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Kraus suchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Konflikt mit Harden vor dem Hintergrund der von Kraus leidenschaftlich angegangenen Sittlichkeitsprozesse, wie sie für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg typisch waren. Dieser Art von Prozessen widmete Kraus mit Sittlichkeit und Kriminalität eine ganze Sammlung seiner Aufsätze, in denen er für das Recht des Individuums auf Lust und auf Verschonung von Sexualschnüffelei eintrat.
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Seitenzahl: 484
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Sittlichkeit und Kriminalität
Aufsätze aus der "Fackel"1902 bis 1907.
Karl Kraus
Inhalt:
Karl Kraus – Biografie und Bibliografie
Sittlichkeit und Kriminalität
Die Humoristen
Die Presse als Kupplerin
Die Hetzjagd auf das Weib
Katastrophen
Ein Unhold
Nach vier Jahren
Erpressung
Ethik und Strafgesetz
Zwei Urteile
Irrenhaus Österreich
Der Fall Hervay
Der Hexenprozeß von Leoben
Die Memoiren der Frau v. Hervay
Die Ballettsteuer
Die Wahrung berechtigter Interessen
Rund um den Schandlohn
Montignoso
Verbrecher gesucht
Eros und Themis
Theatermoral
Zum Prozeß Klein
Die Kinderfreunde
Nachträgliches zum Prozeß Beer
Der Selbstmord der Themis
Diskrete Zusammenkünfte
Die Kußräuberin
Ein Überfall der Justiz
Ein österreichischer Mordprozeß
Zum Prozeß Rutthofer
Die Reverenz
Der Fall Riehl
Wegen Bedenklichkeit
Aus dem dunkelsten Österreich
Die Ära nach dem Prozeß Riehl
Der Prozeß Odilon
Der Meldezettel
Mutterschutz
Das Gericht
Nulla dies ...
Gerichtspsychiatrie
Perversität
Notizen
Sittlichkeit und Kriminalität, Karl Kraus
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849629830
www.jazzybee-verlag.de
Österreichischer Publizist und Schriftsteller, geboren am 28. April 1874 im nordböhmischen Gitschin (heute: Jicín), verstorben am 12. Juni 1936 in Wien. Sohn des jüdischen Papierfabrikanten Jakob Kraus und dessen Frau Ernestine. Schon mit drei Jahren zieht K. mit seiner Familie nach Wien, wo er 1892 sein Abitur ablegt und ein Jurastudium antritt. Bis 1896 studiert er auch Philosophie und Germanistik, bricht sein Studium dann aber ab. Schon während dieser Zeit gibt es erste Veröffentlichungen, z.B. in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". 1899 gründet er die überaus erfolgreiche Zeitschrift "Die Fackel" und distanziert sich vom Judentum. 1911 wird er Katholik. Während des Ersten Weltkriegs wird "Die Fackel" mehrfach konfisziert. Auch später eckt Kraus mit seinen pazifistischen und anti-nationalsozialistischen Äußerungen vermehrt an.
Wichtige Werke:
Die demolirte Litteratur. 1897,.
Sittlichkeit und Kriminalität. 1908
Sprüche und Widersprüche. 1909.
Die chinesische Mauer. 1910
Die letzten Tage der Menschheit 1918
Weltgericht. 1919
Untergang der Welt durch schwarze Magie. 1922
Literatur. 1921
Traumstück. 1922
Wolkenkuckucksheim. 1923
Die Unüberwindlichen. 1927
Tod um Ehbruch? – Nein! Der Zeisig tut's, die kleine goldne Fliege, Vor meinen Augen buhlt sie. Laßt Üppigkeit gedeihn!
"Lear", IV. 6.
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"– – Wenn ihr nur zehn Jahre lang hintereinander alle die hängen und köpfen laßt, die sich in diesem Stücke vergehn, so könnt ihr euch bei Zeiten danach umsehen, woher ihr mehr Köpfe verschreiben wollt. Wenn dies Gesetz zehn Jahre in Wien besteht, will ich das schönste Haus drin für einen Dreier per Tag mieten."
"Maß für Maß", II. 1.
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"Meiner Sendung Amt Ließ manches mich erleben hier in Wien: Ich sah, wie hier Verderbnis dampft und siedet Und überschäumt. Gesetz für jede Sünde; Doch Sünden so beschützt, daß eure Satzung Wie Warnungstafeln in des Baders Stube Da steht, und was verpönt, nur wird verhöhnt."
"Maß für Maß", V. 1
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"Bedenkt, mein werter Richter (Von dem ich weiß, Ihr seid sehr streng in Tugend), Ob in der Regung eigner Leidenschaft, Wenn Zeit mit Ort gestimmt, und Ort mit Wunsch, Ob, wenn des Blutes ungestümes Treiben Das Ziel erreichen mochte, das Euch lockte, – Ob Ihr nicht selber dann und wann gefehlt In diesem Punkt, den Ihr an ihm verdammt, Und dem Gesetz verfallen?"
"Maß für Maß", II. 1.
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"Könnten die Großen donnern Wie Jupiter, sie machten taub den Gott: Denn jeder winz'ge kleinste Richter würde Mit Jovis Himmel donnern, – nichts als donnern! O gnadenreicher Himmel! Du mit dem scharfen Flammenkeile spaltest Den unzerkeilbar knot'gen Eichenstamm, Nicht zarte Myrten: Doch der Mensch, der stolze Mensch, In kleine, kurze Majestät gekleidet, Vergessend (was am mind'sten zweifelhaft) Sein gläsern Element, – wie zorn'ge Affen, Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel, Daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, Sich alle sterblich lachen würden."
"Maß für Maß", II. 2.
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"Der neue Richter Weckt mir die längst verjährten Strafgesetze, Die gleich bestäubter Wehr im Winkel hingen, So lang, daß neunzehn Jahreskreise schwanden, Und keins gebraucht je ward; und läßt aus Ruhmsucht Nun dieses schläfrige vergess'ne Recht Frisch wider mich erstehn: ja, nur aus Ruhmsucht!"
"Maß für Maß", I. 3.
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Du schuft'ger Büttel, weg die blut'ge Hand! Was geißelst du die Hure? Peitsch dich selbst! Dich lüstet heiß mit ihr zu tun, wofür Dein Arm sie stäupt.
"Lear", IV. 6.
I
Es gibt eine Art unproduktiver Empörung, die sich gegen jeden Versuch, sie literarisch auszudrücken, wehrt. Seit Monatsfrist würge ich an der alle Kulturillusion vernichtenden Schmach, die ein Doppelprozeß wegen Ehebruchs, seine Führung und seine journalistische Behandlung uns angetan hat. Der Zwang, zu jedem Ereignis ein Sprüchlein zu sagen, befeuert den nicht, den der Gedanke lähmt an ein Wirrsal von Unwahrscheinlichkeiten, einen Wettlauf von Brutalität und Heuchelei, an das Walten einer Gerechtigkeit, bei der Vernunft Unsinn, Wohltat Plage wird. Jetzt beruhigt die Aussicht, daß des Wahnsinns noch lange kein Ende sein, der Prozeß seine Fortsetzungen finden und der Ehemann das Protokoll im Buchhandel erscheinen lassen werde, das Gewissen des Publizisten, dem im Widerstreit zwischen Abscheu und Pflichtgefühl die Feder entglitten ist. Jetzt stachelt ihn wieder die Furcht vor der Erhaltung einer beschämenden Aktualität aus allen zögernden Stimmungen zu einem vernehmlichen Protest gegen jeden weiteren Versuch, unsere von tausend Sorgen belastete Öffentlichkeit mit den Eifersuchtsanfällen eines Bezirksothello zu belästigen.
Shakespeare hat alles vorausgewußt. Die Dialogstellen aus "Maß für Maß" und "Lear", die ich zum Motto dieser Betrachtung wählte, enthalten das letzte Wort, das über die Moral, die jenen Prozeß ermöglichte und blähte, zu sagen ist, und selbst der Zufall, der den Dichter für die Eigenart einer moralverpesteten Stadt den Namen Wien finden ließ, mag den Glauben an die in alle Fernen reichende divinatorische Kraft des Genies bestärken. Ich habe den Ruf eines Heutigen: "O Gott, was bist du für ein Shakespeare!" nie für eine Gotteslästerung, wohl aber desselben Autors Behauptung, daß in der Westminsterabtei "Shakespeare und die anderen englischen Könige ruhen", stets für eine Majestätsbeleidigung Shakespeares gehalten. Von ihm müßten die Moralbauherren aller Völker Werkzeug und Mörtel entlehnen, von seiner Höhe bietet jede Weltansicht, die konservative wie die fortschrittliche, ein dem Schöpfer wohlgefälliges Bild; dort ist Kultur, wo die Gesetze des Staates paragraphierte Shakespearegedanken sind, wo mindestens, wie im Deutschland Bismarcks, Gedanken an Shakespeare das Tun der leitenden Männer bestimmen. Nach seinen Erkenntnissen greife, wer berufen ist, zwischen Gut und Böse die kriminalistische Grenzwand zu errichten oder zu erneuern. Und er wird finden, daß die alte Mauer da und dort nicht die natürliche Linie zog, weil sie an den Hindernissen engstirniger Zeitalter: Schlagwortwahn und Heuchelei, vorbei mußte. So reift ein hundertjähriges Gesetz zur Menschenqual: Der Eifer, der da schützt, was des Menschenschutzes nicht bedarf, hatte es mit der Langmut gezeugt, die gewähren läßt, was dem gesunden Sinn strafwürdig scheint. Aus der Beschränktheit einer Generation erschaffen, hat es dennoch für alle Zeiten, die es währte, gelebt, weil es den Schlechtesten seiner Zeit genug getan.
