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Karl Kraus war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er war Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprach- und Kulturkritiker sowie vor allem ein scharfer Kritiker der Presse und des Hetzjournalismus oder, wie er selbst es ausdrückte, der Journaille. Dieser Band beinhaltet viele seiner Aufsehen erregenden Aufsätze.
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Seitenzahl: 2405
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Gesammelte Aufsätze
Karl Kraus
Inhalt:
Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)
August Strindberg †
Aus der Branche
Mein Gutachten
Eine Rundfrage
Bekannte aus dem Varieté
Bitte an Menschenfreunde
Das Ehrenkreuz
Der alte Tepp
Der Biberpelz
Der Bilanz is schuld
Der Bulldogg
Der Fall Hervay
Der Fall Kerr
Caprichos
Der Fall Riehl
Der Festzug
Der Fortschritt
Der Löwenkopf oder Die Gefahren der Technik
Der Meldzettel
Der Neger
Der Ton
Die Büchse der Pandora
Die chinesische Mauer
Die Entdeckung des Nordpols
Die europäische Kultur hält ihren Einzug
Die Mütter
Die Schuldigkeit
Die schweigenden Ärzte
Die Welt der Plakate
Ein Überfall der Justiz
Eine neue Form der Banalität
Eine Prostituierte ist ermordet worden
Er ist doch e Jud
Eros und Themis
Ethik und Strafgesetz
Fahrende Sänger
Franz Ferdinand und die Talente
Girardi
Grimassen über Kultur und Bühne
Lob der verkehrten Lebensweise
Menschenwürde
Messina
Mutterschutz
Nach dem Erdbeben
Nestroy und die Nachwelt
Peter Altenberg
Razzia auf Literarhistoriker
Schnitzler-Feier
Schrecken der Unsterblichkeit
Selbstbespiegelung
Sittlichkeit und Kriminalität
Unbefugte Psychologie
Und Hauptmann dankt
Untergang der Welt durch schwarze Magie
Verbrecher gesucht
Von den Gesichtern
Von den Sehenswürdigkeiten
Weihnacht
Zum Prozeß Rutthofer
Am Sarg Alexander Girardis
An den Polizeipräsidenten
Aus der Sudelküche
Aus Kindern werden Erwachsene
Beethoven und Goethe
Brot und Lüge
Das Mangobaumwunder
Das österreichische Selbstgefühl
Das technoromantische Abenteuer
Der Lächler
Dialog der Geschlechter
Dichters Klage
Die Affäre Harden
Die Feldgrauen
Die Gefährten
Die Sintflut
Die Welt ohne Blatt
Ein deutsches Buch
Ein Ereignis
Ein kalter Schauder über den Rücken
Ein Kantianer und Kant
Franz Grüner
Goethes Volk
Großmann
Gruß an Bahr und Hofmannsthal
Herz, was begehrst du noch mehr?
Hochzeitsgäste
Hussarek – Sinclair
In dieser großen Zeit
In eigenster Sache
Klarstellung
Man darf nicht generalisieren
Meine Widersprüche
Metaphysik der Haifische
Mödling und Wien
Monarchie und Republik
Nachruf
Phantome
Rede am Grabe Peter Altenbergs
's gibt nur an Durchhalter!
Schonet die Kinder!
