genau so, nur ganz anders - Fabian Dieterich - E-Book

genau so, nur ganz anders E-Book

Fabian Dieterich

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Beschreibung

>Es gibt ein Problem, Davii.< >Oh, wie schön. Nur noch eines?< Doch er teilt meine gute Laune wohl nicht, also hake ich nach. >Welches Problem?< >Nanuk.< Wie ich dieses Thema satt habe. >Was ist mit ihm?< >Sie hat ihn gefunden.< Ich lache. >Sie und Nanuk. Die alte Geschichte. Sie geht also weiter.< Mit einem breiten Grinsen stecke ich mein Messer weg. >Soll ich sie ihm etwa schon wieder wegnehmen? Jedes Mal, wenn ich sie dir gebracht habe, hat er anschließend so lange gesucht, bis er sie irgendwo in einem anderen Leben wiederfinden konnte.< >Nein.< Sein Blick ist ruhig. >Es reicht. Die Zeit ist gekommen und die Ewigkeit wird enden.< 2016 Erstauflage 2024 Neuauflage (unveränderter Text & überarbeitetes Buchcover)

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Für die besten Eltern, den tollsten Bruder und die wundervollsten Freunde der Welt. Für Jan, meine fantastische Familie und für Fee, egal wo auch immer sie sein mag.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Am Anfang war das Ende

Kapitel 1: Es lebe das Leben!

Kapitel 2: Der Ruf zur Jagd

Kapitel 3: Bei den Engeln des Todes

Kapitel 4: Von Königen und Bauern

Kapitel 5: Drei - Sieben - Eins

Kapitel 6: Als der Phönix fliegen lernte

Kapitel 7: Der Tanz der Schamanen

Kapitel 8: Beim Schließen der Lücken

Kapitel 9: Die Freunde meines Feindes

Kapitel 10: Vergissmeinnicht

Kapitel 11: Alte Rechnungen

Kapitel 12: Die Kunst der Überredung

Kapitel 13: Freunde

Kapitel 14: Eine Kiste voller Wahrheit

Kapitel 15: Auf alten Wegen

Kapitel 16: MCMXLII – von Beeren –< I >– 0.1

Kapitel 17: Ein klein wenig suboptimal

Kapitel 18: MCMXLII – von Beeren –< I >– 0.2

Kapitel 19: Mitten in Nirgendwo

Kapitel 20: Nur eine paar Tage

Kapitel 21: Wer Hass sät…

Kapitel 22: MMXV - Wu < I >

Kapitel 23: Der Untergang Roms

Kapitel 24: Beim Klabautermann

Kapitel 25: Das Ende

Kapitel 26: Der Zorn des Vaters

Kapitel 27: Ärger am Zuckerhut

Kapitel 28: Wie versprochen

Kapitel 29: Auf den brennenden Brücken von Asharoq

Kapitel 30: Der Aufstand der alten Welt

Kapitel 31: Willkommen im Paradies

Kapitel 32: Epilog …

Prolog

Am Anfang war das Ende

Sie schreit, als wir durch die Scheibe schlagen. Ich drücke ihren kleinen Körper in meinen Armen fest an mich und verdecke dabei ihr Gesicht mit meinem, um den vielen Scherben zu entgehen, die uns im Flug einhüllen. Überall um uns herum glitzern und funkeln sie, als wäre über uns ein Ozean aus Glas zerbrochen, der nun auf uns herabregnet. Wir fallen, donnern ungebremst auf die alten Tonziegel, die unter uns knirschen und ächzen. Unkontrollierbar wirbeln wir durch die stockfinstere Nachtluft und schliddern dann über das schräge Ziegeldach geradewegs hinab in Richtung der unendlich tiefen Häuserschlucht vor uns. Bei einem der Überschläge kann ich sehen, wie sie kreischend im Schwarz des Abgrundes verschwindet. Plötzlich ist sie weg, doch ihr Schrei bleibt und baumelt zusammen mit ihrem Körper an meiner Hand über der schwarzen Dunkelheit der Tiefe. Immer noch rutsche ich der Kluft entgegen, in der sie längst verschwunden ist. Immer noch kommt das Ende des Daches langsam, aber mit bedrohlicher Beharrlichkeit näher und näher. Meine freie Hand tastet verzweifelt nach Halt, doch sie findet lediglich die vielen Scherben, die sich bereits wie Schnee auf die Ziegel gelegt haben. Die letzte Reihe Tonziegel, vor dem freien Fall, zischt unter mir vorbei. Dann kommt der Abgrund. Und eine ganz neue Hand, die meine ergreift.

Dank ihr komme ich mit einem Ruck zum Stillstand und beschließe erst einmal zu atmen. Ist schließlich eine ganze Weile her, seit ich genug Zeit dazu hatte. Dann verspüre ich aber auch schon relativ schnell das dringende Bedürfnis herauszufinden, in was für eine seltsame Lage ich da geraten bin. Schwer schnaubend sehe ich erst schockiert in die Tiefe und dann nach oben zum Rest der fremden Hand, die beschlossen hatte mich mit ihrem festen Griff vor dem Sturz ins Nichts zu retten. Und auf einmal ist sich mein Verstand nicht mehr ganz so sicher, wen von beiden er mir lieber als Grund für eine handfeste Panikattacke empfehlen sollte: Die tiefschwarze Unendlichkeit unter meinen hin und her pendelnden Füßen oder diesen Mann mit seinen wild flackernden Augen, der über mir auf dem Dach liegt und meine Hand mit festem Griff festhält. Mikkeal ist ein Paradoxon. Zerpflückt mich mit glühenden Augen voller Zorn, grinst dabei und liegt doch irgendwie erhaben und still da. Mit einer Gelassenheit, so ruhig wie dem Meer. Sein Atem zieht in einer langen hellen Wolke in die kalte Nacht, wo er allmählich von der Dunkelheit des Horizonts verschluckt wird. Der grau getränkte Rauch verschwindet und lässt wieder die glimmende Zigarette erkennen, die in seinem Mundwinkel am Ende des überheblichen Grinsens hängt. Im Schein der lodernden Flammen, die aus den zerstörten Fenstern des Hauses züngeln, kann ich erahnen, wie er sich umsieht und sich sein kaltes Schmunzeln in ein böses Lächeln verwandelt, als sein Blick von den Sternen zu mir abschweift.

»Du also?«, fragt seine raue, ruhige Stimme.

Mein geschärftes Gespür für bedeutsame Momente sagt mir, dass dies genauso ein Moment sein könnte. Also antworte ich dermaßen gewieft, zielgenau und in solch einer genial ausgefeilten Art und Weise, dass jeder Politiker sich meine Worte augenblicklich in sein Hausaufgabenheft mitschreiben sollte. »Hä?«

»Was ist deine einzige Aufgabe?«

Spontan erinnere ich mich an all diese Menschen, die ich ihm bereits in die Welt der Geister gebracht hatte, damit er sie für immer zu sich in sein dunkles Reich holen konnte. Also vermute ich: »Deinen Müll aufräumen?«

»Nein.« Und dessen scheint er sich ziemlich sicher zu sein. Also versuche ich es noch mal:

»Diese merkwürdige Menschheit dazu bringen, brav deinem roten Faden durch die Zeit zu folgen?«

»Falsch.«

Seltsam. Wie oft musste ich sie schon in ihren sogenannten Träumen heimsuchen und davon überzeugen, Kontinente zu entdecken, Kriege entweder zu beginnen oder wahlweise zu beenden, die seltsamsten Dinge zu erfinden oder sich einfach nur mal zu entscheiden. Wenn das nicht meine Aufgabe war, was mache ich denn dann bitte seit zig Jahrhunderten?

