Verschollen im Reich des Zaren - Barbara Cartland - E-Book

Verschollen im Reich des Zaren E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Taryna, die bezaubernde Tochter eines armen englischen Vikars, posiert als kanadische Erbin um ihrer einsamen Schulfreundin Kit zu helfen. Es war eine unschuldige Verkleidung um die versnobte Stiefmutter von Kit zu besänftigen. So also wurde Taryna in die glitzernde Welt der Reichen und Schönen hineingezogen. Aber es war nicht alles so leicht und fröhlich, wie es zuerst den Anschein nahm. Warum hatte Kit's Vater Taryna eine geheime Mission aufgetragen? Und was wenn er die Wahrheit über sie herausfand? Noch bevor die Maskerade vorbei war, wurde Taryna der Spielball eines skrupellosen Finanziers und ihr unschuldiges Herz lernte die Bedeutung von leidenschaftlicher Liebe kennen!

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1. ~ 1887

Der Sekretär klopfte an die Tür des Außenministers. Nach einer Pause erwiderte der Marquis von Salisbury: »Herein.«

Er saß arbeitend an seinem riesigen Schreibtisch und ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er den unbehaglich auf der Schwelle wartenden Mann fragte: »Was gibt's?«

»Ich bedaure die Störung, Euer Lordschaft, aber da ist eine junge Lady, die darauf besteht, zu Ihnen vorgelassen zu werden.«

»Eine junge Lady?«

»Ihr Name ist Miss Anstruther, Mylord.«

»Ich lasse bitten.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Der Sekretär schloß vorsichtig die Tür hinter sich und kehrte Minuten später mit einer jungen Dame zurück, die er seinem Chef mit einem Anflug von Ungläubigkeit in der Stimme meldete: »Miss Vida Anstruther, Mylord.«

Während die Besucherin sich ihm näherte, erhob sich der Marquis langsam aus seinem Sessel.

Miss Anstruther sah sehr jung aus, doch ihre Haltung und ihr Gang verrieten Tatkraft und Selbstbewußtsein und ließen sie älter erscheinen, als sie war.

Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Sie müssen Sir Harvey Anstruthers Tochter sein.«

Sie lächelte, und es war, als flutete die Sonne in den düsteren Raum.

»Ich bin gekommen, um mit Eurer Lordschaft über ihn zu reden.«

»Das habe ich beinahe vermutet«, sagte der Marquis. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Er wies auf einen hochlehnigen Stuhl vor seinem Schreibtisch, und sie folgte seiner Einladung mit einer Entschlossenheit und Selbstverständlichkeit, die er bei einem Mädchen nicht erwartet hätte.

Der Marquis von Salisbury, der nicht nur das Amt des Außenministers bekleidete, sondern auch das des Premiers, war in der Tat ein furchteinflößender Mann. Sogar seine Kollegen im Oberhaus begegneten ihm mit äußerstem Respekt.

Er war ungewöhnlich klug und wußte, daß er sowohl das Vertrauen der Königin als auch des Kabinetts besaß.

»Ich bin hergekommen, Mylord«, begann Vida Anstruther mit einem besorgten Klang in der Stimme, der nun nicht mehr zu überhören war, »um Sie zu fragen, was mit meinem Vater ist.«

»Das ist eine Frage, die ich mir bereits selbst gestellt habe, seit ich vor einigen Wochen die Meldung erhielt, daß er vermißt sei«, erwiderte der Marquis. »Allerdings bin ich sicher, daß es bei einem Mann wie ihm trotz dieser Tatsache noch zu früh ist, sich ernsthafte Sorgen zu machen.«

»Da irren Sie sich, Mylord«, widersprach Vida Anstruther ihm. »Ich mache mir im Gegenteil ganz außerordentliche Sorgen. Denn während Sie erst kürzlich davon erfuhren, daß er vermißt ist, sind nun schon fast zwei Monate vergangen, seitdem ich eine Nachricht von ihm erhielt.«

Der Marquis lehnte sich im Sessel zurück und sagte ernst: »So lange schon? Ich bin überrascht, daß Sie mich in dem Fall nicht eher aufgesucht haben.«

»Das habe ich nicht getan, weil Papa, wie Sie wissen, keine Einmischungen mag, wenn er mehr oder weniger inkognito unterwegs ist.«

Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Ich nehme an, wenigstens Sie kennen den eigentlichen Grund für seine Reise nach Ungarn. Seinen Freunden sagte er, es handle sich um einen Besuch bei den Verwandten meiner Mutter - schließlich habe er nach all den Jahren im Dienst für unser Land einen solchen Urlaub wohl einmal verdient.«