Schweigen, Wort und Tat
Shakespeare und die Berliner
Sittlichkeit und Kriminalität /2
Tagebuch
Theater, Kunst und Literatur
Unsichere Kantonisten
Vom großen Welttheaterschwindel
Was Herr Castiglioni umsonst erhalten konnte
Weltgericht
Wilhelms Autorschaft
Adolf Loos
»An der Schwelle des Goethejahres«
Aus dem Reich der Vernunft
Aus der Barockzeit
Befriedung
Demokratisierung und Isolierung
Der Fall Jacobsohn
Der Hort der Republik
Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt
Der Wiener
Die Dritte Walpurgisnacht
Die nationale Ehre
Die Prostituierten
Ein Friedmensch
Ein Plakat, das seine Wirkung vor dem Erscheinen getan hat
Entlarvt durch Bekessy
Goethe-Feier bei den Tschechen
Goethe und Reinhardt
Hüben und Drüben
Made in Germany
Mein Vorurteil gegen Piscator
Nachträgliche Republikfeier
Neue Ideen
»Offenbach-Renaissance«
Promesse
Prominente Pupperln
Reinhardt und Reinhold
Timons eigene Schrift
Timons Mahl
Trunkener Schmetterlingsgeist
Verkehrsregelung
Vom Zörgiebel
Vor neunhundert Zeugen
Karl Kraus, Der Kämpfer
Winke für die Schwangerschaft
Sieg über Sisera
Zum Empfang
Zur Aufhebung des Fremdenverkehrs
Zweihundert Vorlesungen und das geistige Wien
Gesammelte Aufsätze, Karl Kraus
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849629854
www.jazzybee-verlag.de
Österreichischer Publizist und Schriftsteller, geboren am 28. April 1874 im nordböhmischen Gitschin (heute: Jicín), verstorben am 12. Juni 1936 in Wien. Sohn des jüdischen Papierfabrikanten Jakob Kraus und dessen Frau Ernestine. Schon mit drei Jahren zieht K. mit seiner Familie nach Wien, wo er 1892 sein Abitur ablegt und ein Jurastudium antritt. Bis 1896 studiert er auch Philosophie und Germanistik, bricht sein Studium dann aber ab. Schon während dieser Zeit gibt es erste Veröffentlichungen, z.B. in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". 1899 gründet er die überaus erfolgreiche Zeitschrift "Die Fackel" und distanziert sich vom Judentum. 1911 wird er Katholik. Während des Ersten Weltkriegs wird "Die Fackel" mehrfach konfisziert. Auch später eckt Kraus mit seinen pazifistischen und anti-nationalsozialistischen Äußerungen vermehrt an.
Wichtige Werke:
Die demolirte Litteratur. 1897,.
Sittlichkeit und Kriminalität. 1908
Sprüche und Widersprüche. 1909.
Die chinesische Mauer. 1910
Die letzten Tage der Menschheit 1918
Weltgericht. 1919
Untergang der Welt durch schwarze Magie. 1922
Literatur. 1921
Traumstück. 1922
Wolkenkuckucksheim. 1923
Die Unüberwindlichen. 1927
»Den Überwinder will ich genießen lassen von dem Lebensholze, das in meines Gottes Paradiese steht.«
Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die »Fackel« ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.
Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, daß beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.
Es ist meine Religion, zu glauben, daß das Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.
Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.
Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu mißbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, daß es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde ... Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt gedulde sich das Chaos – dann kehre es wieder! Daß Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; doch kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenu ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel: aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre.
Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Sicherheit dieser Ordnung ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, daß ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.
Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordell, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, daß eine große Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, zu deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Meter Höhe gefällt werden mußten? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, daß die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben ... Menschen ähnlich waren ihre Gesichter ... Und es ward ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.
Da besinnt sich die Menschheit, daß ihr der Sauerstoff vom Fortschritt entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Fortschritts, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.
Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, daß Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, – in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Doch es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Aber die eigenen Wanzen mobilisieren bereits gegen die europäische Kultur.
Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften!
Durch Deutschland zieht ein apokalyptiscber Reiter, der [sich] für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und daß sie sich einander erwürgten.«
Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.« Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«
Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Am Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, daß du der Enkel eines alten Lesers der Neuen Freien Presse bist! Aber so weit läßt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müßte, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, daß er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, daß es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Mißgeburten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren.
Aber glaubt man, daß die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluß auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Daß sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast. Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 ... Die mißhandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, daß sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!
Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist: aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! ... Meinen Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, daß wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen: »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.
Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht; aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zustimmen, wenn er nicht selbst wieder eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.
»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt.«
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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies schon in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?
Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muß sie untergehen.
Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.
Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, daß die Fortdauer der »Fackel« ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.
Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, daß mir alles Talent fehlt, mitzutun, daß mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, daß der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und daß es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls wäre es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird.
Meine Leser! Wir gehen jetzt zusammen ins zehnte Jahr, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Mißverständnisse geeinigt zu haben.
Die falsche Verteilung der Respekte, die der Journalismus durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muß, wenn er sie nur in den Nerven fühlt. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Mißfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Daß die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheiten betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, daß es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein mußte und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber daß ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und daß ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muß, die doch nur in der Gesamtheit imposant wirkt, ist wahrhaft gräßlich. Es ist eine liberale Wohlfahrtsinstitution, daß der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und daß seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; daß Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Mißfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu begründen. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die »Fackel« aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Gefährtin meiner eigenen zu betrachten: vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, dies lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermeßlich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die »Sache«. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig; aber wenn es verurteilt, daß ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen. Daß ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der periodische Schein dauernd Mißverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu mißhandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahr nicht sagen, daß sie ungewarnt zu Schaden gekommen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, daß ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, daß ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen – der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will »die Wahrheit« hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Daß ich längst heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten läßt: wie ichs erzähle, – das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wußte ich, daß ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte; aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee. Glaubt einer, daß es auf die Dauer ein angenehmes Bewußtsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift.
Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stehe ... Nun wollen wir sehen, wie lange das so weiter geht. Ich sage, daß der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit des Publikums ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, daß das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, daß es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.
Denn das ist es ja eben, daß von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und daß ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, solange ich die »Fackel« bewahre, aber gewiß ein schlechter, wenn ich sie im Überdruß hinwerfe. Ziehe ich es vor, kein guter zu sein, so wird noch weniger als Gewinnsucht die Lust der Beweggrund sein, diesen Kunden zu gefallen. Sie mögen sich vermindern. In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Käufer wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzulange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern des Stoffes hinzugeben. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie dann und wann vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.
Den Politikern bin ich ein Ästhet, den Ästheten ein Politiker. Der Unterschied ist geringer, als beide denken: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, daß das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoff, und die andern, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurechtschnitze.
Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen – wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht so sehr hassen als unbedingt notwendig ist. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg'n m'r, Euer Gnaden?«
Die Schrift im Herzen Strindbergs hat Bibellettern. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen. Und nahm seiner Rippen eine. Und bauete ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm. Da sprach der Mensch: Das ist nun einmal Bein von meinem Beine, und Fleisch von meinem Fleische! Sie heiße Männin; denn vom Manne ist sie genommen ... Und sie sah, daß von dem Baume gut zu essen wäre ... Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß ... Dieses ist das Buch von des Menschen Geschlecht. Wieder ist alles einfach wie am siebenten Tag. Es ist der Schrei Adams, der mit dem Rücken zur Menschheit das Gleichnis Gottes sucht. Er erkennt, daß er nackt sei. Dort bewahrt der Cherub den Weg zu dem Baum des Lebens. Hier draußen aber ist dem Menschen das Weib zugesellt, geschaffen aus etwas, das ihm fehlt, geschaffen aus dem Mangel. Das Weib ist die Rippe, ohne die er leben muß; also kann er ohne das Weib nicht leben. Denn sie sind Ein Fleisch: so sollen sie zwei Seelen sein! Strindberg fordert von Gott die Rippe des Mannes zurück, denn Gott ist ihm die Seele des Weibes schuldig geblieben. Die Schöpfung ist ihm im Manne beschlossen, alles Weitere ist Minderung. Strindberg glaubte schon, ehe er seinen Frieden mit Gott machte: er glaubte an zuviel Gott. Die wahren Gläubigen sind es, welche das Göttliche vermissen. Er wollte nicht wissen, daß es Tag und Nacht gibt, Mann und Weib. Er forderte von Gott eine Hälfte ein. Er war ein Gläubiger Gottes: des Schuldners. Er mußte der Nacht verfallen und dem Weib, um auch dort Gott zu erleben. Und Gott rief: Adam, wo bist du? ... Er war am Weibe zum Chaos geworden, das Welt wurde im Dichter. Das Weib unterbricht in Strindberg die Schöpfung, weil es aus dem Glauben erschaffen ist, daß es zerstören könne. Aber das Weib zerstört nicht den Mann. Ihr Dasein kann hindern oder unnütz sein: so wird ihr Fernsein hilfreich wie Gottes linker Arm. Der mehr als ein Mann war und mehr als den Gott wollte, brauchte den Teufel, um zur Schöpfung zu kommen. Aber er war nicht wie Gott imstande, aus dem Mangel das Weib zu erschaffen. Er hat ihn nur wie Weininger tragisch erlebt, tragischer, weil er nicht den Ausweg Weiningers fand. Immer ist dort das Geschlecht des Mannes mit sich nicht fertig geworden, wo es die Seele des Weibes beruft. Aber der Geist kann nur am Gegenteil erstarken und nur, wenn er durch alle erkannten Mißformen der Weibkultur zum Ursprung strebt. Denn das Geschlecht des Weibes werde Geist, und Paulus schreibt an die Korinther: »Wie das von dem Manne ist, also ist der Mann durch das Weib da; Alles aber ist von Gott.