Gerettet aus Sibirien - Sophie Wörishöffer - E-Book

Gerettet aus Sibirien E-Book

Sophie Wörishöffer

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Beschreibung

Kapitelverzeichnis: Verschickt nach Sibirien. Schicksalswechsel. Wiedersehen. Fluchtpläne. Auf der Flucht. Ein hartnäckiger Verfolger. Leben im Freien. Im Walde. Die Golddiebe. Kampf mit Wölfen. Im Ostrog. Zwei Diener des Zaren. Der Wiener Zauberer. Nochmals die Golddiebe. Otto. Vater und Sohn. Hungersnot. Auf dem Eise. Auf der Suche nach den Vermissten. Im Zelte des Kamakay. Endlich erlöst. Schlusswort.

Coverbild: © luchioly / Shutterstock.com

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Sophie Wörishöffer

Gerettet aus Sibirien

Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Zum Buch + Verschickt nach Sibirien

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Sophie Wörishöffer

Gerettet aus Sibirien

Coverbild: © luchioly / Shutterstock.com

 

Verschickt nach Sibirien

Es war an einem kalten, sturmdurchpeitschten Oktobermorgen, als vor dem schmutzigen, elenden Wirtshause von Ukbul, einer Minenstation in Sibirien, eine Kibitka hielt und ihren einzigen Insassen herausgab. Zwei Kosaken, in blauer Uniform mit kupfernen Helmen, begleiteten den Gefangenen, einen jungen Mann, dem die deutsche Abkunft in allen Zügen geschrieben stand. Er war groß und von breitem, kräftigem Schulterbau, dabei aber schlank und keineswegs plump oder bäurisch geformt, vielmehr ließ sich der Angehörige der besseren Klassen in ihm auf den ersten Blick erkennen, namentlich jetzt, wo sein hübsches Gesicht durch die Leiden der langen Reise alle Farbe verloren hatte. Aus den blauen Augen leuchtete jene düstere Entschlossenheit, welche den höchsten, unersetzlichsten Schatz des Bedrängten, Gefährdeten bildet.

Den Körper des Gefangenen bedeckten grobe Tuchkleider; von der linken Hand verlor sich eine am rechten Fuße befestigte Kette in den Schaft des hohen Lederstiefels hinein.

»Warten sie hier, Hermann Brandt«, sagte der Anführer der Kosaken. »Ich werde den ›Smotritel‹ – Oberaufseher – herausrufen, um Sie an ihn abzuliefern«.

Der junge Mann neigte ruhig den Kopf; statt jeder Antwort hob nur ein tiefer, nicht zu unterdrückender Seufzer seine Brust – er sah unwillkürlich hinüber zu dem Hause, von dessen Bewohnern jetzt für ihn das Schicksal der nächsten Zukunft einigermaßen abhing.

Den halberblindeten Scheiben fehlten die Vorhänge, man konnte also das Innere der Schenke bequem überblicken, und so sah der junge Deutsche ein Bild, das ihm trotz seiner tiefen Trauer ein Lächeln auf die Lippen rief.

Mitten im Raume stand ein mageres, ältliches Männchen in ungeheuren Pelzen, die vom Kopf bis zu den Füßen seine ganze Person bedeckten. Der Kleine hatte ein spitzes, blasses, aber herzensgutes Gesicht und ein Paar braune Augen, die wohl auch einem schönen Menschen zur Ehre gereicht hätten; in der Hand trug er eine, vom langen Gebrauch dunkle, gewiss sehr wertvolle Geige, über deren Saiten ein Bogen lustig dahinglitt, die Füße tanzten nach dem Takte dieser Musik.

Herr Ignaz Bochner war ein Tanzlehrer, der alljährlich ganz Sibirien, soweit es von weißen Menschen bewohnt wird, durchzog und den Söhnen und Töchtern der wohlhabenderen Häuser die edle Tanzkunst beibrachte. Von Geburt ein Wiener, hielt er es trotzdem mit dem alten Spruche: »Wo es mir wohl ergeht, da ist meine Heimat«, er verlegte also, an die Kälte einigermaßen gewöhnt, von Monat zu Monat den Schauplatz seiner Tätigkeit und bemühte sich gerade jetzt, den Kindern des Aufsehers eine erträgliche Haltung einzupauken, wobei er selbst mit dem guten Beispiel voranging und bald seine kleine Figur zu möglichster Höhe aufrichtete, bald den einen oder anderen Fuß zierlich auf den Zehenspitzen wiegte.

Wenn er zuweilen ein stumpfnasiges kleines Mädchen von vielleicht zehn Jahren in die Geheimnisse der eleganten Verbeugung einzuweihen sich bemühte und zu diesem Zweck vorläufig selbst als Dame auftrat, dann sah der gute Mann in dem langen Pelzgewande urkomisch aus, fast wie eine Glocke, an welcher sein lachendes Gesicht den Knopf bildete.

Während sich diese harmlose Spielerei im Gastzimmer zutrug, schien auf dem Vorplatz der Ernst des Lebens seine Opfer zu fordern. Gegen den Anführer der Kosaken rannte in der Tür ein Mann an, den der ihn begleitende Wächter kaum zu halten vermochte – auch ein Verbannter, ein Mensch von wahrhaft entsetzlichem Aussehen und mit auf dem Rücken gefesselten Händen.

Er hatte es versucht, von den Werften in Ochotsk zu entfliehen, ward wieder aufgefangen und befand sich jetzt auf dem Schub nach der berüchtigten Festung Akutia, deren Namen man in Sibirien nur mit geheimem Grauen ausspricht. Der Mann, vielleicht an aller Hoffnung, an allem Guten verzweifelnd, hatte im wilden Trotz gegen die Machthaber jene Buchstaben, welche man den ehrlosen Verbrechern mit dem heißen Eisen auf Stirn und Wangen brennt und die in diesem Falle »Wor« – Dieb – hießen, durch Schwefelsäure verwischt; sein braunes Gesicht glich mehr einer Teufelslarve als dem eines lebenden Menschen.

»Mich dürstet!«, rief er im Tone ausbrechender Verzweiflung. »Das Fieber verbrennt meine Lippen! – Gebt mir wenigstens Wasser, Ihr Schufte!«

Die beiden Kosaken, roh von Haus aus, abgestumpft durch ihr trauriges Gewerbe, schenkten den Bitten des Unglücklichen keinerlei Beachtung; sie banden ihn an ein Rad der Kibitka und gingen in das Haus, um einen Schluck Branntwein zu trinken.