»Deine einzige Aufgabe ist es, einfach nur das zu tun, was ich dir auftrage. Und jetzt kommt’s. Habe ich dir gesagt, du sollst sie mir stehlen?«

»Vielleicht nicht wortwörtlich.«, gestehe ich ein klein wenig ein.

Komischerweise verschwindet sein Grinsen irgendwo zischen Zorn und Wut. Und das, obwohl ich mir mit dieser Antwort so viel Mühe gegeben und sie außerdem noch mit einem perfekt umgesetzten sowie ideal ausgewogenen Mimikspiel untermalt hatte, das sich auf der emotionalen Farbskala exakt in der Nachbarschaft von verblüfft und unschuldig finden lässt.

»Ich habe es dir schon einmal gesagt«, zischt er mich blutig an. »Wage es nie wieder, mich zu bestehlen!«

»Wie soll ich dir denn etwas stehlen, das dir noch nicht mal gehört?«, antworte ich jetzt ausnahmsweise ganz direkt. »Aber wenn’s dir hilft, versprech ich’s dir halt.« Und dabei kreuze ich noch nicht einmal meine Finger. Denn die sind ja schließlich damit beschäftigt, die Kleine zu halten.

Wieder ist da sein beißender Blick. Ein Lachen, getränkt in Boshaftigkeit. Von ganzem Herzen grausam. »Oh, glaub mir. Ich schwöre dir sogar, dass du das nie wieder tun wirst.«

Mit einer leicht arroganten Kostprobe seiner durchaus beachtlichen Kraft, zieht er mich kurz zu sich hinauf und flüstert mir dort etwas ins Ohr: »Verlass dich drauf!«

Ich verstehe gar nicht, wieso er sich so aufregt! Mein Plan hat doch sowieso nicht funktioniert!

»Dein permanenter Ungehorsam könnte mich eines Tages meinen Schlaf rauben. Und du weißt wie wichtig mir mein Schlaf ist.« Dann grinst Mikkeal kurz und lässt los.

Als ich zwischen den gemauerten Fassaden am Boden der Straßenschlucht in einer Gasse erwache, liegt sie weinend neben mir. Und dass sie weint, ist ja eigentlich schon mal ein gutes Lebenszeichen. Glaube ich zumindest. Ich habe keine Ahnung wie tief wir jetzt genau gefallen sind, aber anscheinend war der Weg nach unten immerhin so lang, dass ich im Verlauf des freien Falls bei der exakten Meterzahl durcheinander kommen konnte. Aber Zählen war auch noch nie so mein Ding. Ich schlage die Augen auf. Schutt bröselt über meine Wimpern. Das Haus, auf dem wir gerade noch im abendlichen Wind der Küstenmetropole standen, ragt wie eine brennende Fackel neben mir in den Himmel. Lodernde Flammen schlagen genüsslich weit oben aus den Fenstern und lassen ganze Schwärme von Funken knisternd zu den Sternen aufsteigen. Das kleine Mädchen sieht mich mit seinen großen Augen an. Erst als ich ihr zulächle verschwindet dieser Nebel aus Angst, der sich auf ihr Gesicht gelegt hat. Ich erhebe mich aus den Trümmern und will sie gerade auf meine Arme nehmen, da passiert es. Eine plötzliche Müdigkeit überfällt mich ganz fies aus dem Hinterhalt meiner eigenen Selbstsicherheit. Sie schießt förmlich durch meine Adern. Meine Wunden füllen sich mit Blut. Schockiert sehe ich, wie es dick und rot an mir herabfließt. Mein Blick verschwimmt. Ist das …?

»Schmerz«, antwortet mir eine kalte Stimme. »Erinnerst du dich an ihn?«

Fast muss ich ein wenig lachen. Ein merkwürdiges Gefühl, dieser Schmerz. Er hat etwas von Heimat. Ich wanke, verliere die Balance. Machtlos breche ich zusammen. Widerstandslos liege ich da.

Er kniet sich zu mir und sieht mir in die Augen. »Verstehst du, was gerade passiert?«

Nein, tue ich nicht.

»Du gehst nicht wie sonst von einem Leben zum nächsten. Du stirbst.«

So richtig?! Verflixt! Das ist mir ja noch nie passiert!

»Und kannst du dir vorstellen, was ich mich frage?«

Kann ich nicht. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass er sich seine Frage sowieso wieder selbst beantwortet. Also ignoriere ich ihn gekonnt und ärgere mich weiter, denn mich hier einfach so sterben zu lassen finde ich schon sehr übertrieben!

»Das Schlimmste für einen Menschen ist der Tod, was ist dann wohl für dich die schlimmste Strafe?«

Wieso ich zittere kann ich nicht genau sagen, aber das ist ja auch egal. Verständnislos starre ich ihm mitten in seinen beängstigend entschlossenen Blick.

»Sieh dich an. Bewundere noch ein letztes Mal dieses magische Geschöpf, das du dank mir und der Hasken warst, denn morgen wirst du erwachen und sein wie jene, die du so verachtest. Du wirst nie wieder zurückkehren, sondern verdammt sein, bis ans Ende der Ewigkeit unter ihnen zu wandeln. Immer und immer wieder. Ich nehme dir den wahren Tod, die letzte Fähre in unseren Himmel wird für dich nicht mehr kommen. Bei allen Mächten verdamme ich dich zum ewigen Leben.«

Fassungslos sehe ich ihn an. Auf der Suche nach einem letzten Funken Gnade huscht mein Blick über seine kalten Gesichtszüge. Doch er sucht vergeblich.

»Und ich werde dir noch etwas nehmen. Du wirst vergessen. Am Anfang wird es ganz langsam beginnen, doch irgendwann wirst du sein wie ein Mensch und nicht einmal mehr wissen, dass es ein Leben vor diesem gegeben hat.« Er streichelt der schockiert und starr auf mich blickenden Kleinen schmunzelnd über die dunklen, glatten Haare. »Und vor Allem wirst du aufwachen und dich nicht mehr an sie erinnern können.« Erst jetzt scheint sein diabolischer Blick zufriedene Vollendung gefunden zu haben. Und diese genießt er. »Nach Tausenden von Jahren wird eure Geschichte zu Ende gehen. Du wirst verloren sein, wie so viele da draußen, die verzweifeln und zerbrechen. Einfach nur weil sie nicht mehr wissen, wonach sie suchen sollten. Und es wird mir eine Freude sein, dir dabei zuzusehen, wie du Jahr für Jahr mehr zugrunde gehst.«

Jeder Macht beraubt liege ich da und kann ihm nur dabei zusehen, wie er sich gemütlich erhebt.

»Schlaf gut, Nanuk. Schlaf gut, mein kleiner Mensch« Lächelnd schnippt er seine qualmende Zigarette zur Seite.

