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Lady Lynda, einziges Kind des Duke of Marlowe kommt nach ihrer Schulzeit in Frankreich zurück auf das Schloss ihres Vaters. Dort fällt sie am ersten Morgen - während eines Spaziergangs zu ihrem geliebten Wald - in einen reißenden Fluss und wird von dem Duke of Buckington aus den Fluten gerettet. Er gehört zu einer Jagdgesellschaft, die gerade bei ihrem Vater weilt. Der Duke of Buckington ist sehr attraktiv und wohlhabend und hat einen Ruf als Frauenheld. Da einige Gäste spitze Vermutungen über die Rettungsaktion anstellen und der Duke of Marlowe sich um den Ruf seiner Tochter sorgt, wird eine Heirat zwischen dem Duke of Buckingtton und Lady Lynda arrangiert. Beide sind davon nicht angetan und Lynda heiratet den Duke nur auf Drängen ihres Vaters, da dieser in großen finanziellen Schwierigkeiten steckt. Auf der Hochzeitsreise nach Griechenland entdecken sie viele Gemeinsamkeiten. Wird es dem Duke gelingen, einen versteckten Schatz auf einer griechischen Insel zu finden? Werden die Götter des Olymp dem Paar helfen, die Liebe, die sie suchen, zu finden…
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Seitenzahl: 154
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2023
Copyright Cartland Promotions 1994
Gestaltung M-Y Books
www.m-ybooks.co.uk
Lady Lynda ging die Schlosstreppe hinunter in den Garten. Ihr Herz jubilierte, denn sie war wieder zu Hause.
Es war Frühling, und überall grünte und blühte es.
Über ein Jahr war Lady Lynda fort gewesen, und sie fand, dass es nichts Schöneres gab als England zur Maienzeit. Das Lernen in der Schule in Frankreich hatte ihr zwar Spaß gemacht, ebenso die Besuche der vielen interessanten Museen, die es dort gab, in Gedanken war sie jedoch immer in England gewesen, in seinen Wäldern, an seinen Seen und Flüssen, vor allem aber in ihrem Elternhaus.
Man sah Marlowe Castle an, dass es sehr alt war. Reparaturen wären an allen Ecken und Enden nötig gewesen, aber Lyndas Vater, der Duke, hatte nicht das erforderliche Geld dazu, denn er war nicht reich. Für sie aber war jeder einzelne alte Stein von Bedeutung. Und weder die knarrenden Dielen noch die feuchten Decken konnten ihre Liebe zum Schloss schmälern.
Als sie unter den mächtigen Eichen im Park dahinwanderte, dachte sie wieder einmal daran, wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Ihr war bewusst, wie sehr sich durch deren Tod alles verändert hatte.
Im vergangenen Jahr hätte sie der Queen im Buckingham Palace vorgestellt werden sollen. Mit ihren fast achtzehn Jahren hätte sie zu den namhaftesten Debütantinnen dieser Saison gezählt. Als dann die Duchess of Marlowe gestorben war, beschloss Lynda, auf der Schule zu bleiben, auch wenn sie älter als die meisten anderen Mädchen war.
Es gab noch so viel zu lernen, und so setzte sie also ihre Studien fort und verbrachte viele Stunden in den Bibliotheken von Paris, zu denen nur die besten Schüler Zugang hatten.
„Du wirst noch so klug werden, Lynda”, neckten sie die anderen Mädchen, „dass die Männer sich vor dir fürchten werden.”
„Das ist gar nichts gegen meine Angst, dass sie mich alle furchtbar langweilen werden”, gab Lynda zurück. „Im Übrigen habt ihr ja immer behauptet, dass Männer nur an Sport interessiert sind.”
Die Mädchen lachten.
Dauergesprächsstoff bei Lyndas französischen Freundinnen waren die vielen Flirts ihrer Brüder mit den schönen und vornehmen Damen der Pariser Gesellschaft.
Die Interessen der jungen Engländer schienen dagegen auf ganz anderem Gebiet zu liegen. Bei ihnen zählten offensichtlich nur Pferde und die Jagd.