»Natürlich weiß ich Bescheid«, erwiderte der Marquis. »Und ich weiß natürlich auch, welche Begründung für seine Reise Ihr Vater, seinen Freunden gegeben hat. Schließlich haben wir darüber hier in diesem Zimmer miteinander gesprochen, bevor er aufbrach.«

Vida Anstruther schwieg, und er fuhr fort: »Was ich befürchtet habe, ist wohl eingetreten. Er wird die Grenze überschritten haben und sich auf russischem Terrain befinden, wie das von Anfang an sein Plan war. Vermutlich ist er einer Sache von größter Wichtigkeit auf die Spur gekommen und hat im Moment keine Möglichkeit, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Es könnte aber auch sein, daß er beschlossen hat, weiter nach Odessa zu reisen und auf einer anderen Route als bei der Hinreise nach Hause zurückzukehren.«

»Das klingt alles sehr vernünftig, Mylord«, antwortete Vida Anstruther. »Dennoch bin ich ganz sicher, daß Papa in Gefahr ist.«

Sie bemerkte die Skepsis auf dem Gesicht des Marquis und sagte: »Sie mögen es befremdlich finden, aber Papa und ich stehen uns seit Mamas Tod besonders nahe. Jeder von uns kennt die Gedanken des anderen. Und deshalb sagt mir mein sechster Sinn - falls Sie es so nennen wollen -, daß entweder die Russen ihn festgenommen, haben oder er sich vor ihnen verstecken mußte und keine Chance sieht, die Heimreise anzutreten.«

»Ich verstehe Ihre Gefühle«, versetzte der Marquis nach einem Augenblick. »Doch was Sie da sagen, ist pure Phantasie. Sie haben keinerlei wirkliche Anhaltspunkte für eine solche Vermutung.«

Schweigen.

Dann sagte der Marquis, sichtlich beeindruckt von der Sicherheit, mit der seine Besucherin sprach, nach kurzem Nachdenken: »Ich glaube, Miss Anstruther, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich, selbst für den Fall, daß Sie mit Ihrem Verdacht richtig liegen, keine Möglichkeit habe, etwas zu seiner Rettung zu unternehmen.«

»Ich weiß. Und das ist der Grund, weshalb ich entschlossen bin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.«

Die Haltung des Marquis straffte sich.

»Ich hoffe, das ist nicht Ihr Ernst!«

»Es ist mein Ernst. Ich werde versuchen, Papa zu finden, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.«

»Falls Sie vorhaben sollten, nach Ungarn zu reisen und von dort weiter nach Rußland, kann ich Ihnen nur sagen, daß ich dies für einen äußerst tollkühnen Plan halte, den Ihr Vater mißbilligen würde. Ich werde deshalb alles tun, um Sie zu einer Änderung Ihres Entschlusses zu bewegen.«

»Das wird Ihnen nicht gelingen, Mylord«, erwiderte Vida Anstruther mit einem stählernen Klang in der Stimme. »Ich habe über die Sache gründlich nachgedacht, und ich werde überall bekanntgeben, daß ich nach Ungarn reise, um mich dort, wie vor seiner Abreise verabredet, mit meinem Vater zu treffen.«

Sie sah den Marquis herausfordernd an.

Als er schwieg, fuhr sie fort: »Alles, was ich von Eurer Lordschaft benötige, ist ein Paß mit falschem Namen, unter dem ich zu reisen beabsichtige. Denn falls mein Verdacht zutrifft, wäre es äußerst dumm und gefährlich, außerhalb Englands meine wahre Identität bekanntzugeben, nicht wahr?«

Der Marquis sagte sich, daß die Logik ihrer Überlegungen unangreifbar sei, doch war er nicht gewillt, ihr so leicht nachzugeben.

»Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag machen, Miss Anstruther«, sagte er. »Ich werde einen meiner vertrauenswürdigsten und verläßlichsten Männer mit der Suche nach Ihrem Vater beauftragen. Aus mir vorliegenden Berichten weiß ich, daß er wohlbehalten in Ungarn angekommen ist und aufs Freundlichste von der Familie Ihrer Mutter aufgenommen wurde.«

»Und was wissen Sie über die Zeit danach?«

»Ihr Vater unternahm einen Jagdausflug, der ihn bis in das russische Grenzgebiet geführt haben könnte. Aber von diesem Ausflug ist er nicht zurückgekehrt. Ihre Verwandten machen sich Sorgen um ihn.«

