Generation Anspruch - David Gutensohn - E-Book

Generation Anspruch E-Book

David Gutensohn

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Beschreibung

Ich bin 30 Jahre alt und Teil der Generation Anspruch, die Arbeit radikal hinterfragt. Wir können uns das leisten: Wenn die Babyboomer in den nächsten Jahren in Rente gehen, fehlen Deutschland mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte. Nach drei Jahren Pandemie, mitten in der Klimakrise, blicken wir anders in die Zukunft. Wir wollen nicht, dass die Arbeit bestimmt, wer wir sind. Wir wollen eine gesetzliche Viertagewoche, Sabbaticals, Elternzeiten und echte Feierabende. Und Arbeit, die Sinn ergibt. Ich habe miterlebt, wie meine Mutter sich als Pflegerin kaputtgearbeitet hat. Das kann nicht unser Ziel sein! Ja, wir sind die Generation Anspruch. Und unser Anspruch ist gerechtfertigt. Es ist nicht vermessen zu fordern, dass Arbeit Menschen glücklich macht. Arbeit, die krank macht, gehört abgeschafft. Und Bullshit-Jobs, die eine Maschine erledigen kann, soll kein Mensch machen. Das ist die Zukunft der Arbeit, und diese Zukunft ist sehr bald.

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David Gutensohn
Generation Anspruch
Arbeit ist nicht alles – und das ist auch gut so
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2024, oekom verlag Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München
Umschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlagabbildung: Nicole SchnittfinckeLektorat: Laura KohlrauschInnenlayout & Satz: Ines SwobodaKorrektorat: Maike Specht
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-98726-305-7
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1
Arbeit bestimmt nicht, wer ich bin
Kapitel 2
Wer weniger arbeiten will, ist nicht faul
Kapitel 3
Niemand sollte sich kaputtarbeiten
Kapitel 4
Kein Mensch braucht Bullshit-Arbeit
Kapitel 5
Arbeit macht nicht reich
Kapitel 6
Arbeitslosigkeit macht keine Angst
Kapitel 7
Keiner sollte für den Kapitalismus arbeiten
Kapitel 8
Kurzarbeit ist gute Arbeit
Kapitel 9
Die Arbeitswelt ändert sich nicht von allein
Quellen
Über den Autor
Vorwort
Es gibt Momente, in denen man sich wie in einer Parallelwelt fühlt. So einen Moment erlebte ich im Sommer des Jahres 2022. Ich saß mit zwei Freunden auf der Terrasse einer Berliner Bar, in den Händen ein Feierabendbier. Wir tranken und sprachen wie so oft über unsere Arbeit. Wir erzählten von unseren Kolleginnen und Kollegen, freuten uns über Lob der Vorgesetzten und ärgerten uns über eigene Fehler. Wir sprachen darüber, was uns an unseren Jobs störte, was wir daran liebten und wie wir in Zukunft arbeiten wollen. Ohne Homeoffice? Niemals. Unter cholerischen Vorgesetzten oder mit Kolleginnen und Kollegen, die ständig ihre Aufgaben auf uns abwälzen? Sicher nicht. Dafür aber für Unternehmen, mit denen wir uns identifizieren und für die man sich nicht schämen muss. Wir waren uns einig, dass wir irgendwann einmal Väter sein wollen, die selbstverständlich in Elternzeit gehen und sich die Care-Arbeit zu Hause fair teilen wollen. Und dass wir in einer privilegierten Situation sind, weil wir Jobs haben, die uns erfüllen; mit Gehältern, die es uns erlauben, eine Wohnung zu mieten und in den Urlaub zu fahren. Klar, mal eine Überstunde ist dabei. Aber bitte nur, wenn man sie ausgleichen kann und nicht immer erreichbar sein muss, denn niemand von uns will sein Feierabendbier dauerhaft missen. Wir bestellten ein zweites.
Das Gespräch rutschte zum Thema Karriere. Wir wollen alle beruflich etwas erreichen und sind auch bereit, dafür etwas zu leisten. Faul sein ist nicht unser Ding, genug Freizeit aber wichtig. Jeder von uns würde sofort eine seriöse Partei wählen, die sich für die bezahlte Viertagewoche einsetzt. Zwei Köpfe nickten, als einer sagte: »Ich liebe meinen Job, aber Arbeit ist nicht alles.«
Es gibt tatsächlich Menschen, die glauben, in Deutschland würde zu wenig gearbeitet.