Wessen Beruf es ist, vor den Gefahren zu warnen, die die Entwicklung der merkantilen Meinungspresse für die allgemeine Kultur und für das Wohl der Nationen heraufbeschwört, wer für die Erhaltung aller konservativen Gewalten gegenüber dem Einbruch einer traditionslosen Horde eintritt, wer selbst den Polizeistaat – und nicht nur im ästhetischen Sinne – der Etablierung einer Willkürherrschaft von der Journaille Gnaden vorzieht, wer es gradaus bekennt, daß er auf allen Gebieten öffentlicher Erörterung schon aus Ressentiment die Partei der Schlechten gegen die Schlechteren ergriffen, ja zuweilen selbst die gute Sache aus Abscheu gegen ihre Verfechter im Stich gelassen hat: der darf hoffen, daß auch ein Bekenntnis, das manchem unerwartet kommen mag, als unverdächtig gewertet und als der reine Ausdruck einer Überzeugung geachtet werde. Und so bekenne ich, daß ich den Standpunkt des Staatsfreundes, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchesterliche Schwindelgeist höhnisch "Bevormundung" nennt, ausschließlich dann beziehe, wenn ich das Geltungsgebiet ökonomischer Werte betrachte. Daß mir hier die strengste Überwachung geboten scheint, daß ich den neuen Formen neue Paragraphe an den Hals wünsche und nichts für dringlicher halte, als daß mit den tätigen Zerstörern der materiellen Wohlfahrt des Volkes auch die Helfer der Presse in der fester gezogenen Schlinge Platz fänden: dies betonen, hieße Eulen nach Athen, Bauernfänger auf die Börse und Zutreiber in die liberale Presse tragen. Aber mit der Sorge für die wirtschaftliche Sicherheit halte ich die Mission des Gesetzgebers beinahe für erfüllt. Er möge dann noch über der Gesundheit und Unverletzlichkeit des Leibes und des Lebens und über anderen greif- und umgrenzbaren "Rechtsgütern" seine Hand halten. Ich weiß nicht, wie viele ihrer das alte Strafgesetz schützt und ob das neue die Zahl vermehren oder vermindern wird. Aber es sind ihrer zu viele; und wenn Menschen über Menschen richten dürfen, so sollten sie stets der Grenzen ihres Erkenntnisvermögens eingedenk sein. Gerade ein Gesetz, das auch religiöse Gefühle behütet und die Beleidigung des Glaubens straft, dürfte sich nimmer vermessen, in die irdischem Einfluß verschlossenen Tiefen der Menschenbrust langen zu wollen. Und gerade konservative Geister, denen man "klerikale Gesinnung" nachsagt, müßten, anstatt die staatliche Justiz zur Überwachung psychischer Geheimwege anzutreiben, kein anderes Bestreben kennen, als darauf zu achten, daß neben der irdischen Gewalt, die straft, auch dem Vertreter der überirdischen, die ermahnt, Spielraum bleibe. Schon das Gut der "Ehre" ist bei beamteten Wächtern in zweifelhafter Hut, und mindestens wäre hier – unter Vermeidung der Gefahr einer Cliquengerichtsbarkeit – der Aufteilung in leichter faßbare Berufs- und Kreisehren das Wort zu sprechen, wäre dahin zu wirken, daß das Gesetz nicht vorweg ein vages "Ansehen", in dem auch der ärgste Lump "herabgesetzt" werden kann, annehme, sondern den Nachweis des Ansehens – etwa durch Einführung von Leumundszeugen – zulasse, der erst den Nachweis der "Herabsetzung" und die Bestimmung ihres Grades ermöglicht. Von burlesker Wirkung ist ein Sühneverfahren, mittels dessen der Millionendieb sich durch die unrichtige und unbeweisbare Beschuldigung, auch fünf Gulden gestohlen zu haben, gekränkt fühlen und durch Bestrafung des "Beleidigers" ein vollgültiges Zeugnis der Ehrenhaftigkeit sich verschaffen kann.
Aber wenn die Gesetzgebung, die mit Falstaff-Schläue an der Definierung des Begriffes "Ehre" herumarbeitet, hier gleich dem prahlerischen Taugenichts Vorsicht als der Tapferkeit besseres Teil erkennen muß, so ist sie gegenüber jenem andern Feinde völlig wehrlos, der hinter der Maske "Moral" seine Tücken treibt. Sie ziehe sich zurück und lasse ihn gewähren. Gespenster bannen, liegt nicht in ihrem Machtbereich; sie kreuzen ihr, wo sie's am wenigsten vermutete, den Weg, und wo ihr Fuß hintrat, dort wachsen sie aus der Erde. Und wieder muß Shakespeare heran, der die Narrenweisheit die Geschichte von der albernen Köchin erzählen läßt, die die Aale lebendig in die Pastete tat: "sie schlug ihnen mit einem Stecken auf die Köpfe und rief: hinunter ihr Gesindel, hinunter! ... Ihr Bruder war's der aus lauter Güte für sein Pferd ihm das Heu mit Butter bestrich". Solch zweckloser Mühe unterzieht sich die staatliche Aufsicht, die mit Feuer und Schwert der "Unsittlichkeit" an den Leib rückt. Ein grandioses Mißverständnis hat hier die beste Kraft und die lauterste Absicht auf Irrwege geführt. Von der Aufgabe, dem Ärgernis, das öffentliche Unsittlichkeit bereitet, eine rechtliche Sühne zu erwirken, ward der Gesetzgeber zu dem Trugschluß verlockt, daß Unsittlichkeit öffentliches Ärgernis bereitet. Und als das öffentliche Ärgernis wirklich durch die Verfolgung privater Unsittlichkeit gegeben war, hatte der nach Tatbeständen jagende Sinn die Fähigkeit, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden, verloren. Wer nach der Schablone denkt, würde es nicht fassen, daß einer für die lex Heinze eintreten und vor jedem Eingriff der Gesetzgebung in das sittenloseste Privatleben warnen könnte; daß man den Staatsanwalt auf Kuppelannoncen hetzen und die "Gelegenheitsmacherei", die zwei Mündige und Willige zusammenführt, straffrei sehen möchte; daß man zur Schau getragene Unflätigkeit, die den, der nicht will, belästigt und den, der nicht darf, verführt, unter schärfere Kontrolle gestellt wissen möchte und zugleich wünschen, daß jeder im stillen Kämmerlein nach seiner Fasson selig werde. Aber ein Verstand, der solch gegensätzliche Anschauungen vereinen könnte, geht noch weiter. Er sagt: Das "Rechtsgut der Sittlichkeit" ist ein Phantom. Mit der "Moral" hat die kriminelle Gerichtsbarkeit nichts, hat nur die des Bezirksklatsches zu schaffen. Was die Justiz hier erreichen kann, ist der Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündigkeit und der Gesundheit. Auf diese noch arg verwahrlosten Rechtsgüter werfe sich die Sorge, die heute das Privatleben von Staatswegen belästigt. Der Gesetzgeber als schnüffelnder Reporter, der vor der Öffentlichkeit die Dessous des Lebens lüpft; Gerechtigkeit als indiskreter Dienstbote, der an Schlafzimmertüren horcht und durch Schlüssellöcher späht! So wenigstens nach dem Ideal eines heute in Wien wirkenden Professors, der in seinem Schweizer Strafgesetzentwurf sich für den nuancierten Verkehr der Geschlechter interessiert und jede Abweichung vom horizontalen Pfad der Tugend unter Strafsanktion stellt. Man könnte über dergleichen kriminelle Mikoschwitze hell auflachen, wenn sie nicht die Allgewalt jenes Philistersinns, vor dem es kein Entrinnen gibt, mit so erschütternder Deutlichkeit bewiesen. Wie mögen solche Gesetzesweisen vor der philosophischen Einfalt bestehen, die einst aus Kindermund – auf die Frage, was unschicklich sei – das Wort sprach: "Unschicklich ist, wenn jemand dabei ist"! Der erwachsene Gesetzgeber möchte immer dabei sein. Außer ihm errötet über die Vorgänge in einem Alkoven niemand, – wofern man nicht das "öffentliche Ärgernis" aus der bekannten Beobachtung herleiten wollte, daß die Wände Ohren haben, und aus der Vorstellung, daß sie demgemäß auch bis über die Ohren erröten könnten. Die Zudringlichkeit einer Justiz, die die Beziehungen der Geschlechter reglementiert, hat stets noch der ärgsten Unmoral, die vom Strafgesetz nicht zu fassen ist, oder schweren Vergehungen und Verbrechen Vorschub geleistet. Wäre ernstlich zu befürchten, daß jener demokratische Biedersinn, der den Schweizer Entwurf erfüllt, auch auf die bevorstehende Reform unseres Gesetzes Einfluß gewinnen könnte, man müßte bei dem bloßen Gedanken an die Folgen einer Cabinet particulier-Justiz – Züchtung des häuslichen Denunzianten- und Erpressertums – erschrecken.