« So hat auch Strindbergs Geist von dem Ursprung gelebt, den seine Erkenntnis floh, und im Pathos dieses Widerspruchs lebte er zwischen Himmel und Erde. Hebbels bürgerlichste Bürgschaft: Darüber kommt kein Mann weg, verwandelt sich in Strindberg zum Erdbeben: Über das Weib selbst kommt kein Mann weg. Denn »darüber« nicht wegzukommen, bringt jedermann zustande. Aber nur einer trägt für sie alle, ein christlicher Titan, den Himmel auf seinen Schultern ... Strindberg war immer, den Rücken zur Menschheit, auf dem Wege zu Gott, in Leidenschaft und Wissenschaft. Adam oder Faust, er sucht ihn im Laboratorium und in der Hölle der erotischen Verdammnis. Er sendet die letzte christliche Botschaft aus. Da er stirbt, geschehen am Himmel keine Zeichen, aber die Wunder der Erde wirtschaften ab. Die titanische Technik sinkt, und singt: Näher, mein Gott, zu Dir! Strindberg, sterbend, horcht auf und versucht eine Melodie. Bernhard Shaw, überlebend, zuckt die Achseln. Er glaubt nicht, daß näher zu Gott männlicher ist. Strindbergs Wahrheit: Die Weltordnung ist vom Weiblichen bedroht. Strindbergs Irrtum: Die Weltordnung ist vom Weibe bedroht. Es ist das Zeichen der Verwirrung, daß ein Irrender die Wahrheit sagt. Strindbergs Staunen über das Weib ist die Eisblume der christlichen Moral. Ein Nordwind blies, und es wird Winter werden.
Herr v. Hofmannsthal,
der vom Rausch bei goldenen Bechern, in denen kein Wein ist, längst ernüchtert dahinlebt, macht sich nichts mehr daraus, daß man ihm daraufgekommen ist, wie er hinter dem Rücken der Unsterblichkeit mit dem Tag und dem Theater gepackelt hat. Nur die Schwäche ist ihm geblieben, feierlich zu begründen, was klug ersonnen war. Wenn man ein ganzes Goetheleben – Italienreise, Verpflegung mit inbegriffen – in relativ kurzer Zeit durchgemacht hat, so ist es nicht unbegreiflich, daß etwas im Ton zurückbleibt, was der Verteidigung nüchterner Theaterpläne zugutekommt. Man denkt dann nicht geradezu ans Repertoire und an Herrn Reinhardt, sondern spricht vom »Repertorium der deutschen Bühne«, das auch andere, etwa Tieck und Immermann, »in einem weltbürgerlichen Sinne ausbauten«. Sie seien sich bewußt gewesen, für das Theater und nicht für die Literaturgeschichte zu arbeiten. Der sich aber auf jene beruft, arbeitet selbst bei dieser Gelegenheit für die Literaturgeschichte. Er glaubt, ihr näher zu sein, wenn er so gestikuliert wie die, die zu ihr gehören. »Indem ich das Spiel von »Jedermann« auf die Bühne brachte, meine ich dem deutschen Repertorium nicht so sehr etwas gegeben als ihm etwas zurückgegeben zu haben ...« »Denn die englische Form des Gedichtes ist die lyrische Urform und weist auf einen späteren Bearbeiter hin, der mit so herrlichen Gaben Hans Sachs sehr wohl hätte sein mögen, aber dennoch nicht geworden ist.« »Gibt man sich mit dem Theater ab, es bleibt immer ein Politikum.« »Nicht das Gedicht, sondern der Raum, den wir wählten, die Menge, vor die wir es brachten, war hier der Gegenstand einiger Kritik.« »Man sprach vereinzelt von einem gelehrten Experiment...« »Ich habe Herrn Reinhardt nie schematisch handeln sehen, und ich glaube nicht, daß er etwas Geringes gegen das Gefühl des Dichters, für den er arbeitet, unternehmen würde, geschweige denn etwas so Großes.« »Ich nehme also mit besonderem Vergnügen die Verantwortung dafür auf mich, daß wir dieses Gedicht vor eine große, sehr große Menge brachten ...« Wäre es itzt nicht an der Zeit, daß der ehrwürdige Rodauner sich einmal in seiner Loge erhöhe und den Lachern ein »Man lache nicht!« zuriefe? Die große Menge hatte doch schon bei der Geburt des Herrn von Hofmannsthal gehofft, daß er einmal in den Schlafrock des alten Goethe hineinwachsen werde. Jetzt sollte er einmal ernstlich dazu schauen. Die Allüren sind da, die Beschäftigung mit dem Theater gleichfalls, gelegentliche Feuilletons zum Lobe schmieriger Kompilatoren können als Gelegenheitsdichtungen aufgefaßt werden – kurz, es ist alles da: nur der dritte Teil des Faust bleibt unvollendet.