Plötzlich musste einer meiner Freunde laut lachen. Er zeigte uns sein Smartphone, auf dem eine Meldung verkündete: »Sigmar Gabriel fordert die 42-Stunden-Woche«. Gemessen an dem, worin wir uns so schön einig waren, kam uns diese Forderung komplett absurd vor. Wir frotzelten erst mal, ob es überhaupt noch relevant sei, was Sigmar Gabriel zu sagen hat, jetzt, wo er weder Wirtschafts- oder Außenminister noch SPD-Vorsitzender und auch kein Bundestagsabgeordneter mehr ist. Da redet mal wieder einer, der das Reden nicht lassen kann und dem zugehört wird, weil er irgendwann mal Entscheidungen treffen konnte, die alle betrafen. Gähn. Wir hätten es uns an diesem Abend leicht machen können und das Gespräch von Gabriel einfach zum letzten Bundesligaspieltag oder zur neuen Netflix-Serie springen lassen – doch uns beschlich die Gewissheit, dass es da draußen, außerhalb dieser Berliner Bar, tatsächlich Menschen gibt, die glauben, in Deutschland würde zu wenig gearbeitet.
Wir diskutierten, aber kamen zu keiner Lösung. Irgendwann beim dritten Bier wechselten wir dann doch das Thema, aber mich sollte es nicht loslassen. Ich bin Journalist, berichte über den Arbeitsmarkt in Deutschland, über Arbeitslosigkeit und über Homeoffice, Ausbeutung in der Pflege und auf dem Bau oder den Fachkräftemangel in so vielen Branchen. Bei meinem Arbeitgeber gibt es sogar ein eigenes Ressort, das sich nur mit unserer Arbeitswelt beschäftigt. Über kaum ein Thema wird so viel gestritten und diskutiert wie über Arbeit. Weil sie uns alle betrifft, die einen mehr, die anderen weniger. Fast 35 Millionen Menschen haben in Deutschland einen sozialversicherungspflichtigen Job, viele andere haben einen Minijob, sind in einer Ausbildung, studieren oder gehen zur Schule.1 Wieder andere haben ihr Leben lang gearbeitet und sind in Rente. Arbeit beschäftigt jeden von uns, auch weil sie eine Gesellschaft zusammenhält – besonders dann, wenn sie systemrelevant ist. Über viele Jahrzehnte hinweg haben wir über den Mindestlohn debattiert, über die Frage, wie viel Homeoffice zu viel ist, wie viel Elterngeld es geben sollte und wie Arbeitslose wieder einen Job bekommen. In diesen Debatten gab es immer Konflikte, unterschiedliche Weltanschauungen und Ansichten. In vielen Themen rund um die Arbeitswelt waren sich die Menschen, egal, welchen Alters, aber erstaunlich einig. In den vergangenen Jahren hat sich allerdings etwas grundlegend geändert in der Art und Weise, wie wir über unsere Jobs und Berufe sprechen und denken: Arbeit spaltet offensichtlich Generationen.
»Arbeit ist kein Ponyhof«, sagt Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit.2 »Wir sind kein Hobbyland«, sagt Markus Söder, der Ministerpräsident von Bayern.3 »Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit«, sagt Steffen Kampeter, der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes.4 Sie alle sind Teil einer Generation, die anders über Arbeit denkt und spricht als meine. Eine Generation, die wir kaum noch verstehen und die uns wiederum dafür verurteilt, Arbeit so fundamental anders zu betrachten. Ich bin 30 Jahre alt und damit Teil der Generation Anspruch. Also Teil der jungen Menschen, die Arbeit kritischer hinterfragen, als es ihre Eltern und Großeltern je getan haben. Und sie haben recht damit.