Immer werden für ein Rechtsgut, das geschützt wird, eines oder mehrere andere preisgegeben; es fragt sich nur, welches relevanter ist: das einer "Sittlichkeit", deren Gefährdung keines Menschen Auge beleidigt, oder das der Freiheit, des Seelenfriedens und der wirtschaftlichen Sicherheit. Vor solche Wahl gestellt, müßte jeder Gesetzgeber, der den Mut seiner Einsicht hätte, sich sofort etwa für die Straflosigkeit homosexuellen Verkehrs entscheiden. Und er dürfte sich dabei auf die Petition berufen, die seinerzeit ein paar hundert Männer von wissenschaftlichem, künstlerischem und sozialem Ansehen, die sicherlich nur die niedrigste Spießbürgergesinnung des "pro domo"-Sprechens verdächtigen könnte, an den Deutschen Reichstag gerichtet haben. Ich weiß nicht, ob in jener Adresse der einzige Gesichtspunkt, von dem auch den Widerstrebenden die Dringlichkeit der Lösung des Problems zu zeigen ist, genügend zur Geltung gebracht wurde. Der Gesetzgeber begnügt sich hier erst recht nicht damit, die Vergewaltigung zu strafen, die Unmündigkeit und die Gesundheit zu schützen; aber er will hier nicht nur der Moral, die ihm verletzt scheint, sondern auch dem natürlichen Geschmack, dem zuwidergehandelt wurde, eine Satisfaktion verschaffen. Er eifert stets dort, wo Trieb und freier Wille mündiger Menschen ein Einverständnis schufen. Bei allen sexuellen Möglichkeiten. Wie erst bei den homosexuellen! Die Moral erhält – wenn der Delinquent nicht zufällig den Besten und Edelsten der Nation angehört (in welchem Fall psychopathische Naturanlage angenommen wird) – ihre Genugtuung: der einer perversen Handlung Überführte wird durch die mehrmonatliche Gewöhnung an schlechtere Kost sittlich geläutert. Aber inzwischen blüht auf dem Fettboden der Strafsanktion der Weizen der Erpressung. Ja, wendet der Kriminalist ein, der Erpresser ist doch mitgefangen und muß sogar doppelte Schuld büßen! Natürlich; und der Staatsanwalt kennt nicht einmal die Pflicht der Dankbarkeit gegenüber dem Anzeiger, dessen Prämie wahrhaftig in der Verurteilung wegen zweier Delikte besteht. Wie aber, wenn der Erpresser nicht zum Denunzianten wird, wenn der auf das Opfer geübte Druck die gewünschte Wirkung tut und die Unterlassung der Strafanzeige mit täglichen Höllenqualen und dem wirtschaftlichen Ruin erkauft wird? Hier versagt des Nurtheoretikers Weisheit, und gewohnt, auf der Faulenzerunterlage der "Statistik" zu denken, bleibt er die Antwort schuldig, weil es leider noch keine Statistik von nicht erstatteten Anzeigen und von gelungenen Erpressungen gibt. Und da ihm ein dürftiger Besitz an Phantasie und Lebenserfahrung die Zahlenweisheit nicht ersetzen kann, so ahnt er nicht, daß in derselben Stunde, in der er sich einer Weltordnung freut, die Unsittlichkeit und Vergewaltigung unter Strafe setzt, in seines Vaterlandes Gauen tausend unglückliche Menschen in Furcht und Schrecken des nahenden Erpressers harren ... Zwei Delikte auf dem Papier: aber sie machen einander straflos und eines leistet dem anderen Vorschub. Man öffne das Moralventil, und die Erpressungen, die bisher bloß nicht angezeigt und nicht verfolgt wurden, werden auch nicht begangen werden. Oder wollte man auf ein schönes Verbrechen aus dem Grunde nicht verzichten, weil jene Sorte von Kriminalwissenschaft, die vom Zählen zum Denken gelangt, an der Aussichtslosigkeit verzweifeln müßte, eine Statistik der nicht begangenen Erpressungen zu erhalten?
Im ewigen Reich der sinnlichen Triebe, die selbst älter sind als der Drang nach Heuchelei, wird der Gesetzgeber immer vergebens stümpern. Wenn's glimpflich abgeht, belustigt er in der Melderolle des beflissenen Polizisten, der nächtens auf verschwiegener Stätte "ein beischlafähnliches Geräusch" gehört haben will, oder jenes andern, der einmal einem Wiener Amt buchstäblich die folgende Relation gebracht hat: "Ich kam gerade dazu, wie auf einer Bank im Stadtpark ein Mann einen Soldaten küßte und umarmte. Ich kam leider zu früh und kann darum keinen Unzuchtsakt melden." Aber der Moralschutzmann kann auch rechtzeitig kommen und Unheil anrichten. Mit Pflastern und Salben deckt er geschäftig moralische Bläschen zu, und der soziale Körper beginnt an inneren Stellen zu eitern. Wie die Verfolgung geschlechtlicher Abarten die Chantage fördert, so löst auch jeder andere Versuch, das Privatleben mit einem Paragraphenzaun zu umhegen, neue Unmoral, neue Strafwürdigkeiten aus. Die pathetisch beklagte Schmach des Mädchenhandels wäre den Kulturnationen erspart geblieben, wenn ihre Gesetzgeber besser erzürnen als erröten könnten, wenn sich an der Debatte über das Thema "Prostitution" die Vertreter der Schamhaftigkeit nie beteiligt hätten. Wucher und Ausbeutung gedeihen, solange den Liebeshändlern das strafgesetzliche Risiko mitbezahlt werden muß, und auch das Verbot jener harmloseren Vermittlung, die bloß Gelegenheit schafft, nicht vergewaltigt, mehrt nur die Chancen des Zwischenhändlergewinns: es drückt auf den Lohn, der empfangen wird, und treibt den Preis, der gezahlt wird, in die Höhe. Und von grimmigem Humor war die Lehre, die ein Sittlichkeitsexzeß des alten preußischen Landrechts nach sich zog. Um der Prostitution beizukommen, machte man Frauen, denen Geldannahme im Geschlechtsdienst nachgewiesen werden konnte, des Anspruchs auf Alimente verlustig. Was taten die Herren der Schöpfung? Sie zeigten vorweg ihre Noblesse; sie prostituierten die Frauen und ersparten die Alimente. Zur bevorstehenden Hundertjahrfeier des österreichischen Paragraphendickichts wäre eine Zusammenstellung aller Verbrechen, Vergehen und Übertretungen lehrreich, deren sich das Gesetz und seine konsequenten Ausleger schuldig gemacht haben. Ich denke nicht nur an jene schmerzhaften Kontraste, wie sie das systemisierte Unrecht auf Schritt und Tritt offenbart: Der hungernde Krüppel, der, zu stolz zum Betteln, von weißen Mäusen "Planeten" ziehen läßt, muß – wegen "Übertretung des Kolportageverbotes" – in den Arrest, und die bestialische Mutter, die ihr Kind "zum erstenmal" röstet, erhält eine Verwarnung... Nein, dort, wo dies Strafgesetz vom Jahre 1803 sich selbst verurteilt, hätte der feierliche Säkularbetrachter mit einem heitern, einem nassen Auge einzusetzen. Daß es dem Verbrechen der Erpressung in beispielhafter Weise Vorschub leistet, daß es gegen den Paragraphen verstößt, der da verbietet, "öffentlich wider Jemanden ehrenrührige, wenn auch wahre Tatsachen des Privat- und Familienlebens bekannt zu machen", und dadurch wieder jenes "gröbliche und öffentliche Ärgernis verursacht", das der Sittlichkeitsparagraph ahndet, sind nur die wichtigsten Fälle, in denen sich die Schlange in den Schwanz beißt. Und bedeutet nicht dort, wo ein "Rechtsgut" verletzt wurde, das kein Rechtsgut ist, die Verhängung der Gefängnisstrafe eine "Beschränkung der persönlichen Freiheit"?
II
Und damit kehre ich zu dem Schulbeispiel gesetzlich geförderter Unmoral zurück, das den entsetzten Blicken der Wiener Öffentlichkeit neulich vorgeführt wurde: Zu dem "Ehebruchsprozeß P.", wie ihn eine verlotterte Presse, die kein Detail, kein Bruchstück dieser Ehe ihren Lesern vorenthalten wollte, an der Spitze spaltenlanger Berichte diskret genannt hat. Ausgleich, Petroleumkartell und Preßreform, ja selbst die vom Obersten Gerichtshof angetastete "Ehre der Zeitung" hatten den Zerwürfnissen eines Gattenpaares Platz machen müssen, und Arm in Arm mit einem aufgeregten Ehemann raste die Justiz über die Szene, zu der das Tribunal ward. Arm in Arm mit dem Privatkläger, der sich zum Anwalt staatlicher Interessen erhöht fühlen konnte, weil er eine in französischen Possen wie im Leben abgedroschene Kalamität gerichtsordnungsmäßig feststellen ließ. Und wenn man, ermüdet und belästigt von diesem Veitstanz der Gerechtigkeit, bei dem der engagierte Gatte seine Hörner als Schmuck tragen durfte, zwischen Tat und Sühne die Resultante suchte, so gelangte, wer trotz dem Vertrauen in Moralparagraphe das Schämen noch nicht verlernt hat, zu einer grotesken Erkenntnis: Die geständige Ehebrecherin, die lange vorher schon die Martern einer häuslichen Justiz mit Revolver, Peitsche und Haarschere ausgestanden hatte, bot keinen verabscheuungswürdigen Anblick. Was sie gelitten, war häßlicher als was sie getan, und im tiefsten Sinne unmoralischer als Ehebruch war ein gerichtliches Verfahren, das – dank dem Ehrgeiz eines unverbrauchten Gerichtssekretärs – das Publikum zum Zeugen der geheimsten Möglichkeiten, für die ein eheliches Schlafgemach Raum hat, anrief. Wäre der Name "Mayer" nicht ein Sammelname, wahrlich, jener Prozeß hätte ihm zu unverwüstlicher Popularität verholfen. Wenn Meyers Lexikon vergilben sollte, wird Mayers Sittenkodex sich noch sprichwörtlichen Rufes erfreuen und Kulturforschern ein wertvoller Behelf sein bei der Ergründung jener Anschauungen über die Rechte des Gatten und die Pflichten der Frau, die in Wien am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts maßgebend waren. Ein Schatz von geflügelten Worten bewahrt die Erinnerung an die zwei Tage, da der Strafrichter des Bezirksgerichtes Wieden schwertrasselnd das Rechtsgut der Heiligkeit einer durch den Schadchen geschlossenen Ehe zu schützen unternahm. Noch nie zuvor war ein Geständnis freier und williger abgelegt worden. Die Angeklagte erzählte, wie sie durch Vermittlung zur Ehe und durch Mißhandlung zum Ehebruch gelangte. Ein anderer Richter – von denen, die es in Österreich noch gibt – hätte nach diesem Anfang ein Beweisverfahren für überflüssig erachtet und wäre zur Urteilsfällung geschritten; hätte der Majestät des Gesetzes – o schlotterichte Königin – durch möglichst gelinde Strafbemessung flüchtig Reverenz erwiesen, als mildernd das offenbare Rachebedürfnis des Gatten, zu dessen Befriedigung sich die Justiz nicht hergeben dürfe, gelten lassen, und – ohne weitern Sachverständigenbeweis – mit der Wertlosigkeit der Ehe die Schmerzlosigkeit des Bruchs begründet. Ein anderer Richter hätte, sei es durch Abkürzung, sei es durch absolute Geheimerklärung des Prozesses, der auf Skandal lauernden Journaille, der referierenden und der plaudernden, der der Tages- und jener der Witzblattpresse, es unmöglich gemacht, die sittliche Atmosphäre einer Stadt auf Wochen hinaus zu verpesten und den Flugsand einer Unmoral zu verbreiten, der das Schmutzstäubchen der verhandelten Untat reichlich zudeckt. Vielleicht hätte sogar ein anderer an eigener Lebenserfahrung die Unvollkommenheit des Gesetzes gemessen, an die Verfolgung eines Antragsdelikts nicht prinzipielles Pathos verschwendet und nicht den Kontrast zwischen dem einen angezeigten und den tausend – dem Himmel sei dank – nicht judizierten Fällen zu jenem unsittlichen Grad von Deutlichkeit getrieben, bei dem der Hohn zu fragen beginnt, ob denn in Wiens Bezirken nun jede Ehe gesichert, jeder Ehebruch ausgeschlossen sei ... Anders Herr Mayer.