»Wasser, Wasser!«, heulte der Sträfling.

»Ich habe nichts, um es dir zu geben, armer Schelm«, sagte mitleidig der Deutsche. »Sieh, ich bin selbst an den Wagen gefesselt.«

Und er zeigte einen Eisenring, durch den seine Kette lief.

Der Sträfling antwortete ihm nicht, er brüllte vor Schmerz und Wut wie ein gereiztes wildes Tier.

Hermann wandte den Blick; das Gesicht vor ihm war zu grässlich, er sah nach der anderen Seite hinüber. Also diese elenden Holzhäuser, etwa hundert an der Zahl, bildeten seine zukünftige Heimat! – Schrecklich! Über alle Maßen schrecklich!

Einige größere Gebäude, auch von Holz, bezeichneten die Wohnungen der wenigen Beamten, des Hauptmanns, des Priesters und Arztes; neben ihnen stand die Kaserne der Sklaven, die Kapelle und ein halbverfallenes Krankenhaus, alles von Schmutz bedeckt, unaussprechlich kahl und öde unter dem kahlen, öden Himmel, dessen Bleigrau durch kein Federwölkchen, keinen Sonnenstrahl unterbrochen wurde.

Im Hintergrunde des armseligen Dorfes erhob sich die Kette der Jablonoiberge mit ihren schneebedeckten Gipfeln; in einer Lücke dieser Steinmauer stand ein seltsames, schwarzes Gerüst, unbeweglich und spukhaft – das Wasser-Rad, welches im Sommer dem Dorfe das geschmolzene Schneewasser jener Bergkuppen zuführte und dessen Tätigkeit jetzt der Frost in eherne Bande gelegt hatte.

Durch den Hohlweg fuhr heulend und wirbelnd ein Sturm, der Tausende von Eisnadeln mit sich führte; das Gesicht des Deutschen brannte bald wie von Stichen zerfetzt, er schüttelte zähneknirschend seine Ketten, als sei es ihm unmöglich, länger noch diese nie endende Flut von Qualen aller Art über sich hereinströmen zu lassen, er biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten, aber schon nach wenigen Augenblicken trat die gewohnte Selbstbeherrschung wieder in ihr Recht, er wollte ruhig bleiben, und er blieb es.

Seine Blicke tauchten prüfend in die weite düstere Ebene. – Dort hinaus ging einst der Weg zur Flucht.

In diesem Augenblick trat Herr Ignaz Bochner, der Tanzlehrer, aus der Tür des Hauses; seine Geige war unter dem Pelz versteckt und seine Hände in Handschuhen aus Hirschleder; er sah erstaunt von einem der beiden Sträflinge zum anderen. »Arme Jungen!«, sagte er halblaut.

Hermann hob plötzlich den Kopf. »Sie sind ein Deutscher, mein Herr?«, rief er voll ungestümer Freude. »Ach – und Sie wohnen hier?«

Herr Bochner steckte das gutmütige Gesicht ein wenig weiter aus den abenteuerlichen Verhüllungen hervor. »Ein Deutscher?«, wiederholte er. »Ein Deutscher? – Nein, ich glaube es nicht! Aber ja doch, ja, ich bin einer. Ich bin einer. Guten Tag, Landsmann, willkommen in Sibirien!«

»Ich danke Ihnen«, lächelte Hermann. »Aber möchten Sie nicht diesem armen Teufel ein Glas Wasser besorgen? Er schreit schon seit einer halben Stunde, ohne das Mitleid der Kosaken erregen zu können.«

Herr Bochner nickte und blinzelte, vorsichtig deutete er mit dem Daumen seiner Rechten über die Schulter. »Ungebildetes Volk, Landsmann, Barbaren, denen nur die Knute achtungswürdig erscheint. Ich werde gleich selbst Wasser herbeischaffen.«

Mit diesen Worten verschwand er zwischen den Hofgebäuden der Schenke und kam bald zurück, das gewünschte Labsal in einer kleinen Flasche bei sich führend.

»Sperre deinen Mund auf, Geselle«, rief er dem Sträfling zu, »ich werde dich tränken.«

Sein Russisch klang ohrenzerreißend, aber seine Barmherzigkeit war echt wie Gold. »O du armer Kerl«, rief er, als die schrecklich verbrannten Lippen, die blutende Zunge des Verbrechers sichtbar wurden – »Maria und Joseph, wie musst du leiden!«

Er goss vorsichtig das eisige Wasser Tropfen um Tropfen in den Mund des Unglücklichen, dann füllte er die Flasche zum zweiten Male und schob sie zwischen die Kleider des Sträflings, der ihm einen halbverständlichen Dank flüsterte. »Gott vergelte es, Herr, Gott vergelte es«, sagte er.

»Hat nichts zu bedeuten, mein Freund. Du ließest dich also wieder einfangen, Du wusstest nicht, was in diesem Falle deiner wartete?«

Der Blick des Diebes wurde tückisch und lauernd, ihm fehlte die Seelenverwandtschaft, welche notwendig bestehen muss, um den guten, harmlosen Menschen sogleich an seinen Handlungen zu erkennen. »Was könnte meiner warten?«, fragte er in gleichmütigem Tone.

»Fünfzig Knutenhiebe und dann – die weitere Verschickung.«

»So? – Das werde ich ertragen und dazu einen vollen Becher trinken. Auf die Gesundheit unseres Väterchens natürlich!«

Der Tanzlehrer schüttelte den Kopf, er trat zu dem Deutschen und sagte mitleidig: »Beim fünfundzwanzigsten Hiebe liegt der Bursche tot auf der Bank!«

Hermann schauderte. »Werden die Hiebe so schwer geführt?«, fragte er.

»Entsetzlich!«

Der Deutsche sah wieder zur Schlucht hinüber, unwillkürlich, einem Gedankengange folgend. Wenn die Flucht, mit der sich seine Seele schon jetzt beschäftigte, auch ihm misslang, dann kam also Knutenstrafe und Tod. Zwischen dem einen oder anderen Verbrecher, dem Straßenräuber und dem, der seiner politischen Gesinnung wegen verschickt wurde, gab es ja hier keinen Unterschied.

Aber doch einen, obwohl ihn Hermann nicht kannte – das Tuchviereck auf dem Rückenstück seines Rockes; es war blau, während die Mörder ein rotes trugen, die Diebe ein schwarzes und die Brandstifter ein gelbes.