Wenn Sigmar Gabriel, Andrea Nahles und Steffen Kampeter die junge Generation als faul bezeichnen und mehr Einsatz fordern, offenbaren sie nur, wie wenig sie von der Realität verstehen, in der wir leben. Auch Simone Schmollack, Redakteurin der tageszeitung taz, tut sich damit schwer. Sie beschreibt in einem Kommentar, wie immer mehr Personalerinnen und Personaler in Unternehmen daran verzweifeln, junge Menschen von einem Job zu überzeugen. Und dass sie zunehmend genervt davon sind, wenn die Bewerberinnen und Bewerber meiner Altersklasse wie selbstverständlich Homeoffice, Gleitzeit und eine Viertagewoche fordern. Das sei egoistisch und würde dem Unternehmen und in letzter Konsequenz auch der gesamten Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland schaden. »Liebe junge Menschen, vielleicht überdenkt ihr eure Work-Life-Balance noch einmal«, schreibt Schmollack.5
Werden wir nicht. So verständlich es ist, dass Babyboomer sich noch an ihr altes Bild von Arbeit klammern, so sehr zeigt es, wie weit entfernt sie von der Realität junger Menschen sind. Denn sie alle verkennen etwas Grundlegendes. Mehr Arbeit kann nicht die Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit sein. Die Art, wie wir arbeiten, muss sich ändern. Und: Es geht meiner Generation um Freizeit, nicht um Faulheit, das ist ein großer Unterschied. Arbeit sollte, überspitzt gesagt, zwar vielleicht kein Ponyhof, aber auch kein Schlachthof sein. Junge Menschen sind nicht mehr dazu bereit, Arbeit über alles zu stellen. Das heißt nicht, dass Millennials und Post-Millennials, also unter-30-Jährige, faul sind oder keinen Bock auf Arbeit haben. Sie wollen gute Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. Auf die Generation Praktikum, die sich hat ausbeuten lassen, ist die Generation Anspruch gefolgt – und das ist gut so.
Arbeit sollte zwar vielleicht kein Ponyhof, aber auch kein Schlachthof sein.
Im Sommer des vergangenen Jahres moderierte ich ein Panel bei einer Konferenz. Mit mir auf der Bühne saßen Bettina Dietsche, die sich bei der Versicherung Allianz um das Personal und die Arbeitskultur kümmert, sowie die Unternehmerin Irène Kilubi und Lena Pundt, die an der Hochschule Bremen das Personalmanagement leitet. Ich diskutierte mit ihnen über den Fachkräftemangel, Führungskräfte und die Frage, ob man beim Thema Arbeit überhaupt nach einzelnen Generationen unterscheiden müsse. Alle waren sich einig, dass daran kein Weg vorbeiführe. Denn die Unterschiede der Altersgruppen seien bei Bewerbungsgesprächen, Gehaltsverhandlungen und im täglichen Zusammenarbeiten so groß, dass es einen Begriff brauche, der genau das beschreibt. Generation Merkel, Generation X, Y oder Z – immer wieder wird versucht, Alterskohorten zu unterteilen. Man kann das kritisch sehen, denn natürlich besteht eine Generation immer aus vielen unterschiedlichen Menschen, die nicht alle kollektiv dasselbe denken. Ja, der Generationenbegriff kann zu Schubladendenken führen, weil er vereinfacht und verallgemeinert, das sollte man immer im Hinterkopf behalten. Und doch zeigen Studien und Umfragen, dass es fundamentale Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Menschen gibt. Dass es sinnvoll ist, diese Altersunterschiede und verschiedenen Prägungen mitzudenken. Diese Abgrenzung braucht es, um ein Phänomen zu erklären – und um aufzuzeigen, welche Unterschiede es zwischen den Generationen gibt und wie diese vielleicht überwunden werden können. Daher spreche ich von der Generation Anspruch. Damit meine ich die meisten jungen Menschen, die in den 1990ern und 2000ern geboren wurden und völlig anders aufgewachsen sind als ihre Eltern und Großeltern.
Wir brauchen keine Neiddebatte zwischen Jungen und Alten. Aber die Gabriels und Söders da draußen müssen akzeptieren, dass meine Generation den Arbeitsmarkt für immer verändern wird. Nur weil vorherige Jahrgänge es versäumt haben, mehr für sich zu verhandeln, oder es nicht konnten, ist es jetzt nicht falsch, dass wir das tun. Denn etwas Entscheidendes hat sich verändert: Die neuen Ansprüche an Arbeit bleiben keine tollkühne Vision, sie werden sogar schneller umgesetzt als erwartet. Denn die jungen Menschen mit ihren Forderungen treffen auf Unternehmen, die sie dringend brauchen und suchen. Ein Spaziergang in meiner Mittagspause durch Berlin-Kreuzberg reicht, um das zu erkennen. Die Bäckerei sucht mit einem Schild an der Tür Verkäuferinnen, ein Start-up wirbt auf einem Plakat mit einer Prämie für alle, die kündigen und bei ihnen anfangen. Auf dem vorbeifahrenden Bus werben Unternehmen damit, die besten Arbeitsbedingungen der ganzen Stadt zu haben. Meine Generation hat dank des eklatanten Fachkräftemangels in vielen Branchen praktisch die freie Auswahl. Ganz anders als unsere Eltern und Großeltern, die in Wirtschaftskrisen und in Zeiten arbeiteten, in denen es noch Begriffe wie Einstellungsstopp oder Massenarbeitslosigkeit gab.
