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Eichendorffs literaturkritische Schrift behandelt die deutsche Poesie in ihrer Entwicklung und Bedeutung. Inhalt: Einleitung Das alte nationale Heidentum Kampf und Übergang Die christliche Poesie Weltliche Richtung Die Poesie der Reformation Die Poesie der modernen Religionsphilosophie Die neuere Romantik Wackenroder August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel Adam Müller. Steffens. Görres Arnim Tieck Werner Brentano Schenkendorf Fouqué Uhland. Kerner Kleist Platen Hoffmann Immermann. Rückert. Chamisso Schluß
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Seitenzahl: 653
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Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands
Joseph von Eichendorff
Inhalt:
Joseph Freiherr von Eichendorff – Biografie und Bibliografie
Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands
Erster Teil
Einleitung
Das alte nationale Heidentum
Kampf und Übergang
Die christliche Poesie
Weltliche Richtung
Die Poesie der Reformation
Die Poesie der modernen Religionsphilosophie
Zweiter Teil
Die neuere Romantik
Wackenroder
August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel
Adam Müller. Steffens. Görres
Arnim
Tieck
Werner
Brentano
Schenkendorf
Fouqué
Uhland. Kerner
Kleist
Platen
Hoffmann
Immermann. Rückert. Chamisso
Schluß
Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, J. von Eichendorff
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849611378
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Dichter der romantischen Schule, geb. 10. März 1788 auf Schloß Lubowitz in Oberschlesien, gest. 26. Nov. 1857 in Neiße, wurde im aristokratischen Prunk- und Lustleben des ausklingen den 18. Jahrh., aber streng katholisch erzogen, besuchte seit 1801 das katholische Gymnasium zu Breslau und studierte seit 1805 in Halle und Heidelberg die Rechte. Auf letzterer Universität ward sein poetisches Talent durch Arnim, Brentano, Görres, Creuzer, Graf Loeben, die damals sämtlich in Heidelberg lebten, geweckt (vgl. H. A. Krüger, Der junge E., Oppeln 1898; darin ausführliche Mitteilungen aus Eichendorffs Tagebüchern). Der Zug zur Romantik war von vornherein entschieden, er traf mit Eichendorffs patriotischem Haß gegen die Fremdherrschaft und seiner kiesen Abneigung gegen die Nüchternheit der Aufklärung zusammen. Er veröffentlichte zuerst zerstreute Gedichte unter dem Namen Florens und verfaßte den Roman: »Ahnung und Gegenwart« (1811 vollendet; hrsg. von de la Motte Fouqué, Nürnb. 1815; vgl. Weichberger, Untersuchungen zu Eichendorffs Roman »Ahnung und Gegenwart«, Jena 1901). Der Ausruf des Königs von Preußen: »An Mein Volk« führte E., der zuerst auf Anstellung in Österreich gehofft hatte, im Frühjahr 1813 nach Schlesien zurück; er trat in das Lützowsche Freikorps und nahm in diesem und in einem Landwehrregiment an den Feldzügen des Befreiungskrieges 1813–15 teil. Nach dem Frieden verheiratete er sich und trat als Referendar bei der Regierung zu Breslau ein. 1821 ward er Regierungsrat für katholische Kirchen- und Schulsachen bei der. Regierung zu Danzig, 1824 in gleicher Eigenschaft nach Königsberg berufen. Während seines Aufenthalts in der Provinz Preußen wirkte er eifrig für die Wiederherstellung des Ordenshauses in Marienburg. 1831 kam er als Rat in das Kultusministerium nach Berlin, geriet aber 1839 und 1840 bei seiner streng katholischen Richtung während der Kölner Wirren in Zerwürfnisse mit dem Minister und befreundete sich auch nachher trotz seiner Ernennung zum Geheimen Regierungsrat mit seiner amtlichen Stellung nicht wieder, sondern nahm 1845 seine Entlassung. E. lebte zunächst einige Jahre bei seiner verheirateten Tochter in Danzig, dann ein Jahr in Wien, längere Zeit (bis Herbst 1850) in Dresden, auch abwechselnd in Berlin und auf dem Familiengut Sedlnitz in Mähren. Zuletzt nahm er seinen Aufenthalt in Neiße bei der Familie seiner Tochter. Von seinen Dichtungen waren nacheinander erschienen: »Krieg den Philistern«, dramatisches Märchen (Berl. 1824); »Aus dem Leben eines Taugenichts«, Novelle (das. 1826; in zahlreichen Drucken verbreitet); die Parodie »Meierbeths Glück und Ende«, Tragödie mit Gesang und Tanz (das. 1828); die Trauerspiele: »Ezzelin von Romano« (Königsb. 1828) und »Der letzte Held von Marienburg« (das. 1830); das Lustspiel »Die Freier« (Stuttg. 1833); die Novelle »Dichter und ihre Gesellen« (Berl. 1834); »Gedichte« (das. 1837; 16. Aufl., Leipz. 1892). Eichendorffs Gedichte, in denen ein tiefes, träumerisches Naturgefühl zu eigenartigem und wohlklingendem Ausdruck kommt, gehören zu den besten Erzeugnissen der Romantik und sind besonders anziehend durch ihre volkstümliche Frische und Einfachheit (E. schrieb das Lied: »In einem kühlen Grunde«). Hervorzuheben sind der Liederzyklus »Frühling und Liebe«, die »Zeitgedichte«, die unter der Einwirkung der Freiheitskriege entstanden, die »Geistlichen Gedichte« und die »Lieder auf den Tod meines Kindes«. Auch in den Novellen, namentlich dem Meisterstück »Aus dem Leben eines Taugenichts«, waren es hauptsächlich die Fülle der lyrischen Stimmung und die Anmut des Vortrages, die sich wirksam erwiesen. In der Mitte der 30er Jahre begann E. die ernstesten literarischen und historischen Studien. Als deren poetische Resultate traten zunächst die vortrefflichen Übertragungen des mittelalterlichen spanischen Volksbuches »Der Graf Lucanor« (Berl. 1843) und der »Geistlichen Schauspiele Calderons« (Stuttg. 1846–1853, 2 Bde.) hervor. Mit dem Buch »Über die ethische und religiöse Bedeutung der neuen romantischen Poesie in Deutschland« (Leipz. 1847) eröffnete er die Reihe seiner literarhistorisch-kritischen Schriften, deren Gesamtinhalt auf eine kritische Urteilsrevision im katholischen Sinne hinauslief. »Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum« (Leipz. 1851; 2. Aufl., Paderb. 1867), »Zur Geschichte des Dramas« (Leipz. 1854; 2. Aufl., Paderb. 1867), »Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands« (Paderb. 1857, 3. Aufl. 1866) setzten diese Tätigkeit fort, die in einer entschiedenen Bevorzugung und beinahe ausschließlichen Verherrlichung der spanischen Dichtung und ihrer Nachklänge in der deutschen Romantik gipfelte. Darüber nahm die eiaue poetische Tätigkeit Eichendorffs eine durchaus tendenziöse Richtung, die su den erzählenden Gedichten: »Julian, ein Romanzenzyklus« (Leipz. 1853), »Robert und Guiscard« (das. 1855) und »Lucius« (das. 1857) entschieden zutage trat. Außer Eichendorffs »Sämtlichen (poetischen) Werken« (Berl. 1841–43, 4 Bde.; 3. Aufl., Leipz. 1883, 4 Bde.) erschien nach dem Tode des Verfassers auch eine Sammlung seiner »Vermischten Schriften« (Paderb. 1867, 5 Bde.), die seine literarischen und kritischen Arbeiten, auch seinen Nachlaß, umfaßt. Als Festgabe zu seinem 100jährigen Geburtstag veröffentlichte G. Meisner »Gedichte aus dem Nachlaß des Freiherrn J. v. E.« (Leipz. 1888). Briefe Eichendorffs an seinen Schützling, den Konvertiten Lebrecht Dreves (s. d.), veröffentlichte Kreiten in den »Stimmen aus Maria-Laach«, Bd. 38. Neue Ausgaben seiner ausgewählten Werke besorgten Dietze für Meyers Klassiker-Bibliothek (Leipz. 1891, 2 Bde.), M. Koch für Kürschners »Deutsche Nationalliteratur«, Bd. 146, II, 2 (Stuttg. 1893) und Gottschall (Leipz. 1901, 4 Bde.). Vgl. Keiter, Joseph v. E. (Köln 1887); E. Höber, Eichendorffs Jugenddichtungen (Berl. 1894).