Seitdem der natürliche Grenzstreit zwischen richterlicher Autorität und Freiheit der Verteidigung zur ständigen Störung der österreichischen Rechtspflege gediehen ist, habe ich keine Gelegenheit versäumt, für die Unabhängigkeit der Justiz nach unten einzutreten und den geplagten Verhandlungsleiter gegen die Zumutungen zu schützen, die immer wieder die Reklamesucht taktloser Phrasendrescher an seine Geduld stellt. So bin ich wohl ein unverdächtiger Beurteiler, wenn ich bekennen muß, daß der Verteidiger mit jedem Wort, das er in jenen beiden Verhandlungen zur Abwehr eines noch nie erlebten Autoritätsexzesses sprach, im Recht war. Und diese Meinung fällt umso schwerer ins Gewicht, als mich selbst die schmerzliche Erfahrung, daß Wiener Tagesblätter sie teilten, nicht von ihr abzubringen vermocht hat. Es war ungeheuerlich. Herr Mayer hat zwar einige Stellen des Verhandlungsberichtes, der in den Zeitungen erschien, richtig gestellt, und fern sei es von mir, ihm den berühmten Dogmensatz: "Ich irre nie" (Herr Mayer sagte bloß: "Ich irre mich nie") noch einmal vorzuwerfen; seine Sinnlosigkeit liegt klar zutage: es irrt der Mensch, so lang er strebt, woraus folgt, daß gerade jüngere Gerichtsbeamte sehr häufig Irrtümern ausgesetzt sind. Unbestritten aber ist das Wort geblieben: "Kraft meines richterlichen Amtes bin ich souverän. Eine Verwahrung gegen richterliche Konstatierungen gibt es nicht." Unbestritten ist, daß Herr Mayer, Leiter einer Prangerjustiz gegen die Frau und eines Rehabilitierungsverfahrens für den Mann, diesem das feierliche Attest ausstellte: "Kraft meiner richterlichen Autorität kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß in der heutigen Verhandlung nichts vorgekommen ist, was auch nur den Schein rechtfertigen würde, daß Sie von dem Gebaren Ihrer Frau gewußt und daraus Vorteil gezogen haben!" Man griff sich an den Kopf und fragte, wie denn ein Richter dazukomme, die Rechtsvertretung einer Partei zu übernehmen und geradezu das Urteil eines Ehrenbeleidigungsprozesses zu antizipieren, den der Gatte erst anstrengen müßte, wenn wirklich irgend ein Bezirksverleumder ihn, den steinreichen Mann, des Zuhältertums bezichtigt hätte. Unbestritten blieb, daß Herr Mayer eine Bemängelung der Art, wie die Gegenseite ihre ehelichen Pflichten auffaßte, der "Ehebrecherin" mit den Worten abschnitt: "Sie sollen sich heute verantworten, nicht Ihr Mann!" daß er Fragen, die sich auf dies Thema bezogen, "als irrelevant und unpassend" nicht zuzulassen erklärte und daß er, der vierzehn Tage später über gewisse Dienstbotenabenteuer des in seiner Familienehre schwer gekränkten Gatten richten sollte, einer auf jede Weise gedemütigten Angeklagten das Wort zurief: "Ich muß bemerken, daß nur Sie Ihren Mann erniedrigt haben." Irrt Herr Mayer nicht doch? Und wäre das Gesetz nicht völlig um jeden Sinn gebracht, wenn es anginge, heute über Antrag des Gatten mit dem schwersten Geschütz gegen eine Ehebrecherin aufzufahren und morgen über Antrag der Gattin – mit einem allerdings minder schweren – gegen den Ehebrecher? Die "Heiligkeit der Ehe", die geschützt werden soll, ist naturgemäß die einer Ehe, die bloß von einer Seite bedroht wurde: hier könnte vielleicht von einem Rechtsgut die Rede sein, das des Schützers bedürftig und des Schutzes noch wert ist. Wäre der Ehebruch kein Antragsdelikt und treuloses Verhalten an und für sich und aus öffentlich-sittlichen Rücksichten verfolgbar, so wäre das Einsperren beider Teile und die Etablierung der Strafzelle als Ehegemach immerhin logisch. Herr Mayer aber hätte, da schon die Kompensation, die im gegebenen Fall eintreten müßte, im Gesetz nicht vorgesehen ist, mindestens das Schuldmaß der einander untreuen Gatten vergleichen, beide mit einer kleinen Geldstrafe aus dem Saale weisen und darüber belehren müssen, daß der Geber des Gesetzes zwar an die Möglichkeit seines Mißbrauchs nicht gedacht habe, aber die Justiz es ablehne, ihren Arm der Befriedigung wechselseitiger Rache zu leihen. Herr Mayer hat allerdings den Grundsatz der Wechselseitigkeit nicht allzu stark betont. Der Kläger wurde liebreicher als die Geklagte, der Geklagte milder als die Klägerin behandelt. Von den zahlreichen "Höhepunkten" des Prozesses ist ja noch die folgende Szene, in Erinnerung: Die Frau verwahrt sich – mit Recht – dagegen, der Vernehmung der "schwangeren Geliebten" ihres Gatten, einer Köchin, beizuwohnen. Der Richter verhängt über sie "wegen Beschimpfung der Zeugin" eine Geldstrafe von fünfzig Kronen und fordert sie auf, diese Strafe "sofort zu erlegen"; die Angeklagte macht sich des weiteren Verbrechens schuldig, das Geld nicht bei sich zu haben, worauf der Richter mit der "sofortigen Umwandlung der Geldstrafe in eine Arreststrafe" droht; der Verteidiger erlegt den Betrag. Solches geschah in einem Wiener Gerichtssaal am 25. Juli 1902.
Vierzehn Tage später fühlt sich der Gatte durch die Zeugenschaft einer Dienstmagd geniert; denn diese ist erschienen, um den mit ihr begangenen Ehebruch zuzugeben. "Alles erfunden", ruft er, erregt aufspringend, "wie können Sie so etwas sagen?" – Richter: "Mäßigen Sie sich doch, sie müssen ruhig bleiben!" – Angeklagter: "Ich kann nicht. Bitte, Herr Richter, sehen Sie sich doch die Person an, mit einem solchen Häring soll ich mich vergangen haben?" – Richter: "Aber mäßigen Sie sich doch!" ... Der Standpunkt ästhetischen Alibibeweises schien diesem parteiischen Sittenrichter, der nur die Frau Moralgesetzen unterwirft, zu behagen; denn bald darauf spielte sich die folgende Szene ab: Eine Bonne tritt auf, die den Ehebruch des Hausherrn mit einer Dienstgenossin bestätigt und einen Kosenamen, den diese erhielt, verrät. "Ja, wenn ich gut gelaunt war", wirft der Gebieter ein, "habe ich allen solche Scherznamen gegeben, auch meiner Frau. Habe ich Sie nicht auch manchmal irgendwie gerufen?" – Zeugin: "Ja, Dudli haben Sie mich gerufen." – Angeklagter: "Sagen Sie nur die Wahrheit, Sie waren doch die Appetitlichste unter meinem Gesinde, und Sie können trotzdem – –". Hier brummt der Vertreter der Klägerin die unabweisliche Bemerkung in den Bart: "Harem!" Richter: "Herr Doktor, ich muß Sie energisch aufmerksam machen, daß derartige Äußerungen unzulässig sind!" Der Angeklagte (ermutigt): "Pfui!" Der Advokat: "Nun, nun, beruhigen Sie sich!" Angeklagter: "Pfui! Pfui!" Richter zum Advokaten: "Ich verweise Ihnen die von Ihnen gemachte Bemerkung!" ...