Nie war der Fachkräftemangel in Deutschland größer als heute. So groß, dass man ehrlicherweise von einem Arbeitskräftemangel sprechen sollte, weil alles andere das Problem verharmlost. Letztendlich sind fast alle Branchen mehr oder weniger stark betroffen. Vom Metzger, der keinen Nachwuchs findet, über die Schule, die verzweifelt und auf allen Wegen Lehrerinnen sucht, bis zum Flughafen, dem die Hilfsarbeiter fehlen, sodass sich das Gepäck in den Reisemonaten bis an die Decke türmt. Schon jetzt findet fast die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland keine neuen Angestellten.6 Die Zahl der offenen Stellen liegt laut dem Report der Industrie- und Handelskammer bei zwei Millionen.7 Andere Berechnungen gehen von bundesweit 1,75 Millionen ausgeschriebenen Jobangeboten aus, für die sich niemand findet.8 Das mag für den einen oder anderen schon bedrohlich klingen, es ist aber erst der Anfang. Wenn in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1969 in Rente gehen und zu wenig Nachwuchs da ist, der ihre Stellen besetzen oder Unternehmen weiterführen kann, wird es kritisch. Sieben Millionen Arbeitskräfte könnten laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bis zum Jahr 2035 fehlen.9 Dann wird praktisch jedes Unternehmen und jede Behörde Arbeitskräfte suchen, weil es zu wenig junge Bewerberinnen und Bewerber auf Ausbildungsplätze, Praktikumsstellen oder ihre Stellenanzeigen gibt.
Bald wird praktisch jedes Unternehmen und jede Behörde Arbeitskräfte suchen.
Die Politik hat das Problem erkannt und will handeln, verabschiedet ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz nach dem anderen. Bundesminister reisen auf die Philippinen, nach Mexiko oder in den Kosovo, um für die Zuwanderung nach Deutschland zu werben. Auch Finanzminister Christian Lindner flog Anfang des vergangenen Jahres nach Ghana und traf dort auf Studierende in einem Hörsaal. Der Minister hielt ein Plädoyer für den deutschen Arbeitsmarkt – und fragte am Ende die Studierenden, wer von ihnen sich vorstellen könne, nach Deutschland zu kommen, um dort zu arbeiten. Leises Gelächter, ungläubige Blicke, kaum jemand meldete sich.10 Lindner war sichtlich überrascht, doch was er dort erlebte, steht sinnbildlich dafür, dass verzweifelt Personal gesucht, aber nicht gefunden wird. Und zwar weltweit. Dabei hat Deutschland im internationalen Wettbewerb einen entscheidenden Nachteil: die Sprache. Natürlich ist es für Fachkräfte aus Ghana einfacherer, nach Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten auszuwandern, um dort zu arbeiten, wenn ihre Amtssprache ohnehin schon Englisch ist. Hinzu kommt die deutsche Bürokratie, die trotz aller politischen Initiativen Anerkennungsverfahren und Zuwanderungen eher erschwert als vereinfacht. Kurz gesagt: Laut den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bräuchte es jährlich 400000 Arbeitskräfte, die aus dem Ausland nach Deutschland einwandern – und zwar netto, also zusätzlich zu jenen, die jene ersetzen müssen, die auswandern.11 Nur dann könnten Unternehmen in Deutschland ihre offenen Stellen besetzen. Nur dann könnten das deutsche Rentensystem und die Krankenkassen durch neue Beitragszahler und Versicherte stabilisiert werden. Doch davon ist Deutschland weit entfernt.
