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Kaspar, ein an sich und der Welt zweifelnder Schriftsteller, erwacht in der Nacht vor seiner Abreise zu einem geheimen Treffen an der französischen Atlantikküste aus einem Albtraum. Er geht in seiner Wohnung «mitten in Europa» rastlos auf und ab, hat Visionen und reflektiert obsessiv: Was bleibt vom Bekenntnis zur Gerechtigkeit, wenn es darum geht, auf eigene Privilegien zu verzichten? Ab wann ersetzen uns Maschinen? Wozu noch ist der Mensch fähig? Der Gedanke an «die Anderen», seine unbekannten Verbündeten, die er in Brest treffen wird, und die Sehnsucht nach seiner untergetauchten Liebe Josephine begleiten ihn auf diesem wahnwitzigen Trip. Aus außergewöhnlichen Perspektiven, in rasch sich ändernden Tonfällen erzählt der Roman ‹Erwachen im 21. Jahrhundert› von der gegenwärtigen Menschheit, «dem erfolgreichst gescheiterten Projekt aller Zeiten». Hochkomisch, scharf analysierend, poetisch, wütend, mutig.
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Seitenzahl: 217
JÜRG HALTERERWACHEN IM 21. JAHRHUNDERT
Autor und Verlag danken für die Unterstützung:
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.
1. Auflage 2018
Copyright © Jürg Halter
Alle Rechte Vorbehalten
Lektorat: Oliver Ilan Schulz
Umschlag: Anne Hoffmann und Jürg Halter
Coverbild und Bild am Buch-Ende: Ester Vonplon
Layout/Satz: Melanie Beugger
e-Book: mbassador GmbH, Basel
ISBN epub 978-3-7296-2236-4
ISBN mobi 978-3-7296-2237-1
www.zytglogge.ch
Jürg Halter
Erwachen im21. Jahrhundert
Roman
Für die, die widerstehen
«Deine diamantenen Träume schneiden meine Adern auf.» (Else Lasker-Schüler)
«Give people the power to build community and bring the world closer together.» (Facebook)
«Das Bild der Welt in der Bilderwelt.» (John Berger)
«Lebe tief, lebe jetzt, und lebe auf Augenhöhe mit dem Tod, denn die Wahrheit, die Moral und das Leben lassen sich nicht auf irgendwann vertagen.» (Camus)
«It’s time to be an investor again.» (BlackRock)
«I saw the smile before it reached your lips.» (Kate Tempest)
«Die Menschen sind so notwendig verrückt, dass Nicht-verrückt-Sein nur hieße, verrückt sein nach einer andern Art von Verrücktheit.» (Blaise Pascal)
«Im 80. Stockwerk, in dem Haus, das es nicht gibt, in der Stadt, die es nicht gibt, wird ein Mädchen steh’n.» (Hildegard Knef)
«George Orwell war eine Erfindung der Geheimdienste.»(Das Internet)
«Do you know why people like violence? It is because it feels good. Humans find violence deeply satisfying. But remove the satisfaction, and the act becomes hollow.» (Alan Turing)
«In der Einsamkeit von zwei Milliarden Lichtjahren / musste ich unversehens niesen.» (Tanikawa Shuntarō)
Prolog
Liebste Josephine,
es ist drei Monate her, seit wir uns in Zürich am Bahnhof verabschieden mussten. Ich war tief getroffen und bin es noch. Ich möchte alles mit Dir teilen, um uns zu verstehen. Ein Unterfangen, das scheitern muss. Hier bin ich.
Du hast, was ich nicht habe: eine Geschichte, ein Schicksal. Du bist anders. Du warst der erste Mensch, der mir klarmachte, dass ich bislang immer nur gewusst hatte, was ich nicht wollte. Und dass mich dies wohl hindert, mein Leben in die Hand zu nehmen.
Bevor ich Dich traf, nahm ich die Dinge, wie sie kamen, und wurde der Widerstand zu groß, ließ ich es einfach bleiben. Ich vermisse Dich so sehr.
Auf meine E-Mails und Anrufe in den letzten drei Monaten hast Du nicht reagiert. Die Adresse Deiner Cousine in Sizilien ist meine letzte Chance. Ich bin in großer Sorge um Dich.