Ein Gedicht ist aufgefunden worden, man schreibt darüber, man glaubt, es sei von Heine, aber man traut sich nicht recht, es könnte auch von einem Nachahmer sein, man zweifelt, und so. Es enthält die folgenden Strophen:
Eine Jungfrau war einst die Erde, Eine blonde, brünette Maid; Der hatte ein blonder Jüngling, Der Mond, seine Liebe geweiht.
Sie liebten sich beide herzinnig Und hätten so gern sich vereint; Der Vater aber, der strenge, War ihrer Liebe gar feind,
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Drum drehet sich um die Erde Der Mond als ihr treuer Trabant; In stiller Trauer die Blicke Zur fernen Geliebten gewandt.
Er umschwebt sie auf all' ihren Pfaden, Wohin sie auch wandeln mag, Und schaut in schmerzlicher Sehnsucht Mit bleichem Antlitz ihr nach.
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Er sendet Liebesboten Allnächtlich zu ihr hin; Das sind die Strahlen, die heimlich Durchs Dunkel der Bäume ziehn.
Die nächtlich duftenden Blumen Betrauern der Herrin Geschick, Und senden dem Freund ihre Antwort In süßen Düften zurück.
Auf ihrem Wellenbusen, Zum Zeichen ihrer Treu, An einer Sternenkette, Trägt sie sein Konterfey.
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Ich als Sachverständiger erkläre mit aller Bestimmtheit, daß gar kein Zweifel bestehen kann, sondern daß dieses Gedicht entweder von Heine oder von einem Nachahmer ist. Also jedenfalls von Heine, indem es wahrscheinlich von diesem und sicher von einem Nachahmer ist. Auf unklare Annahmen wie: Dieses Gedicht ist von Heine, oder: Dieses Gedicht kann nur von einem Nachahmer sein, lasse ich mich nicht ein. Es ist von Heine.
In Berlin wurde rundgefragt, welche Arbeiten wir im kommenden Jahre von unseren Lieblingen zu erwarten haben. Die Lieblinge zögerten nicht, dem Publikum Einblick in den Zeugungsakt zu gewähren, und plauderten »aus der Werkstatt«. Einer bedankte sich noch für die Aufmerksamkeit und teilte mit:
... daß ich an einer großen modernen Komödie arbeite und an einem umfangreichen Roman, welcher in der Fischer-von-Erlach-Zeit zu Wien und Florenz spielt; ferner arbeite ich an drei modernen Einaktern und an einer großen modernen Pantomime.
Der Mann nennt sich natürlich Salten. Wenn's über ihn kommt, wird es schwer sein. Man denke, die vielen modernen Stoffe, und dann erst noch das à la Fischer von Erlach. Rothschild mit den vielen Hemden – zieht an zieht aus, zieht an zieht aus – hat's leichter gehabt. Es gehört schon eine gehörige Umsicht und Versiertheit in der Kunst dazu, die Zeugungsakte nicht zu verwechseln.
Nur ein schmales Plätzchen ist dem Varieté geblieben, um seinen Spiegel aufzustellen, der die großen Sonderbarkeiten des Lebens reiner spiegelt, als das Theater die kleinen Regelmäßigkeiten. Denn das Leben will vom Leben nichts wissen und von der Kunst nichts anderes wissen, als was es ohnehin schon weiß. Daß aber zweimal zwei am Ende doch fünf sind, ist eine Erfahrung, bei der dem Rechner die Pulse stocken. Das Theater erspart sie ihm. Es befriedigt seine Neugierde nach dem, was er schon weiß, während das Varieté sein Wissen enttäuscht. Das Theater kitzelt, das Varieté peitscht. Das Theater bietet Handlung und Meinung, die der Durchschnittsmensch fast so notwendig zum Leben braucht wie die Nahrung: rauchlosen Unterhalt des Gehirns. Im Theater darf bloß geschwitzt werden, wie vor jeder höheren Offenbarung. Das Geheimnis des Varietés bleibt in eine Rauchwolke gehüllt. Man kann sie mit dem Messer schneiden, aber man kommt nicht durch. Was sich hier abspielt, ist ganz danach angetan, dich zu beunruhigen. Du kannst es nicht nachmachen. Und spendest schließlich eine kalte Bewunderung, die sich mehr der heilen Glieder freut, als daß sie sich der trägen Glieder schämte. Dies Übermaß erschreckt dich, ermuntert dich nicht. Dieser halsbrecherische Humor macht dich nicht munter, sondern beklemmt dich, als gings dir selbst an den Hals. Treibt es das Schauspiel noch so bunt, »sie spaßen nur, vergiften im Spaß, kein Ärgernis in der Welt«, kann Hamlet den Besorgten trösten. Wo viele Worte gemacht werden, ist Zeit, zwischen Ernst und Spiel zu unterscheiden. Akrobaten aber und Clowns spielen jenseits der Grenze unserer Möglichkeiten und bieten darum schon im Spaß das Ärgernis. Daß zwei übereinander purzeln und auf die Nase fallen, das ist ein Humor, zu derb für unsern Geschmack und zu dürftig für unsern Verstand. Wir sagen, es sei ein kindisches Spiel, weil seine tiefere Bedeutung uns beleidigt.