Daß hier eine brüchige Ehe gebrochen ward, daß barbarische Behandlung dem "Treubruch" voranging und dieser im Grunde erst der Scheidungsabsicht helfen sollte, mag Herr Mayer wohl erkannt haben. Vielleicht auch, daß er mit den an den Gatten (der den Liebhaber mißhandelt hatte) gerichteten Worten: "Ihre Frau wollte durch ihr Geständnis das Leben des Geliebten retten, wenn auch um den Preis ihrer eigenen Schande" dieser das höchste Maß ethischer Anerkennung spendete. Dennoch hielt Herr Mayer den Kolportageton der großen Vergeltung, der das Bezirksgericht Wieden zum Weltgericht machen sollte, mit erstaunlicher Zähigkeit fest: "Was dachten Sie sich, als die Frau ihre eigene Schande preisgab?" fragte er den Kläger und ließ ihn die schönen Worte sprechen: "Ich dachte, daß sie sich auf den letzten Gang vorbereiten wolle". Mit den Schrecken des jüngsten Gerichtes aber, die damals über die arme Sünderin trotz alledem nicht hereingebrochen sind, sollte erst Herr Mayer, der jüngste Richter, dienen, und er rief ihr gleich zu Beginn ihrer Vernehmung die Worte zu: " Sie stehen nach langen Irrfahrten vor Ihrem"Richter. Bleiben Sie bei der Wahrheit!" Ich zitiere nach Gerichtssaalberichten, denen der § 19 bisher nicht widersprochen hat; es wäre immerhin möglich, daß in dem auf Kosten des Klägers angefertigten Protokoll der Satz ein wenig anders lautet und daß vor einem Richter, der nie irrt, auch eine Angeklagte gestanden ist, die nie Irrfahrten unternommen hat. Aber der Ton dürfte getroffen sein. Herr Mayer traf allerdings auch den Ton freiwilligen Humors. Und daß diesem weitester Spielraum ward, versteht sich von selbst bei dem fortwährenden Kommen und Gehen von beeideten Stubenmädchen, Zimmerkellnern und Gasthofbesitzern, die aus dem Salzkammergut herbeigeeilt waren, nicht um eine Ehebrecherin der Schuld zu überführen, sondern um vor Herrn Mayer deren Geständnis zu bestätigen. "Hat er seine Frau auch aufgefordert, in den See zu gehen?" Eine Köchin antwortet stotternd: "Ja, er hat sie gefragt, ob sie einverstanden ist, daß sie in den See geht." Richter: "Sie war aber nicht einverstanden!" (Heiterkeit). – Richter zur Angeklagten: "Hat er Sie tatsächlich gezwungen, sich das Haar abzuschneiden?" "Ja, den ganzen Zopf. Was ich hier trage, ist falsches Haar." Richter: "Es ist sehr unangenehm für Sie, daß Sie diesen Schmuck verloren haben, aber ich fürchte, daß dies nicht der einzige Schmuck ist, der Ihnen in jener Nacht in Verlust geraten ist." Hier sprach dieselbe Delikatesse, die kein Rügewort fand, als aus dem Auditorium ein unflätiges Halloh den in den Saal getragenen Divan begrüßte, auf dem die sich unwohl fühlende Angeklagte – der eifervolle Richter hatte persönlich die Zögernde aus der Krankenstube geholt – Platz behalten durfte. Aber in Schimpf und Ernst sollte dieser Frau keine Demütigung erspart bleiben, und die Ehebrecherin erlitt, an den Pranger einer verhundertfachten Öffentlichkeit gepfählt, Torturen, welche ein Mittelalter, das bloß Daumschrauben und nicht die Presse kannte, nicht zu vergeben hatte. Ein so seltenes Delikt mußte eben exemplarisch bestraft werden, und schon vor der Verhängung der grausamen Strafe von zwei Monaten. Der Richter verlas, nachdem das ehebrecherische Paar längst das Geständnis abgelegt, die Liebesbriefe, die sie miteinander gewechselt hatten, und jedes darin vorkommende "liebe Mausi" weckte das Echo einer mit Entrüstung versetzten Heiterkeit. Dank einem schweren Eingriff in das Privatleben geständiger Angeklagter, der keinem Richter zusteht, schien endlich der Nachweis gelungen, daß Liebesleute einander nicht "Ew. Wohlgeboren" schreiben.
Aus der Zeugenaussage eines Advokaten, mit dessen Hilfe die Angeklagte einst ihre Ehescheidung hatte durchführen wollen, erfuhr Herr Mayer, daß schon lange vor der Verletzung der ehelichen Treue Verletzungen am Oberarm konstatiert wurden und daß der Gatte "die Mißhandlungen nicht in Abrede stellte"; als deren Grund habe er "vermögensrechtliche Dinge" angegeben: die Kränkung darüber, "daß seine Frau ihm nicht das Vermögen zugebracht habe, das ihm versprochen worden sei"; und "stand übrigens auf dem Standpunkt, er sei als Gatte berechtigt, seine Frau so zu behandeln". Die Mehrzahl der Herren der Schöpfung, die, ach, so oft Herren der Zerstörung sind, mag diesen Standpunkt teilen. Und die Versicherung einer Frau, die Beziehungen zum Geliebten seien ihr "als der einzige Ausweg erschienen", um aus der "elenden Ehe", die der Gatte freiwillig nicht lösen wollte, herauszukommen – der Drang, ein Hörigkeitsverhältnis zu verlassen, könnte an sich schon die meisten ein Frevel dünken, der mit zwei Monaten Arrest nicht hart genug gestraft ist. Als Operettenrefrain ist ihnen Nietzsches Weisung, die Peitsche mitzunehmen, wenn sie zum Weibe gehen, geläufig; nicht aber Zarathustras: "Und besser noch Ehe brechen als Ehe biegen, Ehe lügen. So sprach mir ein Weib: Wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe mich!" Sie harren in Ungeduld des Ausganges, den der vorläufig vertagte Prozeß gegen den Gatten nehmen wird; daß ein ehrlicher Mann wegen solch unvermeidlicher Ausflüge aus dem ehelichen Schlafgemach ins nahe Dienstbotenzimmer zum Märtyrer werden könnte, wäre wirklich "nur in Österreich möglich" ... Sonst würden der brutalen Männermoral unserer Tage ein Strafgesetz, das alles straft, und eine Exekutive, die eine Auswahl gestattet, gleichermaßen zusagen. Der berühmte Herr P., der an die Freunde gedruckte Einladungskarten zur Gerichtsverhandlung sandte, der die Zeitungen aufforderte, ehrenrührige Tatsachen aus seinem Privat- und Familienleben mitzuteilen, und der in sticklufterfülltem Saale die Heiligkeit seiner Ehe von einem Richter und acht Polizisten bewachen ließ, ist ihr erwachsenster Typus.
Wäre die gesamte Wiener Presse so anständig wie die Neue Freie, die mit zehn vornehmen Zeilen über das Sensationsschauspiel hinwegging, würden alle Zeitungen gleich ihr sich die Verschweigung eines Ehebruchsprozesses mit dem Jahrespauschale des Bankvereins verrechnen lassen – der Schwiegersohn des Präsidenten war nämlich einer der Akteure –, man müßte gegen die Öffentlichkeit derartiger Prozeduren kein Bedenken tragen. Aber alle Erfahrung drängt zu einer gesetzlichen Reform, die richterlichen Losgehern auf dem Moralterrain Zügel anlegt. Nirgends ist Unbefangenheit schwerer zu bewahren, nirgends tritt Lebensunkenntnis oder Verbitterung des Richters leichter in Erscheinung als gerade hier, wo über Allzumenschliches verhandelt wird. Ich will den Donnerer, der neulich Jupiter taub machte, weder der übersättigten Erfahrung noch der freudlosen Unerfahrenheit in Dingen der Geschlechtsmoral zeihen, und fern liegt es mir, seine Persönlichkeit in eine Beziehung zu bringen, die der – natürlich wahnsinnige – König Lear zwischen einem Büttel und einer Buhlerin herzustellen wagt und an die man bei der Behandlung prostituierter Steuerzahlerinnen durch die Organe der Polizei immer denken muß. Ich wollte durch Anrufung Shakespeares nur irdische Richter, die irren können, und nicht Vertreter einer höheren, menschlichen Einflüssen entrückten Gerichtsbarkeit zur Selbstbesinnung mahnen und die schiefe und lächerliche Beziehung zwischen Kriminalität und Sittlichkeit treffen.
Sittlichkeit und Kriminalität: Die große Gelegenheit, ihre Unverträglichkeit zu zeigen, ist der Ehebruchsprozeß. Der Typus der Frau, die zwar zu schön ist, um treu, aber auch zu gesetzeskundig, um untreu zu sein, lebt nur in einer einfältigen Doktrin. Deutsche Philosophen, die in den idealsten Höhen der Sittlichkeit gedacht haben, sind für die Ausscheidung des Ehebruchs aus dem Strafrecht und dafür eingetreten, daß der Frau die Scheidung erleichtert werde. Denn die Heiligkeit der Ehe würde, sobald sie aufhörte "Rechtsgut" zu sein, beträchtlich gemehrt werden. Sie wäre nicht mehr von jener unseligen Heuchelei beleidigt, unter der Menschen fortleben, die längst erkannt haben, daß sie, als sie "in die Ehe traten", keinen andern "Fehltritt" mehr begehen konnten – man müßte denn das Heraustreten aus allen Dingen, in die einer auf der Lebensstraße treten kann, als Fehltritt bezeichnen ... Aber dies ist vom Standpunkt vergangener und hoffentlich kommender Zeiten gesprochen, nicht aus dem Herzen der Gegenwart. Sie ist beruhigt, ihre Ideale in gesetzlicher Hut zu wissen, und braucht sie darum nicht zu befolgen. Sie sehnt sich nicht nach Reformen. Eine Gesittung, die der zwischen Arbeitstier und Lustobjekt gestellten Frau gleißnerisch den Vorrang des Grußes läßt, die Geldheirat erstrebenswert und die Geldbegattung verächtlich findet, die Frau zur Dirne macht und die Dirne beschimpft, die Geliebte geringer wertet als die Ungeliebte, muß sich wahrlich eines Strafgesetzes nicht schämen, das den Verkehr der Geschlechter ein "unerlaubtes Verständnis" nennt. Die Sitte ist geschützt. Und die Sittlichkeit könnte arg überhand nehmen, wenn's nicht Verbote gegen die Unsittlichkeit gäbe.