„Im Herbst”, so spotteten Lyndas englische Freundinnen, „gehen sie nach Schottland, um Moorhühner zu jagen. Dann kommen sie zurück nach Hause und schießen Fasane und Rebhühner. Danach geht’s zur Jagd aufs Wild, falls der Boden nicht schon zu hartgefroren ist. Und wenn das neue Jahr beginnt, sind die Rennen an der Reihe. Einmal in der Woche gibt es bestimmt irgendwo ein Rennen, zu dem sie unbedingt gehen müssen.”
Lady Lynda war eine begeisterte Reiterin und hatte sogar im Pensionat durchgesetzt, ihrem Hobby frönen zu dürfen.
Aber sie hatte auch andere Vorlieben. So schmökerte sie stundenlang in Büchern über ferne, unbekannte Länder. Sie vertiefte sich in die Berichte über fremde Sitten und Gebräuche und lernte von ihren Schulfreundinnen sogar die fremden Sprachen. Sollte sie jemals die Möglichkeit haben, ferne Länder zu besuchen, so wollte sie in der Lage sein, sich mit den Menschen dort zu unterhalten.
„Du wirst kaum jemals einen außergewöhnlichen Ort zu sehen bekommen”, sagte man ihr.
Sie aber spürte tief in ihrem Herzen, dass dieser Tag einmal kommen würde.
Am Abend zuvor war sie spät aus Frankreich nach Hause zurückgekehrt. Ihr Vater gab gerade eine Gesellschaft. Fast hatte sie es nicht anders erwartet.
Die Bediensteten berichteten ihr, dass am Tag ein Hindernisrennen stattgefunden hatte und dass eine große Anzahl der Teilnehmer im Schloss untergebracht war.
Von der Hausdame, Mrs. Meadows, die Lynda schon als kleines Kind in ihr Herz geschlossen hatte, war ihr die Gästeliste überreicht worden.
Lynda fuhr mit ihrem Finger über die Namen. Die meisten waren ihr bekannt. Sie alle waren Besitzer von Rennpferden und sie hatte ihren Vater von ihnen reden hören, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie erinnerte sich an einige der jüngeren Männer, weil diese an Geländejagden teilgenommen hatten, die ihr Vater neben Hindernisrennen veranstaltete. Sie hatte sie bewundert. Aber da sie noch sehr jung gewesen war, fand ihre Bewunderung nur aus der Ferne statt. Entweder hatte sie sie durchs Treppengeländer beobachtet oder ihnen von der Galerie oberhalb des Bankettsaals beim Speisen zugeschaut.
Während der Geländejagd, bei der sie als Zuschauerin dabei sein durfte, hatte der eine oder andere wohl auch einmal das Wort an sie gerichtet, aber um morgens mit ihnen auszureiten, dafür hatte man sie zu ihrem Leidwesen für zu jung erachtet.
„Du wirst noch viele Gentlemen kennenlernen, wenn du erst einmal debütiert hast”, hatte ihre Mutter sie getröstet. „Außerdem bin ich der Meinung, dass fünfzehn bis sechzehnjährige Schulmädchen sich über andere Dinge als Männer Gedanken machen sollten.”
Lynda hatte sich dem fügen müssen.
Während sie die Gästeliste durchging, die Mrs. Meadows ihr gegeben hatte, fiel ihr Blick auf einen Namen, der ihr vertrauter als die anderen war.
„Der Duke of Buckington ist also auch da”, sagte sie laut.
„O ja, Mylady”, erwiderte Mrs. Meadows. „Seine Gnaden waren hocherfreut, ihn für die Teilnahme am Rennen gewinnen zu können.”
„Und? Hat er gewonnen?”
„Wie es wohl vorauszusehen war, Mylady. Er hat gewonnen. Viele meinten zwar, es sei nicht fair gewesen, weil er von vornherein das beste Pferd hatte und ein Wettkampf daher überflüssig gewesen sei.”
Während Lynda der Hausdame zuhörte, schweiften ihre Gedanken zu einer Schulfreundin und deren Berichte über den Duke ab.