Ein Humor, so grundlos wie wir selbst. Nichts stellt er dar als uns selbst. Also alles, was wir nicht wissen. Er läßt uns Familie spielen, ehe er uns ins Leben stößt. Eine erstklassige Akrobatentruppe tritt auf. Ist das Wesen der Sippschaft in Freud und Leid sinnfälliger darzustellen? Wie hier alles doch, vom erwachsenen Sohn bis zum Schößling beiträgt, den Eltern ein sorgenfreies Alter zu sichern! Mit berechtigtem Stolze sieht das Mutterauge im Hintergrund auf die Tochter, von der man lange befürchtet hat, sie werde es über den Sautpérilleux nicht hinausbringen, und die heute bereits durch einen dreifachen Salto mortale fürs Leben ausgesorgt hat, während der leichtsinnige Schwiegersohn unaufhörlich die Welle schlägt. Russische Tanzfamilien waren mir stets unsympathisch, weil ich die tiefe Kniebeuge beim Laufen als einen übertriebenen Beweis slawischer Schicksalsergebenheit auffaßte. Aber unter dem Gesichtspunkte des Familienlebens brachte ich auch diesen Produktionen Verständnis entgegen, und ich stellte mir gerne vor, daß im Kaukasus die Kinder wippend zur Welt kommen, auf das bereit stehende Podium springen und den Tanz ums Dasein aufnehmen, für den sich die Eltern nicht mehr elastisch genug fühlen. Sicherlich ist kein künstlerischer Beruf so mit dem Wesen seines Trägers verwachsen wie der des Akrobaten. Kommt er von Kräften, so bleibt ihm immer die Geste, die dem kundigen Auge verrät, daß er einst in bessern Tagen Zentner gestemmt hat. Gelangt er aber in Lebensumstände, die es ihm ermöglichen, endlich zu genießen, nachdem er so lange nur »gearbeitet« hat, dann kann es geschehen, daß ihn plötzlich eine Art Nostalgie befällt. In Offenbachs lieblicher »Prinzessin von Trapezunt« wird gezeigt, wie eine Artistenfamilie sich aufführt, die unglücklicherweise den Haupttreffer gemacht und ein Schloß nebst Baronie erlangt hat: da kann einer doch nicht anders als über den Tisch springen, wenn er sich auf den Stuhl setzen will, und der Familienvater wird dabei betreten, wie er im Garten auf dem Wäscheseil spazieren geht oder gar wie er heimlich in die Küche schleicht und Feuer frißt. Sie alle aber drehen die Teller, bevor sie aus ihnen essen, und sind erst glücklich, sooft sie mit ihrer Vergangenheit »auf einem Fuße stehn«.
Draußen jedoch stürmt das Leben mit seiner Unrast und seinen Gefahren. Die Knockabouts treten auf. Ward das Wesen der Familie, mit ihren Vorzügen und ihren Fehlern, an der Solidarität einer Akrobatentruppe erkennbar, so eröffnet die Leistung der Knockabouts tiefere Perspektiven. Hier steht nicht mehr der Bruder für den Bruder, hier steht der Mensch gegen den Menschen. Der Blutsverwandte kann ein Auge zudrücken, wenns einmal auf dem Trapez schief geht. Aber hier offenbart sich der menschliche Charakter dem erbarmungslosen Auge des Nebenmenschen. »Aoh, lieber Freund, was machen Sie hier?« beginnt es, und mit Püffen und Knüffen endet es. Am Hintern seines Nächsten entzündet einer sein Streichholz. So ist das Leben.