Was für eine bodenlose Frechheit mich als Mensch zu beschimpfen! Doch ein gewiefter Konter fällt mir schwer. Schon komisch. Durch all die Zeiten hatte mich meine grenzenlose Macht an jeden Ort gebracht, an den ich wollte, und nun verweigert mir mein Körper sogar die kleinste Rührung. Er zittert, bebt, verblutet, und dies alles, ohne mich zu fragen. Ich werde nirgends mehr hingehen. Das ist es wohl, was er mir mit diesem erbärmlichen Verhalten sagen möchte. In meinem zerschmetterten Körper reichen die Kräfte nicht einmal mehr aus, um mir das Blut wegzuwischen, das über meine Wangen auf den schwarzen Teer fließt. Das kleine Mädchen reist sich aus den Händen des Fremden los, stürmt auf mich zu, kniet weinend über mir. Ihre kleinen Hände rütteln an meinem Körper. Sie schluchzt, und ich frage mich, wieso sie all das tut. Es gebe jetzt echt wichtigeres zu tun! Ich habe das spontane Verlangen wenigstens diese nervige Strähne aus meinem Gesicht zu bekommen, die mich permanent zwischen den Augenlidern kitzelt, aber ich bin machtlos. Meine Frisur werde ich heute wohl eher nicht mehr hinbekommen können. Ich werde sterben und das noch nicht einmal auf dem Zenit meiner vollen Pracht. Die Menschen hatten Recht. Das Leben ist einfach nicht fair. Der Tod aber wohl dummerweise auch nicht. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, die Kleine könnte auch einfach aufgrund meiner just gescheiterten Fünfjahresplanung weinen. Das wäre natürlich unschön. Und auch ein Beleg dafür, dass es mir wohl tatsächlich aktuell so gar nicht optimal geht. Ich meine, ich habe ja keine Ahnung. Immerhin sterbe ich hier zum ersten Mal so richtig. Mist! Jetzt, wo mir das so klar wird, kommt in mir ein klitzekleines bisschen Unruhe auf. Und zwar diese Art von Unruhe, die einen panisch macht. So panisch, dass man wild um sich schaut und hilflos nach allem und nichts greift. Auf der Suche nach einem winzigen Funken Hoffnung oder dem letzten Strohhalm. Was auch immer einem gerade den Tag retten kann. Ihre angstgetränkten Tränen vermischen sich mit meinem Blut, es klebt an ihren Händen, und auch wenn da immer noch das Problem mit der Panik in der Luft liegt und obwohl ich dies niemals zugeben werden kann, fühlt es sich furchtbar schön an, dass es jemanden gibt, der um mich trauert. Nur panisch und weinend auf meinen Brustkorb einschlagen müsste sie jetzt nicht unbedingt.

Mikkeal sieht eine Weile zu. Als er es aufgibt, das Mädchen verstehen zu wollen, zieht er seine Hände aus den Manteltaschen, packt die Kleine und zerrt sie weg. Hinter sich her in die Welt der Schatten. Es ist vorbei. Ich könnte schreien und um mich schlagen, aber es geht nicht. In meiner Verzweiflung sehe ich mich um. Immer noch versuche ich, irgendetwas zu finden, das mich retten könnte. Doch so etwas gibt es nicht. Als ich das begreife, fällt mein Arm leblos auf den Teer. Mein Atem wird schwächer. Er flüchtet vor mir. So als wolle er nicht zusehen müssen, wie es zu Ende geht. Mein Körper ergibt sich, und mir kullert eine Träne über die Wange. Eine einzige lächerliche Träne für alles, was ich gerade verliere.

Zwei kleine, tränengeflutete Augen, die von einer verschwimmenden Gestalt fortgezogen werden, fangen meinen verzweifelten Blick ein. Aus den Tiefen der Kapuze des viel zu großen Mantels, in den ich die Kleine für unsere Flucht in die kalte Nacht gewickelt habe, mogeln sie sich hindurch und sehen mich tieftraurig an. Erfüllt von blanker Furcht. Vorwurfsvoll. So, als wollten sie mich mit der Frage anschreien, wieso ich nicht jenen aufhalte, der sie da gerade davonzerrt. Es ist merkwürdig. Ich habe sicherlich so ziemlich alles gesehen. Das absolut freudegeladene Kichern eines Kindes, genauso wie Hass, der so tief schien, dass man komplett darin verloren gehen konnte. Jede Emotion, zu der diese seltsamen Menschen fähig sind. Aber nie einen so verzweifelten, verlorenen Blick wie diesen. Es gibt sicherlich viele, die daran zweifeln, dass ich so etwas wie ein Herz habe. Doch ich bin mir sicher, sollte da tatsächlich eines in mir stecken, würde es heute zerbrechen und aufhören zu schlagen. Genau hier. Genau jetzt.

Kapitel 1

Es lebe das Leben!

Irgendwann müssen wir alle bezahlen. Und so bekam auch ich meine Rechnung: Ich wurde zum Leben verdammt. Einem ewigen Leben. Der Tod hatte zwar auch mich bereits unzählige Male heimgesucht, zumindest meinen Körper, doch meine Seele war stets weitergewandert. So wie das nun einmal läuft in dieser Welt. Übrigens auch bei euch Menschen, nur mit dem Unterschied, dass wir von meinem Volk uns an unsere vorherigen Leben erinnern können. Für uns ist es ganz selbstverständlich vergangene Erfahrungen in neue Existenzen mitnehmen und Wissen anzuhäufen. Wir beherrschen es dank diesem Geschenk Fähigkeiten in einem Maß zu perfektionieren, wie es euch niemals vergönnt sein wird. Wenn unser Körper vergeht, lebt unsere Seele in einem anderen weiter. Immer und immer wieder. Bis wir in dieser Welt die Aufgabe erfüllt haben, für die man uns einst her geschickt hatte. So verdienen wir uns eine Fahrt mit dem Fährmann und unserem Geist die letzte Ruhe. Eure Seele dagegen vergisst einfach und beginnt ein fürs andere Mal von neuem. Ohne Ziel, ohne Sinn, ohne zu wissen, was überhaupt euer Schicksal auf dieser Welt sein mag.

Und mit solch einer armseligen Zukunft wurde jetzt auch ich bestraft. Mein Geist wird verwelken. Manchmal bemerke ich jetzt schon, wie er beginnt zu vergessen. Eines Tages werde ich genauso ahnungslos und ohne Orientierung auf dieser Erde herumirren wie ihr. Ich werde meine Aufgabe nie beenden können, weil ich eines Tages nicht mehr wissen werde, wieso ich eigentlich hier bin und damit werde ich auch niemals die letzte Ruhe finden. Das ist eine Katastrophe, zudem eine Frechheit mir gegenüber und alles in allem eine Strafe, die man ernst nehmen sollte.

Aber nicht jetzt. Denn jetzt habe ich erst mal ein ganz anderes Problem. Völlig hilflos versuche ich schon so lange, meinen Blick aus dem Bann dieser Person zu retten, dass mich bereits die Angst beschleicht, in der Zwischenzeit könnten alle Uhren dieser Welt stehen geblieben sein. Ich sehe tagesaktuell bestimmt ziemlich unprofessionell aus, wie ich sie so wehrlos anstarre. Diese verflixte Tänzerin schafft es irgendwie mich in einen kleinen, rundum hilflosen Jungen zu verwandeln!