Der Tanzlehrer hatte sich mit großer Geschicklichkeit so zu drehen gewusst, dass er von Hermanns breiten Schultern den politischen Verbrecher ablesen konnte; jetzt näherte er sich dem jungen Manne, stellte sich in aller Form vor und sagte dann, als er den Namen des Deutschen gehört hatte:

»Sie gefallen mir sehr, junger Landsmann, ich hoffe, wir werden Freunde sein!«

»Wohnen Sie denn an diesem traurigen Orte?«

»Ich wohne überall und nirgends, Herr Brandt. Lassen Sie sich mit zwei Worten meine Lebensgeschichte erzählen:

In Wien zu Hause habe ich eine einzige Tochter, die wird da von verlässlichen Leuten erzogen, sonst keinen Menschen, an dem ich mein Herz hinge. Ich spare für Toni und noch für einen anderen Zweck, müssen Sie wissen – Wien soll von mir ein Museum zum Geschenk erhalten, ein sibirisches Museum, Stück für Stück von meinen eigenen Händen zusammengetragen. Daheim lasse ich ein hübsches Häuschen bauen und schreibe über die Tür: ›Bochner-Museum‹. Das ist mein Ehrgeiz.

So – und nun erzählen Sie mir, woher denn Ihr Missgeschick stammt. Gehören Sie zu einer geheimen Studentenverbindung? Sind Sie ein Umstürzler, der das Väterchen vergiften oder erdolchen möchte? – Mit mir können Sie frei heraus sprechen.«

Der Deutsche lächelte traurig. »Ich habe nichts zu bekennen«, antwortete er. »Ich wurde hierher verbannt, nur weil ich meines Vaters Sohn bin!«

»Und der alte Herr befindet sich auch in Sibirien?«

Hermann schlug plötzlich beide Hände vor das Gesicht. »Er und meine arme Schwester, mein kleiner unschuldiger Bruder – alle, alle!«

Eine Pause folgte diesen halberstickten Worten. Für solchen Schmerz, für ein so schreckliches Unglück gab es keinen Trost – der Tanzlehrer mochte das fühlen. »Wo leben die Ihrigen?«, fragte er später.

»Ich weiß es nicht, ich habe darüber nicht einmal eine Vermutung. O die Bedauernswerten – sie sind vielleicht längst nicht mehr unter den Lebenden!«

Der Tanzlehrer drückte die Hand des jungen Mannes. »Nicht den Kopf hängen lassen«, ermahnte er, »nicht den Mut verlieren, junger Freund. Wer sich selbst aufgibt, der ist aufgegeben, wie Sie wissen. Möglicherweise finden Sie Ihre Angehörigen sehr bald wieder!«

»Aber«, fügte er hinzu, »wenn Sie mich nicht für unbescheiden halten wollten, Herr Brandt – wie geschah das alles?«

»Ach – wie es nur hier in Russland geschehen kann, Herr Bochner. Auf bloßen Anschein, auf böswillige Verleumdungen hin.

Mein armer alter Vater lebte als Professor an einer Universität in den Ostseeprovinzen, er hatte vielleicht Neider, es gab solche, die ihn zu verdrängen wünschten, kurz, es geschah eines Nachts eine Haussuchung, man fand in dem Arbeitspulte des alten Herrn verschiedene Manuskripte – Dichtungen, die ohne Weiteres für staatsgefährlich erklärt wurden und schon anderen Morgens ihren Verfasser in das Gefängnis brachten.

Etwas später wurden meine Geschwister mit ihm zusammen in die Kibitka gesteckt und hierher befördert, alles, während ich an einer anderen Universität studierte.

Man ließ mich ohne Nachricht – es war darauf abgesehen, mich zu überrumpeln. Ein ziemlich bedeutendes Vermögen, über welches mein Vater verfügte, konnte bequemer eingezogen werden, wenn ich beiseite geschafft war.

Ach – ich Unglücklicher gab meinen Freunden eine Gesellschaft, während die, welche ich liebte, sich in Sträflingskleidern auf dem Wege nach Sibirien befanden!

Wir spielten ein wenig Karten, lauter Studenten und um ganz geringe Beträge, aber dennoch hatten wir aus Vorsicht die Türen verschlossen. Plötzlich wurde angeklopft, die Karten und das Geld verschwanden in den Taschen, dann öffnete ich. Vor mir standen sechs Polizisten.

Ehe ich die unerwarteten Gäste eintreten ließ, erhielten meine Freunde einen Wink, sie flüchteten durch die Fenster – zu meinem Unglück entkamen alle; denn eben durch die Eile, womit sie verschwanden, ließ sich ja ihre Schuld sonnenklar beweisen.

Es war in den Augen der Schergen eine politische, aufrührerische Versammlung, die bei mir stattgefunden hatte – ich, meines verurteilten Vaters Sohn, wurde ihm schleunigst nachspediert. Das ist alles, was ich selbst weiß.«

In diesem Augenblick erschienen die Kosaken mit erhitzten Gesichtern auf der Straße und einer von ihnen löste die Kette des Deutschen von der Kibitka. Kommen Sie, Gefangener«, sagte er, »der Aufseher wartet«.

Die übrigen Kosaken bewogen durch Püffe und Schimpfworte den anderen Sträfling, sich von seinen Knien zu erheben; die Kibitka mit ihrem verzweifelten, kaum menschenähnlich wimmernden Insassen setzte sich wieder in Bewegung, während der Tanzlehrer zum Abschied die Hand des Deutschen drückte. »Auf Wiedersehn!« flüsterte er.

»Das hoffe ich. Leben Sie wohl, Herr Bochner!«

Sie grüßten einander, und Hermann folgte dem Kosaken, der ihn in das Zimmer des Aufsehers führte.

Hier musste sich der Gefangene vollständig entkleiden, und nun verglich der Beamte den Inhalt des vom Kosaken empfangenen Zwangspasses mit dem, was er sah.

Leise murmelnd nickte er vor sich hin. »Stimmt genau«, sagte er. »Sie sind es. Ich hatte schon einmal einen Hermann Brandt hier – einen alten Mann!«

Der Gefangene taumelte fast. »Mein Vater!«, schrie er.