Vida Anstruthers Augen begannen zu funkeln, als sie fragte: »Und mit diesem Bericht haben Sie sich zufrieden geben?«

»Natürlich nicht«, entgegnete der Marquis. »Aber es kann viele Gründe für das Verschwinden Ihres Vaters geben. Das Letzte, was in seinem Sinne läge, wäre eine Suchaktion nach ihm und eine eventuelle Aufdeckung seiner Identität. Ein solches Ergebnis könnte zu folgenschweren Entwicklungen führen und ihn vollends in Lebensgefahr bringen.«

Er hatte mit Schärfe gesprochen, da er sich sagte, das junge Mädchen vor ihm habe keine Vorstellung von den Schwierigkeiten, in die ihr Vater geraten oder welcher Schaden entstehen könnte, wenn Anstruthers Mission jetzt durch unsachgemäßes und laienhaftes Eingreifen aus dem Ruder lief.

Vida Anstruther antwortete mit der gleichen Schärfe, mit der der Marquis zu ihr gesprochen hatte.

»Natürlich weiß ich, was Sie sagen wollen. Aber Sie vergessen, daß ich in den letzten fünf Jahren zusammen mit Papa die seltsamsten Orte besucht habe und mit ihm in die gefährlichsten Situationen geraten bin. Aus diesem Grund können Sie mir durchaus vertrauen, wenn ich mich aufmache, um nach ihm zu suchen. Ich werde schon keine Dummheiten machen oder mich laienhaft anstellen, wie Sie das nennen.«

Die Art, wie sie sprach, machte dem Marquis klar, daß er sich bei ihr zu entschuldigen hatte, so lächerlich das auch erscheinen mochte. Und so sagte er nach einer kurzen Pause: »Ich muß gestehen, Miss Anstruther, daß ich keine Ahnung hatte, wie vertraut Sie und Ihr Vater miteinander waren. Ich war immer der Meinung, daß Sie in der Botschaft zurückblieben, in der er jeweils arbeitete, während er seine ,Reisen' machte, wie ich es einmal bezeichnen möchte.«

»Ich habe Papa nie allein gehen lassen«, antwortete Vida Anstruther, »und ich kann Ihnen versichern, daß er meine Begleitung stets als sehr nützlich betrachtete. Als ich noch jünger war, glaubten die Leute zumeist, sie brauchten in meiner Gegenwart kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Was verstand schon ein Kind von dem, was sie sagten. Und später fand Papa sehr schnell heraus, daß ich ihm manch wichtige Information beschaffen konnte, da ich genauso gut im Erlernen fremder Sprachen war wie er.«

Der Marquis dachte mit einem Anflug von Amüsiertheit, wenn Miss Anstruther als Spionin gearbeitet hatte, was ihren Worten ja wohl zu entnehmen war, dann war sie eine höchst bemerkenswerte und attraktive Vertreterin dieses Berufes gewesen.

Schade, daß das Außenministerium nicht ihre Dienste in Anspruch nehmen konnte!

Doch er wußte, es war seine Pflicht, der jungen Dame ihr Vorhaben auszureden, wenn sie nicht in etwas hineingezogen werden sollte, was für sie äußerst gefährlich werden konnte.

Der russische Zar verhielt sich seit einiger Zeit in einer Art und Weise, die Königin Viktoria als »schändlich« bezeichnete.

Alexander III. war ein ausgesprochen unberechenbarer und unliebenswürdiger Herrscher. Er liebte es, den einfältigen Muschik zu spielen. In Wirklichkeit jedoch verfügte, er über eine gehörige Portion Gerissenheit.

Zu Hause sperrte er alle Revolutionäre ein, im Ausland jedoch unterstützte er sie.

In der Tat war er, obwohl dies damals noch niemand erkannte, der erste Herrscher in der Geschichte eines großen Landes, der mit allen Mitteln des »kalten Krieges« arbeitete.

Er schickte Russen in die durch den Berliner Vertrag von 1878 etablierten Balkanstaaten mit dem klaren Auftrag, dort Unruhe zu stiften und Rebellionen anzuzetteln.

Russische Agenten zogen als Ikonenhändler getarnt durch Serbien und gründeten dort zahlreiche subversive Zellen. Russische Botschaftsangehörige organisierten Aufstände und bestachen die Rädelsführer.

In Bulgarien entführten sie Prinz Alexander von Battenberg und zwangen ihn mit vorgehaltener Pistole zur Abdankung.