Die deutsche Nation ist die gründlichste, innerlichste, folglich auch beschaulichste unter den europäischen Nationen, mehr ein Volk der Gedanken als der Tat. Wenn aber die Tat nichts ist ohne den zeugenden Gedanken und nur erst durch den Gedanken ihre welthistorische Bedeutung erhält, so dürfen wir wohl sagen, daß diese beschauliche Nation dennoch eigentlich die Weltgeschichte gemacht hat. Dieser Hang, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen, scheint von jeher der eigentümliche Beruf der germanischen Stämme zu sein. An ihrem tiefen Freiheitsgefühl ist das römische Weltreich, in welchem die andern mehr oder minder aufgingen, einst zusammengebrochen. Die germanischen Völker waren es, die das Christentum, da es unter den Byzantinern kränkelnd zu Hofe ging, zuerst in seiner vollen Würde erkannten und ihm seine weltgeschichtliche Wirksamkeit gaben. In den Kreuzzügen waren allerdings die Franzosen und Engländer weit voraus, aber die Deutschen, als sie endlich dem allgemeinen Zuge folgten, bewahrten diesen Kämpfen, die bei jenen immer politischer wurden, am getreuesten ihren ursprünglichen religiösen Charakter. Die Minnehöfe blühten in Deutschland weniger, aber ihre Minne war ernster und keuscher als an den welschen Minnehöfen. So hat diese Nation später sich ihre eigentliche ideale Waffe, die Buchdruckerkunst, selbst erdacht, sie hat das Pulver erfunden, womit dann die Franzosen ihre schönsten Burgen sprengten, sie hat endlich die Reformation erzeugt und das neue Weltkind in ihrem eigenen Herzblut ausgebadet. Die Idee ist ihr Schwert, die Literatur ihr Schlachtfeld.
Ideen lassen sich aber nicht in Provinzen einfangen und begrenzen, sie sind ein Gemeingut der Menschheit und greifen über die einzelnen Nationen hinaus. Daher hat das deutsche Volk auch, auf Unkosten seines Patriotismus und Nationalgefühls, einen beständigen Zug nach dem Weltbürgertum verspürt. Sehr begreiflich; wir wollen die ganze Wahrheit und finden sie natürlicherweise weder bei uns noch bei unseren Stammesverwandten genügend ausgeprägt, wir greifen daher, wo irgend ein Lichtblick aufleuchtet, in die Vergangenheit, in die Fremde, und lassen diese ebenso bald wieder fallen, wenn wir uns getäuscht oder noch immer nicht vollkommen befriediget sehen. Darüber gehen freilich oft ganze Generationen in täppischer und lächerlicher Nachäfferei zugrunde, wie die Geschichte unserer Poesie, die bald mit der römischen Toga, bald in rasselndem Ritterharnisch, dann wieder in arkadischer Schäfertracht oder mit Haarbeutel und Stahldegen einherschritt, hinreichend nachweist. Aber wer frägt bei Eroberungszügen und Weltschlachten nach dem verlorenen Pulverfutter? Aus jeder dieser Invasionen ins Ausland und in die verschiedensten Zeiten ist uns doch immer irgendeine Beute geblieben, und so haben wir ohne Zweifel in Kunst und Wissenschaft nach und nach einen weitschichtigen Besitz und eine universelle Umschau erfochten, wie keines der mitlebenden Völker. Wir sind die geistigen Erben fast aller gebildeten Nationen.
Jener Grundzug des deutschen Charakters, die Beschaulichkeit und der Ernst, der uns alles zu durchforschen und zu prüfen nötiget, bedingt indes gleichzeitig auch den Trieb, aus der allgemeinen Rundschau immer wieder in uns selbst heimzukehren, das Errungene innerlich zu verarbeiten und die eigene besondere Natur möglichst eigentümlich auszuprägen. Und diese einsiedlerisch individualisierende Eigentümlichkeit führt, wie bei den einzelnen Stämmen, so auch in den geistig bevorzugten Persönlichkeiten, notwendig zu der größten Mannigfaltigkeit. In Frankreich hat die dynastische Politik den freien Adel zu Hofe gezähmt und die Physiognomie der Provinzen verwischt, in England die Reformation fast alles uniformiert. In Deutschland dagegen geht jene Sonderbündlerei durch die ganze Geschichte. Vom Uranfang an sitzen die alten Sassen ein, jeder für sich auf seinem Hofe ohne Städte, im Mittelalter gruppieren sich zahllose Kleinstaaten, wie Planeten mit eigenem Licht und Kreislauf, um die Zentralsonne des Kaisers. Welcher Reichtum der verschiedensten Bildungen vom kaiserlichen Hoflager durch die vielen kleinen Residenzen bis zur einfachen Ritterburg hinab; dann das bunte Leben der Reichsstädte und endlich die noch fortdauernde Mischung von Katholisch und Protestantisch! Es ist natürlich, diese Mannigfaltigkeit mußte auch in unserer Literatur, namentlich in der Poesie, sich abspiegeln, und nicht nur in dem sehr verschiedenen Klange des Volksliedes in Pommern, Tirol, Westfalen oder Österreich, sondern auch bei den Heroen unserer Literatur. Oder wo wäre bei uns jene stereotype Familienähnlichkeit der einzelnen Dichter, wie wir sie bei den französischen Klassikern finden? Man denke nur z.B. an Lessing und Klopstock, an Goethe und Schiller! Jeder zieht, unbekümmert um den andern, mit seiner scharfen Eigentümlichkeit aus, um sich eine neue Welt zu erobern. Da gibt es denn freilich auch tüchtige Wunden und Scharten, und es fehlt niemals an dem Troß gemeiner Landsknechte, die nicht für die beste Sache, sondern um den besten Lohn an Geld oder Weltlob mitfechten wollen und alles möglichst verwirren. Wir streifen sonach allerdings fast beständig an die Grenzen der Anarchie. Aber im großen ganzen ist es doch immerhin ein frischer Wellenschlag, wenn auch die siebente Welle sich immer wieder rückwärts überstürzt; ein unausgesetzter herzhafter Kampf, der uns einerseits vor Stagnation und anderseits vor dem Geistesdespotismus einer Pariser Hauptstadt bewahrt, denn welcher Tyrann wäre mächtig genug, so viele absonderlich formierte Köpfe und Querköpfe unter einen Hut zu bringen? Nirgends hat daher, etwa Spanien ausgenommen, das volkstümliche Element so dauernd und tapfer mit der Kunstdichtung der Gelehrten, die Gelehrtenpoesie dann ihrerseits wieder mit der Kirche, die Romantik mit dem unpoetischen Verstande gerungen wie in Deutschland, wo der ganze Boden mit den Trümmern der wechselnden Niederlagen bedeckt ist und die Geister der Erschlagenen und die versprengten Troßbuben noch beständig mitten unter den Siegern umherirren, die bald selbst wieder die Besiegten sein werden.