Alice Dalton war die Tochter einer der schönsten Frauen Londons. Allerdings schien Lady Dalton nie Zeit für ihre Tochter zu haben, die ihr an Schönheit kaum nachstand. Sie bevorzugte ganz offensichtlich ihren Sohn. Alice wurde ins Pensionat nach Frankreich geschickt, wo Lynda sie kennengelernt hatte. Dort war sie ihrer Mutter nicht mehr im Weg, die darüber hinaus der Meinung war, dass eine sechzehnjährige Tochter das Alter der Mutter preisgeben würde, was nicht gerade von Vorteil für sie wäre.
Lady Dalton war schon seit Jahren die Königin der Londoner Gesellschaft, und sie hatte, wenn sie es verhindern konnte, nicht die Absicht, diesen Thron zu räumen.
Schweren Herzens bekannte sie sich dazu, dreißig Jahre alt zu sein, obgleich ihr sehr wohl bewusst war, dass beim Anblick ihrer Tochter ein fragender Ausdruck in die Augen der Betrachter trat, der ihre Aussagen Lügen strafte.
Daher war Alice nach Frankreich in das Pensionat abgeschoben worden. Und selbst die Schulferien musste sie, wenn es irgendwie möglich war, bei Freundinnen verbringen.
Lynda hatte Mitleid mit Alice, besonders wenn sie daran dachte, wie sehr sie selbst von ihrem Vater und ihrer Mutter geliebt wurde.
Sie hatte sich daher um Alice gekümmert, hatte versucht, sie für die Dinge zu interessieren, die ihr selbst so viel Freude machten. Das war nicht immer einfach gewesen, da Alice lieber von ihrer Mutter redete und damit zwangsläufig auch von den Männern, die ihr den Hof machten.
Zu ihnen zählte der gutaussehende, elegante, in der Gesellschaft ganz oben rangierende Duke of Buckington.
„Mama ist ganz verrückt nach ihm”, berichtete Alice ihrer Freundin. „Und er verbringt sehr viel Zeit mit ihr. Aber ich habe gehört, dass es noch etliche andere Frauen in seinem Leben gibt.”
Lynda hatte zunächst nicht verstanden, was Alice damit meinte. Dann aber wurde ihr klar, dass Lady Dalton ihrem Mann untreu war. Sie war zutiefst betroffen, ließ es sich Alice gegenüber jedoch nicht anmerken.
In Gedanken beschäftigte sie sich aber noch eine ganze Weile damit. Schließlich kam sie zu der Erkenntnis, dass dies nichts anderes war, als was sie schon oftmals in ihren Geschichtsbüchern gelesen hatte. Niemals hatte sie jedoch geglaubt und sie kam sich deshalb jetzt reichlich naiv vor, dass das Verhalten von Königen und Prinzen Nachahmung finden würde bei den, wie sie meinte, aufgeklärten Menschen ihrer Zeit. Offensichtlich machte das Beispiel von Charles II. und Lady Castlemaine sowie anderen Hofdamen immer noch Schule unter den jungen, flotten Herren der Gesellschaft, wie das Beispiel des Duke of Buckington lehrte.
Sie hatte über die Lebemänner und Beaus während der Regentschaftszeit gelesen. Über die Affären des Prince of Wales, des späteren George IV. Seine erste Liebe, eine Mrs. Fitzherbert, soll er sogar heimlich geheiratet haben. Später fühlte er sich zu einer ganzen Reihe anderer Frauen hingezogen, die, wie die Marchioness of Hertford oder Lady Conyngham, älter als er waren.
Lynda dachte daran, wie sehr sich ihre Mutter und ihr Vater liebten. Es war schier unvorstellbar, dass einer von ihnen jemals Interesse - wenn dieses Wort zutraf - an irgendeinem anderen haben könnte.
Wenn man Alice Glauben schenken konnte, so hatte der Duke Lady Daltons Herz im Sturm erobert. Sie liebte ihn und war rasend eifersüchtig auf alle anderen Frauen, die auch nur in seine Nähe kamen.