»Das ist möglich; er arbeitete in diesen Minen.«

»O Gott, großer Gott – mein Vater, ein Greis, ein Gelehrter – er in den Minen?«

»Weshalb nicht? Hier haben schon Fürsten und Grafen die Erde ausgeschaufelt.« Und beide, der Aufseher sowohl wie der Kosak, verfielen in ein rohes Gelächter.

Hermann faltete die Hände, er war blass vor unerträglicher Aufregung. »Wo befindet sich mein Vater jetzt, Herr Aufseher? O aus Erbarmen, sagen Sie es mir.«

»Gern; damit begehe ich keinerlei Pflichtverletzung. Sein Los wurde insoweit gemildert, als man ihm gestattete, in Irkutsk zu wohnen. Er erhält eine geringe Pension.«

»Dem Himmel sei Dank! – Und meine Schwester, mein kleiner Bruder?«

»Sie leben beide bei ihm.«

»Gott sei gepriesen! – O nun ist alles gut!«

Der Aufseher lachte. »Mit so vergnügtem Gesicht wurde noch keiner vor Ihnen in die Sträflingsliste eingetragen«, sagte er etwas spöttisch. »Na, wünsche guten Mut, Sie sind jetzt aus dem früheren Hermann Brandt zu Nummer 65 geworden, und das bleiben Sie bis an Ihr Ende.«

Er klingelte und übergab einem eintretenden Korporal den Gefangenen. »Ersatz für die Lücken in den Reihen deiner Mannschaft, mein guter Iwan«, sagte er.

Der Korporal zog ein Taschenbuch hervor. »Diese Woche sind nur wenige gestorben«, antwortete er. »Drei Leute!«

Dann sah er den Gefangenen an, und wieder vollzog sich der peinliche Vorgang von vorhin. Anstatt der eben Begrabenen wurde eine neue Nummer 65 in die schreckliche Liste eingetragen.

»Wohnt mit zwei anderen Sträflingen in der fünfzigsten Jurte«, fügte der Mann hinzu, »jetzt vorwärts, Nummer 65!«

Eine kurze Lederpeitsche pfiff durch die Luft, dann zeigte der ausgestreckte Arm die Richtung. »Dorthin! – Ich stehe während der Arbeit hinter dir!«

Mehrere Leute zogen große Körbe voll Erz aus der Erde hervor; sie waren buchstäblich mit Schmutz und Lumpen bedeckt, ihre Füße steckten ohne Strümpfe in Holzschuhen oder standen ganz nackt auf dem eisigen Boden; voll bitteren, unverhüllten Neides sahen sie auf die heile Kleidung und namentlich die hohen Lederstiefel des neuen Ankömmlings.

Einer von ihnen ging voran und zeigte den Weg, welchen Hermann zu nehmen hatte – eine Leiter, die tief hinab in den Schoß der Erde führte. Ohne Ende schien, finster und immer finsterer werdend, der Pfad; Sprosse reihte sich an Sprosse – ein Schwindel packte mehr als einmal das Gehirn des jungen Mannes.

Zuweilen glühten wie Katzenaugen räucherige Lampen in der umgebenden Dunkelheit, hier und da stand eine Bank zum Ausruhen, von den Wänden sickerten langsam schwere Tropfen, und aus der ungesehenen Tiefe herauf klangen die metallenen Schläge des Hammers, der das Erz löste – wie aus weiter, weiter Ferne drang der Ton herüber.

Weiter! weiter! – Immer erstickender wurde die Luft. Es war, als führten Teufel einen Verurteilten in die Hölle.

Hermann fühlte, dass ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Fünfhundert Stufen – wann kam das Ende?

Schattenhafte Gestalten tauchten auf, lauter Greise, wie es schien, mit einer Gesichtsfarbe von Blei und langen, oft bis über die Brust herabreichenden Bärten, alle zerlumpt, abgemagert, elend bis zum Äußersten.

Hier unten auf dem eigentlichen Arbeitsplatz war die Luft buchstäblich mit kleinen Staubteilchen, mit den entsetzlichsten Dünsten erfüllt. Kaum menschenähnlich erschienen in der zweifelhaften Beleuchtung die Gesichter mit dem Brandmal auf Stirn und Wangen – bei den meisten drei Buchstaben: W-O-R – »Dieb«.

Auch politische Verbrecher waren da, und an den gefährlichsten Stellen arbeiteten gerade sie, zum Beispiel bei Zinn- und Kupfererzen, wo sich bekanntlich aus dem feinen Staube Arsenik und Grünspan entwickelt. Ihre Gesichter und die meist kahlen Schädel waren grün, sie glichen Gespenstern, Totenmasken, viele unter ihnen gingen mit geschlossenen Augen einher.

Von Zeit zu Zeit hörte man das Klatschen einer Aufseherpeitsche, dann folgte ein gellender Schrei, zuweilen ein Fall, ein Ringen, und alles versank wieder in die frühere Leichenstille.

Hermann fühlte sich von der Hand des Aufsehers in einen Seitengang gestoßen, man gab ihm einen Hammer und befahl ihm, seine Arbeit anzufangen; aber er konnte es nicht, der Arm sank matt herab, er kam sich vor wie lebendig begraben, ein Druck, der ihn zittern ließ, lag auf seinem Gehirn, seiner Brust.

Der Wärter hob die Peitsche. »Soll ich dir Lust machen?«, fragte er.

Hermanns Verstand begann sich zu umnachten. »Rühre mich nicht an«, rief er, »oder ich schlage dich nieder wie einen Hund!«

Vielleicht erkannte der Wärter diejenige Verzweiflung, für welche es überhaupt keine Gesetze, keine Rücksichten mehr gibt, er duckte sich wie vor den Pranken eines wilden Tieres und verschwand in einem Seitengange.

Vor Hermanns Blicken drehte sich alles im Kreise, er sank ohnmächtig zurück auf das zackige Gestein.

Schicksalswechsel

Es gibt nichts, was dem guten Menschen zu schwer würde, sobald er es nur erträgt für die, welche ihm lieb und teuer sind. Hermann dachte an seinen alten Vater, seine zarte, schutzlose Schwester und den Knaben – in dieser Erinnerung, in dieser Hoffnung eines Wiedersehens hielt er sich aufrecht. Schon am zweiten Tage arbeitete er in der entsetzlichen Grube wie die anderen Sträflinge.

Der Fluchtplan war aufgegeben und an seine Stelle ein neuer Gedanke getreten. Vielleicht, wenn er sich gut führte, erlaubte man ihm, in Irkutsk bei den Seinigen zu leben.