Bei dieser Universalität und individuellen Mannigfaltigkeit unserer Literatur ist es denn nicht zu verwundern, wenn dieselbe im Verlauf der Jahrhunderte jetzt endlich zu einer Masse herangewachsen ist, die sich kaum mehr bewältigen läßt. Es ist wie im Meere, auf dem die konträrsten Winde sich so ungestüm kreuzen, daß man schon einigermaßen des Steuers mächtig sein muß, um nicht schmählich unterzugehen oder von den regelmäßig streichenden Passatwinden und Strömungen verjährter Vorurteile nach ganz verkehrter Richtung verschlagen zu werden. Nur wenige aber haben in dieser industrieseligen Zeit, wo nur Kauffahrer vom Butter- zum Käsemarkt zu segeln pflegen, Lust und Gelegenheit, sich in dem Pilotenhandwerk auf solchem Geisterschiffe einzuüben. Und doch verlangt jeder Gebildete billigerweise wenigstens einige Kenntnis dieses wichtigen Zweiges der Nationalgeschichte. Das Material ist allerdings mit lobenswertem Fleiße bereits hinreichend zusammengetragen, aber großenteils noch ungeordnet oder, was noch schlimmer, nach jenem windigen Passatsystem willkürlich, oft gradezu falsch registriert. Es scheint uns daher jetzt vorzugsweise auf eine bloße Orientierung, d.h. darauf anzukommen, aus der Masse die hervorragendsten Momente, die dem Ganzen Farbe und Gestalt geben, hervorzuheben und auf diese Weise aus jenem Material ein klares organisches Bild möglichst herauszuarbeiten. Nur von den einsamen Höhen gewinnt man einen freien Blick über die labyrinthische Landschaft, in welcher man unten sonst den Wald vor Bäumen nicht sieht.
Indem wir jedoch aus dem ungeheuern Vorrat hier vorweg die Poesie ausscheiden, haben wir gleichwohl dadurch nur wenig gewonnen. Denn diese Beschränkung ist eigentlich nur eine scheinbare. Wir haben schon oben bemerkt, daß das Leben der Deutschen am entschiedensten durch die Literatur und ihre Literatur wiederum vorzugsweise durch die Poesie vertreten wird. Unsere Poesie aber ist kein bloßer Luxus, keine isolierte Kunstfertigkeit zum Nutzen und Vergnügen des müßigen Publikums; sie hat, mehr als bei andern, ihre innere Notwendigkeit in dem allgemeinen Organismus der Nationalbildung. Sie ist daher so mannigfaltig wie diese Bildung selbst, und ihr Einzelnes wird nur aus dem Ganzen verständlich. Ein Blick in die Vergangenheit läßt diesen beständigen Parallelismus zwischen der Poesie und den übrigen Zweigen der Literatur deutlich erkennen.
Ziehen wir, wie billig, zunächst die Philosophie in Betracht, so sehen wir zwei aus den Trümmern des Altertums hervorgegangene Hauptströme das ganze Mittelalter durchziehen, die Philosophie des Aristoteles und die des Plato. Die Aristotelische suchte die Fülle der Erscheinungen und Erfahrungen zu begreifen und zu ordnen, sie war mehr ein Schematismus der Wissenschaften als eine Wissenschaft. Die Platonische dagegen ging, nicht ohne christliche Ahnungen, tiefer auf den Urquell aller Wissenschaft, auf eine allen Erscheinungen zugrunde liegende göttliche Weltseele. Jene entsprach mehr dem Verstande, diese mehr der Phantasie und dem Gefühl; beide zusammen umfaßten also so ziemlich das ganze intellektuelle Gebiet der menschlichen Natur. Beide aber waren im Mittelalter teils durch orientalische Umdeutungen, teils durch das Bestreben, sie mit dem Christentum und der durch dasselbe veränderten Weltansicht zu vermitteln, mannigfach alteriert, verstümmelt und fast sagenhaft geworden. – Später, nachdem die Welt gealtert, gewann indes der Verstand allmählich immer mehr die Oberhand, und es entstand namentlich in Deutschland eine Art mathematischer Philosophie. Leibniz zeichnete mit seinem System angeborener Ideen einen abstrakten Grundriß des Verstandes, dessen Linien und Konturen von dem bei solcher Prädestination vorweg gebundenen inneren Walten des Geistes nicht belebt werden konnte, während er ebenso mechanisch auch in Raum und Zeit nur die Ordnung der nebeneinander bestehenden oder aufeinander folgenden Dinge erkannte. Wolff führte diese Lehre in die Schule ein, wodurch sie bald in ein totes Formelwesen ausartete und die Lichtblicke ohne weitere Folge blieben, womit Leibniz, den Herder einen Dichter in Philosophie und Mathematik nennt, in seiner fragmentarisch-divinatorischen Natur beständig über sein eigenes System hinauslangt. – Kein Wunder daher, daß durch diese Bresche nun in Deutschland die Philosophie des Auslandes immer siegreicher eindrang. In Frankreich hatte es Descartes unternommen, die Entstehung der Welt, wie ein sich selbst fabrizierendes Uhrwerk, aus hypothetischen Wirbeln zu erklären und das Dasein Gottes streng mathematisch aus der menschlichen Vernunft zu erweisen, also gewissermaßen den Schöpfer zum Geschöpf des Erschaffenen zu machen. Vergebens suchte der Engländer Locke mit dieser Philosophie der Sinnlichkeit noch den Glauben an eine Gottheit zu vereinigen; der einmal emanzipierte Menschengeist, da dergleichen Palliative nicht genügen konnten, stürmte von Zweifel zu Zweifel bis zum nackten Atheismus fort, den Voltaire und Diderot für die Gebildeten salonmäßig zu bekleiden bemüht waren. Diese flache Freidenkerei scheuchte Lessing mitten unter seinen kritischen und theatralischen Jugendarbeiten zu einem verzweifelten Kampfe auf Tod oder Leben auf. Mit fast verwegener Kühnheit stellte er die Sache auf die äußerste Spitze aller ihrer Konsequenzen, von wo sich plötzlich der unverschleierte Blick in den gähnenden Abgrund auftut, um die Welt zur endlichen Wahl und Entscheidung zu nötigen, entweder über die Kluft, wenn sie's vermöchte, hinwegzusetzen oder resolut umzukehren. Aber die Welt tat weder das eine noch das andere, akzeptierte jene Konsequenzen als eine neue, willkommene Eroberung und jubelte nur um desto selbstgefälliger am Rande des Abgrundes fort, ohne ihn zu merken.