Nicht nur die Politik, auch immer mehr Unternehmen spüren das und versuchen, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Um an Personal zu kommen, beauftragen sie teure Headhunter, Recruiter und Personaler. Oder sie reisen selbst los, um Menschen im Ausland zu überzeugen. So wie David Depenau, Geschäftsführer eines Freizeitparks an der Ostsee, den ich für eine meiner Recherchen interviewt habe. Er war schon in mehr als 25 Ländern unterwegs, um Angestellte abzuwerben. Als ich mit ihm sprach, packte er gerade seine Koffer, um nach Indien zu fliegen und dort eine Hotelfachschule zu besuchen. »Anders findet man heute kaum noch Personal«, sagte er.12 Vor allem seit der Pandemie würden sich kaum noch Menschen für eine Ausbildung oder einen Job in seinem Freizeitpark bewerben. Auch weil junge Menschen heute andere Ansprüche an Arbeit stellen. Mittlerweile hat fast die Hälfte seiner 700 Beschäftigten keinen deutschen Pass: Bademeister, Gärtnerinnen und auch Kellner oder Sicherheitskräfte. Selbst wenn sie noch kein Deutsch sprechen, gibt der Chef ihnen Jobs mit Kundenkontakt.
Was Depenau schon heute macht, werden in Zukunft viel mehr Unternehmen tun müssen, um noch an Personal zu kommen. Und selbst wenn das im Einzelfall gelingen kann, ist klar, dass ausländische Fachkräfte allein nicht ausreichen werden, um diese enorme Lücke zu schließen. Unternehmen und auch die Politik können sich nicht darauf verlassen, dass Menschen aus anderen Staaten hierzulande die Arbeit machen, für die so dringend Nachwuchs gesucht wird. Da kann die FDP noch so viele Rikschas in Indien mieten und mit einem QR-Code Softwareentwickler auf die Arbeitsbedingungen in Deutschland aufmerksam machen. Es muss mehr geschehen als das. Es gibt sinnvolle Ansätze dazu, etwa das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das soll es Ausländerinnen und Ausländern von außerhalb der Europäischen Union ermöglichen, ohne Arbeitsvertrag nach Deutschland zu kommen und sich hierzulande einen Arbeitsplatz zu suchen. Oder Geflüchteten, die bereits hier sind, die Chance geben, eine Ausbildung oder einen Job zu beginnen, um dann ein Bleiberecht zu bekommen, obwohl ihre Chancen auf Asyl eigentlich gering wären. Aus der Not heraus, weil mittlerweile sogar Wirtschaftsverbände klagen, geschieht etwas. Doch wie gesagt: Das allein wird nicht reichen, um die Fachkräftelücke zu schließen. Gleichzeitig schafft es die Politik nicht, dafür zu sorgen, dass mehr Frauen in Vollzeit arbeiten. Einerseits, weil sie immer noch die meiste Care-Arbeit zu Hause übernehmen müssen. Andererseits, weil wiederum in den Kitas das Personal fehlt, um die Kinderbetreuung sicherzustellen. In der Folge bleibt viel Potenzial ungenutzt, und der Fachkräftemangel verschärft sich von Jahr zu Jahr – und meine Generation wird auf dem Arbeitsmarkt genau deshalb so gebraucht wie noch nie.
Junge Menschen wissen: Es war nie leichter, zu lernen und zu studieren, was man will, und sich damit später ein Leben zu finanzieren. Oder auch nach Jahren im Beruf umzuschulen und als Quereinsteiger plötzlich etwas ganz anderes zu machen. Vor allem aber war es nie einfacher, in Bewerbungsgesprächen oder auch später im Job etwas zu fordern. Denn in Zeiten wie diesen wollen Unternehmen nicht nur neue Angestellte für sich gewinnen, sie wollen auch niemanden verlieren. Nicht genügend Personal zu haben ist ein Risiko geworden, dass keine Firma eingehen kann. Denn das gefährdet den Umsatz, die Wachstumsziele und letztendlich auch die Rendite – und das stört nicht nur Aktionärinnen und Aktionäre, sondern auch Geschäftsführerinnen und CEOs.