Der Aufschrei der Entrüstung, der durch Europa ging, war gewaltig. Doch der neue Herrscher von Bulgarien, Prinz Ferdinand von Coburg, wurde unterstützt von einem echten Patrioten namens Stambulow, der Rußland genauso feindlich gesinnt war wie die frühere Regierung.

Aus diesem Grund hatte der Zar seinen Tod beschlossen, und russische Agenten taten alles, um Mittel und Wege zu finden, wie sie ihn beseitigen konnten.

Was den Briten außer diesen beunruhigenden Vorfällen in Europa Sorge bereitete, waren die militärischen Operationen des Zaren in Asien. Seine Armeen waren bereits in Afghanistan eingedrungen und bedrohten Indien.

Verläßliche Informationen gab es kaum aus diesem entlegenen Land. Aber Sir Harvey hatte sich der Regierung zur Verfügung gestellt und sich bereit erklärt, die Lage in Rußland persönlich zu erkunden.

Er hatte dabei eine perfekte Entschuldigung, konnte er doch eine Verbindung zur Familie seiner verstorbenen Frau vortäuschen, die im östlichen Teil Ungarns unmittelbar an der Grenze zu Rußland lebten.

»Einige Cousinen deiner Mutter haben, soviel ich weiß, Russen geheiratet«, hatte Sir Harvey vor seiner Abreise zu Vida gesagt. »Vielleicht kann ich über sie einiges in Erfahrung bringen. Ganz sicher werde ich viele interessante Einzelheiten von den ungarischen Familien in ihrer Nachbarschaft hören, denn meines Wissens waren sie alle nicht sonderlich gut auf die Russen zu sprechen. Ich nehme an, daß sich an dieser Einstellung auch in den letzten Jahren nichts geändert hat.«

Vida hatte gelächelt.

Sie kannte den Patriotismus der Ungarn zu gut und wußte, wie sehr sie die Art mißbilligten, in der die russischen Adligen ihre Leibeigenen behandelten. Außerdem verabscheute man in Ungarn die Schreckensherrschaft, mit der der Zar und der russische Hochadel im Land regierten.

Vida hatte ihren Vater auf seiner Reise begleiten wollen, doch er hatte ihr diesen Wunsch ausgeredet.

»Ich habe mit der Duchess von Dorset vereinbart, daß sie dich auf einen der nächsten großen Empfänge mitnimmt«, sagte er. »Es wäre nicht nur äußerst unhöflich, wenn du es dir plötzlich anders überlegst, sondern es würde auch zu allerlei unnötigen Fragen bezüglich meiner Reise ins Ausland führen.«

Er lächelte, bevor er fortfuhr: »Es wird nicht lange dauern, Liebes. Und bei meiner Rückkehr hoffe ich dich als die Belle of the Season vorzufinden, als den gefeierten Star von St. James's, obwohl das etwas ist, worüber ich nicht besonders glücklich wäre.«

Sie hatte schließlich nachgegeben, denn sie wußte, wie sehr ihm daran lag, daß sie den ihr gebührenden Platz in der Londoner Gesellschaft einnahm.

Doch als dann an einem kalten, windigen Februartag die Stunde des Abschieds gekommen war, hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und gesagt: »Versprich mir, daß du auf dich acht gibst, Papa. Du weißt, was du mir bedeutest. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«

»Um deinetwillen werde ich vorsichtig sein«, hatte ihr Vater geantwortet. »Denn du bist mein ein und alles auf dieser Welt.«

Später hatte Vida gedacht, daß es nicht richtig gewesen war, ihn reisen zu lassen. Doch zu dem Zeitpunkt war es bereits zu spät gewesen. Und während ihr Vater quer durch Europa fuhr, hatte sie sich auf ihr Debüt in London vorbereitet.

Tatsächlich war sie fast schon zu alt für eine Debütantin gewesen. An ihrem nächsten Geburtstag, zwei Wochen nach dem Empfang, war sie bereits neunzehn geworden.

Doch ein Jahr zuvor war sie verhindert gewesen. Ihr Vater hatte die Stelle eines Botschafters in Wien innegehabt, und das Außenministerium hatte ihn nicht gehen lassen, weil es sich um eine Position von äußerster Wichtigkeit handelte.

Vida war also bei ihrem Vater geblieben, und beide waren übereingekommen, das Debüt im folgenden Jahr nachzuholen, bevor Sir Raleigh das Amt des Botschafters in Paris antreten würde. Damals hatten sie noch keine Ahnung davon gehabt, daß der Außenminister an ihn herantreten würde, um ihn zu bitten, die ebenso bedeutende wie gefährliche Mission in Ungarn und Rußland zu übernehmen.