In diesem Heidenlärm des eingebildeten Fortschritts erscheint Kant gewissermaßen als ein Reaktionär, indem er die übermütig gewordene Vernunft lediglich auf das Gebiet der Erfahrung zurückweist und jenseits dieses Gebiets ihr die Fähigkeit zur Erkenntnis der übersinnlichen Welt abspricht. Es ist weder unseres Berufs noch der Ort hier, näher zu erörtern, wie Kant dennoch einen sogenannten Vernunftglauben statuiert und also mit seinem eignen System in Widerspruch gerät. Wir wollen, unserer eigentlichen Aufgabe gemäß, hier nur erwähnen, daß er von der tieferen Bedeutung der Poesie kaum eine Ahnung hatte, da er dieselbe im Grunde für ein bloßes Zerstreuungsmittel hielt und sie daher auf das Prokrustesbett seiner rigoristischen Begriffsmoral strecken wollte, weshalb denn auch in einer Zeit, wo schon Klopstock, Goethe und Herder blühten, Pope und Haller seine Lieblingsdichter waren. – Aber sehr bald wurden die Schranken, in die Kant die Vernunft eingehegt, von Fichte gewaltsam wieder durchbrochen. Fichte wollte jenseits des Kantschen bedingten Wissens eine unbedingte Denkfreiheit geltend machen, er unternahm es wirklich, über den Abgrund, den Lessing aufgetan, hinwegzusetzen, das Prinzip des Protestantismus in seiner ganzen Strenge als souveränes Ich über die Welt auf die letzten unwirtbaren Gipfel des Idealismus emporzuheben, und es ist jedenfalls ein denkwürdiger Anblick, mit welcher athletischen Kraft er mit dieser an sich unmöglichen Aufgabe gerungen. Dieses Extrem konnte indes keinen Bestand haben. Schelling suchte daher, wie schon die Bezeichnung seiner Lehre als »Naturphilosophie« andeutet, das die Natur und Geschichte verschmähende, unbedingte Wissen mit dem bedingten der äußern Wahrnehmung zu vermitteln und den geheimnisvollen Goldgrund, den Schimmer Gottes, der alle Erscheinungen durchleuchtet, in wesentlich Platonischer Anschauung nachzuweisen.
Zu allen diesen philosophischen Evolutionen nun stand unsere Poesie beständig in einem wahlverwandtschaftlichen Verhältnis, entweder auf ihren besondern Wegen nachfolgend oder als Divination, Ahnung, Aperçu, gleichsam prophetisch ankündigend. So sehen wir sie schon im Mittelalter in jene zwei Hauptstrahlen der vom Altertum ererbten Philosophie sich spalten. Der Geist des Aristoteles zeigt sich in einer oft ganz trockenen scholastischen Richtung, die, wo sie namentlich dogmatische Gegenstände berührt, nicht selten sogar ans Sophistische streift; er zeigt sich in der haarspaltenden Kasuistik des überkünstlichen Minnegesangs und scheint in der dialektischen Verstandespoesie des berühmten Wartburgkriegs die Hauptrolle gespielt zu haben. Bei weitem gewaltiger und tiefer dagegen geht die andere, Platonische Anschauungsweise durch die größern und bedeutenderen Dichtungen des Mittelalters in der mystisch-allegorischen Symbolik, womit damals Geschichte und Sage z.B. in den Gedichten von König Artus' Tafelrunde und dem Heiligen Gral aufgefaßt wurden. – Als sodann die mathematische Philosophie aufkam, ward auch sofort der freie Dichterwald zu einem wunderlichen französischen Garten mit geometrisch abgezirkelten Bäumen, Alleen und Scherbenbeeten verschnitten, wo die Musen in Reifröcken die ungezogene Natur bewachten, ja unter dem spärlichen Blumenflor sogar einzelne Gedichte vermittelst künstlicher Gruppierung von kurzen und langen Versen allerlei allegorische Figuren, als: Palmbäume, Tempel usw., abbilden sollten. – Der Herrschaft von Descartes und Locke aber, die durch das Medium des Materialismus notwendig zu einer epikureischen Auflösung führte und die wir daher als die Philosophie der Sinnlichkeit bezeichneten, entsprach ebenso eine Poesie der Sinnlichkeit. Jene Philosophie ist zwar glücklicherweise in Deutschland niemals allgemein geworden; dennoch tauchen auch bei uns vereinzelte Symptome derselben auf, in einem völlig dissoluten, atheistischen und sittenlosen »Seelenpriapismus«, einem Naturdienst, welcher Wollust und Andacht als Schwesterkinder poetisch feiert. Wir erinnern hier nur an Mauvillons Freundeskreis, der fanatisch gegen alle und jede Religion gerichtet war; an Unzer, an Heinses Jugendschriften, an den Freiherrn von der Goltz und dessen Gedichte in Grécourts Geschmacke.
Bald darauf übte die Kantsche Philosophie einen unverkennbar deprimierenden Einfluß auf die deutsche Dichtung. Es konnte auch füglich nicht anders sein. Indem diese Lehre die Poeten an der Schwelle des Allerheiligsten von der Erkenntnis Gottes und der überirdischen Dinge zurückwies, verwandelte sie notwendig die Religion in bloße Moral, welche, so isoliert vom Glauben und dem lebendigen Zusammenhange mit den göttlichen Dingen, zu einem abstrakten Tugend-Stoizismus erstarrte. Und diese abstrakte Moral sehen wir denn bei Kosegarten idyllisch schwärmen, in Tiedges Urania vornehm vom Katheder dozieren und mit Schillers Marquis Posa die Bretter betreten, um endlich in zahllosen pragmatisch-psychologischen Romanen und bürgerlichen Schauspielen ziemlich seicht wieder zu verlaufen. Es ist daher ebenso natürlich als charakteristisch, daß, mit Ausnahme von Schiller, alle bedeutenden Dichter jener Zeit, Herder, Goethe und Jean Paul, entschiedene, zum Teil erbitterte Gegner Kants waren, und Schiller selbst wurde durch seine fast leidenschaftliche Teilnahme für Kant ohne Zweifel in seiner poetischen Produktion mehr aufgehalten als gefördert. – Inzwischen hatte schon früher eine ungestüme, philosophisch exaltierte Jugend voraneilend die extreme Lehre poetisch angekündigt, welche sodann von Fichte wissenschaftlich formuliert werden sollte. Wir meinen die Sturm- und Drangperiode der Originalgenies und Starkgeister in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: das leibhaftige absolute Ich, das in seinen Gedichten, Romanen und Schauspielen die ganze Vergangenheit ausstrich und die Weltgeschichte von vorn anfangend aus eigner Machtvollkommenheit sich selber Moral, Sitte und Religion machen wollte. – Der Naturphilosophie endlich entsprach unsere neuere Romantik. Gleich jener Philosophie hat die Romantik aus dem beschränkten Erfahrungsgebiete Kants sowie von der stofflosen Luftspiegelung der Fichteschen Ichheit, kühner wie beide, wieder zu der innern Wahrnehmung des Übersinnlichen und der in der äußeren Welt waltenden ewigen Naturkraft sich zurückgewendet, sie ist aber auch sehr häufig der naheliegenden Gefahr dieser Philosophie, dem Irrtum einer phantasierenden Naturvergötterung, nicht entgangen. Novalis versuchte es, auf diesem Wege durch eine tiefsinnige Symbolik alles Lebens eine Weltwissenschaft poetisch darzustellen, während Werner in seinen frühesten Dramen in pantheistischer Leere abirrte. Am innigsten unter den Dichtern schließt sich wohl Goethe, ohne es zu wissen und zu wollen, der naturphilosophischen Anschauung an, indem er überall unbefangen und unmittelbar in das Leben greift und uns daher in den klar durchsichtigen äußeren Erscheinungen mehr oder minder die verborgene Weltseele enthüllt, wenngleich er uns nirgends bis zu dem letzten wahren und eigentlichen Grund der Dinge blicken läßt. – Welchen Einfluß die Hegelsche Philosophie auf die Poesie ausübt, läßt sich jetzt noch kaum bestimmen, da sie ihren Kreislauf noch immer nicht abgeschlossen hat. Auffallen jedoch muß es, daß ihr die moderne Poesie des Hochmuts und des Hasses auf der Ferse gefolgt ist.