Kennen Sie das Gefühl, das einen erfasst, wenn einem eine wunderschöne Frau direkt, zentriert und völlig absichtlich in die Augen sieht? Ganz schön gemein, oder? So, und nun stellen Sie sich aber noch vor, dass Ihnen diese schwarzhaarige, mediterran dunkel gebräunte und extrem leicht bekleidete Schönheit jetzt auch noch zu allem Überfluss zugelächelt hat! Und zwar während sie auf einem hohen Podest um eine glänzende Stange kreiselt. So wie ein Planet auf seiner Umlaufbahn. Mann, oh Mann. Wäre der arme Pluto so wunderschön wie sie, hätte ihn auch garantiert niemand zum Zwergplaneten runtergestuft. Außerdem sollte man nicht den Anblick vernachlässigen, den ihr langes, schwarzes Haar bietet, während es durch die Luft peitscht, kurz bevor sie eine irrsinnige Welle durch ihren Körper tanzen lässt. Angefangen bei ihren formvollendeten nackten Beinen, die sich aus einer gefährlich breiten Hocke aufrichten, bis über ihren straffen, flachen Bauch, mit dem sie ganz kurz prickelnd an der Stange reibt, während ihre feinen Finger daran hinabgleiten. Verführerisch wirft sie ihren Kopf in den Nacken, ihr Haar fällt genüsslich herab und streicht dabei über ihren Rücken und ihre Schultern. In einem zeitlosen Fall aus Musik und Ekstase. Einem Traum von Tanz, in dem sie mit jeder Faser ihres unfassbaren Körpers versinkt. So sehr, dass sie nichts anderes mehr wahrnimmt. Nicht die sabbernden Schlipsträger, die vor ihr mit den Scheinen wedeln, gierig lächeln und sich schon überlegen, wo genau sie die Scheine reinstecken werden. Nicht die vielen Ehemänner, die allesamt versuchen, sich nicht versehentlich in sie zu verlieben und auch nicht die dazugehörigen Ehefrauen, die hoffnungslos auch nur den kleinsten Makel an ihr suchen, um die nächsten Wochen ihre Selbstzweifel damit zumindest ansatzweise unterdrücken zu können. Ein betrunkener Anzugträger klettert zu ihr auf die Säule und versucht, sie anzufassen. Es scheint, als bemerke sie nicht einmal ihn, so sehr verschwindet sie in der Musik.

Dann sieht sie ihn lasziv an, lässt einen Finger über sein Hemd nach unten gleiten, dreht sich in seine Arme und noch als ihr Haar ihm die Sicht raubt, trifft ihn mit dem nächsten Takt ein so gezielter kleiner Stups aus ihrer Hüfte, dass er urplötzlich zwischen zerbrechenden Tischen und fallenden Stühlen in der Schlucht, jenseits ihrer kreisrunden Bühne, verschwunden ist. Na gut. Sie hat ihn wohl doch bemerkt.

Mit sanften Bewegungen, bei denen ich mir wünsche, die Stange zu sein, versinkt sie in der Musik, verschwindet darin. Sie sprüht geradezu vor Magie. Würde jetzt ein Regen aus Sternenstaub auf sie herniedergehen, ich würde es glatt glauben. Kurz gesagt: Sie verzaubert die Welt. Und mich gleich mit.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich das Leben liebe? Ja, ich weiß! Es ist mein ganz persönliches Straflager, und auch wenn es mir gelegentlich so vorkommt, als hätte ich bereits so manche Gedächtnislücke, habe ich nicht vergessen, dass ich hier bin, um zu büßen. Aber ich komme einfach nicht dazu! Es gibt so viel zu staunen, so viel Faszinierendes, das mich fesselt. Ein Meer aus Schönheit und euphorischen Gründen, Tag und Nacht mit einem Schmunzeln auf den Lippen über diese wundervolle Erde zu wandeln. Wie schön es ist, barfuß mit einem Glas Wein über warmen Sand zu schlendern. Ja, zugegeben. Der besagte Sand liegt heute noch im Stadtpark, was häufig zu schmerzhaften Zusammenstößen mit der örtlichen Rentner-Boule-Gang führt. Und auch der Wein ist meist lediglich die Art und Weise der alten Pensionsbouler, sich für die Quetschungen und blauen Flecke zu entschuldigen, zu denen es bei unseren Kollisionen immer mal kommt. ABER eines Tages wird der Sand unter meinen nackten Füßen zu dem Strand eines Ozeans gehören, der Wein wird nach jener Sonne schmecken, die mich blinzeln lässt, meine Wohnung, in einem alten Wintergarten über den Dächern der Stadt, wird einer Hütte auf den Dünen einer Küste gewichen sein und die Fünfminutentiefkühlpizza wird ein Gericht sein, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Was für ein wunderschöner und magischer Ort es doch ist, den die Menschen Leben nennen!

»Und wer sind Sie?«

»Fibbes Klee, 32 Jahre alt und ich bin einer der Imageberater, der Sie und Ihr Unternehmen aus dem letzten Skandal rausgeboxt hat. Und übrigens wurde jener Skandal durch genau solche Tänzerinnen ausgelöst, wie die hier an den Stangen, Sie Depp.«, möchte ich ursprünglich antworten, habe aber Angst, das könnte der Kerl vor mir falsch, beziehungsweise richtig verstehen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob meine Agentur schon bezahlt wurde, deswegen baue ich meine Antwort ganz spontan um.

»Fibbes Klee«, fasse ich mich kurz, um schnurstracks aus einer möglichen Vertiefung dieses Gesprächs herauszuklettern und weiter mit meinen Augen der Tänzerin folgen zu können.

»Tja, tut mir leid, dann werden Sie das Mädchen da oben wohl nicht kriegen«, lacht er und nimmt dabei lässig einen Schluck aus seinem Whiskyglas. Dieses scheint allerdings nicht mehr ganz so voll zu sein wie er selbst, was ich nach einem Atemzug aus seiner Fahne schließe. Die weht nämlich schon jetzt weit über Halbmast.

»Solche Frauen stehen grundsätzlich nur auf die Top-Liga. Also eher nicht auf Sie. Ich meine, ich kenne ja noch nicht mal Ihren Namen.« Ob das wohl der richtige Zeitpunkt wäre, ihm zu sagen, dass seine Frau das offensichtlich anders sieht? Lieber nicht. Genauso eine unüberlegte Bemerkung und die Antwort auf die Frage, ob das mein Auto wäre, haben immerhin schon mal dazu geführt, dass der besagte Porsche wohl nie wieder durch den TÜV kommen wird. Zumindest nicht als Auto. Na ja, zum Glück war’s nicht meiner. Muss mich wohl irgendwie im Nummernschild geirrt haben. Und weil ich den Vertreter der Chefetage vor mir immer noch nicht so beeindruckt oder demütig ansehe, wie er sich das wünscht, wird er deutlicher.

»Sie wissen schon … Solche Frauen stehen auf Typen, die sie auch bezahlen können.«

»Sind Sie sicher?« Ich sehe ihn immer noch nicht an. Meine Frage beantwortet er mir aber freundlicherweise trotzdem.