Man grub einen Brunnen, wobei einer der Verbannten den Meißel hielt, während zwei andere abwechselnd den Hammer führten; unter diesen Schlägen schien der Boden zu zittern, schien sich die schreckliche, mit tötenden Dünsten erfüllte Luft zu einem Meer von Staub zu verdichten. Weiter, immer weiter, vierzehn lange Stunden täglich, immerfort, bis das Grab die Mutterarme öffnet und den Elendesten aller Elenden, den in die sibirischen Bergwerke Verbannten, endlich erlöst.

Der erste Teil der Arbeit war getan; jetzt gab es einen Tuffstein zu durchbohren, eine bröckelnde Masse, die beständig zu stürzen drohte. In jedem Augenblick konnte der Felsen fallen und alle unter ihm Stehenden zu Staub zerschlagen.

Wenn ein Tag, so verlebt, tief im unergründlichen Schoße der Erde mühselig dahingeschleppt war, wenn es oben, wo Gottes Sonne scheint, zu dunkeln begann, dann wurde der Schacht geöffnet, und das Emporklimmen nahm seinen Anfang.

Für die Kräftigsten, diejenigen, welche nur weniger Ruhepausen bedurften, erforderte dieser Weg zwei volle Stunden, andere brauchten deren vier.

Oft genug aber ertönte auch auf den Sprossen der dunkeln Leiter ein Ächzen, ein leises, abgerissenes Gebet, ein herzerschüttender Fluch – dann folgte ein dröhnender Fall, und am andern Morgen fanden die Sträflinge unten auf dem Arbeitsplatz den zerschmetterten Körper eines ihrer Unglücksgenossen.

Hermann kämpfte gleich einem Verzweifelten, um dies Leben zu ertragen.

Aber nach und nach schwanden seine Kräfte! Ein schleichendes Fieber überfiel den mutigen, jungen Deutschen, er fing an alles zu bezweifeln, alles verloren zu geben. Ob ihm der Aufseher wirklich die Wahrheit gesagt hatte? Ob sein Vater und seine unschuldigen Geschwister noch lebten? – Vielleicht waren sie längst begraben.

Der Appetit des jungen Mannes schwand dahin, der Schlaf fing an auszubleiben, und nun brach er zusammen, unerträglicher Kopfschmerz quälte ihn zu jeder Stunde, er hörte vor den Ohren ein beständiges, dumpfes Geräusch, seine Hände zitterten.

Sollte er ein freiwilliges Ende suchen?

Aber fort mit dem sündigen Gedanken! Es war nur die Krankheit des Körpers, welche ihn erzeugt hatte; Hermann biss die Zähne zusammen, um sich aufrecht zu halten. Nein, nein, lieber das Ärgste ertragen, als zum Selbstmörder werden.

Noch zwei oder drei Tage lang schleppte er sich in die Grube, dann war es ihm eines Morgens unmöglich, aufzustehen.

»Ich kann nicht«, flüsterte er, als ihn seine Schlafkameraden warnten, sich dem Zorne des Aufsehers auszusetzen; hierauf blieb er ohnmächtig liegen.

Wohl nur dieser letztere Umstand schützte ihn vor den Knutenhieben, welche man anderenfalls angewandt haben würde, um den politischen Verbrecher, den verhassten Gebildeten zum Aufstehen zu zwingen – Hermann wurde in das Krankenhaus gebracht, ohne von der Beförderung dahin das Mindeste zu bemerken.

Zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen, ehe das Bewusstsein zurückkehrte. Hermann befand sich in fast vollständiger Dunkelheit, er hatte über die Stirne eine nasse Binde und lag in einer Art hölzernen Verschlages, ähnlich einer Schiffskoje und ebenso niedrig wie diese. Unter seinem vom Fieber geschüttelten Körper befanden sich nur die nackten Bretter, selbst nicht einmal eine Decke oder ein wenig Stroh hatte man den in einem elenden, schlecht verwahrten Raume zusammengepferchten Kranken zuteil werden lassen.

Hier röchelte ein Sterbender, dort wimmerte einer im unerträglichen Schmerz oder heulte und tobte im Wahnsinn – an anderer Stelle lag ein Toter still und blass, dem Erdenkampfe für immer entrückt.

Dazwischen gingen diejenigen, welche sich allein aufrecht halten konnten, umher und halfen ihren Leidensgenossen, so viel ihnen möglich war.

Wenn sich die Tür öffnete, drangen Fluten von Schnee und eisiger Kälte in den ungeheizten Raum, wenn sie geschlossen war, verursachte die faulige, mit Pestkeimen erfüllte Luft Ohnmachten und Raserei.

Dass es unter solchen Umständen keinen Arzt und keine Arzneien gab, können sich meine jungen Leser wohl denken, dass man aber selbst nicht einmal menschlich genug war, die Leichen Verstorbener aus dem Krankenzimmer zu entfernen – das ist kaum glaublich und doch trostlose Wahrheit. Sie blieben liegen, sie erfüllten mit Verwesungsgeruch den ohnehin vergifteten Raum.

Hermann gewann nur langsam die Erkenntnis aller dieser Gräuel, aber zugleich mit der Empfindung des Unerträglichen, mit dem Hasse gegen die Gewalthaber wuchs auch wieder das Verlangen, sich ihrer Rohheit zu entziehen – zu sterben.

Der hängende Tuffstein brauchte an einer bestimmten, dem Verzweifelten wohlbekannten Stelle nur einige stärkere Axtschläge, und er musste stürzen. Jetzt war der Entschluss gefasst, sogar schon von der Beimischung des Sündhaften, des Auflehnens gegen Gott, in Gedanken gesäubert: – musste nicht der Tod ohnehin sehr bald kommen? Es handelte sich also keineswegs darum, ihn herbeizuführen, sondern nur das Unvermeidliche ein wenig zu beschleunigen.

Hermann taumelte noch vor Schwäche, aber er entfernte sich doch aus dem schrecklichen Krankenhaus, das zugleich als Totenkammer diente – er kletterte, seine letzten Kräfte zusammenraffend, in das Bergwerk, um nachzusehen, ob die Arbeit an dem hängenden Tuffstein inzwischen durch andere vollendet sei.

Unterwegs sagten seine Gedanken allen denen, die er liebte, ein letztes Lebewohl. Er versuchte es, mit weniger Bitterkeit des Kaisers und seiner grausamen Beamten zu gedenken, er bat Gott um die Vergebung der Sünden und eine selige Auferstehung.

