Gracila kalt über den Rücken. Sie hatten sich elegante, teure Kleider anfertigen lassen, hatten ihre Blumenbouquets bestellt und konnten den Tag kaum erwarten.
Und nicht nur sie. In der großen Scheune waren bereits die Tische und Bänke für die Pächter und Landarbeiter aufgestellt, die hier bewirtet werden sollten.
Wie sollte das alles rückgängig gemacht werden? Gracila wußte es nicht. Sie wußte nur, daß die Hochzeit nicht stattfinden durfte. Verschwinden war die einzige Möglichkeit. Wenn keine Braut da war, mußte die ganze Maschinerie, die für die Hochzeitsfeierlichkeiten angekurbelt worden war, angehalten werden.
Und dann war ihr plötzlich Millet eingefallen.
Weil ihre Stiefmutter Millet nicht gemocht und behauptet hatte, er leiste keine zufrieden stellende Arbeit, hatte er gehen müssen. Daß er immer zur Familie gehört hatte und nach fast dreißig Jahren treuer Dienste nicht hätte entlassen werden dürfen, hatte sie nicht berührt.
Sie hatte offensichtlich ihre Gründe gehabt. Dienstboten wußten meistens zu viel, und sie redeten zu viel. Diejenigen, die von ihr persönlich angestellt waren, würden nicht so schnell über ihre Handlungsweise schockiert sein und sie vor allem nicht verraten.
Der Gedanke an Millet war Gracila wie die Rettung erschienen. Von ihrem Vater und ihrer Mutter abgesehen, hatte sie nie einen Menschen mehr geliebt als ihn.
Das erste Wort, das sie hatte sprechen können, war ,Mitty‘ gewesen. Wann immer sie ihrer Kinderfrau hatte entkommen können, war sie zu ihm gelaufen, hatte in der Geschirrkammer auf seinen Knien gesessen oder ihm beim Silberputzen zugesehen.
Mitty wird mich aufnehmen und verstecken, hatte sie gedacht und wieder Hoffnung geschöpft.
Als sich Mitty von ihr verabschiedet hatte - Gracila erinnerte sich noch gut daran, wie ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen waren -, hatte er gesagt, wohin er gehen würde.
Wie jämmerlich er in seinen eigenen Kleidern ausgesehen hatte! Ein trauriger alter Mann, der mit dem würdigen Butler in Livree kaum mehr etwas zu tun hatte.
„Und was machen Sie denn jetzt, Mitty?“ hatte Gracila voll Mitleid gefragt. Sie hatte es immer noch nicht fassen können, daß jemand, der so sehr zu ihrem Leben gehörte, einfach ersetzt werden sollte.
„Ich finde schon eine neue Stellung, Mylady“, antwortete Millet. „Vorerst gehe ich zu meiner Schwester.“
„Zu Mrs. Hansell in Baron’s Hall?“
Millet nickte.
„Sie müssen mir aber versprechen, daß Sie mir Bescheid sagen, wenn Sie eine neue Adresse haben.“
„Das verspreche ich Ihnen, Mylady.“
„Ich wünsche Ihnen alles, alles Gute, Mitty.“
„Ich werde immer an Sie denken, Mylady.“
„Und ich an Sie, Mitty.“
Gracila schlang die Arme um den Nacken des alten Mannes und küßte ihn, wie sie ihn als Kind immer geküßt hatte. Was die anderen sagten oder dachten, kümmerte sie wenig. Mitty hatte von eh und je zu ihrem Leben gehört und würde immer dazu gehören - ganz im Gegensatz zu ihrer Stiefmutter.
Und so war Millet mit seinem armseligen Gepäck in die wartende Kutsche gestiegen und weggefahren.
„Wie hast du es zulassen können, daß Millet hinausgeworfen wird?“ hatte Gracila ihren Vater vorwurfsvoll gefragt.
„Ich kümmere mich nicht um den Haushalt, das weißt du“, hatte er kühl entgegnet.
„Aber Millet war ein Leben lang hier, Papa. Er wurde eingestellt, da warst du noch längst nicht mit Mama verheiratet.“
„Deine Stiefmutter sagt, daß er viel zu langsam ist und nichts mehr taugt.“
„Das stimmt nicht“, hatte Gracila protestiert. „Du weißt selber, wie das Silber von allen Gästen gelobt wird und daß man sich in ganz England um einen Diener reißt, der bei Millet gelernt hat.“
„Das mag stimmen, aber mich interessieren diese Dinge nicht, Gracila. Ich überlasse das alles deiner Stiefmutter.“
Gracila hatte gewußt, wie peinlich ihrem Vater die Angelegenheit gewesen war. Ohne ein weiteres Wort war Gracila gegangen und hatte die Tür recht unsanft hinter sich zugeworfen.