Lady Daltons Benehmen ist ohne Zweifel schamlos, sagte sich Lynda, aber dass ein Gentleman eine verheiratete Frau verführt, dazu ohne Rücksicht auf deren Kinder, das ist verabscheuungswürdig.
Am liebsten hätte sie nie mehr etwas von der Verderbtheit dieser beiden Menschen gehört, aber Alice fing immer wieder an, davon zu reden.
„Der Duke kommt immer, wenn Papa außer Haus ist. Ich kann hören, wie er nach dem Dinner die Treppe hinauf und in Mamas Schlafgemach geht. Im Morgengrauen schleicht er dann wieder hinunter und verlässt das Haus durch den Hauptausgang.”
„Ich kann das nicht glauben”, rief Lynda aus. „Du denkst dir das alles nur aus. Bei Tagesanbruch schläfst du doch sicher noch ganz fest!”
„Manchmal bin ich wach”, verteidigte sich Alice. „Ich höre dann, wie er die Haustür hinter sich ins Schloss zieht und die Straße hinuntergeht. Und immer, wenn Papa fort ist, erklärt Mama dem Nachtwächter, dass es nicht nötig ist, in der Halle nach dem Rechten zu sehen.” Lynda war vor einem Jahr kurz bevor ihre Mutter starb, zu Hause gewesen. Ihr Vater hatte damals eine Geländejagd veranstaltet, und sie konnte sich daran erinnern, dass der Duke einer der Teilnehmer war und dass sie ihn mit einer gewissen Neugier betrachtet hatte, nach all dem, was sie über ihn gehört hatte. Zu jener Zeit hatte diese Liebesaffäre, wie die Franzosen so etwas nannten, mit Lady Dalton gerade ihren Anfang genommen.
Lynda war entsetzt gewesen, um so mehr, als Alice ihr anvertraut hatte, dass der Duke im Jahr davor wegen einer Hofdame der Queen Victoria ins Gerede gekommen war.
Betrügt denn jede Dame der Gesellschaft ihren Ehemann? hatte sie sich gewundert.
Nachdem sie allerdings den Duke zum ersten Mal gesehen hatte, konnte sie ein bisschen verstehen, warum die Frauen ihn so attraktiv fanden. Er war groß, hatte breite Schultern, sah blendend aus und war zudem ein glänzender Reiter. Das Geländejagdrennen hatte er damals dank seiner großen Erfahrung mit einer Pferdelänge gewonnen.
Der Mann, den er geschlagen hatte, war wütend gewesen. ”Verdammt, Buck”, hatte Lynda ihn sagen hören, als die beiden ihre Pferde zügelten, „erst hast du mir meine Frau, das kleine Biest, das ich nichtsdestotrotz liebte, weggenommen, und jetzt, verflucht noch mal, schnappst du mir die tausend Pfund Siegesprämie weg!”
Weil er so zornig war, hatte er nicht darauf geachtet, ob ihn jemand hörte. So war Lynda unfreiwillig Zeugin dieses Disputs geworden.
Sie erinnerte sich, dass der Duke gelacht und gesagt hatte: „Tut mir leid, Edward. Aber wenn du willst, können wir um die Prämie knobeln. Doppelt oder nichts!”
„Bei deinem Glück”, hatte der Mann, der vom Duke mit Edward angesprochen worden war, erwidert, „wäre ich ein ausgesprochener Narr, wenn ich darauf einginge. Aber eines Tages, denk an meine Worte, eines Tages wirst du die Quittung für alles bekommen. Du wirst für alles einmal bezahlen müssen, da bin ich mir ganz sicher!” Unverständliches in seinen Bart murmelnd, war er dann davongeritten.
Den Duke hatte das nicht sonderlich beeindruckt.
Seinem Pferd anerkennend auf den Hals klopfend, war er zum Duke of Marlowe und den Zuschauern hinübergeritten, die ihn mit Beifall empfangen hatten.
Arme Alice, hatte Lynda gedacht. Auch sie gehörte zu denen, die unter dem Duke leiden mussten.