Seit drei Monaten schlafe ich wenig. Oft erwache ich nachts aus Albträumen, von denen ich Dir nur von Angesicht zu Angesicht erzählen könnte. Bin trostlos und noch unruhiger als zuvor. Du machst mir Angst. Magst Du auch anders sein, Du erinnerst mich doch an mich selbst. An das, was ich nicht bin ohne Dich.
«Das Weltliche», wie wir es nannten, interessierte uns nicht. Obwohl wir so wenig voneinander wissen, glaubten wir beide einander erkannt zu haben.
Ich habe Dir zum Beispiel nie von meiner Kindheit erzählt, weil ich dachte, durch Äußerlichkeiten würde unser Verhältnis entweiht. Und ich habe wenig von Dir erfahren. Das ist absurd. So wie das Leben da draußen, dem wir uns nicht gestellt haben.
Wir trafen uns am Rande des Geschehens – im Zentrum der Welt, die wir für uns zwei zu schaffen versuchten.
Aufgewachsen bin ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in einem Hochhaus, in mittelmäßigen Verhältnissen. Mein Vater arbeitete in einem Großraumbüro. Mehr erfuhr ich nicht darüber. Meine Mutter begann als Krankenschwester und wird als Krankenpflegerin in Pension gehen. Meine kleine Schwester arbeitet heute als Assistenzärztin. Früher bezeichnete sie mich gern als Einzelkind. Im Zimmer, das ich mit ihr teilte, führte ich stundenlang Theaterstücke mit Plüschtieren oder Legofiguren auf. Die Kulissen baute ich aus Steinen, Bauklötzen und Tüchern. Allen Figuren lieh ich meine Stimme, manchmal durfte meine Schwester mitspielen. Es waren übersichtliche Welten, es war klar, wer die Guten, wer die Bösen sind. Du siehst: eine unspektakuläre Kindheit.
Soweit ich mich erinnere, ging ich mit leichtem Widerwillen in die Schule. Meine Lieblingsfächer: Deutsch und Geschichte. Im Unterricht war ich meist schüchtern, hin und wieder vorlaut. Jedenfalls weiß ich noch, dass ich die Lehrer mit der Bemerkung «Das sagen Sie!» provozierte. Ich begann immer mehr zu lesen und fand in Büchern Vertraute, die ich in meinem Leben vermisste, traf auf Sätze, die ohne Rücksicht ausdrückten, was ich fühlte. Es war ein erstes Erwachen.
Als ich etwa zwölf Jahre alt war, stand ich früher auf, um noch vor der Schule Zeitung zu lesen. Schweigend saß ich dafür mit meinem Vater in der Küche. Ich lernte eine neue Sprache. Und damit auch, dass das, was die Menschen ankündigten und das, was sie dann taten, nicht dasselbe war. Nachdem ich in der achten Klasse zum ersten Mal vom Holocaust hörte, änderte sich für mich die Klangfarbe des Wortes «menschlich», ohne dass ich hätte sagen können weshalb. Ich unterhielt mich mit meiner Großmutter (ich habe sie Dir einmal vorgestellt, als sie uns im Botanischen Garten entgegenkam. Tatsächlich das einzige Mitglied meiner Familie, das Du kennengelernt hast) darüber. Sie erzählte mir dann von ihrem Freiwilligeneinsatz in einem Auffanglager während des 2. Weltkriegs und sprach von «Worten als Waffen».
Ich lieh in der Bibliothek Dokumentarfilme aus, in denen Holocaust-Überlebende berichteten. Allmählich begriff ich, dass ich in einer Welt von schwer durchschaubaren Konflikt- und Kriegsschauplätzen auf einer Insel des Friedens lebte. Als ein durch Zufall Verschonter.
Je mehr ich mich informierte, desto mehr machte mir die Welt Angst. Wenn ich jetzt daran denke, was Du in dem Alter vermutlich schon alles erlebt hattest, kommen mir meine damaligen Ängste im Nachhinein fast unschuldig vor.
Du hast mich immer nur mit Bruchstücken aus Deiner Kinderzeit abgespeist. Und ich habe nicht weiter nachgefragt. Der Anblick Deines getöteten Großvaters in der Küche, von dem Du mir einmal erzähltest, blieb mir beklemmend in Erinnerung – ich hoffe, Du findest bald einen Weg aus diesem «System», wie Du es nanntest. Ich wage kaum daran zu denken.