Einer will Bier trinken: da bohrt er seinen besten Freund an und hält ein Gefäß unter die so entstandene Öffnung. Was ist der Mensch! Taugt er zur Maschine nicht, mag er kaputt gehen. Wir voltigieren über alle Widerstände der Materie, wir schwingen uns in die Luft, nichts scheint uns unerreichbar, und am Ende wären wir wirklich die Sieger über das Leben, wenn wir nicht im letzten Moment über einen Zahnstocher stolperten. Der Knockabout – das ist der Triumph der maschinellen Kultur: Hurtigkeit, die nicht vom Fleck kommt, Zweckstreberei, die ein Loch in die Luft macht. Der Komfort aber ist mit aller Humanität der Neuzeit ausgestattet, und wenn es praktisch ist, einem Menschen den Schädel einzuschlagen, so ist es doch wieder feinfühlig, ihn zu fragen: »Haben Sie das bemerkt?« Er könnte es übersehen haben; denn im Gemetzel der Automaten fließt kein Blut. Der Knockabout stellt uns alle zusammen dar. Sein Humor ist grundlos, wie wir selbst. Er hat Wirkung ohne Ursache, wie wir selbst von nirgendwo kommen, um fortzuschreiten. Das Riesenmaß seiner Gesten hat kein Vorbild in einem einzelnen Lebenstypus; sein gewalttätiger Humor umfaßt die ganze Tragik unserer Zweckbeflissenheit.
Nur einer friedlichen Abart des Knockabout ist jeder von uns schon begegnet; einem, der seine Lebensauffassung nicht mit der Hacke durchsetzen will, aber auf jede andere Art, praktisch vorwärtszukommen trachtet. Das ist der Mann, der weitläufig wird, um nur ja keine Umstände zu machen, der die Berge kreißen läßt, um der Geburtshelfer einer Maus zu sein, und der viel Lärm macht, wenn er eine Omelette bereitet, weil er wie alle andern Künste selbstverständlich auch die Kochkunst aus dem FF versteht. Sein Lebensmotto ist die Versicherung: »Das werden wir gleich haben!« Das Resultat seiner Bemühungen ist aber, daß wir es nicht nur nicht gleich, sondern daß wir es überhaupt nicht haben, ja, daß wir es noch weniger haben als vor seiner freundlichen Intervention. Wenn du aber etwas hast, was dich nicht geniert, ein Wimmerl, so zieht er ein Pflaster aus der Tasche und du hast am andern Tag einen Karbunkel. Der Knockabout ist edel, hilfreich und gut. Auf dem Podium schlüge er dir die Schädeldecke ein, um deinen Kopfschmerz wegzubringen. So radikale Mittel wählt er im Leben nicht. Er hat es auf dein Wohl abgesehen, aber er erzwingt es nicht mit Gewalt. Wenn du an Hühneraugen leidest, so gibt er dir den Rat, dir das Bein amputieren zu lassen, doch er legt in so verzweifelten Fällen nicht selbst Hand an. Der Knockabout ist entgegenkommend und praktisch. Aber wenn er dir entgegenkommt, weiche ihm aus: die Vereinfachung des Lebens, die er sich und dir ansinnt, erfordert Aufwand und viel Geduld. Er trägt zehn Westen auf dem Leib und erspart sich deshalb, sie zu wechseln. Er ist der Mann des »omnia mea mecum porto«. Nun bedeutet es gewiß eine der größten Schwierigkeiten des Lebens, im Kaffeehaus einen Brief schreiben zu wollen. Ist aber der arme Teufel nicht bedauernswerter, der Papier, Füllfederhalter, Löschblatt, Siegellack und Marken mit sich und für die Erneuerung dieses Inventars immer Sorge tragen muß? Schnupfen bekommen ist fatal. Doch schlimmer denke ich mir die Selbstkasteiung, immer ein Mittel gegen Schnupfen bei sich zu haben, weil einmal der Fall eintreten könnte, daß man Schnupfen bekommt und die Apotheke geschlossen ist. Und wer zu solcher Vorsicht inkliniert, wird zuverlässig auch ein Mittel gegen Kopfschmerzen, eines gegen Zahnweh und etwa auch eins gegen Magendrücken bei sich haben, weil es doch ein ganz lächerlicher Optimismus wäre, zu glauben, daß Schnupfen die einzige Gefahr ist, die den Menschen bedroht, wenn die Apotheke geschlossen ist. Der Knockabout bepackt