Lynda hatte ihn damals ebenso wenig wie die anderen Gäste persönlich kennengelernt. Ihre Mutter hatte sie unnachgiebig ins Unterrichtszimmer verbannt, während die Gäste dinierten. Nur ein paar verstohlene Blicke hatte Lynda auf sie werfen können. Und am Tag war es ihr gelungen, ihnen heimlich beim Reiten im Park zuzusehen.
Heute nun werde ich dem Duke gegenüberstehen, überlegte sie und wünschte, sie könnte ihm sagen, wie abscheulich sie ihn fand und wie sehr Alice Dalton seinetwegen litt.
Die Freundin hatte sich beim Abschied an sie geklammert. „Du hast es gut, du kannst nach England heimfahren”, hatte sie mit weinerlicher Stimme gesagt. „Ich muss wieder einmal hierbleiben. Mama hat mir mitgeteilt, dass ich die Ferien in der Schule verbringen muss, wenn mich keine Freundin zu sich nach Hause einlädt.”
Alice hatte mühsam gegen die Tränen angekämpft. „Sie will mich einfach nicht bei sich haben. Oder besser gesagt, sie will nicht, dass der Duke oder die anderen Männer, die ihr den Hof machen, von meiner Existenz wissen.”
Schließlich waren ihr doch die Tränen in die Augen geschossen, als sie fortfuhr. „Was soll nur nächstes Jahr werden? Ich soll doch dann am Hof vorgestellt werden.”
„Sicher hat es sich deine Mutter bis dahin anders überlegt”, hatte Lynda die Freundin zu trösten versucht.
„An allem ist der Duke schuld. Ich bin ganz sicher, dass es wegen des Dukes ist. Sie hat Angst, dass er sich von ihr abwendet, wenn er herausfindet, dass sie nicht so jung ist, wie sie vorgibt.”
Wie alt ist er eigentlich?” hatte Lynda gefragt.
„Er ist achtundzwanzig. Und wenn ich, wie Papa meint, 1852 geboren wurde, muss Mama mindestens fünfunddreißig sein.”
Im Stillen sagte sich Lynda, dass Lady Dalton ihr Alter nicht mehr lang würde leugnen können. Aber was sollte sie nur jetzt mit der beklagenswerten Alice machen? Alle anderen Mädchen waren inzwischen abgereist. Alice würde alleine in der Schule zurückbleiben müssen. Nur eine ältere Lehrerin würde ihr Gesellschaft leisten.
„Ich habe eine Idee”, sagte sie. „Ich werde meinen Papa fragen, ob du zu uns kommen kannst. Zuerst muss ich aber feststellen, ob ich dieses Jahr bei Hofe eingeführt werden soll.” Sie machte eine kleine Pause. „Wenn das so ist”, fuhr sie fort, „werde ich mich während dieser Zeit bei Verwandten in London aufhalten müssen. Aber ich bin sicher, dass mein Papa nichts dagegen hat, wenn du danach zu uns aufs Land kommst.”
„Oh, das wäre wunderschön!” rief Alice. „Bitte, bitte, Lynda, versuch alles, damit ich zu euch kommen kann!”
„Das verspreche ich dir. Und jetzt schau bitte nicht mehr so traurig drein!”
„Wie sollte ich denn fröhlich sein”, sagte Alice, „wenn mich Mama nicht sehen will und Papa nur daran gelegen ist, seinem Jungen das Schießen beizubringen. Was aus mir wird, ist ihm völlig gleichgültig.”
Lynda wusste darauf auch keine Antwort. Sie umarmte die Freundin, gab ihr einen Abschiedsgruß und versprach ihr zu schreiben, sobald sie in England angekommen sein würde.
Sie wollte mit ihrem Vater darüber reden, sobald die Gesellschaft das Haus verlassen hatte. Er war zu ihr ins Zimmer gekommen, nachdem sie zu Bett gegangen war, und hatte sie zur Begrüßung umarmt und geküsst.
„Wir hatten mit deiner Rückkehr früher gerechnet”, hatte er gesagt. „Schade, dass du die Geländejagd versäumt hast.”