»Natürlich, Kleiner! Ich würde meine Frau UND meine Freundin darauf verwetten!« Sein Lachen wirkt großspurig. Aber nur kurz. Eigentlich genau bis zu dem Moment, in dem ich mein Glas abstelle und sage: »Abgemacht.« Grinsend drehe ich mich weg, stelle mein Glas ab und steuere auf die Tänzerin zu, während ich mich verzweifelt frage, was ich da schon wieder anstelle. Todesmutig schlängele ich mich, wie einer dieser verrückten Skifahrer beim Riesenslalom, durch die betrunkenen Managermassen, stehe vor dem Podest und reiche der Schönen meine Hand. Und zwar bevor ich Zeit habe, zu viel Angst zu bekommen, um meine wagemutige Talfahrt zu beenden. Spätestens jetzt verstummt der Letzte. Mein Herz dreht durch, weil die Aktion, wenn man mal ganz ehrlich ist, genug Potenzial hat, genauso kolossal in die Hose zu gehen, wie damals der Versuch der Titanic, diesen Eisberg aus dem Weg zu rammen. Aber mal unter uns – macht nicht genau dieses Herzrasen das Leben aus? Ist es nicht dieser letzte Augenblick, bevor sich der Fallschirm öffnet, der dem Leben seinen unbeschreiblichen Wert verleiht? Ich finde schon. Zumindest, solange sich dieser metaphorische Fallschirm auch wirklich öffnet. Verdutzt betrachtet mich die Tänzerin mitsamt meiner ausgestreckten Hand. Eine unglaublich beängstigende Stille ergreift den Raum, ich überlege mir schon mal einen Namen für meine neue Identität, doch dann lächelt sie mich an, nimmt meine Hand, steigt von der Säule und zerrt mich hinter sich durch die amüsiert johlende Menschenmenge.

Es ist 01:34 Uhr. Dutzende an den hohen Wänden rotierende Scheinwerfer tränken die drei Ebenen des Clubs in sämtliche Neontöne des Farbkreises. Ich bin hier, die faszinierende Tänzerin auch. Das Leben explodiert um uns herum, während die Fremde mich hinter sich herzerrt. Verzerrte Stimmen, wummernder Bass und kreischende Gitarren wechseln sich mit laszivem R’n’B ab und ziehen verschwitzte, aber übers ganze Gesicht strahlende Menschen auf die verschiedenen Tanzflächen, während wir zwei uns auf einer Ebene weit über der zappelnden Masse durch einen weiteren Pulk Partyvolk schlängeln.

»Siehst du irgendwo einen freien Platz?«, fragt sie.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schiele über den Teppich aus Köpfen hinweg. »Jap! Da hinten!« Mit einer Hand ziele ich noch auf den besagten Fleck, da schleift sie mich schon wieder quer durch den Laden, und kurz darauf finde ich mich neben ihr auf einer schwarzen Ledercouch wieder, mit Ausblick auf die Tanzfläche ein Geschoss unter uns. Und wer hätte das gedacht? Diese Frau ist einfach umwerfend! Gut, dass wir sitzen! Ich erzähle ihr, wie froh ich bin, dass sie mich nicht einfach hat stehen lassen, als ich ihr die Hand gereicht habe, da ich sonst meinen Namen hätte ändern müssen und dass obwohl ich mir gerade erst diesen so richtig merken kann. Sie lacht und schlägt Namen vor, bei denen ich noch nicht mal weiß, wie man sie schreibt. Inzwischen lehnt sie sich neben der Couchlehne auch an mich. Ich habe in einer verdeckten Operation meinen Arm um sie gelegt, was ihr bisher weder miss- oder vielleicht auch einfach nur nicht aufgefallen ist. Wegen der lauten Musik verstehe ich zwar leider meistens nicht, was sie sagt, aber ich nicke in regelmäßigen Abständen und sie kichert laut. Wahrscheinlich über mich. Wer weiß, was ich da gerade alles abnicke. Sie geht in ihrem wunderschönen Lachen auf, und ich hoffe, dass uns genau heute die Zeitumstellung eine Stunde mehr schenkt, weil ich einfach nicht genug davon bekommen kann. Wir unterhalten uns gerade sehr angeregt über irgendwas mit vielen Vokalen, das es nur in Bruchstücken durch die Musik schafft, da kommt Anna Morris und setzt sich mit ihren Freundinnen einfach so neben mich auf die Couch. Die wasserstoffgefärbte Blondine mit dem großzügig ausgepolsterten Vorbau, vor der ich schon vor ein paar Stunden bei dieser dämlichen Betriebsfeier von Tisch zu Tisch geflüchtet bin, ist ein bisschen kleiner als ich, hat eine quietschend hohe Stimme, mit der sie jedes Mal, wenn sie mich sieht, unaufhörlich auf mich einredet, und verfügt über einen IQ, der eines Tages als neuer Tiefstand Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie werden wird. Aber das Schlimmste neben der Tatsache, dass sie keinen Ausschaltknopf hat, sind ihre Finger, die wie die Tentakel eines Kraken ständig meine Oberschenkel tätscheln müssen.

»Hey Fibbes, du auch hier?«

Fibbes bin übrigens immer noch ich. Es ist der Name, den mir die Menschen vor mehr als zwei Jahrzehnten gaben. Als ob sie mir nicht schon genug Namen gegeben hätten.

Meine Seele scheint bereits unter dem Fluch zu verfallen, an vieles kann ich mich nicht mehr erinnern, aber nach meinem Zusammenstoß mit Mikkeal begann mein neues Leben wohl in einem Waisenhaus. Zumindest bis die van Florians beschlossen, dass ihr Sohn Tim ganz dringend einen Bruder brauchte. Und irgendwann werde ich herausfinden, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen kann, ohne dass die van Florians mir augenzwinkernd sagen, ich solle die Taschentücher wegstecken und aufhören mich dafür zu bedanken, ihre Steuererleichterung sein zu dürfen.

Wie Anna also raffiniert festgestellt hat, bin ich tatsächlich ›hier‹, was sie schamlos dazu ausnutzt, mich im Fließbandtakt mit den Details ihres Lebens zu beschießen. Ich nutze die Zeit, um unter dem Deckmantel ihres Redeschwalls noch enger an meine wunderschöne Tänzerin heranzurutschen.

»Kennst du noch Vin?«, legt Anna los.

»Hm«, antworte ich euphorisch.

»Gott war das eine Pfeife! Wieso verliebe ich mich nur immer in solche Ärsche?«

»Ist das der, der dich im Auto entjungfert hat?«, frage ich Anna ein klein wenig desinteressierter als ein handelsübliches Hypnoseopfer das tun würde, weil ich glaube, so was vorhin in einer ihrer Erzähllawinen mal gehört zu haben.

»Ja genau! Mensch, endlich mal ein Mann, der zuhören kann!«, gluckst sie mir funkelnd zu. In einem Anflug von Langeweile versenke ich meinen Blick versehentlich ganz kurz in ihrem weit geöffneten Dekolleté, rette ihn dann aber blitzschnell wieder Richtung Bar und bete, dass der Clubbesitzer Anna bald rausschmeißt, weil ihre Stimme eine konkrete Gefahr für seinen gesamten Glasbestand darstellt. Doch er verwendet anscheinend überwiegend Plastikbecher.

»Na ja, eine Stelle gibt es noch zu entjungfern, für die ich mit ins Auto steigen würde …«

So! Es reicht! Ich hätte eindeutig nicht kürzlich damit anfangen sollen meine täglichen Liegestütze am Stück zu machen. Ab jetzt werde ich wieder eine Pause zwischen den beiden einlegen! Dieser gestählte Körper macht Frauen scheinbar unkontrollierbar! Meine irre Tänzerin macht übrigens auch keine Anstalten, mir aus dieser prekären Situation zu helfen, sondern genießt offensichtlich den Anblick meiner Zwickmühle, in der ich verzweifelt nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Notausgang suche. Was würde ich jetzt nur für eine ordentliche Naturkatastrophe einschließlich Zwangsevakuierung geben? Ich nehme Augenkontakt mit meiner eigentlichen Begleiterin auf und morse gezielt SOS. Dreimal kurz blinzeln. Dreimal lang und dann gleich noch dreimal kurz. Die soll mir gefälligst helfen! Ihr Territorium verteidigen! Keine Ahnung was! Frauen fällt doch da immer was Verrücktes ein! Doch von ihr kommt nur ein »Sag es«, und wieder dieses nervenraubende Grinsen. Ich überlege angestrengt. Annas Finger sind schon gefährlich nahe. Auf der Autobahn würde das sicherlich nicht mehr als Mindestabstand durchgehen. Aber Anna fährt anscheinend kein Auto.