Bei den Wiener Bezirksgerichten ist der satirische Eingriff ins Privatleben, die witzige Überschreitung richterlicher Kompetenz manchmal in die Formen wienerischer Gemütlichkeit gekleidet. Es sind ernste Satiriker, die im Landesgericht amtieren. Den Hofrat Feigl unterschätzen die Gerichtssaalreporter, wenn sie hinter jedes seiner Aperçus "Heiterkeit" oder "lebhafte, lang anhaltende Heiterkeit" setzen. Wohl erinnerte das Milieu des Prozesses gegen den Advokaten Mandl an eine Klabriaspartie, an der die Herren Feigl und Pollak munteren Sinnes teilnahmen. So lustig es aber in solchen Fällen zugeht, so läßt sich leider doch nicht leugnen, daß der Angeklagte das Urteil als Erlösung, den Prozeß als Strafe empfindet. Der Staatsanwalt – er heißt Pollak und wird von der antisemitischen Presse seiner "trefflichen und markigen Worte" wegen belobt – ruft dem Angeklagten zu: "Wenn für einen Besuch der Fabrik 40 Kronen berechnet werden sollen, dann ist in dieser Summe nicht bloß die Anwesenheit Ihrer hübschen Persönlichkeit enthalten" oder, nach einer anderen Version: "War es 40 Kronen wert, daß Sie in die Fabrik gekommen sind und dort Ihre besonders schöne Persönlichkeit zur Schau stellten?" Der Verteidiger bemerkt, daß der Angeklagte alles, selbst das ihn belastende Material, mit auffallender Sorgfalt aufgehoben habe. " Nur das Geld nicht!" ruft der schlagfertige Pollak. Herr Feigl wird eifersüchtig, sieht sich um seinen Pointenruhm gebracht und holt, da die Lachlust des Auditoriums schon ganz dem Staatsanwalt zugewendet scheint, zu einem besonderen "Schlager" aus. Er wird pikant. Die ganze Zeit hat er mit einem Päckchen Briefe gespielt. Was mag es enthalten? Endlich ist der Moment gekommen: "1899 hatten Sie Beziehungen zu einer Choristin von ›Venedig in Wien‹, der Sie monatlich 100 Gulden gaben. Auch Pretiosen im Werte von 300 Gulden hat dieses Mädchen von Ihnen erhalten. – Angeklagter: Das Verhältnis dauerte nur von Juli bis Dezember. – Präsident: Diese Verbindung war nicht die einzige. Es wurden Briefe einer Wiener Chansonettensängerin aus Petersburg vorgefunden, deren Inhalt geradezu abstoßend ist. – Angeklagter: Für den erotischen Inhalt dieser Briefe bin ich doch nicht verantwortlich. Ich habe ihr immer anständig geschrieben oder überhaupt nicht geantwortet. Präsident: Ich wollte nur bemerkt haben, daß ein anständiger Mann nach solchen Briefen den Verkehr mit einer solchen Frau nicht mehr fortsetzt." Hundert lüsterne Blicke sind auf das Teufelspäckchen gerichtet, das Herr Dr. Feigl in seiner Hand hält. Aber die Spannung mit absichtsvoller Taktik erhöhend, spricht er die Worte: "Die Geschworenen werden vielleicht in geheimer Sitzung den Inhalt der Briefe kennen lernen." Herr Bernhard Buchbinder hätte es als Verhandlungsleiter auch nicht besser getroffen. Auch er hat immer bloß angedeutet und nicht ausgesprochen. Und zum Schluß löst sich die allgemeine Erwartung meistens in ein schalkhaft kicherndes Nichts auf. Der Verhandlungsleiter nimmt nach einigen Stunden das Päckchen wieder, und sagt: "Hier sind die Briefe von weiblicher Hand, von denen ich bereits gesprochen habe, von einer Dame, die sich dazumal in Petersburg aufgehalten hat, welche so unanständig und so obszönen Inhaltes sind, daß ich mich schäme, sie selbst in geheimer Sitzung vorzulesen. Sie sind das Unflätigste, das eine Frau überhaupt schreiben kann." Nun hat der Präsident nur mehr einen Wunsch: daß der Angeklagte "zugebe", die Briefe seien anstößigen Inhaltes. Das tut der Angeklagte, meint aber wieder, er sei dafür nicht verantwortlich zu machen. " Aber für die Fortsetzung des Verhältnisses" ruft jetzt – wer? Herr Feigl? Nein: Herr Pollak, der gemerkt hat, daß man mit Pikantem besser wirke. Der Präsident "schämt" sich inzwischen. Wie machen's doch die Kulissenplauderer? "Geschichten könnte ich erzählen, Geschichten! Na, es ist besser, man schweigt darüber!" Angeregt kehrten zwölf Männer aus dem Volke an jenem Abend zum häuslichen Herd zurück, zwölf Frauen aus dem Volke lauschten spannungsvoll der Kunde von halb erlebten Abenteuern aus dem Gerichtssaal, und ein paar Dutzend Kinder aus dem Volke mußten "daweil aussigeh'n". So ward im Volke Moral verbreitet. Schmunzelnd hatten die Reporter die zum Nachweise einer Veruntreuung höchst wichtige Tatsache, daß der Delinquent schweinische Briefe bekam, der breiten Öffentlichkeit überliefert; der Ehrenmann vom ›Deutschen Volksblatt‹ aber stilisierte jene Stelle des Berichtes folgendermaßen: "Der Vorsitzende verliest die Aussage dieser Sängerin, deren Name jedoch nicht genannt würde. Es ist die Jüdin ... (folgt der volle Name)." Aus dem reichen Schatze von Lebenserfahrung, den der Leiter jener Verhandlung dem Auditorium erschloß, sei noch eine Gedankenperle aufgehoben. Zu dem "Geständnis" des Angeklagten, daß er manche lustige Nacht mit einer Dame verbracht habe, bemerkte Herr Dr. Feigl: "Es gilt allgemein, wenn jemand mit einer Dame eine Nacht zubringt, daß das außerhalb des gewöhnlichen Rahmens ist." Die Wahrheit dieses Satzes ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, daß erotische Briefe, die eine Frau an ihren Liebhaber schreibt, in dem Moment obszön und abstoßend sind, da ein Dritter, den sie nichts angehen, in sie Einblick nimmt. So hat denn wirklich, ohne es zu wollen, die Petersburger Chansonettensängerin das Schamgefühl des Hofrats Feigl gröblich verletzt. Er aber war klüger und bewahrte wenigstens die Geschworenen vor solchem Affront. Mit feinem Takt sehen wir jene richterliche Naivität angenehm gepaart, die jedesmal in grenzenloses Staunen gerät, so oft die Fabelkunde in den Gerichtssaal dringt, daß es in der weiten Welt so etwas wie außerehelichen Geschlechtsverkehr gebe. Und der Verteidiger selbst, der die duftendsten Barreaublüten um das Märtyrerhaupt des defraudierenden Kollegen wand und lebhaft dagegen protestierte, daß dessen Gebarung der allgemeinen Standesmoral nicht entsprechen solle, ließ sich auf das sittenrichterliche Terrain verlocken. Er sprach von "diesen Zerrbildern der Weiblichkeit" und von dem "Weibe", das sein Klient "in der Gosse fand". Herr Mandl hat sie alle stets "wie seinesgleichen" behandelt; aber in Wirklichkeit sind sie es, die den edelsten Depotdieb zu sich herunterziehen. Rechter Hand, linker Hand – alles vertauscht. Ein Wiener Advokat war nicht wegen Veruntreuung, sondern eine Sängerin in Petersburg wegen leichtsinnigen Lebenswandels vor den Wiener Geschworenen angeklagt.
So hoch das Freimädchen moralisch über dem Mitarbeiter des volkswirtschaftlichen Teiles steht, so hoch steht die Gelegenheitsmacherin über dem Herausgeber. Sie hat nie gleich diesem vorgeschützt, die Ideale hochzuhalten, aber der von der geistigen Prostitution seiner Angestellten lebende Meinungsvermittler pfuscht oft genug der Kupplerin auf ihrem eigensten Gebiet ins Handwerk. Nicht in puritanischem Entsetzen habe ich hin und wieder auf die Sexualinserate der Wiener Tagespresse hingewiesen. Unsittlich sind sie bloß im Zusammenhang mit der vorgeblich ethischen Mission der Presse, geradeso wie Inserate einer Sittlichkeitsliga in Blättern, die für die Sexualfreiheit kämpfen, im höchsten Grade anstößig wären. Und wie die moralische Anwandlung einer Kupplerin auch nicht an und für sich, sondern nur im Zusammenhang mit ihrer Mission unsittlich ist. Sittlich in diesem Sinne ist es, die Kupplerinnen gegen die ihnen erwachsende Schmutzkonkurrenz der Zeitungsverleger, die das Handwerk unter viel geringeren Gefahren treiben, zu schützen. Der Staat, der Liebespaare aus einem Absteigquartier treibt, schützt nicht die öffentliche Sittlichkeit, sondern die Ethik der Kupplerinnen als Rechtsgut. Daß aber in einem Hause, dessen Vordertrakt Zwecken der Volksbildung geweiht ist, hinten aus der Vermittlung von Rendezvous materieller Vorteil gezogen wird, dünkt ihn natürlicher und sittlicher als die ausschließliche Bestimmung zum Freudenhause. Elende Witwen, die vom Vermieten leben, und der "Sturmfreiheit" eine Gasse bahnen, werden vors Tribunal geschleppt. Zeitungseigentümer, die ihre Administrationen zur Abwicklung des regsten Geschlechtsverkehrs in allen seinen Arten beistellen, bleiben unbehelligt. Die ›Neue Freie Presse‹ dient einem "Jupiter", der "Leda mit Vermögen sucht" und Anträge unter "Sacher-Masoch" erbittet, einem "Severin", der unter der gleichen Chiffre seine "Wanda" sucht, einem "Gleichgestimmten", der nach einer "dame sévère et impérieuse" schreit wie der Hirsch nach der Quelle, und einem jungen Mann, der "als Gesellschafter bei distinguiertem Herrn" unterzukommen sucht und dem man unter "Hors de nature" an das Ankündigungsbureau des Blattes schreiben möge. Viel anständiger ist das ›Neue Wiener Tagblatt‹. Es konkurriert nicht mit den Kupplerinnen, sondern stellt ihnen seine Publizität zur Verfügung und empfiehlt selbstlos eine "Frau S. 60425", die "diskreteste, reellste, geschickteste Vermittlung für feinere Kreise" verheißt. Gewiß geht's in ihrer "Lasterhöhle" – so lautet ja der Terminus moralisch entrüsteter Gerichtssaalredakteure – natürlicher zu als in der Fichtegasse, wo eine "strenge" Masseuse ihres Amtes waltet, une dame sévère et imperieuse. Aber der Staatsanwalt ist ein Masochist, der sich von ihr alles bieten läßt.