Gleich wie wir also eine philosophische Poesie besitzen, so haben wir auch eine philologische Poesie. Die Reformation hatte zum Behuf ihrer biblischen Kritik und Exegese die Philologie auf einmal aus der natürlichen bescheidenen Stellung verrückt, die sie im Mittelalter fortdauernd eingenommen. Die Philologie war das verzogene Kind der protestantischen Theologie und hat sich daher sehr bald völlig emanzipiert und aus einem bloßen Mittel höherer Bildung zum Zweck dieser Bildung gemacht. Sie ist ohne Zweifel der unentbehrliche Schlüssel zu den geistigen Schätzen des Altertums; aber ebenso gewiß ist es doch ein seltsamer Irrtum, den Schlüssel als die Hauptsache als den Schatz selbst, zu nehmen. Und das geschah in der Tat. Auf den protestantischen Schulen wurde nun namentlich auch die Poesie eine bloße Hülfswissenschaft der Philologie. Homer, Pindar, Sophokles und Virgil hatten nur gedichtet, um der Nachwelt die Regeln der alten Grammatik anschaulich zu machen, oder höchstens um den gelehrten Scharfsinn an neuen Konjekturen und Lesarten zu üben; die Schüler sollen lateinisch und griechisch dichten, ja antik denken und glauben lernen. Diese servile Nachahmung der Alten – welche, wie die damaligen Römer, alles für barbarisch erklärt, was nicht römisch oder griechisch ist – hat aber die moderne Barbarei herbeigeführt: die stupide Verachtung unseres Mittelalters und seiner großen Dichterwerke. Eine solche totale Rückwendung zum klassischen Altertum wird überall schulmäßig als notwendig und überaus heilsam gepriesen. Wir können beides, auf die Gefahr hin, verketzert zu werden, keineswegs so unbedingt zugeben. Notwendig allerdings war es nur für die Protestanten, weil sie mit dem Mittelalter gebrochen hatten und also gleichsam von vorn wieder anfangen und einen neuen Anknüpfungspunkt erst suchen mußten. Aber natürlicher und heilsamer wäre es gewesen, an den nationalen Bildungsgang anzuknüpfen, der durch den Dreißigjährigen Krieg zwar gestört, aber durchaus nicht vernichtet war. Dies taten in Spanien Lope de Vega, in England Shakespeare, und als dort die neuern Poeten, hier Ben Jonson sich zu den Alten wandten, folgte hier und dort der Verfall der Poesie.
Und was war denn faktisch die hochgepriesene Wirkung für Deutschland? Zunächst jene lächerliche gelehrte Hofpoesie, die an die Stelle der vertriebenen Heiligen die heidnischen Götter mit Haarbeutel und Stahldegen setzte und ihren alleruntertänigsten Pegasus vor den Triumphwagen krähwinkliger Heroen und Mäzenaten spannte. Sodann das große Mißverständnis der Aristotelischen Poetik, das uns langehin zu ziemlich possierlichen Affen der französischen Bühnenregelmäßigkeit machte. Später dann wieder die sogenannte Poesie der Grazien, eine salondüftelnde Lebensweisheit und liederliche Leichtfertigkeit, welche wir füglich entbehren konnten. Und endlich durch die Gräkomanen eine Verrenkung und Verzerrung der Sprache, die mit Klopstocks Oden und Bardieten beginnt und bei Voß eine schreckenerregende Virtuosität erreicht; ja man kann in diesem Betracht gewissermaßen auch Platen noch zu den philologischen Dichtern rechnen.
Wir sind weit entfernt, die sonnenklare altklassische Schönheit und ihren wohltätigen Einfluß, namentlich in formaler Hinsicht, zu verkennen. Das gründlichere Studium des Altertums hat ohne Zweifel zur Bildung unserer Sprache, da sie eben in inneren und äußeren Kämpfen beispiellos verwildert war, wesentlich beigetragen und uns in einer engen philisterhaften Zeit den kräftigenden Blick auf eine größere, heroische Zeit wieder eröffnet. Aber ebenso entschieden müssen wir die Abgötterei anklagen, die mit dem Griechentum, als dem einzig Würdigen, getrieben wurde und uns ganz übersehen ließ, daß unsere eigene Sprache früher einen Wohllaut, eine Anmut und dichterische Kraft besaß, die der Entwickelung und Sorgfalt nicht weniger fähig und wert waren, sowie daß das Mittelalter uns noch häufigere und größere Vorbilder von Heldenmut, Freiheit und Tugend darbietet, deren moralische Gewalt über die jugendlichen Gemüter um so wirksamer sein mußte, da sie uns innerlich verwandt und verständlicher sind als die der alten Welt. Und so hat denn diese Altertümelei in der Tat großenteils den nationalen Quietismus verschuldet, der um Hekuba weint und für Glück und Unglück des deutschen Vaterlandes kein rechtes Herz hat. Das Große der alten Welt ist das Reinmenschliche, das allen Völkern gemein ist, bei jedem Volke aber sich naturgemäß anders gestalten muß, um wirklich lebendig zu werden. Jedenfalls hat sonach durch jenes Sichversehen in das griechische Wesen unsere ganze Poesie etwas Fremdes, Gelehrtes und Irreligiöses erhalten, das sie unpopulär und zu einem bloßen Steckenpferde der sogenannten Gebildeten machte. Auch haben unsere größten Dichter, wie Goethe, Schiller und Tieck, jederzeit ein gut Teil Mittelalter sich reserviert, und namentlich Goethes bedeutendste Werke: Götz, Tasso und Faust, sind grade diejenigen, auf die das Altertum am wenigsten influiert hat.