„Ich konnte nicht früher kommen, Papa”, hatte Lynda erklärt. „Ich musste mich von so vielen Leuten in Frankreich verabschieden und ihnen für ihre Freundlichkeit danken.”
Der Duke hatte sie fragend angeschaut, und sie war fortgefahren: „Ich habe nicht in der französischen Gesellschaft verkehrt, was immer das bedeuten mag, stattdessen bin ich die Schülerin einiger hochintelligenter Professoren gewesen, die mich, wo sie nur konnten, unterstützt haben.” Sie lächelte ihren Vater an. „Und bei ihnen musste ich mich doch schließlich bedanken für ihre Freundlichkeit einem englischen Mädchen gegenüber, das ihnen pausenlos Fragen gestellt hat.”
Der Duke lachte.
„Jedenfalls bist du jetzt wieder zu Hause, und ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dich, mein Schatz, wieder hierzuhaben.”
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie. Dann ließ er sie allein, denn er musste sich wieder um seine Gäste kümmern.
***
Die Reise war doch anstrengend gewesen, und Lynda wachte am anderen Morgen erst sehr spät auf. Dabei hatte sie sich beim Einschlafen fest vorgenommen, noch vor dem Frühstück auszureiten. Stattdessen erschien Mrs. Meadows mit einem Frühstückstablett an ihrem Bett.
Während sich Lynda anzog, überlegte sie sich, dass es vielleicht keine gute Idee sei, alleine auszureiten. Ihr Vater könnte etwas dagegen haben. So beschloss sie, erst nach dem Lunch zusammen mit den Gästen ihres Vaters auszureiten.
Es war auf Marlowe Castle üblich, dass die weiblichen Gäste, so sie den Wunsch hatten, am Sonntagmorgen in die Kirche gingen. Die Männer unternahmen während dieser Zeit gewöhnlich einen Ausritt.
Am Nachmittag machte sich die ganze Gesellschaft ausnahmslos per Wagen oder zu Pferde auf den Weg zum kleinen Pavillon, der hinter dem Schloss auf einer Anhöhe lag. Von dort aus hatte man einen fantastischen Ausblick auf - wie der Duke immer wieder mit Stolz betonte - drei verschiedene Grafschaften.
Die Nachmittage im Pavillon waren stets unterhaltsam. Anschließend kehrte man ins Schloss zurück und nahm den Tee ein.
Vor dem Dinner pflegten sich die Damen auf ihre Zimmer zurückzuziehen, um ein wenig zu ruhen.
Lynda hatte schon viele solcher Gesellschaften erlebt. Sie verliefen immer ziemlich ungezwungen, und obwohl sie selbst bisher dabei nie eine Rolle gespielt hatte, war ihr der Ablauf solcher Festlichkeiten vertraut.
Nun würde sie also den Platz ihrer Mutter einnehmen. Bei dem Gedanken an sie tat ihr das Herz weh. Wie sehr sie doch ihre Mama vermisste! Jeder Raum, jedes Stück Möbel, jedes Bild erinnerte sie an die glückliche Zeit, als die Mutter noch gelebt hatte.
Als sich bald nach Lyndas Geburt herausstellte, dass seine geliebte Frau keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte, war der Duke erst enttäuscht gewesen. Dann aber hatte ihm seine kleine Tochter so viel Freude geschenkt, dass er sich mit dem Schicksal abfand, keinen männlichen Erben zu haben, an den er seinen Titel weitergeben konnte.
Das Schloss war jetzt seit über fünfhundert Jahren in Familienbesitz, und der Duke hatte immer noch die Hoffnung, dass es eines Tages wieder in voller Pracht dastehen würde. Er wollte den Schlossgraben erneuern, der im Laufe der Jahrhunderte ausgetrocknet und zugewachsen war. Er wollte aus dem Familienstammsitz wieder das machen, was er einmal gewesen war: eines der bedeutendsten und schönsten Schlösser Englands.
Lynda wanderte über ein flaches Feld, das an einen Fluss grenzte. Der Wasserlauf trennte den Park von den dahinterliegenden Wäldern.