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Jürg Halters Gedichte sind laut und leise zugleich, zart aber nie gefühlig. Weltzugewandte Selbsterkundungen. Jürg Halter ist ein Dichter, der so neugierig wie selbstbewusst in die Welt blickt. Und schräg. Was lässt sich in ihr erkennen? Was lässt sich über sie mitteilen? Wie verortet sich in ihr das eigene Ich? Das ganz Kleine, Individuelle bringt er zur Sprache, aber nie ohne nach den großen Zusammenhängen zu fragen. Halter schüttelt die Bilder, um sie wieder neu zusammenzusetzen. Manchmal schillert alles wie in einem Kaleidoskop; im Gewöhnlichen wird das Ungewöhnliche sichtbar.
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Seitenzahl: 23
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Für sich
Wir stoßen weiter vor.
Mehr ist nicht genug.
Alles ist das Ziel.
Wir stoßen weiter vor.
Niemand zieht sich zurück,
es gibt nur Zurückgedrängte.
Wir stoßen weiter vor.
Eine Welt ohne Grenzen
können wir uns nicht vorstellen.
Verzicht bedeutet Pathos.
Wir rufen laut nach dem perfekten Tag,
vor dem wir uns im Stillen fürchten;
er hätte sich für immer zu wiederholen.
Jeden Abend würden wir ihn vergessen,
so weckte er uns jeden Morgen
gleich neu – Ideal.
Der Herbst liegt im Briefumschlag
auf meinen Knien.
Im Licht der tiefen Sonne
überquert ein Zug die Brücke.
Der Anfang oder das Ende
eines einfachen Films
übers Abschiednehmen.
Als wir wieder im Schatten fahren,
öffne ich den Umschlag;
darin das Foto eines Mannes im Wald,
sein Gesicht ist weiß übermalt,
in der Hand hält er einen Hut.
Vor wem hat er ihn gezogen?
Über das Foto sind fünf Fäden gespannt,
an denen bunte Papierblättchen
vorsichtig aufgezogen sind.
Auf der Rückseite steht geschrieben:
»für Dich, und die Blätter tanzen im Wind …«
Ich erinnere mich an die Zeit
vor der Rede,
als ich mit der Welt, die mich umgab,
im Einklang war,
bevor ich mich mit meinem ersten Wort
für immer von ihr trennte.
Was wir uns nicht alles gesagt haben.
Er wurde geboren, um zu lesen
in Büchern – mehr
gesteht ihm die Natur nicht zu.
Er wurde geboren, uns nicht zu begegnen,
außerhalb seiner vier Wände.
Eines Nachmittags bleibe ich
unter seinem Fenster stehen.
Vermutlich liegt er auf dem Bett und liest.
Hier unten stockt der Verkehr und fließt,
ich gehe weiter, weiter nichts.
Sie versinkt in ihrem Sitz
wie ein Stein im Wasser;
geht unter wie eine
zu leise gestellte Frage.
Alles ist ein Sinken
zum Erdmittelpunkt und
zurück in Millionen
von Jahren und …
in allen Religionen gibt es
eigentlich nur einen Gott,
den der Schwerkraft.
Oder weshalb werfen sich
Gläubige auf den Boden
anstatt in die Luft zu springen?
»Wenn die Winde der Veränderung wehen …«,
weile ich in einem Straßencafé,
vor mir ein leeres Zuckertütchen,
das ich gleich vor die Füße einer
betrübten Passantin pusten werde,
»… bauen einige Mauern, andere Windmühlen.«
Seine Hände liegen auf der Klaviatur.
Welches Jahr schreiben wir und wozu?
Er spielt mit geschlossenen Augen.
Wir heben die Köpfe und lauschen nach
Tönen, die wir nicht hören können;
fürchten immerzu das Ende der Musik.
Es ist immer drei Uhr morgens hier.
Eine Woche unter lauter Getriebenen,
suche ich nach Konfrontation.