Ihm war feierlich zumute, er hatte sich in den verhängnisvollen Irrtum vollständig hineingelebt, er glaubte getrost von dem Dasein, das zur unleidlichen Qual geworden, scheiden zu dürfen.

Jetzt stand er unten auf dem Arbeitsplatz; sein erster Blick galt dem hängenden Steine. Gottlob, niemand hatte ihn berührt –

Gottlob!

Er atmete tief. »Vergib mir, Vater im Himmel, vergib mir!«

Er bückte sich, um die Spitzaxt zu ergreifen, da nannte hinter ihm eine Stimme seinen Namen: »Hermann Brandt, der Unternehmer unseres Bergwerkes, Herr von Nadeieneff, ist gestern Abend hier angekommen – er hat Sie rufen lassen!«

Es war der Aufseher, welcher diese Meldung überbrachte, und jetzt fügte er hinzu: »Machen Sie nur rasch, dass Sie fortkommen.«

Hermann stand immer noch mit der Axt in der Hand. »Was bedeutet das?«, fragte er sehr verwirrt. »Was verlangt der Herr von mir?«

»Das weiß ich nicht, aber Sie müssen sofort gehorchen.«

Hermann ließ das Werkzeug fallen. Es sollte also nicht sein!

Klopfenden Herzens wanderte er die endlose Stufenreihe wieder hinauf. Welche neue Veränderung seines Schicksals mochte jetzt bevorstehen!

Stunden vergingen, ehe er die Oberfläche der Erde und das Empfangszimmer des Minenaufsehers erreichte; er sah aus wie ein dem Grabe Entstiegener.

Herr von Nadeieneff, ein Mann mit einem Kalmückengesicht und schlauen, blinzelnden Augen, hielt in der Hand ein Papier, das Hermann als seinen eigenen Zwangspass erkannte. Zuweilen sah der reiche Mann hinein, zuweilen strich er sich über den Bart und nickte wohlgefällig, dann begrüßte er den schweratmenden jungen Deutschen.

»Sie sind Student, nicht wahr? Sprechen deutsch, französisch, verstehen sich auf das Lateinische und können besonders gut rechnen?«

Hermann verbeugte sich. »Ja, mein Herr!«

»Das freut mich. Für jeden Verschickten zahle ich der Regierung eine hohe Pacht, ich muss also die Leute bestens ausnutzen. In den Minen, mit der Spitzaxt in der Hand, sind Sie jedenfalls ein mittelmäßiger Arbeiter, wir wollen es also einmal mit der Feder versuchen. Sie beabsichtigten Ingenieur zu werden, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr!«

»Und hätten es ohne Zweifel zu etwas Bedeutendem gebracht! Weshalb mussten Sie sich in Dinge mischen, die Sie nichts angingen?«

Hermann fühlte, dass er errötete. »Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er hastig, »aber ich habe wirklich –«

Der Unternehmer winkte ihm. »Lassen wir das, mein Freund, ich bin kein Strafrichter. Hören Sie jetzt meinen Vorschlag. Ich arbeite an einer Denkschrift, die für den Kaiser bestimmt ist, an einem wissenschaftlichen Werke über Sibirien, das einerseits als die Hölle, welche es wirklich ist, geschildert wird und andererseits auch mehr Gerechtigkeit erfahren soll. Hier liegen ungehobene, riesige Schätze im Boden verborgen, hier könnte bei richtiger Verwertung des Vorhandenen der zehnfache Ertrag gewonnen werden. Das alles möchte ich Seiner Majestät, dem Zaren, unterbreiten, ich beherrsche auch den Stoff, aber mir fehlt vielfach die äußere Form, die Gewandtheit der Rede; Sie sollen also mein Sekretär werden, passt Ihnen das?«

Hermanns Blicke flammten auf. Erlöst aus den Minen, aus der furchtbaren Genossenschaft von Straßenräubern und Mördern – welch ein Glück!

»Gewiss«, sagte er hastig, »ach gewiss. Ich danke Ihnen, mein Herr!«

»Das freut mich. Morgen kommt einer meiner Kutscher mit dem Schlitten und holt Sie von hier ab nach Irkutsk.«

»Nach Irkutsk?«

»Ja. Sie wünschen in einer Stadt, in gebildeter Umgebung zu leben, nicht wahr? Sie freuen sich des Wechsels, ich kann es mir denken! – Nun gehen Sie nur, bis morgen können Sie einstweilen ohne Arbeit die Zeit nach Belieben verbringen.«

Hermann war entlassen; wie ein Träumender ging er zwischen den Jurten dahin. »Nach Irkutsk«, hatte Herr von Nadeieneff gesagt, »nach Irkutsk!«

Ein Gefühl nicht zu beschreibender Dankbarkeit erfüllte seine Seele. Wie barmherzig war Gott und wie wenig wert aller dieser Gnade er selbst! Anstatt zu warten und geduldig voll Zuversicht der Stunde des Herrn entgegenzusehen, wollte er in verzehrender Ungeduld die Hand an das eigene Leben legen, wollte er eingreifen in den Willen des Höchsten! – Und ehe der Schlag fiel, der verhängnisvolle Schlag, den keine Reue zurückkaufen konnte, ehe er zum Selbstmörder wurde, schickte ihm Gott die Botschaft der Gnade.

Als er in seiner armseligen Behausung angekommen war, legte Hermann beide Hände vor das Gesicht und weinte wie ein Kind –

Am anderen Tage erschien pünktlich ein Eingeborener mit einer »Troika«, einem großen sechssitzigen Schlitten, vor den drei weißgraue sibirische Pferde gespannt waren und der umso schneller über den Schnee dahinflog, als nur Hermann in seinem Inneren Platz genommen hatte. Fort von den Minen, von dem düsteren, grauenvollen Krankenhause, fort aus einer Umgebung der Rohheit und Willkür zu gebildeten Menschen, ach und vielleicht sogar zu denen, die er liebte!

Hermann war glücklich, er hätte am liebsten laut heraus gejubelt, aber die Klugheit gebot ihm Schweigen. Vielleicht, wenn Herr von Nadeieneff erfuhr, dass sein neuer Sekretär in Irkutsk Vater und Geschwister habe, vielleicht bewirkte er dann die Entfernung dieser aus der Stadt. Möglich war es ihm ohne Zweifel.