Alle Betriebe in allen erdenklichen Branchen konkurrieren also um Fachkräfte – und zwar nicht nur mit Firmen aus derselben Region, sondern mit Unternehmen aus der ganzen Welt. Denn auch das unterscheidet meine Generation von vielen anderen: Ich bin nicht nur deutscher Staatsbürger, sondern auch Europäer, mehr noch: Bürger dieser Welt. Die junge Generation kennt keine Grenzen. Sie spricht nicht nur selbstverständlich Englisch und ist in ihrer Schulzeit mit Interrail-Zügen durch Europa gereist, sie hat auch teilweise in London oder Rom studiert oder nach dem Abitur ein Jahr in Australien oder Amerika gelebt. Oder ist angestellt bei Unternehmen, die international agieren, und arbeitet dadurch täglich mit Kolleginnen und Kollegen, die in anderen Teilen der Welt sitzen. Obendrein ist der Arbeitsort in Zeiten des Homeoffice für viele junge Menschen ohnehin fluide. Sie machen Workation – eine Mischung aus Urlaub und mobiler Arbeit – in Griechenland oder arbeiten dauerhaft von Bali aus für ein Start-up, das eigentlich in Berlin sitzt. Oder arbeiten umgekehrt von München aus für ein amerikanisches Unternehmen. Im Ausland zu leben und zu arbeiten – und sei es nur für eine begrenzte Zeit – ist für diese Generation längst nicht mehr ausgeschlossen oder problematisch. Im Gegenteil, in vielen Branchen gehört es zu einem modernen Lebenslauf dazu, auch mal in anderen Ländern Erfahrungen gesammelt und dort gearbeitet zu haben. Einige Unternehmen bieten deshalb Austauschprogramme an oder leihen junge Talente an andere Standorte weltweit aus. Nicht zuletzt Social Media ermöglichen es jungen Menschen, täglich zu sehen, wie man wo in der Welt arbeitet, welche Optionen es gibt und was einem geboten wird. Wann immer man will, kann man online miterleben, wie Influencerinnen und Influencer ihr Arbeitsleben organisieren oder wie sich Unternehmen aus aller Welt online präsentieren. Selbst ein Leben in Kapstadt oder Kairo ist heute nur noch einen Klick entfernt.
Das alles trägt dazu bei, dass die junge Generation es sich leisten kann, den Stellenwert von Arbeit in ihrem Leben zu hinterfragen. Eben weil sie gefragt und gesucht ist und nicht dankbar dafür sein muss, überhaupt irgendeine Stelle zu bekommen. In einer Welt, in der sich junge Menschen ihren Job quasi aussuchen können, sind sie plötzlich die Mächtigen. Diejenigen, die diktieren können, wie Arbeit zu sein hat. Wir reden hier von einem Arbeitnehmermarkt, in dem sich Unternehmen bei jungen Menschen bewerben statt umgekehrt.
Die junge Generation kann es sich leisten, Arbeit zu hinterfragen.
Warum also sollte diese umworbene junge Generation darauf verzichten, bessere Arbeitsbedingungen einzufordern? Ich bin mir sicher, auch die Generation von Andrea Nahles, Sigmar Gabriel und Steffen Kampeter hätte bessere Löhne, angenehmere Arbeitszeiten und interessantere Aufgaben für sich verhandelt, wenn sie es vor 20 oder 30 Jahren gekonnt hätte. Es ist also fast schon zynisch, meiner Generation genau das nun vorzuwerfen. Weshalb sollte ausgerechnet jetzt das Angebot-Nachfrage-Modell, das den Kapitalismus prägt, zur Abwechslung nicht auch positive Auswirkungen auf unsere Arbeit haben?
Unternehmen müssen sich der Herausforderung stellen, kein Personal zu finden und gleichzeitig mit vielen anderen Firmen weltweit konkurrieren zu müssen – und das geht nur, wenn man sich den Ansprüchen der jungen Generation anpasst. Vom Handwerksbetrieb, der die Viertagewoche einführt, bis zur Agentur, die Homeoffice und frei einteilbare Arbeitszeiten ermöglicht, oder zum Autohersteller, der Sabbaticals und Workation zur Regel macht. Es reicht nicht mehr aus, im Büro einen Obstkorb aufzustellen, einen Kickertisch für die Werkstatt zu organisieren oder einmal im Jahr mit der Belegschaft einen Betriebsausflug zu machen. Junge Menschen wollen heute grundsätzlich anders arbeiten. Allein dadurch schon verändert die Generation Anspruch bereits den Arbeitsmarkt.