Auch die wandelbaren Prinzipien der Erziehungslehre sind bei uns durch eine sehr mannigfaltige pädagogische Poesie vertreten. Der steifen Anstandsschule der guten alten Zeit, wo die Kinder nur frisiert und gepudert vor ihren Eltern erscheinen durften, entspricht genau die gleichzeitige mathematische Zopfpoesie, die das ganze Leben als eine feierliche Menuett mit geometrisch abgemeßnen Touren und symmetrischen Bücklingen auffaßte. Bald darauf folgte plötzlich Basedows Natursturm, eine Art Urwälderei und natürlicher Moral; jeder sollte, wie Kraut und Rüben, bloß aus einem angebornen Naturell herauswachsen und zu allgemeiner Nützlichkeit praktisch dressiert und verbraucht werden. Goethe hat diese Wirtschaft, wir wissen nicht recht, ob im Ernste oder ironisch, jedenfalls aber sehr treffend in der pädagogischen Provinz seiner Wanderjahre geschildert. Als poetisches Gegenbild aber erschienen nun sogleich zahllose rührende Romane von unübertrefflichen Wilden, es kam das Weib, wie es sein sollte, der Jüngling, der Gatte, die Köchin, wie sie sein sollten; ja selbst Ifflands Schauspiele gehören recht eigentlich hierher. Später jedoch hatten die Pädagogen sich ein Eldorado erdacht, zu dessen Eroberung die Jugend zurechtgemacht werden sollte. Sie sollte schlechterdings dereinst Kirche und Staat reformieren und hierzu frühzeitig heroisch gestimmt und gestählt werden; es wurde daher selbst das freie Spiel der Kinder als Turnkunst in ein spartanisches System gebracht und von der Kirche und Religion nur der Haß gegen das katholische Mittelalter beibehalten. Aber die geharnischten Jungen akzeptierten natürlicherweise das ihnen prädestinierte Heldentum vor der Tat; so entstand die Altklugheit, aus der Altklugheit der Dünkel und aus diesem die neueste politische Poesie, die grade die Unreifsten beschäftigt und begeistert hat und im Grunde auch nur eine versifizierte Turnübung war; so wie denn überhaupt diese ganze, beständig wechselnde, pädagogische Poesie nur eine psychologische Experimentalpoesie ist und sein kann. – Neuerdings endlich scheint wieder eine ganz materielle Richtung vorzuwalten, eine allgemeine Realschule zu Erzielung einer industriellen Reichsritterschaft, wo der erfinderische Eigennutz die Heldenrolle übernommen hat und die Geldaristokratie, anstatt des alten Adels, in den dampfenden und klappernden Fabriken über ihre Leibeigenen ziemlich barbarisch verfügt. Hiermit aber hat die Poesie, als eine brotlose Kunst, gar nichts zu schaffen, gegen welche sich daher auch eine auffallende Gleichgültigkeit und Verachtung überall bemerkbar macht.
Vorstehende Skizze, die leicht noch ins Unendliche fortgeführt werden könnte, mag hinreichen, um die oben erwähnte große Mannigfaltigkeit unsrer poetischen Literatur anzudeuten. Sie zeigt aber auch, daß auf diesem vergleichenden Wege, anstatt eines geschlossenen Gesamtbildes dieser Literatur, vielmehr eben nur ihr Zerfall in sehr verschiedene verwandtschaftliche Gruppen klarzumachen ist. Es gibt bekanntlich mehrere Gesichtspunkte, unter welchen der Wert und die Gestaltung einer Literatur überhaupt sich auffassen läßt.
Der unfruchtbarste derselben ist wohl der ästhetische, die Beurteilung nämlich nach einer allgemeinen Theorie der Kunst. Eine poetische Zeit denkt nicht an ihre Schönheit, weil sie dieselbe von selbst besitzt, gleich wie ein Gesunder seine Gesundheit nicht merkt. Erst wenn die Schönheit abhanden gekommen, wird die verlorene absichtlich gesucht oder philosophisch konstruiert, und so entsteht die Ästhetik. Wir hatten allerdings zu jeder Zeit auch eine ästhetische, d.h. nach den eben gangbaren Schönheitsregeln gemachte Poesie. Aber jeder wahre Dichter hat, meist ohne es zu wissen, seine eigene Ästhetik. Jene allgemeinen Theorien sind begreiflicherweise einem beständigen Wechsel unterworfen und zu subjektiv, um als Norm zu gelten, und es wäre ebenso ungerecht als unhistorisch, irgendeine entferntere Periode der Poesie nach der gegenwärtig eben beliebten Theorie abschätzen zu wollen. Man denke hier z.B. nur an die unübersteigliche Kluft zwischen Gottscheds und Lessings Lehre, oder in neuerer Zeit auch zwischen Jean Paul und Solger, von denen jeder in gewissem Sinne recht hat oder doch recht zu haben glaubte.
Ein anderes Verfahren ist das chronologisch-geographische, das wohl auch historisch genannt zu werden pflegt, indem hier die Literatur nach ein für allemal geschichtlich bestimmten Zeitabschnitten, die aber durch ganz andere Ereignisse bedingt sind, zurechtgelegt und innerhalb dieser Abschnitte wieder in eine sächsische, östreichische, schwäbische, niederrheinische usw. eingeteilt und durch Jahreszahlen möglichst genau begrenzt wird. Das gibt allerdings einen bequemen Schematismus für die Schule, allein die dadurch bezweckte Ordnung ist durchaus nur illusorisch. Das poetische Element geht wie ein Frühlingshauch durch die Luft über die Kalenderjahre und provinziellen Marken hinweg und hat seine eigenen imaginären Provinzen; die mühsam gezogenen Grenzen und Abschnitte greifen prophetisch, ergänzend oder verwirrend beständig ineinander, ja oft staut die leichtbewegliche Luftströmung weit zurück, um dann plötzlich wieder Jahrhunderte zu überspringen. Es herrscht also hier ein anderes geheimnisvolleres Gesetz als in der politischen Historie.
Tiefer schon greift der nationale Gesichtspunkt, die Würdigung nämlich einer Literatur nach ihrer Übereinstimmung mit dem Geiste der Nation, welcher sie angehört. Wir haben oben den deutschen Nationalgeist als einen vorzugsweise nach innen gewandten bezeichnet und als natürliche Folge davon die freie Ausbildung individueller Eigentümlichkeiten erkannt, woraus wieder die auffallende Mannigfaltigkeit unserer Literatur sich selbst erklärt. Und in diesem Sinne dürfen wir allerdings, wenn wir von weltlichen Interessen und untergeordneten Parteizwecken absehen, die deutsche Literatur unbedenklich eine nationale nennen. Die italienische Poesie ging schon sehr früh auf die Denkart und Kunstformen ihrer klassischen Vorzeit zurück, die aber, bei der seitdem durch das Christentum völlig veränderten Weltlage, nicht mehr wahrhaft national sein konnte; während in der englischen der Einfluß der heterogensten, einander oft gradezu widersprechenden Völkerelemente, mit einem Wort: die geistige Komposition eines Mischvolkes sich häufig fühlbar macht und bis heut noch nicht vollkommen beendigt und geschlossen scheint. Unter allen ist ohne Zweifel die spanische Poesie die nationalste; aber sie ist es auf eine ganz andere Weise als die unsere. In Spanien ist es die Freude und begeisterte Verherrlichung einer durch Jahrhunderte erkämpften Errungenschaft von Religion, Ehre und Ritterlichkeit, welche ihr prächtiges, aber durchaus einförmiges Zauberlicht über alle Dichtungen und Dichter wirft, die sich daher nur durch die größere oder geringere Kunstvollendung voneinander unterscheiden. In Deutschland dagegen ist eben das Ringen selbst, der sich beständig erneuernde Kampf um jenes Eldorado, und, da jeder einsam für sich kämpft, die totale Verschiedenheit das Charakteristische und Nationale. Betrachten wir aber diesen Kampf genauer, so erkennen wir, daß derselbe, wie wir auch schon aus dem oben angedeuteten Zusammenhange der Dichtkunst mit der Philosophie ersehen, in seinem Grundzuge unausgesetzt grade de höchsten Gütern des Lebens, der Erkenntnis Gottes und der überirdischen Dinge gilt. Der durchgreifende Gesichtspunkt zur Beurteilung der deutschen Literatur, der hiernach zugleich auch den nationalen mit umfaßt, wird also nur der religiöse sein können.