Nach einem Streit mit meinem Vater zog ich mit 19 von zu Hause aus, blieb aber in Zürich. Ich fand ein WG-Zimmer. Ich begann Geschichte und Soziologie zu studieren, saß viel in Cafés rum und las. Als ich mein Studium abbrach, kündigte mein Vater die finanzielle Unterstützung auf und ich arbeitete Teilzeit in einem Archiv. Hin und wieder schrieb ich Notizen und Gedichte … Dass ich Dir eines meiner frühen Gedichte vorlas, ist mir heute peinlich. Ich schrieb es zu einer Zeit, als mir meine Mutter, wenn ich sie sah, immer etwas zusteckte. Ich nahm das Geld widerwillig, aber letztlich dankbar an. Damals wusste ich noch nicht einmal, was ich nicht wollte.
Als ich dann den Job im Archiv aufgab, reiste ich im Zug durch Europa. In Griechenland arbeitete ich ein paar Wochen in einer Flüchtlingsunterkunft und schrieb für einen Blog sogenannte Erlebnisartikel.
Zurück in Zürich, begann ich ein Praktikum bei einer Filmproduzentin. Die Arbeit interessierte mich jedoch kaum. Ich suchte im Netz nach lustigen Unfall-Videos und wenn ich sie mir ansah, machte ich ein konzentriertes Gesicht. Ich erledigte knapp das, was man mir so auftrug.
Je mehr ich über Kriege las oder mit Betroffenen darüber sprach, desto mehr wurde mir bewusst, weshalb ich nach meiner Kindheit langsam den Glauben an Gott verloren habe.
Aber ich lehne es bis heute ab, mich als «Atheisten» oder «Agnostiker» bezeichnen zu lassen. Ich beneidete Dich um Deinen Glauben, er war unerschütterlich. Und ist es hoffentlich noch immer. Als ich 1983 in Zürich geboren wurde, warst Du noch in den Sternen. Als Du zur Welt kamst, da betete ich abends bereits, zusammen mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester. Ich erinnere mich: Es war schön und tröstlich zu glauben.
Weshalb erzähle ich Dir das alles? Vielleicht will ich mich nur selbst vergewissern, wer ich noch bin. Denn seitdem Du nicht mehr hier bist, kann ich nicht mehr sagen, wo mir der Kopf steht – ob er ins Herz gestürzt ist?
«Kaspar! Sei nicht so dramatisch!», würdest Du jetzt wohl lachen.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich sandte dann erste Gedichte oder Kurzgeschichten an Literaturzeitschriften. Da war ich etwa 24 Jahre alt. Ein paarmal wurde etwas publiziert. Wenn mich jemand fragte, was ich mache, sagte ich nun öfter, dass ich eigentlich Schriftsteller sei. Dabei betonte ich vor allem das Wort «eigentlich». Kontakte knüpfte ich keine, Literaturveranstaltungen blieb ich fern.
Ich war oft allein, wollte es so, es kam so. Unter anderen Tunichtguten flanierte ich durch als «spannend» beworbene Städte und wartete darauf, dass mein Leben größer wurde. Ich begann den Begriff Fortschritt immer mehr in Frage zu stellen. Von dieser Zeit habe ich Dir erzählt.
Vor allem nachts war ich viel auf der Straße unterwegs. Und bin es noch. Ein paarmal hatte ich Glück und entkam nur knapp einer gefährlichen Geschichte. Abgründe, die sich unvermittelt öffneten und mich erschreckt zurückließen – auch auf Inseln und in heilen Welten leben Mörder. Nachts vertrauen mir Fremde oft Überraschendes an. Ohne dass ich sie dazu auffordere.
Während ich vor mich hinscheiterte, begann meine Schwester, in München Medizin zu studieren. Sie hatte mich überholt. Immerhin publizierte kurze Zeit später ein Kleinverlag meinen ersten Gedichtband. Er fand keine Beachtung.
Eines Tages fragte mich ein Bekannter, den ich auf einem Filmset kennenlernte, ob ich ihn nach China begleiten würde – seine Cousine studiere in Peking und wir könnten bei ihr wohnen. Warum nicht, meinte ich.
In Peking fühlte ich mich zum ersten Mal unfrei. Überall Kameras und wenn ich ins Netz wollte: gesperrte Seiten. Danach beschäftigte ich mich intensiver mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Diese Dinge beängstigen mich zunehmend. Erinnerst Du Dich, Josephine, wie wir das Wort « Freiheit» meist neu definierten, wenn wir es irgendwo gemeinsam lasen?