»Warum können sie dich nicht endlich mal in Ruhe lassen, Papa?« hatte Vida zornig gesagt. »Du hast schon so viel für sie getan, und soweit ich das beurteilen kann, hat es dir nie jemand wirklich gedankt.«

»Ich will keinen Dank«, erwiderte ihr Vater ruhig. »Was ich tue, ist ein Dienst an meinem Vaterland. Dort, wo ich am meisten gebraucht werde, gehe ich hin. England kann jederzeit mit mir rechnen. Leider ist es mir nicht gegeben, aus falscher Bescheidenheit heraus so zu tun, als besäße ich nicht die Fähigkeiten zu einer solchen Mission.«

Er erwähnte mit keinem Wort, daß es weit und breit niemanden gab, der ihm, was die bemerkenswerte Beherrschung fremder Sprachen betraf, auch nur das Wasser reichen konnte.

Hinzu kam, daß er trotz seiner hohen Herkunft und seiner bedeutsamen Stellung ein beinahe kindliches Vergnügen an Verkleidungen und Masken hatte, wenn die Umstände es erforderten.

Keiner seiner Kollegen im Amt hätte sich zu so etwas hergegeben. Sir Raleigh dagegen brannte regelrecht auf derartige Aufträge und galt als Meister der Tarnung und als Spion mit der höchsten Erfolgsquote.

Wie oft hatte er seine Tochter zum Lachen gebracht, wenn er ihr von seinen Abenteuern und Husarenstückchen erzählte. Es war aber auch zu komisch, wenn er darüber berichtete, wie er, als orientalischer Teppichhändler oder Beduinenführer verkleidet, hochgestellte Persönlichkeiten täuschte, mit denen er einst zusammen die Schule oder Universität besucht hätte, ohne daß diesen Leuten auch nur der leiseste Verdacht gekommen wäre, wer da vor ihnen stand.

Vor seiner Abreise nach Ungarn erwähnte er gegenüber seiner Tochter amüsiert, daß dies die erste Expedition seit Jahren sei, die er unter seinem richtigen Namen unternehme, und daß er deshalb erwarte, in den Genuß des roten Teppichs und all der Ehren und Bequemlichkeiten zu gelangen, die ihm als Diplomat von Rang zustanden.

Vida wußte natürlich, was er mit derartigen Scherzen bezweckte. Er versuchte ihr Sand in die Augen zu streuen.

Sie war sicher, daß er schon bald nach seiner Ankunft in Ungarn als russischer Bauer verkleidet oder in einer anderen Maske die Grenze überschreiten würde und selbst der scharfsinnigste und gewiefteste Spitzel des zaristischen Geheimdienstes nicht in der Lage war, ihn zu enttarnen.

Dann, vor etwa zwei Monaten, wurde ihr plötzlich bewußt, daß die Dinge viel gefährlicher sein mußten, als Sir Harvey ihr einzureden versuchte.

Doch daß sie mit ihrer Überzeugung recht hatte, konnte sie dem Marquis von Salisbury nicht klarmachen. Er wollte einfach nicht einsehen, daß sie bei allem, was ihren Vater betraf, von einer intuitiven Hellsichtigkeit war.

Sie hatte nach dem Empfang im Buckingham-Palast eben den großen Audienzsaal verlassen, als sie plötzlich das Gefühl überkam, daß ihr Vater sich in höchster Gefahr befand.

Es war genau der Augenblick gewesen, in dem sie die Halle verließ und die Kutsche besteigen wollte, die vor der Freitreppe auf sie wartete.

Während sie den Kopf neigte, weil sie die drei traditionellen weißen Straußenfedern im Haar trug, hatte sie das Gefühl, daß eine eiskalte Hand ihr Herz umklammerte.

Sekundenlang hielt sie es für die Wirkung des Champagners, von dem sie nach dem obligatorischen Hofknicks vor der Königin, dem Prinzen und der Prinzessin von Wales gekostet hatte. Doch dann wußte sie, daß es etwas anderes war. Sie bekam plötzlich Angst.

Es war, als hörte sie die Stimme des Vaters dicht neben sich.

Sie nahm auf dem Rücksitz der Kutsche Platz, wo sie schweigend und reglos verharrte, während sie an ihren Vater dachte und sich auf ihn so stark konzentrierte, wie er es sie gelehrt hatte.