Überspitzt gesprochen, könnte man von einer neuen Arbeiterbewegung sprechen, zu der Babyboomer wie Gabriel, Nahles oder Kampeter längst den Bezug verloren haben. Dabei waren es doch sie, ihre Eltern und Großeltern, die den Achtstundentag, Tarifverträge, die 40-Stunden-Woche, das Elterngeld, den Mindestlohn oder den Kündigungsschutz durchsetzten und verbesserten. Meine Generation führt den Kampf um bessere Arbeit nur weiter. Vielleicht nicht mehr auf der Straße oder in Gewerkschaften, aber überall im Land, vor Ort in den Betrieben, Behörden und Bewerbungsgesprächen. Und manchmal beginnt das damit, dass sie sich vorher in Bars trifft und über die Zukunft diskutiert. Übrigens: Ein viertes Bier haben wir nicht bestellt, schließlich mussten wir am nächsten Tag ja arbeiten.
Kapitel 1
Arbeit bestimmt nicht, wer ich bin
»Man kündigt nicht seinen Job, aber man verabschiedet sich von der Idee, seine Anforderungen überzuerfüllen. Man erfüllt seine Pflichten, aber fühlt sich nicht länger an eine Mentalität gebunden, die vorschreibt, Arbeit sei dein Leben.«
Als Zaid Khan diese Worte im Juli 2022 in einem 17-sekündigen Video im sozialen Netzwerk TikTok veröffentlichte, ahnte er nicht, dass er den Ton einer ganzen Generation treffen würde.13 Mehr als drei Millionen Menschen klickten seinen Clip, Tausende kommentierten ihn, viele fühlten sich verstanden.14 In Reddit-Foren, auf Twitter, Instagram und TikTok berichteten junge Menschen von ihren Jobs. Viele von ihnen erzählten, weshalb auch sie nicht mehr bereit dazu seien, für Arbeit alles andere aufzugeben. Manche erzählten von ihrer letzten Kündigung, andere davon, wie ihr erster Job sie frustriere oder dass sie gerade dabei seien zu verstehen, dass Arbeit nur ein Teil unseres Lebens, aber nicht alles ist. Mitten in diesen Diskussionen entstand ein neuer Begriff: Quiet Quitting, das stille Kündigen. Auch wenn der Begriff das suggeriert, geht es dabei nicht darum, den eigenen Job zwangsweise irgendwann zu kündigen. Aber man tut nur noch das, was laut Arbeitsvertrag nötig ist. Man erledigt zuverlässig seine Aufgaben im Job, aber opfert sich nicht mehr für seine Arbeit auf. »Dein Wert als Person wird nicht über deine Produktivität definiert«, sagte Khan dazu in seinem kurzen Video. Und auch ich ertappte mich beim Nicken.
Wenige Wochen später stehe ich an einem Samstagabend am besten Ort einer jeden Geburtstagsparty – in der Küche zwischen Büfett und Balkon – und werde gefragt: »Und was machst du so?« Ich überschreie die Musik mit: »Ich bin Journalist.« Ich habe in diesem Moment nicht gelogen, und doch fühlt sich meine Antwort falsch an. Ja, ich arbeite als Journalist, und ich liebe meinen Job. Aber ich bin nicht mein Job. Ich will nicht, dass meine Arbeit allein darüber bestimmt, wer ich bin. Ich will selbst bestimmen, wie meine Arbeit ist – und nicht umgekehrt. Und doch lasse ich zu, dass es in Momenten wie diesem auf der Party, wenn auch nur kurz, andersherum läuft. Dass mein Job meine Identität nicht nur ergänzt, sondern fast schon ersetzt. So, als gäbe es in meinem Leben nichts anderes als meinen Beruf.
Ich will nicht, dass meine Arbeit allein darüber bestimmt, wer ich bin.
Warum rutscht mir diese Antwort trotzdem manchmal heraus? Ich habe das so gelernt und bin da sicher nicht der Einzige. Wir alle wachsen damit auf, dass Arbeit alles ist. Auch meine Mutter antwortete auf die Frage, was sie mache, immer mit »Pflegekraft«. Nicht mit Mutter, Ehefrau, Leseratte, Freundin, Filmeliebhaberin oder Tante. Sie antwortete nicht damit, dass sie gerne auf Flohmärkte gehe, Songs von Meat Loaf höre oder ihr ganzes Geld spare, um alle paar Jahre in ein fremdes und möglichst fernes Land zu reisen. Sie war zuallererst für alle immer ausschließlich die Pflegekraft. Mittlerweile ist sie in Rente. Wenn ich sie heute frage, was sie so macht, antwortet sie mit: lesen, reisen, lernen, wandern, kochen, lieben. Nicht der Job definiert mehr ihr Leben, sondern das Leben selbst.