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Im Ernst, ich halte die Veröffentlichung von Sexualannoncen für die weitaus verdienstvollste aller Tendenzen, die die liberale Presse verfolgt; und nur weil sie nicht selbst dieser Ansicht ist und die Unmoral schmäht, von der sie Zinsen nimmt, habe ich manchmal den Charakter ihres Inseratenteils enthüllt. Nicht die Verdrängung der Masseusen, sondern die reinliche Scheidung des Liebesmarktes von korrupten Redaktionen lag mir am Herzen. Kein wahrer Kenner meiner Lebensanschauung kann glauben, daß ich eine junge, sympathische Masseuse nicht für kulturfördernder halte als einen alten unsympathischen Schmock, und die Körperpflege, wie sie auf der letzten Seite der ›Neuen Freien Presse‹ betrieben wird, nicht für anregender als die Pflege des Geistes, die weiter vorn betrieben wird. Die Hurerei prostituiert sich heute durch eine Verbindung mit dem schäbigsten Journalismus, und wie es peinlich ist, die berühmtesten Vertreter der Wissenschaft als Mitarbeiter der ›Neuen Freien Presse‹ im Vorspann finanzieller und geistiger Lumperei sich drängen zu sehen, so ist es beschämend, im Nachtrab einer kompromittierenden Philistermoral einen Troß von ehrlichen Sexualkunden zu finden.
"In einer englischen Provinzzeitung ist das folgende Inserat erschienen:
Gesucht eine wirklich häßliche, aber erfahrene und tüchtige Gouvernante zur Beaufsichtigung und Erziehung von drei Mädchen, deren ältestes 16 Jahre alt ist. Die betreffende Person muß musikalisch sein und Deutsch und Französisch verstehen. Brillante Konversationsgabe, liebenswürdige Manieren und körperliche Schönheit nicht gewünscht, da der Vater viel zu Hause ist und außerdem erwachsene Söhne vorhanden sind.
Das Inserat hat sofort Zuschriften an die englischen Tageszeitungen veranlaßt, in denen darüber Klage geführt wird, daß ein hübsches Gesicht und liebenswürdige Manieren für eine Gouvernante ein wahres Danaergeschenk seien. ›Die unvernünftigste und undankbarste Person‹, heißt es in einem Briefe, ›für die man als Gouvernante tätig sein kann, ist die verheiratete Frau vorgerückten Alters, deren Schönheit dahin ist und die nun eifersüchtig auf ihren Gatten ist.‹ ›Ich habe vor Kurzem eine gute Position in Bayswater verloren‹, schreibt eine Andere, ›weil Mrs. X. glaubte, ich liebäugelte mit ihrem Bruder, einem kahlköpfigen Offizier. Es war nicht wahr – er hielt sich nur häufig in der Kinderstube auf, weil er die Kinder gern hatte. Soll ich nun hungern, weil ich hübsch bin? Mehrere Stellenvermittlungsbureaus haben mir bereits gesagt, ich sei zu jung und sehe zu ›mädchenhaft‹ aus.‹" "Beim Polizeikommissariat Mariahilf lief gegen eine junge, hübsche, zur damaligen Zeit gerade ohne Engagement befindliche Schauspielerin die anonyme Anzeige ein, daß sie geheime Prostitution betreibe. Das Polizeikommissariat leitete hierauf Erhebungen ein, ließ die Schauspielerin bewachen und lud eine Anzahl Leute vor, die bei ihr verkehrt hatten. Obwohl nun alle diese Zeugen die Angezeigte entlasteten, verurteilte der Polizeikommissär die Schauspielerin dennoch wegen ›gewerbsmäßiger Unzucht‹ zu achtundvierzig Stunden Arrest. Die Quartiergeber der Schauspielerin hatten angegeben, daß absolut nichts Unzüchtiges vorgekommen sei. Wohl sei es öfter vorgekommen, daß mehrere Herren zu gleicher Zeit auf Besuch waren, doch geschah dies immer in Gegenwart der Hausleute. Gegen die Quartiergeber, denen der Polizeikommissär gleich von allem Anfang an ›Schuh‹ und das ›Einsperren‹ in Aussicht gestellt hatte, wurde hierauf auch tatsächlich eine Anzeige wegen Kuppelei erhoben. In der Verhandlung wurde die Schauspielerin als Zeugin einvernommen. Sie gab zu, einen ziemlich großen Bekanntenkreis und auch viele Verehrer zu haben. Die Zeugin führt das eben darauf zurück, daß sie Schauspielerin, hübsch und dabei von liebenswürdigen Umgangsformen sei. Man könne sie aber unmöglich dafür verantwortlich machen, daß diese ihre Bekannten ihre Gesellschaft suchen. Wenn sie zu ihr kamen, so geschah es nur, um mit ihr zu plaudern oder Karten zu spielen. Die Besucher seien nie mit ihr allein gewesen."
"Dat veniam corvis, vexat censura columbas": es trifft die Sexualheuchelei der Gesellschaftsordnungen, die Männermoral der Generationen bis ans Ende der Welt. Alles verzeihen die Sittenrichter den Raben und peinigen die Tauben. Die Frau darf nur, was der Mann will, aber nur, wenn sie es selbst nicht will. Und wehe, wenn das schwächere Gefäß der Sittlichkeit unsanftester Berührung nicht Stand hält! Ist es zierlich, greift man gern danach und wirft's, wenn man sich satt geschlürft, verächtlich in die Ecke ... Die beiden Zeitungsnotizen, die ich hier zusammenstelle, habe ich an demselben Tag gefunden. Ist's nicht das Halali der Hetzjagd auf die schöne Frau? Männermoral und die Eifersucht der Häßlichkeit sind hinter ihr her. Aus dem bürgerlichen Erwerbsweg geworfen, verfällt sie der Feme, wenn sie den andern betritt. Für die aufreizende Wirkung dieser Parallele ist die Frage belanglos, ob die Schauspielerin wirklich – wie's im Jargon gesetzgeberischen Stumpfsinns heißt – "gewerbsmäßige Unzucht" getrieben hat oder nicht, ob außer dem Angriff gegen Geschlecht und Selbstbestimmungsrecht ihr auch eine persönliche Unbill zugefügt wurde. Belanglos, ob hier wirklich ein "Grund" vorlag, die Tücke eines aus engstirnigem Geist gebornen Gesetzes spielen zu lassen, oder ob bloß ein Polizeigehirn die Lust angewandelt hat, in Machtvollkommenheit zu glänzen und die Späße eines Indizienprozesses in die Verwaltungssphäre zu übertragen. Der Nachweis "geheimer Prostitution" würde an der Scheußlichkeit der Sache nichts ändern. Man fragt sich, in welchem Jahrhundert man eigentlich lebt, wenn gemeldet wird, daß eine Frau die Behörde darüber beruhigen mußte, daß ihre Besucher nicht mit ihr allein im Zimmer waren, daß sie bloß geplaudert und sonst nichts getan haben, was den Herrn Kommissär irritieren könnte. Wozu Polizisten auf der Welt sind, erkennt man also nicht nur, wenn Raubmörder und Taschendiebe unentdeckt bleiben. Aber daß daß sie auf der Welt sind, kann man sich nur daraus erklären, daß doch hin und wieder noch etwas geschieht, was "das Schamgefühl gröblich zu verletzen geeignet" ist. Oder sollten am Ende die Sexualrichter ihr Dasein der Paarung eines Paragraphen mit einer Gesetzesnovelle zu verdanken haben? ... Daß ein Mädchen auch ohne finanzielle Absicht Besuche empfangen kann, ist "hieramts" undenkbar. Man sollte aber meinen, daß sie auch im anderen Fall kein Rechtsgut verletzt und daß die Gefährdung ihrer Ethik höchstens ihren Freund, ihren Vater, ihren Gott, aber nie und nimmer ihren Polizeikommissär angeht. Die tiefe Unsittlichkeit einer Sittenpolizei, die Lizenzen für Prostitution erteilt, die gewerbsmäßige Unzucht Unbefugter nicht duldet und vielleicht nächstens auch auf diesem Gebiet den Befähigungsnachweis einführen wird, die unter allen Umständen sich der schwersten Eingriffe in Privatleben und Selbstverfügungsrecht der Frauen schuldig macht, redet sich vergebens auf hygienische Notwendigkeiten aus. Jeder Versuch der Reglementierung scheitert an ihrer tiefbegründeten Aussichtslosigkeit, und das Mißverhältnis zwischen behördlichem Eifer und der organischen Größe einer in Frauennatur und Gesellschaftsstruktur wurzelnden Erscheinung ist nur ein witziger Kontrast. Daß man wirklich die Hygiene will und nicht die Sittlichkeit, würde erst bewiesen, wenn Männer Gesetze gegen Männer schüfen, wenn's Paragraphen gäbe, die die bewußte Übertragung einer venerischen Erkrankung mit Zuchthaus bedrohen. Der bürgerlichen Welt, die aufschreit, wenn die Sittenpolizei irrtümlich eine "anständige Frau" brutalisiert hat, geschieht nur Recht von ihrem eigenen Recht. Nicht der "Mißgriff", der Griff empört die Menschlichkeit, und jeder "peinliche Zwischenfall", der die gute Gesellschaft aufregt, aber die normale Bestialität der Behandlung prostituierter Frauen erkennen läßt, ist erfreulich. Eine Gesellschaftsordnung, deren bessere Stützen die besseren Beutelschneider sind, hat ausschließlich dem Weib sittliche Lasten aufgebürdet und peinigt statt der Raben die Tauben. "Sittlich" ist, was das Schamgefühl des Kulturmenschen gröblich verletzt.