Die Kutsche fuhr die Mall entlang und bog in die St. James's Street ein, als die Duchess sagte: »Ist alles in Ordnung? Ich hoffe, dir ist nicht unpäßlich geworden. Es war sehr heiß, und stickig im Thronsaal.«

»Nein, es geht mir gut, danke«, antwortete Vida, war sich aber bewußt, daß sie log.

Sie empfand eine entsetzliche Angst um ihren Vater. Irgend etwas Furchtbares war ihm zugestoßen. Sie hegte keine Zweifel.

Und während sie jetzt den Marquis von Salisbury über dessen Schreibtisch hinweg anblickte, sagte sie mit fester Stimme: »Alles, worum ich Sie bitte, Mylord, ist, daß Sie mir einen Paß mit einem fremden Namen beschaffen, den ich benutzen kann, sobald ich England verlassen habe.«

Sie hatte den Eindruck, daß er überlegte, und fügte hinzu: »Ich möchte Ihnen nicht drohen, Mylord. Aber Sie sollten sich vor Augen führen, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, an einen falschen Paß zu gelangen. Sie wären dann allerdings dafür verantwortlich, wenn ich dadurch in eine Lage geriete, die mich nicht nur an den Rand der Legalität brächte, sondern auch in die Abhängigkeit von Leuten, die eigentlich nichts von meinen Unternehmungen wissen sollten. Und das sollten wir doch tunlichst vermeiden, nicht wahr?«

»Ja, ja, natürlich sollten wir das!« erklärte der Marquis. »Eine solche Handlungsweise wäre nicht nur äußerst unklug, sondern könnte uns tatsächlich in Teufels Küche bringen.«

»Und genau das ist der Grund, weshalb ich Sie um Unterstützung bitte.«

Als wenn er eingesehen hätte, daß er sie von ihrem Entschluß nicht abbringen konnte, sagte der Marquis nach einer kurzen Bedenkzeit: »Na schön! Sie machen es mir unmöglich, Ihnen eine Absage zu geben, obwohl ich davon überzeugt bin, daß ich dies eigentlich tun sollte.«

Er zog ein Blatt Papier zu sich heran und fragte: »Welchen Namen möchten Sie benutzen?«

Als hätte Vida bereits alle Einzelheiten ihres Planes sorgfältig überdacht, bevor sie das Außenministerium aufsuchte, sagte sie: »Komtess Vida Karolzi.«

Der Marquis hob die Brauen.

»Russin?«

»Ja, denn das könnte von Nutzen für mich sein. Gleichzeitig ist es ein Name, der auch auf die ungarische Staatszugehörigkeit schließen läßt, wenn man die Akzente entsprechend verschiebt.«

Der Marquis konnte ein Lachen nicht unterdrücken, obwohl er sich dagegen sträubte.

»Bevor Sie mir weitere Fragen stellen«, fuhr Vida fort, »meinen Rufnamen behalte ich bei. Erstens klingt er sowieso schon recht fremdländisch, und zweitens ist es Papas Rat, nie zu lügen. Es sei denn, es wäre unumgänglich notwendig.«

Wieder mußte der Marquis lachen.

»Ich kann nur sagen: Sie sind unverbesserlich. Aber obwohl Sie mich zwingen, etwas zu tun, was ich zutiefst mißbillige, sehe ich keine echte Möglichkeit, Sie aufzuhalten.«

»Das ist nicht sehr erstaunlich, da ich fest entschlossen bin, Papa zu finden. Es würde allerdings eine große Hilfe für mich sein, wenn ich mir sagen könnte, daß im Falle einer Gefahr einer Ihrer Männer in der Nähe wäre, an den ich mich wenden könnte.«

Wieder zögerte der Marquis, bevor er einen Namen auf ein neues Blatt Papier schrieb und es über den Schreibtisch schob.

»Als Tochter Ihres Vaters sind Sie sich ja darüber im Klaren, daß das Leben dieses Mannes in Ihrer Hand liegt. Prägen Sie sich seinen Namen in Ihrem Gedächtnis ein, und vernichten Sie dann bitte das Blatt. Versprechen Sie mir, daß Sie ihn nur dann rufen oder Kontakt mit ihm aufnehmen, wenn Sie oder Ihr Vater unmittelbar bedroht sind.«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich genauso vorsichtig sein werde, wie mein Vater, würde er sich in meiner Lage befinden.«

»Das ist alles, was ich von Ihnen verlange«, erwiderte der Marquis. »Und nun werden wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um Ihnen zu Ihrem Paß zu verhelfen.«

Er betätigte die Tischglocke, und als die Tür geöffnet wurde, sagte er: »Bitten Sie Mr. Tritton zu mir!«

Mr. Tritton war - was Vida nicht erstaunte - ein Mann mittleren Alters mit ausgeprägten Sorgenfalten auf der Stirn, Sicher war es die Last der Geheimnisse, mit denen er im Außenministerium in Berührung kam, die ihm zu schaffen machte.