Es geht durch alle Völker und Zeiten ein unabweisbares Gefühl von der Ungenüge des irdischen Daseins und daher das tiefe Bedürfnis, dasselbe an ein Höheres über diesem Leben, das Diesseits an ein Jenseits anzuknüpfen, Vergangenheit und Gegenwart beständig mit der geheimnisvollen Zukunft zu vermitteln. Und dieses Streben, durch welches alle Perfektibilität und der wahre Fortschritt des Menschengeschlechts bedingt wird, ist eben das Wesen der Religion. Wo aber dieses religiöse Gefühl wahrhaft lebendig ist, wird es sich nicht mit müßiger Sehnsucht begnügen, sondern in allen bedeutenderen Erscheinungen des Lebens sich abspiegeln; am entschiedensten in der Poesie, deren Aufgabe, wenngleich auf anderem Gebiet und mit anderen Mitteln, offenbar mit jenem Grundwesen der Religion zusammenfällt, also in ihrem Kern selbst religiös ist.
Und so ist denn auch in der Tat, genau genommen, die Geschichte der poetischen Literatur, dem Kreislaufe des Blutes vom und zum Herzen vergleichbar, eigentlich nichts anderes als das beständig pulsierende Entfernen und wieder Zurückkehren zu jenem religiösen Zentrum. Alle Revolutionen der Poesie sind durch die Religion gemacht worden. Schon im Altertum und namentlich bei dessen poetischstem Volke, den Griechen, ging die Poesie, da der alte Götterglaube, auf dem sie ruhte, verloschen war und philosophisch umgedeutet wurde, von ihrer ursprünglichen strengen Größe zu skeptisch vermittelnder Weltlichkeit, von Äschylus zu Euripides über. Das Christentum sodann, die ganze Weltansicht verwandelnd und wunderbar vertiefend, schuf aus der anarchischen Verwirrung, welche dieser Geisterkatastrophe unmittelbar folgte, an die Stelle der alten Verherrlichung des Endlichen die romantische Poesie des Unendlichen. Späterhin war es abermals der auf demselben Gebiet durch die sogenannte Reformation herbeigeführte Umschwung, welcher unsere Poesie in eine völlig veränderte Bahn mit sich fortriß; und noch in neuester Zeit entstand aus der religiösen Reaktion gegen den Unglauben einer flachen Aufklärung die moderne Romantik, die noch bis heut nicht ganz verklungen ist.
Und das kann auch nicht anders sein. Denn was ist denn überhaupt die Poesie? Doch gewiß nicht bloße Schilderung oder Nachahmung der Gegenwart und Wirklichkeit. Ein solches Übermalen der Natur verwischt vielmehr ihre geheimnisvollen Züge, gleich wie ja auch ein Landschaftsbild nur dadurch zum Kunstwerke wird, daß es die Hieroglyphenschrift, gleichsam das Lied ohne Worte, und den Geisterblick fühlbar macht, womit die verborgene Schönheit jeder bestimmten Gegend zu uns reden möchte. Auch die noch so getreue Darstellung der Vergangenheit gibt an sich noch keine Poesie, wenn der historische Stoff nicht durch überirdische Schlaglichter belebt und gewissermaßen erst wunderbar gemacht wird; und jedenfalls wird sie stets an Genialität der wirklichen Geschichte weit nachstehen müssen, die der göttliche Meister nach ganz anderen ungeheueren Dimensionen und Grundrissen dichtet, wofür wir hienieden keinen Maßstab haben. Aber ebensowenig darf die Poesie auch anderseits eine unmittelbare Darstellung der übersinnlichen Welt unternehmen wollen; denn diese entzieht sich, wie der Abgrund des gestirnten Himmels in unbestimmte Lichtnebel zerfließend, in ihrer unermeßlichen Ferne und Höhe beständig der Kunst und ihren irdischen Organen; wie denn an dieser Aufgabe auch wirklich die größten Dichter, Milton, Klopstock u.a. gescheitert sind. Die Poesie ist demnach vielmehr nur die indirekte, d.h. sinnliche Darstellung des Ewigen und immer und überall Bedeutenden, welches auch jederzeit das Schöne ist, das verhüllt das Irdische durchschimmert. Dieses Ewige, Bedeutende ist aber eben die Religion und das künstlerische Organ dafür das in der Menschenbrust unverwüstliche religiöse Gefühl.
Auch das hat die Poesie mit der Religion gemein, daß sie wie diese den ganzen Menschen, Gefühl, Phantasie und Verstand gleichmäßig in Anspruch nimmt. Denn das Gefühl ist hier nur die Wünschelrute, die wunderbar verschärfte Empfindung für die lebendigen Quellen, welche die geheimnisvolle Tiefe durchranken; die Phantasie ist die Zauberformel, um die erkannten Elementargeister heraufzubeschwören, während der vermittelnde und ordnende Verstand sie erst in die Formen der wirklichen Erscheinung festzubannen vermag. Ein so harmonisches Zusammenwirken finden wir bei allen großen Dichtern, bei Dante, Calderon, Shakespeare und Goethe, wie sehr auch sonst ihre Wege auseinandergehen. Der Unterschied besteht nur in dem Mehr oder Minder jener drei Grundkräfte. Wo aber dieser Dreiklang gestört und eine dieser Kräfte alleinherrschend wird, entsteht die Dissonanz, die Krankheit, die Karikatur. So entsteht die sentimentale, die phantastische und die Verstandespoesie, die eben bloße Symptome der Krankheit sind.
Es geht, wie durch die physische Welt, so auch durch das Reich der Geister, eine geheimnisvolle Zentripetal- und Zentrifugalkraft, ein beständiger Kampf zwischen himmlischer Ahnung und irdischer Schwere, welcher in dem großen Ringe, der die Geister wie die Planeten umfaßt, je nach den engeren oder weiteren Kreisen, die sie um den ewigen Mittelpunkt beschreiben, Licht oder Schatten, belebende Wärme oder erstarrende Kälte, sehr verschieden verteilt. Aber das, was in dem Sonnensystem als unvermeidliches Naturgesetz erscheint, ist im Geisterreich ein Akt der Freiheit, die Notwendigkeit dort wird hier durch freie Wahl zur Tugend oder Sünde, je nachdem die natürliche Harmonie bewahrt oder willkürlich gebrochen wird. Wir scheuen uns daher nicht, diesen höchsten Maßstab alles Lebens auch an die bedeutendste Manifestation des Geisterreichs, an die Literatur, anzulegen. Und diesen großen Weltgang, namentlich in den einzelnen Zweigen und Evolutionen unserer Poesie, näher nachzuweisen, ist eben die Aufgabe, die wir nachstehend zu lösen versuchen wollen, auf die Gefahr hin, daß dann vielleicht manches Hochgepriesene klein, manches Geringgeachtete groß erscheinen dürfte.
