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"Gemeinsame Sprache" lautet der Titel des neuen Bandes von Jürg Halter, einem der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker seiner Generation. Seine Gedichte werfen kaleidoskopartig Schlaglichter auf unser Sein und unser Zusammenleben. Sie erzählen vom Gemeinsamen und vom Trennenden; melancholisch, mutig, zornig und auch ironisch. Die Gedichte sprechen von der Vereinsamung in Städten, vom Drogenrausch in den Clubs, sie beschäftigen sich mit streunenden Katzen, suchen nach der besten Gesellschaft, erkunden die Farbe Blau, erfinden das niemals niemanden verletzende Abc. Und immer wieder loten sie die Tiefen der Liebe aus. Kunst Wenn ich für meine Antwort auf die Frage, ob ich von der Kunst leben könne, jedes Mal Geld kriegte, könnte ich alleine von dieser Frage leben. Aber das wäre keine Kunst. "Es gehört zur wunderbaren Leichtigkeit dieser anrührend schönen Liebesgedichte, dass sie immer wieder einen Hauch von Heiterkeit zeigen, einen Glauben an die Hochseilartistik der Sprache, in der dem Leser nicht weniger zukommt, als der rettende Fänger zu sein." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung
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Seitenzahl: 50
Jürg Halter
Gemeinsame Sprache
Gedichte
DÖRLEMANN
Alle Rechte vorbehalten © 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Anneka Beatty und Jürg Halter Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-989-8www.doerlemann.com
Inhalt
Für uns, jene und die anderen
I
Ein Staubkorn in der Ewigkeit
Anfang
Trenn das Band,
eröffne ein
neues Land.
Liebe als Bewegung
Sie wechselt die Straßenseite,
geht mit den Fersen voran –
deine Liebe als Bewegung
rückwärts in eine offene Vergangenheit.
Wenn wir uns am sichersten fühlen,
holen uns manchmal Bilder ein,
die wir bis zum Schluss nicht
lesen können.
Defektes Leben
Wir sind krank nach uns selbst,
an den schönsten Orten der Welt,
lassen uns sagen, wo diese liegen,
sehnen in die Weite, sehnen uns matt.
Wir sparen uns für eine Zukunft auf,
um die wir uns selbst betrügen.
Wir treten besonnen ans Feuer,
niemals wollen wir brennen.
Wir verschwenden uns wohltemperiert,
betäubt von der Hitze, die uns fehlt,
warten wir – dass das wahre Leben beginne
(etwa nach der nächsten Eiszeit).
Solange wir unseren Tod verdrängen,
kommen wir nicht lebendig zur Wahrheit,
danach zu leben heißt zweifelsohne nicht
täglich vor Todesangst zu sterben.
Zu große Gefühle
Über Verlorenes nachdenken,
bis man selbst verloren geht.
Aufgewirbelter Staub,
der sich auf ein Polaroid niederlässt,
letzte Woche noch nicht geschossen.
Das Innerste gibt es nicht,
aber es macht uns aus.
An eine Wand zu sprühen
Was willst du mal werden,
wenn du groß bist? –
Ein Staubkorn in der Ewigkeit.
Suche nach Verbündeten
Vor einer Bankfiliale eine Frau,
die ihr Transparent sinken lässt:
»Was kann ich schon ausrichten?«
Anderenorts zieht ein Argument,
längst widerlegt,
randalierend durch die Straßen.
Ein Manager fragt auf einmal,
wo er sich befindet:
»Wo befinde ich mich?«
Umzingelt von Asphalt: gestutzte Bäume.
Vögel, die auf ihnen landen sollten,
einzig auf großen Monitoren zu sehen.
Einer Leserin geht ein »Ist vergriffen«
aus der Buchhandlung nach:
»Diese Geschichte darf nicht verschwinden.«
In alle Richtungen wird endlos kommuniziert,
manchmal kommt’s gar zu richtigen Gesprächen.
Konkurrierende Einsame in weltoffenen Städten.
Man bewegt sich zwischen Begegnungszonen
auf der Suche nach dem Besonderen,
doch auch dieses betreibt überall Filialen.
Überall wird das, was andere erreicht haben,
mit dem verglichen,
was man selbst erreicht hat oder nicht.
Überall könnte man erleichtert davon sein,
zu was man es nicht gebracht hat,
aber das zählt nicht.
Und du? Hältst du es für selbstverständlich,
dass dir dein Schatten folgt?
Erinnerungen huschen durch den Raum.
Magische Heimat
Die Touristengruppe, von der ich mich entferne, gleitet
wie ein Riesenmanta über den verregneten Platz.
»Komm nach Hause, weiß nicht, wer du bist«,
hör ich mich beinahe stimmlos sagen.
Hinter dem Kirchturm taucht ein roter Ballon auf,
möge er mich aus der Traurigkeit lotsen.
Glocken sind zu vernehmen, tiefer als das Meer,
Mantas umkreisen mich – in mir fliegend.
»Ich bin die Droge, die dich dirigiert«,
orakelt es da fern in mir.
Frau in geparktem Mercedes
Sie denkt in Zusammenhängen,
doch sie möchte nur träumen –
sie träumt von der Realität
und vom Traum, in dem sie lebt.
Nachtschwimmen
Den Kopf im Nacken saß ich vor einem Schulhaus,
hin und wieder fuhr ein Auto vorüber, nichts Besonderes,
aber mir war, als sähe ich den Mond zum ersten Mal,
bis mir einfiel, dass ich ihn, so wie heute, zum ersten Mal sah!
In dieser Nacht, die so nie wiederkehren würde,
schon immer da war, zwickte mich Ewigkeit ins Ohrläppchen!
Nach einer unbestimmten Zeit erhob ich mich,
den Nacken vom Zummondhochschauen starr,
doch erleichtert und in Auflösung begriffen wie jedes Wort,
das mir auf dem Nachhauseweg durch den Kopf ging,
bis ich träumend im Bett lag – träumend wovon?
Selbstredend vom Mond, der stoisch jedem Gedicht widersteht.
Ich näherte mich einem weiß rauschenden Loch – schreckte hoch,
ob der alte Trabant nicht müde vom Betrachten der Erde ist?
Vielleicht ist er bereits vor tausenden von Jahren darüber eingeschlafen
und hat seitdem all unser Verlangen nach ihm verpasst.