Der Marquis reichte ihm das Blatt, auf den er den Namen notiert hatte, den Vida für ihren Reisepaß gewählt hatte.

Als der Mann sich wieder entfernt hatte, sagte der Marquis: »Ich nehme an, Sie möchten den Paß gleich mitnehmen, da es unklug wäre, zu viele Besuche bei uns zu machen. Wir wissen nie, wer unsere Ein- und Ausgänge beobachtet.«

»Das habe ich im Stillen gehofft, Mylord«, erwiderte Vida. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen für Ihre Hilfe bin.«

»Eine Hilfe, die nur zögernd gewährt wurde.«

Sie lächelte ihn an, und er hatte den Eindruck, daß sie nicht nur ungewöhnlich schön war, sondern auch völlig anders als ein normales englisches Mädchen ihres Alters.

»Ich weiß, daß Ihre Mutter Ungarin war«, sagte er. »Haben Sie Ihre Verwandten in der Zeit, da Ihr Vater in Wien akkreditiert war, einmal besucht?«

Vida schüttelte den Kopf.

»Dazu reichte die Zeit nie. Aber einige meiner Vettern und Cousinen kamen zu uns nach Wien. Den älteren Verwandten war das Reisen zu beschwerlich.«

»Und Sie sagen, daß Sie in der Beherrschung fremder Sprachen genauso gut sind wie Ihr Vater?«

»Er hat mich alles gelehrt, was er weiß. Natürlich erwies es sich als Vorteil für mich, daß meine Großmutter Russin war.«

Die Haltung des Marquis straffte sich.

»Das wußte ich ja gar nicht.«

»Sie starb bereits vor meiner Geburt, so daß ich sie nie kennenlernte. Aber da Russisch neben Chinesisch die schwierigste Sprache der Welt ist, bedeutete es für mich einen unschätzbaren Gewinn, daß ich die natürlichen Voraussetzungen zum Erlernen dieser Sprache quasi mitbrachte und eigentlich nie Schwierigkeiten damit hatte.«

»Das ist in der Tat ein fast unglaublicher Vorzug«, gab der Marquis zu. »Dennoch lassen Sie mich Ihnen ans Herz legen, Miss Anstruther, vorsichtig zu sein und keine Risiken einzugehen. Vor allem kein Besuch in Rußland! Es sei denn, er unterscheidet sich nicht von einem Besuch in jedem anderen europäischen Land.«

Er machte eine Pause und schien sich seine Worte sorgfältig zu überlegen, bevor er fortfuhr: »Wie Sie wohl wissen werden, bestehen im Augenblick zwischen uns und dem Zaren erhebliche Spannungen, und ich verrate wohl kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß es wegen Afghanistan um ein Haar zwischen uns zum Krieg gekommen wäre. Jedenfalls dürfte es keinen Zweifel daran geben, daß der Zar England gegenüber wenig Sympathie empfindet.«

»Papa rechnete mit dem Zorn des Zaren, nachdem seinen Truppen die Infiltration Indiens so sehr mißlang, daß sie nicht einmal in den Nordwestprovinzen Fuß fassen konnten.«

Der Marquis schwieg, und Vida wußte, daß seine Pflicht zur Diskretion ihn daran hinderte, das Thema ausführlicher mit ihr zu besprechen.

Taktvoll sagte sie: »Gibt es in Ungarn oder jenseits der Grenze vielleicht jemanden, der mir nützlich sein könnte und mit dem ich mich in Verbindung setzen sollte?«

Bei ihren letzten Worten glaubte sie die Gedanken des Marquis lesen zu können. Es schien tatsächlich einen solchen Mann zu geben. Aber Seine Lordschaft schien nicht die Absicht zu haben, ihr dessen Namen zu nennen.

Doch dann schaute er sie über den Schreibtisch hinweg forschend an. Vida konnte erkennen, daß er überlegte.

Konnte er ihr vertrauen oder nicht?

»Bitte«, sagte sie, »ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, Papa schwebt in höchster Gefahr. Ich weiß es. Es ist wirklich keine Einbildung oder Hysterie meinerseits.«

Der Ernst, mit dem sie sprach, bewirkte, daß der Marquis sich zu einer Entscheidung durchrang.