Entschuldige, ich schweife wieder ab, und hoffe dabei nur, dass Dich diese Zeilen erreichen, mir ist’s, als würdest Du vor mir sitzen und wir wären im Gespräch … Wieder zurück in Zürich, schrieb ich mich an der Universität für das Studium der Kunstgeschichte ein, ließ es dann aber bleiben. Ich war wütend auf mich selbst. Meine Angstzustände nahmen zu. Dass ich sie halbwegs benennen konnte, machte es nicht weniger schlimm. Meine Mutter riet mir, in Behandlung zu gehen. Das lehnte ich ab.
Dann lernte ich Dich kennen. Auf dieser verhängnisvollen Zugfahrt. Mein Leben ist seither ein anderes. Dir nahe zu sein wurde mein Glück. Du nanntest mich lächelnd «Dein Los».
Erst durch Dich fand ich den Mut, mich mit mir selbst zu konfrontieren. Was oft ärgerlich oder gar bestürzend war. Ich vertraute mich Dir an. Du Dich mir. Zumindest glaubte ich daran. Das Wort «Liebe» haben wir vermieden. Kurz bevor ich bereit war, Dir das Tiefste zu sagen, warst Du fort. Noch auf dem Bahngleis, während sich Dein Zug in Bewegung setzte, kehrten meine Ängste zurück. Du hattest mir abermals erklärt, dass Du mich nicht in Deine Geschichte reinziehen willst. Das System, dem Du entstammst, könne ich nicht verstehen. Du wolltest nicht, dass mir etwas passierte. Du wolltest es alleine schaffen. Deine letzten Worte hallen in meinem Kopf bis heute nach: «Wir dürften uns nicht kennen. Mein Herz blutet. Ich werde Dich nie vergessen.»
Meine Liebe konnte ich Dir nicht mehr erklären und …
Den Brief hatte Kaspar vor etwas weniger als sechs Jahren kurz vor Ende abgebrochen und ihn nie abgeschickt. Gestern gegen 22 Uhr, im vierten Stock eines Hauses mitten in Europa, legte er sich hin. Konnte erst nicht einschlafen, war unruhig, seine Gedanken in Aufruhr. Da kam ihm der Brief an Josephine in den Sinn. Zum ersten Mal las er ihn wieder.
Jetzt liegt Kaspar in seinem Bett und schläft tief. Es ist die Nacht vor dem Aufbruch – denn vor sieben Wochen traf er in einer Wiener Bar einen Fremden. In einem langen Gespräch erzählte der Mann ihm von «den Anderen». Zum Abschied sagte er: «Es ist an der Zeit, dass du aufwachst. Wir erwarten dich in Brest.» Als Kaspar spätabends die Bar verließ, wurde ihm erneut bewusst, dass er in seinem Leben bislang keine einzige wichtige Entscheidung getroffen hatte.
Im Hotellift zog er den Zettel aus der Brieftasche, den ihm der Fremde gegeben hatte. Darauf stand das heutige Datum: der 27. Juni 2018.
Im Traum bewegen sich die Möbel langsam auf Kaspar zu, er glaubt, der Druck in seinem Kopf werde größer, der Raum kleiner. Er sieht, wie sich die Eckkanten der Möbel nach ihm richten. Seine über die Schläfen gespannte Haut platzt, die Trommelfelle reißen. Im Traum ist Kaspar wach und hält die Luft an. Er sieht die ihm aus den Regalen entgegenfallenden Bücher, unablässig, bis es dunkel um ihn wird. Den Einschlag der Bücher spürt er nicht. Todesangst hat ihn im Griff. Mit einem Mal schmeckt Kaspar Blut in seinem Mund.
01:30 Uhr
Kaspar schreckt hoch. Er schnappt nach Luft, springt aus dem Bett, öffnet das Fenster, atmet ein: Der Traum verflüchtigt sich. Er schließt das Fenster, knipst das Radio an. Eine hohe Stimme singt: Tanz die Nacht weg, verschmilz mit verwandten Seelen, sei endlich du selbst – dann Refrain.
Um 01:31 Uhr schluckt Kaspar leer. Die Möbel stehen an ihren vornächtlichen Plätzen.