Schlimme Erfahrungen schärfen die Vorsicht. Hermann gewann es trotz seiner geheimen Freude doch über sich, äußerlich ruhig, ja ernst zu erscheinen.

Die Troika flog windschnell unter dem blauen, durchsichtigen Himmel dahin. Am Wege standen krüppelhafte Lärchen, große Züge wilder Gänse segelten durch die Luft, überall strömte aus den Felsspalten und Pässen hervor der eisige Hauch, nichts als nur die Spuren verschiedener Schlitten zeigten an, dass überhaupt menschliche Wesen die trostlose Einöde aufsuchten.

Seit der Verbannte die Peitsche des Aufsehers nicht mehr über seinem Kopfe sah, seit er nicht länger statt des Namens eine Nummer trug und überhaupt unter Gottes Sonne frei umherging, war er ein ganz anderer Mensch geworden. Seine gesunkene Gestalt richtete sich auf, seine Augen erhielten den alten Glanz, er fühlte, wie mit jeder Stunde die verlorenen Kräfte zurückkehrten. Jetzt war er imstande, ohne Bitterkeit an die jüngste Vergangenheit zu denken, er empfand vor der verhüllten Zukunft keine Furcht mehr. Vaterland und Vermögen musste er als verloren betrachten, aber die Seinigen waren ihm erhalten, und das ging doch über alles. Des Lebens Höchstes ist die Liebe zu treuen, zärtlichen Herzen.

Wie fröhliche Gesichter, wie die Grüße teurer Stimmen umgaukelten ihn die Erinnerungen früherer Tage. Er spielte mit seiner Schwester unter den Bäumen eines schönen, alten Parks, er freute sich mit ihr an dem Kinderlallen des neugeborenen Brüderchens – dann kam die Zeit, wo er zur Hochschule ging, Emma wurde konfirmiert, und der kleine Otto ritt sein erstes Steckenpferd.

Freilich fiel auf diese Zeit ein tiefer Schatten; die geliebte Mutter starb, und dem Vater war durch ihren Tod der alte Familiensitz verleidet, er überließ die Bewirtschaftung desselben seinem jüngeren Bruder und nahm einen Ruf nach den deutschrussischen Provinzen umso lieber an, als ihn die Stellung des vortragenden Professors ganz aus der Heimat entfernte und ihm neue Pflichten brachte, neue Arbeit, das uralte und doch ewig junge Heilmittel gegen jeden Schmerz der Erde.

Hermann seufzte. Hätte er es nie getan, nie! Wie viel unermessliches Weh wäre ihm selbst und seinen Kindern erspart geblieben!

Aber fort mit den trüben Gedanken! Das Schlimmste war überstanden; vielleicht brachte ja schon die nächste Zukunft neues Glück, neue Rosen.

Ein wenig Tabak, dem Kutscher gespendet, ein paar Scheidemünzen, ihm in die Hand gedrückt, machten den Burschen gesprächig, er erzählte von dem Hause des Herrn Nadeieneff, von der Stadt Irkutsk und allem Möglichen, endlich sagte er: »Es ist außer dir noch ein Sträfling da, der auch Brandt heißt, ein alter Mann – kennst du ihn?«

Unser Freund zuckte die Achseln. »Der Name ist unter uns Deutschen gewöhnlich«, versetzte er ausweichend, »man findet ihn hundertfach. Aber lass uns einmal sehen – hat dein Herr Brandt zwei erwachsene Töchter, mein guter Freund?«

Sein Herz hörte bei dieser Frage auf zu pochen. Jetzt musste sich’s entscheiden, ob Emma die Drangsale der weiten Reise überstanden hatte, oder nicht.

Der Kutscher schüttelte den Kopf. »Eine Tochter und einen Sohn«, antwortete er, »ich weiß es gewiss. Der Knabe kann zwölf Jahre zählen, das Mädchen arbeitet für die Damen in Irkutsk als Kleidermacherin.«

»O Gott!«

»Weshalb erschrickst du so, Herr?«, fragte der »Jemschick« (Kutscher).

»Nichts, nichts – ich glaubte, das Handpferd wolle fallen.«

»Der ›Mazeppa?‹ – Da sei ganz ruhig, er ist gut eingefahren.«

Hermann schwieg, sein Blut war plötzlich sehr in Wallung gekommen. Arme Emma, wie viele Demütigungen mochte die Tochter des reichen Hauses jetzt zu erdulden haben!

Der Schlitten flog seiner Ungeduld lange nicht schnell genug, er konnte während zweier Nächte nicht schlafen und am Tage nichts essen, bis endlich im letzten Abendschein die Stadt Irkutsk vor seinen Blicken lag.

Wiedersehen

Auf Türmen und runden Kuppeln, auf weißen Minaretts glänzten die Sonnenstrahlen. Vom hohen Ufer der Angara herab zeigte sich die Hauptstadt des östlichen Sibiriens wie mit einer Lichtflut übergossen, wie das Märchenbild einer Fata Morgana inmitten der Wüste. Eine lange Reihe von altersgrauen Mauern beschützte die Stadt, griechische Kirchen mit ihren Riesenkreuzen umgebend, Prachtgebäude und kleine bescheidene Hütten, hochgewölbte Brücken, unter denen sich das Wasser der Angara, einem glitzernden Goldflusse gleich, dahinzog.

Hermann konnte seine Blicke nicht losreißen. Unter welchem dieser vielen Dächer mochten die, welche er liebte, Schutz gefunden haben?

Endlich fuhr die Troika über eine der Brücken, durch ein von sechs Kosaken bewachtes Tor und über einen Marktplatz mit prachtvollen Bauten und Denkmälern, ja, mit einem Basar, in welchem die teuersten und kostbarsten Luxusgegenstände aller Länder aufgestapelt waren.

Der Reichtum der Stadt schien auf den ersten Blick mit demjenigen der bedeutendsten europäischen Städte wetteifern zu können; es gab keinen seidenen oder samtenen Stoff, keinen Schmuck irgendeiner Art, der nicht in den Schaufenstern gelegen hätte, keine tropische Pflanze, die nicht in mehr als nur einem Treibhause zu finden gewesen wäre. Irkutsk musste über viele Millionen verfügen.