sich mit Dingen, die überflüssig sind, solange sie nicht notwendig sind. Schafft es ihm bloß der Trieb der Selbsterhaltung? Gewiß nicht. Er ist Altruist, er hat die Eigenschaft, sich den Menschen wohlgefällig zu machen. Da aber in der Fülle der Gelegenheiten Irrtümer unterlaufen können, so darfst du dich nicht beklagen, daß dir einmal gegen Zahnweh das Mittel gegeben wird, das eigentlich für Magenkrämpfe bestimmt war. Auch die Eile, dir das Mittel anzubieten, bevor du noch den Schmerz hast, könnte einen Mißgriff entschuldigen. Der Knockabout streift die Asche von seiner Zigarre mit der Kleiderbürste ab und läßt sie auf deinen Anzug fallen. Denn er hat natürlich eine Kleiderbürste bei sich, mit der er dir dann auch aushilft. Mit Kleidern weiß er überhaupt umzugehen. Er macht sich sofort erbötig, dir deinen Koffer zu packen, wenn du nur den Wunsch äußerst, auf Reisen zu gehen. Oh, das werden wir gleich haben! sagt er, denn er hat eine Methode, die Kleider so zu legen, »daß sie ein Jahr lang im Koffer bleiben können«, ohne in zerknittertem Zustand zum Schneider wandern zu müssen. Aber du begehst eben den Fehler, sie nicht ein Jahr lang im Koffer zu lassen, sondern schon nach einem Tag herauszunehmen, und wunderst dich dann, daß sie zerknittert sind und zum Schneider wandern müssen. Der Knockabout ist der Mann der Übertreibungen, und er behält mir deshalb nicht recht, weil die Leute so kleinmütig sind, sie nicht wörtlich zu nehmen. Sonst würde er zweifellos reüssieren. Er hat einen praktischen Zweck im Auge und ist bereit, ihm alle unwichtigeren Interessen unterzuordnen. Wenns finster wird, zündet er das Haus an, um sich bei der Lektüre nicht die Augen zu verderben. Er ist durchaus der Mann der Resultate, die darum nicht bedeutungsloser wären, weil sie auf Kosten unserer Gesundheit, Ehre, Freiheit oder wirtschaftlichen Wohlfahrt erzielt würden. Der Knockabout ist der Fortschritt. Wahrlich, er verschluckt Kamele, aber keine Mücke bleibt in seinem Sieb!
Wenn er gezeigt hat, daß das Leben ein grober Unfug ist, der mit dem Tod nicht schwer genug gestraft wird, tritt ein Philosoph auf die Szene, ders ganz anders treibt. Der Jongleur hat das Leben hinter sich. Was muß er alles durchgemacht haben, ehe er so weit kam, nämlich zu sich selbst. Er keucht keinem Zweck entgegen; er spielt mit den Dingen. Er lebt im sichern Port der Skepsis, hantiert mit zehn Bällen und weiß, daß einer wie der andere ist. Mißlingt ein Wurf, so hat er eine wundervoll resignierte Miene und wendet das Malheur zum Trick. Viele Illusionen können ihm nicht mehr zerstört werden, und im Bedarfsfalle hat er immer eine andere bei der Hand. Bis ein Teller herunterkommt, hat er noch Zeit, ein Messer hinaufzuwerfen, und findet stets einen gedeckten Tisch. Er ist ein Sonderling. Mit Weibern gibt er sich längst nicht mehr ab. Die Erfahrungen der Liebe haben ihm die Nase abgefressen, aber sein Verstand ist heil geblieben. Ihm ist so viel geschehen, daß ihm zu geschehn fast nichts mehr übrig blieb.
Im Spiegel des Varietés wird uns bei unserer Menschenähnlichkeit bange. Darum wird ihm der Platz streitig gemacht, und Tiere und Theaterleute, die jetzt von allen Seiten eindringen, sollen uns darüber beruhigen, daß wir doch bessere Menschen sind. Das Varieté kämpft einen Verzweiflungskampf. Mit den boxenden Känguruhs könnte es paktieren, aber die Librettisten sind ein Pfahl in seinem Fleische. Ein Kalauer weckt die Lebensfreude der versammelten Intelligenz, die sich vor dem Spiel der Akrobaten, Clowns und Jongleure fürchtet. Der Geschmack des Publikums verhilft der Realität zum Sieg und schlägt den Zauber in die Flucht. Hier wie überall klauben sich die Gourmands die Fliegen aus dem Honig.