Er starrt auf den Boden, dann auf seine nackten Füße und fällt nicht. Er spürt, wie ihn die Erde nicht loslässt – derweil gehen die Kontinentalplatten ihrer Wege. Er hält sich den Schädel. Nachbeben. Auf der Erdoberfläche gibt es zirka 1500 in den letzten 10 000 Jahren ausgebrochene Vulkane, eine Vielzahl ist im Meer zu finden. Etwa hundert Milliarden Nervenzellen enthält das menschliche Gehirn, von denen jede mit Hunderten oder gar Tausenden anderer Nervenzellen verbunden ist –, aber der Mensch kann nicht in jedem Augenblick an alles denken. In keinem Augenblick ist er dazu imstande.
Kaspar nimmt vor dem Bildschirm Platz, murmelt: «Das ist meine letzte Nacht hier, am Morgen geht’s los. Doch zuvor muss ich Ordnung in meinem Kopf schaffen.»
Er will erfahren, weshalb er so ist, wie er ist, in dieser Welt. Mit den Anderen will er neue Antworten auf seine Fragen finden. Dazu muss Kaspar die Zusammenhänge verstehen, in denen er lebt. Er tippt: «Man schreibt das 21. Jahrhundert. Der Planet befindet sich im Großen und Ganzen in keinem vorteilhaften Zustand, verantwortlich dafür ist, neben dem Lauf der Dinge und den kosmischen Kräften, der Mensch selbst. Dieser bejaht, verdrängt und leugnet es. Der Mensch: gewiss unvollkommen, mit diesem Umstand gewiss nicht einverstanden. Durch seine Geburt verliert er die Unschuld. Ihm wird Raum gegeben, er nimmt sich Raum. Alles wiederholt sich und eben doch nicht. Nach Aufklärung folgt Verklärung. Es gibt keinen Fortschritt menschlicher Moral. Der Mensch erkennt und vergisst. Ein Tag hat 24 Stunden. Der Mensch mutmaßt, wo er kann.»
Im Netz liest Kaspar: «Vor 500 Millionen Jahren dauerte ein Erdentag 21 Stunden.»
Um 01:35 Uhr putzt er sich die Zähne, schaut aus dem Fenster. Im Haus gegenüber betrachtet ein Mann sein fast leeres Wohnzimmer.
«Vielleicht stellt er sich vor, wie dort unter guten Freunden bald gute Gespräche geführt werden», denkt Kaspar. «Oder er malt sich aus, wie es sein wird, wenn seine Freundin barfuß über den Parkettboden schlendert. Eine schön eingerichtete Wohnung, die sie verlassen würden, um schöne Ferien zu machen. Zivilisierte Menschen wie ich. Bestimmt wissen sie sich bei Vernissagen mit den richtigen Leuten zu unterhalten: Auf welches Thema auch immer man zu sprechen käme, sie wären zumindest imstande, das Richtige zu zitieren. Befangene Menschen wie ich. Wenn der Umzug geschafft ist, wird der Mann wahrscheinlich über sein neues Sofa streicheln. In diesem Gefühl wird er aufgehen wie ein Aspirin an einem verkaterten Morgen. Ob er dann in der Zukunft, die er sich erhoffte, angekommen sein wird?»
Während Kaspar sich den Mund ausspült, fragt er nach dem einvernehmlichen Sinn des Lebens. Sich cool geschminkt und elegant oder sportlich gestylt in den schönsten Hotspots treffen, um locker über Persönliches und Business zu quatschen. So las er es kürzlich in einer Zeitschrift im Warteraum einer Arztpraxis.
Kaspar muss kurz lachen, dann schaut er nochmals zum Nachbarn hinüber und sinniert: «Jetzt lauscht er wohl einem Lied, das überraschend in einer der noch verschlossenen Kartonschachteln zu spielen beginnt. Möglicherweise das eingängige große Lied vom Verstand.»
Zurück an seinem Rechner, schreibt er: «Der gesunde Menschenverstand: Alle glauben über ihn zu verfügen. Jeder hat von sich aus gesehen recht und glaubt insgeheim an Gerechtigkeit. Verrückt. So viele Menschen wie heute lebten noch nie auf unserem Planeten, höchstwahrscheinlich ist dies keine Fehlinformation. Höchstwahrscheinlich sind wir noch keine Klone, auch unsere Nachbarn nicht. Weshalb sehen wir unseren Nachbarn nicht einmal tief in die Augen? Was hemmt uns? Unsere Nachbarn bestehen aus den gleichen Sorgen und Atomen wie wir.»