Ich wäge ab. Zermartere mir den Kopf, kämpfe mit mir und meinem Stolz, doch dann siegt die Angst. Kurz nimmt Anna einen Schluck aus ihrem Cocktail, was ich schamlos ausnutzte, um meine fremde Tänzerin verzweifelt durch den urknallähnlichen Lärm anzuschreien. »Rette miiiich!« Sie schmunzelt in ihren Cuba Libre hinein und gönnt sich dann verschmitzt lächelnd einen großen Schluck. Ich spüre schon wieder Annas Finger, wie sie langsam von meinem Oberschenkel zur Innenseite fahren. Nein, Nein, Nein!

»Das war eigentlich ’ne ganz fantastische Idee mit dem Auto, ich hab sogar eins!«

Sie fährt also doch Auto! Sprich sie auf den Mindestabstand an! »Darfst du überhaupt noch fahren?« Guter Einwand! Den sie aber dummerweise nicht zu verstehen scheint. »Na, du hast doch schon viel zu viel getrunken«, setze ich nach, als wäre ich ein Boxer auf dem Weg zum KO.

»Ein Auto kann sich doch auch bewegen, ohne dass man damit fährt«, flüstert mir Anna ins Ohr und beugt sich dabei mit ihrem Dekolleté so weit zu mir, dass ich fast mit meiner Zunge etwas erreichen könnte, das irgendwie einer Antenne ähnelt, die gerade einen Schadensbericht an ihr durchgedrehtes Mutterschiff funkt.

Just in diesem Augenblick, fühle ich die weichen, zarten Finger von meiner unbekannten Schönen und wie sie meine Hand nehmen, woraufhin ich meinen Kopf an Annas Brüsten vorbei zu der laut lachenden Fremden umdrehe. Jener Fremden, die mich wohl wissend, dass ich eigentlich überhaupt keine Wahl mehr habe, fragt: »Wollen wir tanzen?«

»Tanzen? ICH?«, schreie ich mit stark demolierten Nerven durch das Wummern und Krachen der Musik zurück. Doch als ich Annas Finger am Bund meiner Shorts spüre, springe ich mit den Worten »Tja, was soll man machen? Damenwahl …« auf und flüchte schnellstens hinter meinem gemeinen Schutzengel in das Getümmel.

Nach einer meilenweiten Flucht durch ein Meer aus absolut hippen Typen und aufreizend mehr oder weniger angezogenen Frauen, die im Flimmerlicht irgendwie alle gleich verrückt aussehen, kommen wir endlich an.

Und zwar auf dem Schlachtfeld für coole Kerle wie mich. Was Waterloo für Napoleon war, bedeutet dieser Ort für uns. Wir stehen vor der Tanzfläche und ich mache mich bereit, sämtliches Selbstwertgefühl für fünf Dollar an der Garderobe abzugeben.

»Gib’s zu, du kennst diese Anna. Du hast gewusst, dass das passiert.« Tja, ich verbuche dieses hinterlistige Grinsen als Antwort. Unser Timing ist so perfekt, dass just in dem Augenblick, in dem wir unsere kleine Lichtung im Dschungel der Tänzer erobert haben, ein neuer Beat den alten zerreißt. Unter einem ziemlich ausgefeilten, langsamen und extrem lässigen Wummern verschiedener Bassarten mischt sich ein ganzes Netz aus perkussiven Klängen. Mit jeder Welle der Melodie tauchen die riesigen Suchscheinwerfer den sonst stockfinsteren Ozean aus tanzenden New Yorkern abwechselnd in kaltes Neonblau und in warmes und verschwommenes Dunkelrot. Wieder einmal auf der Suche nach einem Ausweg sehe ich plötzlich, wie sich die schöne Fremde ohne Vorwarnung mit einem Schwung zu mir umdreht und sich in schwebendem Gang auf mich zu bewegt. Wie angewurzelt rage ich zwischen all den Hyperaktiven in die Höhe, aber auch ich kapiere, dass es jetzt losgeht. Komm schon, lass dir was einfallen! Lässig mache ich abwechselnd einen Schritt nach rechts, dann nach links und zucke dabei mit den Schultern, bis es mich an einen epileptischen Anfall erinnert, den ich einmal im Bus gesehen habe. Aber ich bleibe natürlich im Takt. Sie kommt lächelnd auf mich zugetänzelt. Jetzt nur nicht die Coolness verlieren! Der Song weht über die Tanzfläche und ich erkenne ihn sofort als die durch Techno vorgenommene Vergewaltigung eines Rockklassikers. Die Fremde dreht sich leichtfüßig wie eine Ballerina. Ich mache es ihr mit einer an Schwermetall erinnernden Eleganz nach. Mit beiden Armen in die Höhe gestreckt und ihrem Rücken an meinem Oberkörper wiegt sie sich sanft vor mir. Oder besser gesagt an mir. Mann! Kann die nicht alleine tanzen? Was glaubt denn die, wofür man den Lapdance erfunden hat? Das war sicher kein Einfall der Stuhlbauindustrie, sondern der Trick eines findigen Mannes. Sie kann tanzen, er dasitzen, zugucken, und alle sind glücklich. Sogar die Stuhlbauindustrie, denke ich mir leicht überfordert und verwechsle dabei rechts mit links, weswegen meine ausgefeilte Choreografie ganz kurz ins Stocken gerät und damit in wilde Improvisation ausartet, wobei ich mir bei einem Kick den Knöchel verstauche. Ich hätte sie an der Stange stehen lassen sollen! Aus heiterem Himmel, ohne mir Zeit zu lassen, Angst zu bekommen, bleibt sie mit dem Taktschlag auf einmal vor mir stehen. Ich freue mich. Zünde innerlich das Feuerwerk an. Alles sieht danach aus, als wäre dieses Debakel endlich geschafft, doch mit dem nächstbesten rhythmischen Ansatz einer Melodie legt sie mir grinsend einen Arm um den Hals und mit dem folgenden Schlag die verbleibende Hand auf die Brust.