Genau das wünscht sich die Generation Anspruch für ihr Leben – und zwar nicht erst im fernen, vielleicht sogar unerreichbaren Ruhestand, sondern heute, im Hier und Jetzt. Ein Leben hält viele Rollen für den Menschen bereit. Der Job ist nur eine davon. Ich will Freund, aber auch Fußballfan, Redakteur und Reisender sein, genauso wie ich derjenige sein will, der zwar einen Führerschein hat, aber nie im Auto, sondern immer nur auf dem Fahrrad zu sehen ist. Und auch derjenige, der dieses Buch an einem sonnigen Samstagmittag schreibt, weil es ihm Spaß macht und ihn beschäftigt – der aber gleichzeitig realisiert, dass auch das Arbeit und keine echte Freizeit ist, selbst wenn sich das zwischendurch mal so anfühlt.
Das Leben ist vielfältig, und unser Beruf sollte nur ein Teil davon sein. Und das auch schon in den Jahrzehnten, in denen man morgens aufsteht, um Geld zu verdienen, und abends nach Hause kommt, um es auszugeben. Doch bis zur Rente ist Arbeit in unserer Gesellschaft nicht nur etwas, das wir tun. Sie macht aus, wer wir sind. Sie bestimmt, wie andere Menschen uns wahrnehmen und auch wie wir uns selbst sehen. Wie gut wir auf einer Party ankommen und worüber wir bei Dates, in unseren Posts und Storys oder beim Familienessen am zweiten Weihnachtstag sprechen.
Aber wenn unsere ganze Identität von unserer Lohnarbeit bestimmt wird, wer sind wir dann, wenn wir nicht mehr arbeiten müssen?
*
Ich konnte das gut beobachten, als meine Mutter nach 40 Arbeitsjahren in ihre verdiente Rente ging. Sie freute sich auf den Tag im Januar, ab dem sie nicht mehr arbeiten gehen musste. Und doch spürte ich in den Monaten davor, wie sie sich Sorgen machte. Immer wieder stellte sie sich die Frage: Und was dann? Bis zuletzt verdrängte sie das Thema. Zum Renteneintritt zog sie in eine andere Stadt, in eine neue Wohnung – insgeheim auch, um nicht doch noch freiwillig ein paar Jahre länger zu arbeiten. Und dann, angekommen in der neuen Umgebung, fiel sie, wie so viele frischgebackene Rentnerinnen und Rentner, in eine kleine Existenzkrise. Eine mit Ansage, aber das machte es nicht weniger schlimm. Manche Menschen stürzen sich in so einer Lage in ihren Garten und pflegen ihn wie ein sehr spät geborenes neues Kind. Andere werden depressiv, weil ihnen vermeintlich der Sinn im Leben fehlt – und das nur, weil sie nicht mehr arbeiten müssen. Studien zeigen sogar, dass einige Ruheständler schon in den ersten Jahren ihrer Rente früh sterben, weil sie sich nicht mehr gebraucht und damit nutzlos fühlen. Viele Menschen wissen in der Rente nichts mehr mit sich anzufangen, werden krank, bekommen oft psychische Probleme. Mit einer Ausnahme: Männer und Frauen, die hart körperlich gearbeitet haben. Sie leben in der Rente gesünder, weil bewusster und ausgeglichener. Doch alle anderen Rentnerinnen und Rentner, die in ihren Berufen zu den Mittel- und Gutverdienern zählten, haben im Ruhestand ein um bis zu viereinhalb Prozent erhöhtes Sterberisiko.15 Denn ihnen fehlen die Anerkennung, die sozialen Kontakte, der Einfluss auf Entscheidungen – vieles, was ihr Leben bis dahin über Jahrzehnte mal mehr und mal weniger prägte. Eben weil Arbeit für sie oft alles war oder eben immer noch ist. Weil sie nicht loslassen können und auch gar nicht mehr wissen, wie das eigentlich geht. Sie können sich schlichtweg gar nicht vorstellen, wie ein Leben mit weniger Arbeit aussehen kann.