Neben dem Rechner liegt ein schwarzes Notizbuch. Kaspar kritzelt eine Spinne hinein.
Um 01:40 Uhr täuscht er mit seiner flachen Hand einen Schlag gegen eine Zimmertüre an. Er fragt sich, ob er die Verantwortung für sein Tun und Lassen trägt. Neurowissenschaftliche, religiöse und andere Fundamentalisten kämpfen, wenn vielleicht auch ungewollt, gemeinsam für die Verantwortungslosigkeit des Menschen.
«Eventuell sind Menschen nur die unglücklich verwirklichte Utopie eines Wahnsinnigen, der sich nach unserer Schöpfung sogleich erschrocken aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hat. Und fortan genießt er fern des Universums in einem Schlösschen mit ansehnlichem Garten seinen sorgenlosen Vorruhestand», fantasiert Kaspar.
Um 01:41 Uhr geht er aufgekratzt durch die Wohnung. Versucht seine so unterschiedlichen Gedanken zu ordnen. Kaspar ist früher erwacht, als er wollte: Die Vorahnung seines eigenen Todes hat ihn aus dem Schlaf gerissen. Vom Tod träumt Kaspar oft – vom frühen Tod, vom Tod durch einen fremdverschuldeten Unfall, vom Tod durch eine Naturkatastrophe, vom Tod durch Krankheit, vom Tod durch vergiftetes Leitungswasser, vom Tod durch die Wut eines anderen, vom Tod durch das ungewollte Fallen von einer Brücke, nach minutenlangem Starren in den frühmorgendlichen Fluss auf dem Heimweg vom Partymachen. Vom Tod mit 35. Vom Tod mit Josephine.
«Ich bin mir meiner Lächerlichkeit bewusst!», ruft er, «das ist es doch, was einen Menschen überhaupt auszeichnet.»
Auf einem Foto an der Wand lutscht er als Kind an einem Eis. Er streifte während der langen Sommer barfuß durch Wiesen, versteckte sich in Maisfeldern, dachte sich Verfolgungsjagden aus, spähte vom Hang über einen glitzernden See. Die Faust gegen den Himmel geballt, lief er «Angriff!» schreiend los. Später lag er auf dem Rücken, spürte eine Ameise über seine Finger krabbeln, wies ihr den Weg hinüber zur anderen Hand, dann streifte er weiter durch die Wiese, fing eine Heuschrecke ein, taufte sie auf den Namen «Herr Lebensmittel» und ließ sie wieder springen. Für seine Mutter pflückte er ein paar Blumen, rannte, bis ihm die Luft ausging, und ließ sich bäuchlings in einen Haufen gemähtes Gras fallen. Diese Landschaft und er, niemals wollte Kaspar sie wieder verlassen, den ganzen Sommer über im Freien bleiben. Die Stimme der Mutter, die ihn suchte. Dann in der Küche auf dem Ofen kauernd, ein Stück dunkler Schokolade und einen Schluck Milch im Mund. Ein Geschmack, den er ebenso liebte wie den Geruch frischer Abgase, die er in Parkhäusern, über Auspuffe gebeugt, einatmete nach dem Einkaufen mit seinem Vater.
Oft schlief er auf dem Ofen des Ferienhäuschens ein und wurde dann von seiner Mutter oder Großmutter ins Bett getragen.
Kaspar misstraut der Erinnerung, wendet sich vom Foto ab: «Tschüss, Herr Lebensmittel.»
Mit dem Rechner geht er in die Küche, setzt Wasser für einen Tee auf – ein allein lebender Mensch, der sich besonders in diesen Minuten einmal mehr nicht damit abfinden will, dass er als Einzelkämpfer gegen die Welt kaum ankommt. Kaspar sucht nach Erklärungen. Seit Jahren kann er nicht mehr richtig schlafen, findet keine Ruhe. Er blättert in seinem Notizbuch, liest, blättert weiter. «Verdammt, wie ich Josephine vermisse», spricht er vor sich hin. Seit sie verschwunden ist, kann er keine Liebesbeziehungen mehr eingehen. Er führt Frauen vor, lässt sich von ihnen vorführen, führt sich selbst vor. Verliebt er sich mal, schweigt er darüber, verdrängt es, zieht weiter.