»Mach’s mir einfach nach und leg deine Arme hier hin.«

Ja, genau. ›Hier‹ bedeutet in diesem Fall, wenn man die Lage ganz neutral bewertet, auf ihren Po. Ich kann doch nicht einfach …? Während die Fremde in meinen Händen irgendwelche gefährlichen Kunststücke vollführt, mit denen ihre Krankenversicherung bestimmt nicht einverstanden wäre, sehe ich mich kurz um und begebe mich auf die Suche nach jemandem, der mich bei dieser gesellschaftlich strittigen Berührung sehen und moralisch verurteilen könnte. Den gibt es nicht, also gehorche ich ihr. Als wäre meine Berührung der An-Knopf dreht sie sich urplötzlich und ohne Frühwarnzeichen um, steht damit dann auch direkt vor mir, grinst mich an, und dann wird alles aufgefahren, was in diesen Breitengraden nach zweiundzwanzig Uhr im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt werden darf. Ihre Finger wandern über meinen Hosenbund, ich hoffe, auf der Suche nach der Gesäßtasche meiner Jeans. Sie streicht grinsend mit ihrem Finger über mein Kinn, berührt fast meine Wange mit ihren Lippen, dreht sich blitzschnell, ihr langes Haar peitscht mir ins Gesicht, ein Regen aus Schweißperlen donnert mir entgegen wie eine Sturmflut auf hoher See. Ihr Schritt reibt so gezielt an meinem Oberschenkel und anderen Körperteilen, dass die Garantie für meine Hose augenblicklich verfällt. Sie streckt ihre Arme den Scheinwerfern entgegen und ihre Hände streichen zärtlich aneinander, während ihr Rücken mich weiter berührt und mein Kardiologe mir spätestens jetzt eine Pause verschreiben oder selbst kollabieren würde. Als sie sich strahlend in einer Art Pirouette zu mir umdreht, stelle ich fest mich nicht daran erinnern zu können jemals einen Mensch gesehen zu haben, dem es so dermaßen Spaß macht hinter irgendwelchen Rhythmen herzutanzen. Lachend amüsiert sie sich über meinen überforderten Gesamteindruck, legt mir schließlich ihre Arme um den Hals und kommt so dicht an mich heran, bis ihr Körper an all den strategisch wichtigen Punkten auf meinem liegt und mich, auf erschreckend wehrlose Weise, in ein musikalisch passendes Bewegungsmuster manövrieren kann. Sie lächelt mir bezaubernd entgegen. Irgendwie stolz, lebensfroh, in voller Erhabenheit und warmherzig, wie die Sonne selbst. Und selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht viel dagegen tun, als ihr einfach zu folgen, während sie zu den Klängen tanzt, als wäre sie ein Blatt und die Musik der Wind, der sie völlig selbstverständlich herumwirbelt.

Gemächlich klettert die orange glühende Sonne über den weit entfernten Horizont. Ihre Strahlen zerfallen in tausende glitzernde Funken auf den Wellen des Ozeans, sie wärmen den Strand, tasten sich über Grashalme, Dünen, versandete Küstenstraßen und schließlich durch Häuserschluchten und gläserne Fassaden. Sie klettern an den Fassaden der zahllosen Gebäude empor und kriechen durch die im Morgenwind wehenden Vorhänge, über das weiche Bett und kitzeln mich an der Nase. Ich blinzle, gähne und strecke mich. So wie es aussieht, wache ich in einem riesigen weißen Hotelbett auf. Ohne sie. Aber dafür mit einem Namen auf meinem Unterarm. Und ich wünschte, ich hätte auch nur eine von jenen Sekunden mitbekommen, in denen ich geschlafen habe.

Ihr Kopf beugte sich über Fibbes, als er schlief. Eilig strich sie ihr langes, schwarzes Haar hinters Ohr, kurz bevor es ihr ins Gesicht und ihm, mitsamt der Gefahr ihn zu wecken, auf die Wangen fallen konnte. Dann streichelte sie sanft sein Haar und seine stoppelige Wange, so wie sie es schon oft getan hatte. Sie gab ihm einen Kuss. Einen langen Kuss voller Sehnsucht und Wärme, und flüsterte dann mit ihrer weichen Stimme:

»Es tut mir leid, Nanuk.«

Kapitel 2

Der Ruf zur Jagd

Wir kommen wie ein gewaltiger Sturm. Ein Sturm fragt nicht, weder droht noch verhandelt er. Wenn die Zeit gekommen ist, zieht er einfach herauf. Unbändig und ungnädig. Er sucht sich seinen Weg und geht ihn, verwüstet, zerstört und hinterlässt Leid und Schmerz, ohne sich dafür zu entschuldigen, ohne die Notwendigkeit einer solchen Entschuldigung überhaupt zu kennen. Wir sind dieser Sturm. Und wir sind auf dem Weg.

Ich liege im Sand. Die Nacht hängt dunkel und schwer über uns und doch ist er immer noch warm. Vorsichtig lugen wir über die Düne. Sie ist nach einer endlosen kargen und staubigen Wüste die letzte Erhebung vor einer großen, flachen Ebene. Vorsichtig krame ich die Mappe aus meinem Mantel, falte sie auf und suche darin im Mondlicht mich und meine Düne. Mit einem Fernglas spähe ich auf die Ebene vor mir. Sie hatten Recht. Es liegen ungefähr achthundert Meter vor uns bis zu den ersten Häusern, der eingekesselten und geschundenen Stadt. Achthundert Schritte im Sprint. Achthundert Möglichkeiten zu sterben. Wenige Minuten später laufen wir diese achthundert Schritte. Geradewegs hinweg über die große Fläche. Schnell und leise. Von all den Dünen, um die Fläche herum, starten kleine Gestalten und stürmen los. Es müssen einige Hundert sein. Sie alle sind schwarz verhüllt in Schleier und Tücher. Ihre dunklen Kampfwesten sind gefüllt mit Munition und ihre Herzen voller Hass. Die Waffen geladen und entsichert, die schwarzen Fahnen wehen im Wind. Knappe sechshundert Meter vor dem ersten Stacheldraht heulen plötzlich die Sirenen los. Das erste Viertel der eingeschlossenen Stadt erwacht. Lichter werden entzündet. Auf einmal erkennt man die provisorischen Wachtürme, die Lagerhäuser. Blasse Schatten mit einer Ähnlichkeit zu Menschen wuseln umher. Schreie kämpfen sich uns entgegen, und Scheinwerfer tasten mit ihren leuchtenden Lichtkegeln in der kargen, sandigen Ebene nach uns. Das ist das Signal. Kurz bevor sie uns erfassen können, beginnt der Donner. Die Mörsergranaten regnen aus dem sternenbesetzten Himmel und schlagen ein, wie Kometen aus einer anderen Welt. Die Erde erzittert, sodass ich im Spurt fast stürze. Ich rudere mit den Armen, ertaste kurz den Boden und fange mich wieder. Einer der Blitze flackert auf und macht das Meer aus Angreifern sichtbar. Den Bruchteil einer Sekunde später herrscht erneut die Dunkelheit. Flammen schlagen aus den zerschossenen Häusern, einer der Wachtürme steht in Brand. Lodernde Gestalten schreien vor Schmerz, eine menschliche Fackel versucht aus dem Turm zu klettern und stürzt dabei in den Tod. Der Wind zischt an mir vorbei. Aber nicht nur er. Sie beginnen, sich zu wehren. Immer mehr der kleinen Maschinengewehrfeuer blitzen hinter den Sandsackbunkern auf und mit ihnen zischen uns die Kugeln entgegen. Inzwischen höre ich auch hinter mir die Schreie von Sterbenden, aber ich sehe nicht zurück. Ich renne noch schneller. Hinein in den Lärm, hinein in das Feuer und die Todesschreie.

Keuchend kauere ich hinter dem brennenden Fahrzeug. Der Jeep hatte sich uns mit seinem schweren Maschinengewehr entgegengestellt. Mutig und dumm. Sein Gegenfeuer erlosch mit der Rakete, die ihn in tausend Stücke zerfetzte. Einen weißen Schweif hinter sich herziehend, war sie über das stürmende und brüllende Feld gedonnert.