Der Lastzug der österreichischen Justiz schleppt wertlose Rechtsgüter mit. Wenn aber wahnsinnig gewordene Lokomotivführer das Tempo beschleunigen, dann werden die Gerechten überführt. Wir leben im Lande der unschuldig Verurteilten und der schuldig Freigesprochenen. Wenn man die Anarchisten der Gesetzlichkeit am Werke sieht, erscheinen einem die Bombenwerfer in milderem Licht. Das ist die Geschichte vom ausgeliehenen alten Regenschirm: Im August 1900 hat's geregnet. Damals trug einer einen Schirm, der ihm nicht gehörte. Im April 1901 begegnete ihm der Eigentümer und mahnte ihn an die Rückstellung. Aber wenn's gegen Regen einen Schutz gibt, so gibt's keinen gegen Quartierfrauen, die wertloses Gerümpel fortschaffen. Und keinen gegen die Justiz. So wird einem denn eines Tages eröffnet, daß man eine "Veruntreuung" begangen hat. Fünf Tage Arrest. Vom Landesgericht Wien bestätigt. Im August 1901 regnet's wieder, aber man wird nicht naß, wenn man die Tage vom 13. bis zum 18. im Arrest zubringt. Am 18. August herrscht Kaiserwetter, und man kann die Zelle verlassen. Wer sich in Österreich einen Regenschirm ausleiht, kann darauf rechnen, einige Zeit gegen alle Unbilden der Witterung geschützt, nämlich allen Unbilden der Justiz preisgegeben zu sein. Denn was nützt es, daß der Kassationshof das Urteil aufhebt und "die neuerliche Durchführung der Berufungsverhandlung" anordnet? Es hat schon geregnet, der Angeklagte wird nach verbüßter Strafe freigesprochen, und bei schönem Wetter den Regenschirm aufspannen ist eine zwecklose Demonstration, die den armen Teufel für den nassen Jammer nicht mehr entschädigt. Entschädigt wird nämlich in Österreich nicht. Man teilt hier die Menschen in solche ein, die vorbestraft sind, und solche, die es noch nicht sind, und wer zu Schaden kam, weil Frau Themis fausse couche machte, hat bloß den Vorteil, daß dies bei der nächsten "Beanstandung" kein erschwerender Umstand ist ... Frau Therese Giezinger, das Opfer der Rieder Justizkatastrophe, verlangt jetzt 11.990 Kronen 13 Heller für Verdienstentgang, für die infolge vierjähriger Kerkerstrafe eingetretene Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, für sonstige Verluste, Nachteile und Kosten, z. B. für das "ohne ihr Wissen und ihren Willen veräußerte Holz, für den Verlust ihrer Kleider, Einrichtungsgegenstände und sonstiger Habseligkeiten". Frau Therese Giezinger war irrtümlich zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Eine Entschädigung für die Todesqualen, für das seelische und körperliche Leid der Kerkerjahre gewährt ihr das österreichische Gesetz nicht. Sie ist vollkommen gebrochen, krank und gänzlich mittellos. Der österreichischen Presse, die bloß für die Unschuld auf der Teufelsinsel pathetisch wird, kann man ein werktätiges Interesse für den heimischen Fall nicht zumuten. Es wäre wünschenswert, daß man den Kaiser, den es betrüben muß, daß in seinem Namen auch das Urteil von Ried gefällt worden ist, von dem Furchtbaren verständige. Er würde wohl verfügen, daß eine Summe, wie sie kürzlich zu Ehren des Königs von Schweden für die Renovierung eines Aktes aus "Excelsior" verausgabt wurde, künftig den Opfern der österreichischen Unrechtspflege zu Gute komme.
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Eine Dienstmagd stand vor den Wiener Geschworenen, weil sie ihr körperlich verkümmertes, fast idiotisches Kind, das man im Spital nicht behalten wollte, in den Donaukanal geworfen hatte. Sie hatte 15 Kronen Monatslohn, sollte 24 Kronen Kostgeld für das Kind zahlen und mußte noch für ein zweites, jüngeres sorgen, dessen Vater nicht erreichbar war, weil er ihr "eine falsche Adresse angegeben hatte". Der Vorsitzende sagte: "Sehen Sie, Sie sind etwas leichtfertig!"
Der Vater des getöteten Kindes, der der Wöchnerin einen Stall als den "ihrer würdigsten Niederkunftsort" angewiesen hatte, war vom Zivilgericht für eine Summe von 440 Kronen von seinen Vaterpflichten befreit worden.
Die sich der Mutterpflichten entledigt hatte, wurde vom Strafgericht zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Verhandlung hat aus dem Vorleben der Angeklagten zwei Belastungsmomente an den Tag gebracht. Christine Rizek ist vorbestraft. Sie hat, als sie auf dem Lande bedienstet war, im Garten Obst gestohlen und ist dafür zu vierundzwanzig Stunden Arrest verurteilt worden. Ferner ist erwiesen, daß sie einmal auf einem Maskenball war und damals nach Torsperre heimkam.
Der Vorsitzende rief dem Mädchen zu: "Reden Sie doch lauter! Am Maskenball haben Sie gewiß besser reden können!"
Da Christine Rizek, ehe sie noch zum Tode verurteilt war, die Verhandlung durch Weinen störte, rief ihr der Vorsitzende zu: "Wollen Sie ruhig sein, sonst laß ich Sie abführen! Machen S'nicht solche G'schichten!"
Der Vorsitzende ist Oberlandesgerichtsrat und heißt Granichstädten.
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Die Herren Feigl und Pollak haben neulich einem jungen Mädchen die Unschuld geraubt. Dies Wort, mit dem die Menschheit ihren Virginitätsschacher pathetisch verkleidet, muß endlich aus dem Marktverkehr der Geschlechter auf jene sadistischen Gewaltakte übertragen werden, die heute einzig noch das Gefühl bewegen und die Tragik des Opfers begreifen lassen: auf die Strafjustiz, die sich am jungen Leben vergreift. Herr Pollak, der Staatsanwalt, hat eine neunzehnjährige Näherin angeklagt, weil ihre Schwesterliebe sich von einem Betrüger die letzten Arbeitsgroschen für ihren angeblich notleidenden Bruder, der in einer Militärstrafanstalt sitzt, hatte entlocken lassen. Hat sie wegen "Verbrechens der Verleitung und des Beistands zu einem Militärverbrechen" angeklagt. Unkenntnis des Militärstrafgesetzes schützt in Österreich ein junges Mädchen nicht vor Strafe. Herr Feigl hat sie zu vierzehn Tagen Kerker verurteilt. Eine schwere Tat, die durch Kenntnis des Gesetzes nicht entschuldigt wird!
"Des Himmels Antlitz glüht, ja diese Feste, Dies Weltgebäu, mit trauerndem Gesicht, Als nahte sich der jüngste Tag, gedenkt Trübsinnig dieser Tat ..."
März 1904
Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigjährigen Burschen, der in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte, zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt.
Das Datum wird aus der Geschichte der österreichischen Rechtspflege, der märzgefallenen, nicht mehr verschwinden. Wenn wir die Reihe der Sünder im Talar passierten, die in nüchternem Zustand die leibhaftige Gerechtigkeit attackiert, vergewaltigt, geschändet haben, nur einem konnten wir keinen Milderungsgrund zubilligen: Herrn Johann Feigl. Er ist der persönlichen Freiheit der Staatsbürger am gefährlichsten geworden, er, der einzige, der dem Wahnwitz jenes hundertjährigen Gesetzes buchstäblich gerecht ward. Die grauenvollsten Strafgebote hat man, da ein delirantes Parlament die gesetzgeberische Arbeit hindert, auf alle Art zu dämpfen gesucht. Oft gelang's durch einen verzweifelten Freispruch der Geschworenen, der dem Freunde der Rechtssicherheit einen nicht gelindern Schrecken einflößte, als das Wüten des Paragraphenrichters, und auch dem liberalsten Verteidiger des Unfugs "Volksjustiz" zu denken gab. Aber hinter dem Berufsrichter steht jetzt eine von ihrer Modernität begeisterte Regierung und beschwört ihn in allwöchentlichen Erlässen und Festreden, nicht die Strafmaße des unmenschlichen Gesetzes, sondern die seines humanen Fühlens anzuwenden. Ach, man könnte, wenn man diesen Johann Feigl den Wunsch des Ministers in Tat umsetzen sieht, beinah sich zum Glauben bekehren, die alte List österreichischer Staatskunst sei auch hier am Werke und "Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen" der Wahlspruch modernster Justizpolitik. Und der Räuber Karl Moor handelt ethischer als die Heuchlerwelt, die ihn richten wird...