Auf die Frage «Wie geht es dir?» antwortet er für gewöhnlich, um nicht zu lügen: «Bin beschäftigt.»
Gedankenverloren spiegelt er sich im Bildschirm. Er schaut auf die Uhr, fragt sich, ob die Anderen auch zu früh erwacht sind. Und ob der Mann aus Wien, dessen Namen Kaspar nicht kannte, sich wie er vor dem Aufbruch fürchtet.
«Es geht mir doch zu gut, um mein Leben so fundamental zu ändern», urteilt er und hebt eine Zeitung vom Boden auf.
Kaspar liest die ersten Zeilen eines Artikels: «Die negativen Folgen des Kapitalismus in der postkapitalistischen Welt …» und lässt das Blatt wieder fallen.
Während er das heiße Wasser über den Grüntee gießt, denkt er über sich selbst erfüllende Privilegien nach. Darüber, dass im Leben jeder bereits mindestens einmal gewonnen hat: «Armer, siegreicher Samen.» Er lächelt. Doch weder vom Anfang noch vom Ende können Menschen einander erzählen. «So originell hat das die Natur eingerichtet», lacht er und prostet mit der Tasse in Richtung seines sich jetzt im Fenster spiegelnden Gesichtes: «Ein Lob auf die Vergesslichkeit!»
Mit abrupt erzürntem Blick stellt er die Tasse ab: «Als ob einen das Bevorteilt-Sein vor der Einsamkeit retten könnte.»
Um 01:47 Uhr, das Notizbuch vor sich, muss er an einen Freund denken, den er an der Universität kennenlernte und mit dem er früher oft eine große Buchhandlung aufsuchte. Dort lasen sie einander gegenseitig die Anfänge von Neuerscheinungen vor. Danach unterhielten sie sich in einem Café über die Bücher. Manchmal auch über die Literaturszene, die Kaspar nur flüchtig kannte. Sein Freund hatte als Praktikant bei einem Verlag bereits einige Erfahrungen gesammelt. Sie redeten über Autoren und ihre Posen, über Eigenständigkeit und Zielpublikum. Kaspar war auf der Suche nach einer Haltung als Autor. Und ist es bis heute. Vielleicht schon nur weil ihm der Begriff «Haltung» so suspekt ist wie der Literaturbetrieb selbst. In dieser kleinen Welt sieht Kaspar sich als unbedeutenden Fremdkörper und kann gut damit leben. Insgeheim erhofft er sich manchmal mehr, aber die hierarchischen Spielchen mitzumachen, dazu war und ist er nicht bereit.
«Du stehst dir selbst im Weg», hatte sein Freund öfters zu ihm gesagt, während sie im Café zum Spaß Autorenporträts skizzierten. An Veröffentlichung haben sie dabei nie gedacht. Kaspar klappt den Rechner auf und liest sich eines vor.
Der Großschriftsteller
Ein TV-Kritiker, Kameramann und Tontechniker im Schlepptau, schreitet durch einen Buchenhain an einem Fluss entlang. Er spricht zu dem alten Mann neben ihm: «Sie sind ein Großschriftsteller. Sie haben gerade einen neuen imposanten Roman geschrieben, der über acht Generation hinweg von einem Familienclan erzählt. Geprägt von langen, absolut verständlichen Dialogen zwischen den großartig gezeichneten, klar fassbaren männlichen Protagonisten, die selbstsicher den Humanismus, den Sozialismus, den Faschismus, den Pessimismus und den Kapitalismus thematisieren und dabei niemals die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft oder sonst was aus den Augen verlieren, während sie von ihren blutjungen Bewunderinnen verführt werden. Auch die reichhaltigen Landschaftsbeschreibungen tragen das ihrige zu diesem Meisterwerk bei.»