Inzwischen sitze ich hier und schiele an dem Wrack vorbei in die Straße vor mir. Meine Gruppe wird gleich bei mir sein. Zumindest, was von ihr übrig ist. Als wir alle zusammen sind, beginnt der Untergang. Viele ziehen ihre Messer. Wir klettern über den letzten Rest des Stacheldrahtzauns. Wir schreien. Brüllen ihnen unseren Zorn entgegen. Manche kommen auf uns zu, ohne uns zu erkennen und sterben wie ahnungslose Lämmer auf der Schlachtbank. Ihr Blut tränkt den Sand. Granaten werden in die Fenster geworfen. Sie zerfetzen jeden im Gebäude und scheuchen den Rest zu uns hinaus, hinein in ein Kreuzfeuer, das sie alle zerhackt. Wie durchsiebt verbluten sie zu unseren Füßen. Alte, Junge, Frauen. Dieses Mal sind wenige Kinder unter ihnen. Wir richten und lynchen, wie er es uns aufgetragen hat. Es ist niemand mehr da, der sie retten könnte. Mit aufgeschlitzten Kehlen und zerfetzten Körpern liegen die letzten Soldaten zusammengesackt in ihren Krähennestern. Der letzte starb umzingelt mit erhobenen Händen im Kugelhagel. Die Krankenschwestern flehen und betteln um ihr Leben, doch die langen Messer beenden diese armseligen Versuche.

Ich trete eine weitere Türe auf, nachdem ich sie mit Kugeln zerschossen habe. Mein Stiefel knallt dagegen und sie bricht auf. Hinter ihr verblutet eine der Krankenschwestern. Eine zweite schleppt sich kreischend über den Boden. Ihre Beine sind von meinen Kugeln zerrissen. Sie zerrt sie hinter sich her, als wären sie Ballast. Sie sieht mich, weint und schreit, aber nicht lange. Als sie tot am Boden liegt, höre ich im Nebenzimmer ein Geräusch. Ich ziele durch die offene Tür, doch zu spät. Eine Gestalt huscht hinter dem Türrahmen vorbei, bevor die Kugeln treffen können. Stattdessen schlagen sie staubig in die Lehmwand. Ein Mann. Er sah alt aus. Graue Haare, leicht humpelnder Gang. Er wird nicht weit kommen. Schnell haste ich ihm nach. Mit dem Gewehr im Anschlag dringe ich in den Raum ein. Ich sehe die Tür, die er auf seinem Weg offen stehen lassen hat und starte schnell ins nächste Zimmer. Vorsichtig taste ich mit der Kimme im Korn den Raum ab, bis ich ihn höre. Leise wimmernd. Langsam schreite ich auf seine Stimme zu. Um ein Eck herum, durch eine weitere, offene Tür und einen Flur. Dann sehe ich ihn. Er sitzt auf seinen Knien. In einer Sackgasse.

Zitternd und mit flüsternder Stimme kauert er in einem backsteingemauerten Treppenhaus, von dessen Wänden der Putz auf die schweren Treppenschwellen bröckelt. Eine Granate muss in den Empfangsbereich des Erdgeschosses eingeschlagen sein. Außer den zersplitterten Resten ist von dem Schreibtisch und den Schränken nicht viel übrig geblieben. Er sitzt umzingelt von Schutt und Schrott in der Verwüstung. Ein alter Mann, wie ich es mir dachte. Sein Haar, in das sich allmählich ein reines Grau mischt, scheint wild und zerzaust. Er sieht mich nicht an, sondern schielt ängstlich und kümmerlich mit zusammengepressten Augen hinter seinen gefalteten Händen zu Boden und betet. Soll er doch zu seinem falschen Gott beten. Meine schweren Stiefel poltern in gemütlichen Schritten auf ihn zu. Ich sichere die alte Kalaschnikow, lasse sie an ihrem Gurt vor meiner Brust hängen und ziehe die geschwungene Klinge. Es ist schnell zu Ende. Der Hieb zum Hals ist rasch und gezielt. Auf der Hälfte ihres Weges greift der alte Mann plötzlich nach einem Holzstuhl auf seiner linken Seite. Er erfasst flink die Lehne, dreht sich in einer geschickten Bewegung um die eigene Achse, taucht dabei an dem Messer vorbei, nimmt den Schwung der Rotation um seine eigene Achse mit, überträgt sie auf den Holzstuhl und donnert ihn mir, seinem Henker, gegen den vermummten Schädel. Vor mir taucht das Gesicht des alten Mannes auf. Die Unterwürfigkeit ist verschwunden. Stattdessen ist sein Blick auf einmal voller Leere und Kälte. Da ist keine Wut, nichts. Ich bin ihm völlig egal. Und genau das macht seinen Blick so grausam. In diesem Moment wird mir klar, dies ist das letzte Gesicht, das ich sehen werde. Das Gesicht eines alten Mannes. Das Gesicht des Todes.

Das Messer zu ziehen war ein großer Fehler. Für ihn mag ich aussehen wie ein alter Mann, doch während ein paar Jahre diesem Körper graue Haare brachten, schenkten mir die Jahrhunderte genau das, an dem dieser Gotteskrieger nun zerbrechen wird. Sicherlich ist der Verschleierte vor mir ein großer Krieger, doch er ist eben auch nur das. Ein Krieger. Stark, überlegen, arrogant und stumpf. Ich dagegen bin ein Schachspieler. Und er ist der Bauer, der mir in die Arme gelaufen ist, weil er nur diese eine Richtung kennt. Nach vorn. Ich habe mein Handwerk auf Schlachtfeldern anderer Welten erlernt. Auf den Brücken von Asharoq, in den Sümpfen am Fuße des Qosh, wo das Feuer auf uns herabregnete, oder im ewigen Eis der Manak, in diesem bitterkalten Krieg gegen die Hasken, mit all ihren Geistern und ihren Stimmen, die deine Gedanken verführten. Dämonen haben sich mir in den Weg gestellt, älter und weiser als ich, und doch bin ich heute hier und sie alle längst zu Staub zerfallen. Ich werde nicht anfangen, heute zu verlieren, gegen diese Menschenkinder der Langeweile. Ich weiß, wen ich vor mir habe. Er nennt sich ›Der Schlächter‹. Wie kreativ. Seine Eltern dagegen hatten ihn Valentin getauft. Sie hatten wohl mehr mit ihm vor, deswegen haben sie eine lange Flucht hinter sich gebracht, mit ihm und seinem kleinen Bruder Meere und Gebirge überwunden und ihm ein schönes Leben im hohen Norden einer anderen Welt geschenkt. Und diese neue Welt hätte sicherlich mehr zu bieten gehabt als das hier. Er jedoch hatte sich entschieden, hier zu kämpfen, und deswegen wird er auch genau hier sterben.

Der Stuhl hat gewirkt. Seine Nase ist gebrochen. Ich sehe das Blut durch seine schwarze Sturmhaube tropfen. Er taumelt, hält sich die Wunde, schreit vor Schmerz und schlägt mit dem Messer nach mir. Doch so ungeschickt, dass ich noch nicht einmal ausweichen muss. Geduldig kreise ich um ihn. Er soll meine Überlegenheit spüren. Ein wütender Mensch mit einer Klinge kann auch für mich gefährlich werden. Es wäre sehr töricht dies nicht wahrhaben zu wollen. Meine Seele müsste ihn wahrscheinlich nicht fürchten, doch meinem Körper könnte er den Tod bringen. Die Chancen des Verschleierten stehen allerdings schlecht. Schon als Kinder haben wir den Tanz von Asharoq gelernt. Ich