Hermann sah Chinesen und Japaner ihre Spielwaren feilbieten, sah Kaufleute aus Tibet und der Mandschurei in langen, himmelblauen Gewändern einhergehen und bemerkte zwischen ihnen auch die langbärtigen Juden, diese Weltbürger, welche nirgends fehlen, Pelzhändler aus Astrachan und zuweilen Häuptlinge der umherziehenden Burjäten, die vor ungeheuren, auf den Flößen der Angara herbeigebrachten Wollenballen saßen.

Neben dem großen Basar standen die Holzbuden der wandernden Schauspieler und Seiltänzer, zwischen denen es von Fuhrwerken wimmelte. Vor den Niederlagen der Pelz-, Blumen- und Seidenhändler hielten englische oder französische Kaleschen mit galonnierter Dienerschaft, vor den Gauklerbuden die Tarantassen der Bauern, Telegas und Kibitken.

Auf den Marktplatz und seine nächste Umgebung beschränkte sich indessen dies vornehme Aussehen fast vollständig. Die Troika fuhr noch durch zwei oder drei Straßen, dann kamen elende, verfallene Gebäude, Hütten aus Holz und Lehm, die Behausungen der niedersten, hoffnungslosesten Armut. In den Wegen fehlte das Pflaster, es gab keine Läden mehr, manchen Wohnungen hatten die Herbststürme sogar das Dach entführt, oder Fenster und Türen waren abhanden gekommen. So reich und glänzend das vornehme Viertel erschien, so arm und zerlumpt war die übrige Stadt.

»Hier wohnen die ›Varnaks‹ (Verbannten)«, flüsterte der Jemschick.

Es gab unserem Freunde einen Stich ins Herz, aber er schwieg und beobachtete ruhelos alles, was er sah. Vielleicht waren ihm ja die geliebten Seinigen so nahe!

Irgendetwas betrieb jeder dieser aus den Minen Erlösten, das erkannte er an den armseligen Holzschildern über den Haustüren. Tischler und Weber, Kürschner und Papparbeiter, alles war vertreten, und so mancher gute deutsche Name befand sich unter denen der Armen und Elenden.

Vor einem der letzten Häuser hielt die Troika. Eine Bretterwand verbarg das Aussehen desselben – es war die Hinterseite des Besitzes am Markt, welcher Herr von Nadeieneff gehörte, den aber der Jemschick und der Verbannte natürlich von jener Seite her nicht betreten durften.

Der Kutscher öffnete eine Tür, führte das Gespann in einen geräumigen Hof und überlieferte seinen Fahrgast einer alten Haushälterin, die schon ein gutes Zimmer und eine dampfende Mahlzeit in Bereitschaft hielt.

Herr von Nadeieneff werde erst in vierzehn Tagen zurückkehren, hieß es, so lange sollte sich der Herr Sekretär die Zeit bestmöglich vertreiben, wozu ihm gleich das Gehalt für den ersten Monat ausgehändigt wurde.

Wer war froher als Hermann? Vierzehn Tage! Während dieser langen Zeit konnte er die Stadt von einem Ende zum anderen durchforschen, um Vater und Geschwister aufzufinden.

Er nahm kaum einige Bissen zu sich, dann eilte er fort, ohne indessen der Dienerschaft des Hauses irgendeine Frage zu stellen; draußen dagegen wandte er sich an den ersten besten Vorübergehenden und erkundigte sich nach der Wohnung der Seinigen.

Die Frau, mit welcher er sprach, wusste nichts. »Fragen Sie den jüdischen Wirt am Festungstor«, war ihre Antwort, »der kennt alle Leute, namentlich alle Deutschen.«

»Ist er denn vielleicht selbst einer?«

»Jawohl! Moses Hirsch ist aus Preußen gebürtig.«

»Ach, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen, liebe Frau!«

Und er stürzte fort, um die Schenke zu erreichen, ein schmutziges, verräuchertes Loch, in dem die Torwächter mit altersschwarzen Karten spielten. Hinter dem Schenktisch stand Moses Hirsch und sah blinzelnd zu dem Neueintretenden hinüber. Was konnte der »Herr« hier suchen?

Hermann nahm ihn zitternd vor Aufregung beiseite. Wieder stellte er die Frage, von deren Beantwortung für ihn im Augenblick alles abhing. »Kennst du den alten Mann, Moses Hirsch, kennst du ihn?«

Der Klang der Muttersprache mochten den Juden erschüttern, mitleidig sah er in das junge Antlitz vor ihm. »Sei ruhig«, sagte er auf deutsch, »sie leben, der Alte und die Kinder, mein Sohn soll Dir auch das Haus zeigen. Brandt ist dein Vater, nicht wahr? Ich sehe es an der auffallenden Ähnlichkeit zwischen euch.«

Hermann nickte; er vermochte kaum zu sprechen. »Schnell!«, stammelte er. »Schnell!«

Der Wirt rief einen schwarzlockigen Knaben herbei, drückte Hermanns Hand und sagte: »Besuche mich wieder, Landsmann!« – dann gingen die beiden Wanderer hinaus in die eisglitzernde Nacht.

Hier in dieser dörflichen Umgebung schlief fast alles. Am Himmel glänzten die Sterne, einsam stand hie und da ein krüppelhafter Baum, Menschen waren nirgends zu erblicken. Zerbrochene Türen, fehlende Dächer, Fensterscheiben von Papier, eine tiefe Todesstille, durch nichts unterbrochen, das war der Eindruck, welchen Hermann erhielt; bleiern senkte sich das Vorgefühl eines nahenden Unglückes herab auf sein Herz.

»Da ist’s!«, sagte nach langer Wanderung der Knabe, indem er auf eine elende, aber doch noch dürftig erhellte Hütte hinwies. »Geben Sie ein Trinkgeld, Herr?«

Mechanisch reichte Hermann dem jungen Semiten etwas Geld und freute sich, als dieser eilends davonsprang. Also hier sollte er Vater und Geschwister wiederfinden, hier, in Räumen, die jeder redliche Mann daheim in Deutschland für sein Vieh zu schlecht gehalten haben würde – die Aufregung erstickte ihn fast.

Sein Klopfen war mehr ein Alarmzeichen, er konnte jetzt unmöglich länger warten. Laut dröhnend schallten die Schläge durch die todesstille Nacht.

Ein Fenster im unteren Stock wurde geöffnet, eine Mädchenstimme fragte halb ängstlich: »Wer ist da?«

»Emma!«, rief Hermann statt aller Antwort. »Emma!«

»O großer Gott – das ist Hermann!«

»Hurra!«, jubelte drinnen ein Knabe. »Hurra!«