«Raum, Zeit, Nation, Sie sagen es. Aber im Kern meiner Bücher steckt immer etwas Größeres, etwas, das die Menschen an sich betrifft», spricht mit ausladender Geste in Richtung eines sich zu ihm gesellenden Schwanes der Großschriftsteller. Und weiter: «Sie haben sich sicherlich gefragt, was es als Schriftsteller braucht, einen Roman dieser Dimension anzugehen. Ein solch Wahnsinnsunterfangen zu wagen. Sie haben sich bestimmt gefragt, weshalb mein erstes Buch heute noch so aktuell ist wie vor 40 Jahren als es erschien. Ich verrate Ihnen mein Geheimnis: Es ist der unbedingte Wille, Weltliteratur auf Augenhöhe mit der Zeit zu schaffen.»
Der TV-Kritiker spricht eindringlich in Richtung Kamera: «Was mich am meisten beeindruckt, Sie wissen, wie es geht, Sie sind ein Könner. Bei Ihnen wirkt jeder Satz wie vorgestanzt. Sie sind souverän, Sie schreiben souverän, Sie geben souveräne Interviews. Bei Ihnen weiß man, woran man intellektuell und gesamtmenschlich ist. Sie geben sich nie eine Blöße. Bei Ihnen sind keine Überraschungen zu erwarten, Sie wissen, was Sache ist. Humor ist Ihnen verdächtig. Bereits als junger Mann, während Ihres Medizinstudiums in München, haben Sie erkannt, wie der Mensch funktioniert. Sie sind ein Gewinner. Sie sind eigentlich kein Schriftsteller, Sie sind eine Literaturmacht. Sie herrschen über die Sprache. Ich stelle Sie mir in schwere Gedanken versunken, den Blick in die Ferne, ein Glas Portwein in der Hand, die Dunkelheit durchstarrend vor. Qualität kommt von «quälen», nicht wahr? » Der Großschriftsteller raunt: «Unser Jahrtausend ist geprägt von Konflikten.»
Der TV-Kritiker beeindruckt: «Dieser Satz! So reichhaltig wie das ganze Buch eines normalen Schriftstellers. Bei Ihnen ist es ein Satz in einem 1500-seitigen Roman. Sie sind ein Monolith. Was ist Ihr wichtigster Einfluss?» «Mein Nachlass», verkündet der Großschriftsteller nach langem Nachdenken und verschwindet am Ende des Hains in einem prächtigen Turm aus Stahlbeton. Um diesen kreist Furcht einflößend ein mächtiger schwarzer Adler.
Kaspar verlässt die Küche, begrüßt im Bad sein Spiegelbild: «Noch immer hier?»
Er streicht über seine Augenbrauen. Es ist schwer, aus sich selbst Hoffnung zu schöpfen. Hätte er nur einen nachvollziehbaren Beruf, einen wirklichen Beruf, doch er finanziert sich sein Schriftstellerdasein einfach irgendwie mit Gelegenheitsjobs und Schreibaufträgen, die ihn kaum interessieren. Hinterfragte er nur weniger, funktionierte er nur reibungsloser, spräche er nur mehr über außergewöhnliches Essen, machte er doch interessante Weiterbildungen, hielte er nur Ordnung, hätte er nur einen Führerschein, spräche sein Vater nur wieder mit ihm, alles wäre gut. Er macht sich was vor.
«Beruhige dich, heute geht’s endlich los!», sagt Kaspar und wäscht sich sein Gesicht.
Als er seine Augen schließt, sieht er sich in einem Restaurant auf einen Tisch steigen und solange «Ich will ausgeglichen sein! Ich will ausgeglichen sein!» schreien, bis das Schreien sich in ein Weinen wandelt. Aber seine Aktion wird nicht mit betretener Stille, sondern mit lauten Halt-die-Fresse-Zurufen quittiert. Beschämt klettert er vom Tisch. Offenbar hat er sich für seine versuchte Selbstdemontage das falsche Lokal ausgesucht. «Was bist du denn für ein Narr, jetzt hau aber ab hier, du!», schimpft der Wirt. «Empathieloses Pack!», ruft Kaspar. «Ich werd’ dir gleich sympathisch!», herrscht ihn der Wirt an.
Im Taxi tupft sich Kaspar das Blut von der Nase und schaut triumphierend aus dem Fenster.
Um 02:05 Uhr reibt er sich in seinem Wohnzimmer die Augen. In Brest will er sich mit den Anderen über alles austauschen. Er fragt sich, was sie verbinden wird und ob das Ganze überhaupt funktionieren kann. Kaspar weiß noch nicht mal, wie sie auf ihn gekommen sind. Er könnte nicht sagen, was ihn auszeichnet.