»Nun gut«, sagte er. »Ich werde Ihnen den Namen eines Mannes nennen, der für uns von äußerster Wichtigkeit ist, obwohl die Informationen, die ich über ihn habe, sehr unterschiedlich sind.«

»Wer ist es?«

»Prinz Iwan Pawoliwsky.«

Vida hörte aufmerksam zu, als der Marquis weitersprach.

»Es ist ein eigenartig undurchsichtiger und schillernder Mann, dessen politischer Standpunkt einfach nicht festzumachen ist.«

»Und was heißt das?«

»Wie viele Mitglieder des russischen Adels besuchte er den Westen zu seinem Vergnügen. Er verbringt jedes Jahr eine längere Zeit in Monte Carlo, wo er wie Großherzog Boris und Großherzog Michael eine Villa besitzt. Überdies ist er in Paris bestens bekannt und stattete im vergangenen Jahr sogar London einen Besuch ab.«

Vida wußte, daß dies nichts Ungewöhnliches war und daß die russischen Aristokraten mit ihrem immensen Reichtum und ihrer großzügigen Gastfreundschaft überall gern gesehen waren.

»Das rätselhafte an Prinz Iwan ist, daß niemand ganz sicher weiß, auf welcher Seite er steht.«

Als Vida ihn überrascht anblickte, fuhr der Marquis fort: »Er besitzt zahlreiche Freunde in Ungarn, gilt als großer Sportsmann und ist ein gern gesehener Gast. Aber aus einigen zugegebenermaßen recht dürftigen Berichten, die ich erhielt, weiß ich, daß er persona grata beim Zaren ist, was ihn in unseren Augen natürlich verdächtig macht.«

»Sie glauben also nicht, daß er nur ein Lebemann ist?« fragte Vida.

»Ich bin zumindest davon überzeugt, daß er viel zu intelligent ist, um die Dinge, die um ihn her geschehen, nicht zu sehen und richtig einzuordnen. Und ich schließe nicht aus, daß er in das politische Geschehen tiefer verwickelt ist, als er sich den Anschein gibt.«

Der Marquis machte eine plötzliche Handbewegung.

»Ich gebe zu, bei meiner Begegnung mit ihm im letzten Jahr erschien er mir äußerst rätselhaft. Vielleicht ist er ja völlig harmlos. Vielleicht aber auch das genaue Gegenteil. Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich immer wieder gefragt, ob er zu den Drahtziehern der Verschwörung gehört, die wir zu verhindern suchen.«

Vida holte tief Luft.

»Danke«, sagte sie. »Vielleicht ist der Prinz in der Lage, mir etwas über Papa zu erzählen.«

Der Marquis hob beschwörend die Arme.

»Um Gottes willen, seien Sie vorsichtig! Vertrauen Sie sich ihm nur an, wenn Sie das Gefühl haben, seiner völlig sicher sein zu können!«

Dann fügte er in besorgtem Ton hinzu: »Vielleicht hatte ich den Prinzen gar nicht erwähnen sollen. Er ist ein ungewöhnlich gutaussehender Mann und steht in dem Ruf, ein unwiderstehlicher Frauenheld zu sein. Falls Sie seinem Charme erliegen sollten, wie das zweifellos schon vielen Frauen passiert ist, müssen Sie sich vor Augen halten, daß Sie damit unter Umständen das Todesurteil Ihres Vaters unterschreiben.«

»Ich bin keine Närrin, Mylord«, entgegnete Vida kalt. »Außerdem kann ich Ihnen versichern, daß ich mich dem Prinzen nach dieser Warnung nur mit größter Vorsicht nähern werde. Ja, ich werde auf der Hut sein und nichts tun, was das Leben meines Vaters oder irgendeines Ihrer Männer in Gefahr bringen könnte.«

Sie sprach mit einem Ernst, der den Marquis erwidern ließ: »Danke.«

Im selben Moment wurde die Tür geöffnet. Mr. Tritton kam mit dem Reisepaß.

Vida steckte ihn in ihre Handtasche, und sobald sie wieder mit dem Marquis allein war, erhob sie sich und sagte: »Ich kann Ihnen nur von Herzen danken, Mylord. Sobald Papa und ich in Sicherheit sind, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Ihr Vater weiß, wie er das macht, ohne daß jemand den Sinn seiner Nachricht zu deuten vermag.«

»Ja, ich weiß«, sagte Vida.

»Ich bin mir immer noch nicht darüber im Klaren, ob ich Sir Harveys Vertraulichkeit Ihnen gegenüber billigen oder mißbilligen soll«, erwiderte der Marquis.