Schließlich nur noch die Bemerkung, daß wir in dem Abschnitt von der neueren Romantik den Inhalt unserer früheren Schrift über denselben Gegenstand mit wenigen Zusätzen wieder aufgenommen haben, weil dieses Werkchen im Buchhandel vergriffen ist, weil unsere dort ausgesprochenen Ansichten und Überzeugungen seitdem unverändert geblieben sind, und weil es hiernach jedenfalls eine ebenso unnütze als unerträgliche Arbeit wäre, dasselbe mit anderen Worten sagen zu wollen.
I
Es geht in der alten Geschichte eine noch nicht ganz überwundene Fabel um, die Meinung nämlich, daß die Deutschen, als sie in die Weltgeschichte eintraten, noch Wilde waren, die, etwa wie die Irokesen, Botokuden und andere Menschenfresser, in ihren Urwäldern in Erdhöhlen hausten und ihren Gesang dem Zwitschern der Vögel oder dem Geheul der Wölfe ablernten. Eine Tradition, die von den Künstlern bis in die neueste Zeit fortgepflanzt wurde, indem sie in den illustrierten Geschichtshandbüchern unsere Vorfahren als leibhaftige Bärenhäuter darzustellen pflegen. Und allerdings scheinen auch vielfache Nachrichten von damaligen Schriftstellern diese Ansicht zu bestätigen. Da ist meistenteils von nichts anderem als von undurchdringlichen Sümpfen, Auerochsen und Barbaren die Rede, und noch Julian, der Apostat, berichtet, daß ihm die Volkslieder der Deutschen am Rhein wie das Gekrächz schreiender Raubvögel geklungen.
Allein einmal ist es schon an sich eine historische Unmöglichkeit, daß solche Wilde dem Stoße der römischen Zivilisation dauernd widerstehen, ja endlich gar die in allen Kriegskünsten weit überlegene Macht der Römer brechen konnten. Die Roheit ist niemals eine Weltkraft; die Geschichte aller Zeiten lehrt das grade Gegenteil. Die Kelten in Gallien und Spanien mußten damals in der römischen Bildung aufgehen oder sich vor ihr in die unzugänglichsten Gebirge flüchten, und noch neuerdings hat die europäische Zivilisation die wilden Ureinwohner Amerikas fast spurlos vernichtet. Sodann darf man auch nicht vergessen, daß wir jene alte Zeit nur im römischen Spiegel erblicken, der aber damals schon zu künstlich geschliffen war, um so ganz fremde Zustände rein und einfach zu reflektieren; abgesehen davon, daß überdies die Römer eigentlich nur die Grenzvölker kannten, die, beständig im Feldlager und gerüstet gegen ihren Erbfeind, notwendig ein wilderes und ungeregelteres Aussehn haben mußten als das unberührte Wesen im Innern und Norden Deutschlands.
Demungeachtet waren die Römer ein viel zu praktisches und welterfahrenes Volk, um nicht das Großartige des deutschen Wesens zu empfinden und über den totalen Gegensatz zu erstaunen, in welchem dasselbe zu der übrigen alten Welt gestanden. Und wir können dieses Erstaunen nur teilen, wenn wir aus den wenigen bis auf uns gekommenen Zügen jener Zeit in der Tat schon die Physiognomie und sittliche Grundlage des Rittertums erkennen, das nachher, als es durch das Christentum erst seine Weihe und rechte Bedeutung erhalten, ganz Europa regenerieren sollte.
Es ist zunächst der erfrischende Hauch eines unverwüstlichen Freiheitsgefühles, der uns aus jener schönen Waldeinsamkeit entgegenweht. Zwar bestand eine Gliederung jedes Stammes in Adel, Freie und Dienstmannen unter einem erblichen Fürsten oder Könige. Aber wie der wahrhaft Freie überall die Freiheit ehrt, so waren auch die Dienstmannen weder Leibeigene noch Sklaven im römischen Sinne; der Adel hatte größtenteils nur Ehrenrechte, und die Gewalt des Fürsten war sehr beschränkt, da ihm das wirksamste und gefährlichste Organ derselben, das Recht des Blutbanns und des Heerbanns fehlte. Denn der Krieg wurde vom versammelten Volk und Adel beschlossen und bei dessen Ausbruch jedesmal ein besonderer Heerführer (Herzog) erwählt, und ebenso durften Todesurteile nur von einem gleichfalls von Volk und Adel gewählten Priester der Nation gesprochen und festgesetzt werden. Überdies hatte jeder Freie das Recht, in den allgemeinen Volksversammlungen bewaffnet zu beraten. Jeder also fühlte sich als ein lebendiges Glied des Ganzen, und die ganze Nation war ein zu Schutz und Kampf bereites Heer von Wehrmannen (Germanen), die jederzeit den Tod unbedenklich einer schimpflichen Gefangenschaft vorzogen.
Damit jedoch diese höchste persönliche Freiheit nicht in Willkür auseinanderfallend sich selbst vernichte, vereinigten sich, namentlich in Zeiten der Gefahr, mehrere Stämme zu einem nationalen Völkerbunde, dessen Verletzung, als das einzige Kapitalverbrechen, mit dem Tode, sowie Feigherzigkeit im Kriege mit der Acht bestraft wurde. Innerhalb dieser größeren Kreise aber bildeten sich jederzeit wieder eigentümliche Waffenfreundschaften, indem einzelne Kampflustige einem durch Macht oder Heldenruhm hervorragenden Führer als freie Gehülfen sich anschlossen und von ihm dann mit erobertem Lande beteilt zu werden pflegten. Nur muß man sich hüten, dabei etwa an die späteren Karikaturen dieser Zustände, an Condottieri und Landsknechte zu denken, die nur dem wechselnden Glück und höherem Solde folgten. Hier handelte es sich nicht um materielle Interessen, sondern um ein persönlich moralisches Band, das keine irdische Macht zu lösen vermochte, um eine Waffenbrüderschaft auf Sieg oder Tod; und es war eine unauslöschliche Schande ebenso für das Gefolge, den Waffenherrn zu überleben, wie für diesen, seine Edeldiener jemals zu verlassen. Wir erblicken also hier schon die ersten Lineamente der nachherigen Lehensverfassung, oder vielmehr deren eigentliche Bedeutung und sittlichen Grund: die Tugend aufopfernder Treue, die bei uns sprichwörtlich geworden und einen wesentlichen Charakterzug des deutschen Mittelalters bildet. Wie in den Einrichtungen des Lebens daher spiegelt auch schon in unseren ältesten Heldengedichten diese unerschütterliche Treue sich ab und führt, namentlich im Nibelungenliede, die tragische Katastrophe herbei, indem der grimme Hagen aus Treue gegen seine Königin Brunhild den Siegfried erschlägt und dann mit seinen Herren unbedenklich nach dem Hunnenlande in den sicher vorausgesehenen Tod geht; während dagegen die Burgunderkönige lieber Leben und Land lassen, als ihre Freiheit durch die verlangte Auslieferung des getreuen Hagen zu erkaufen.
Wir erwähnten schon oben, daß der Vorrang des Adels mehr sittlicher als materieller Art war. Er scheint, außer dem Recht des ersten Vorschlages auf den Bundesversammlungen, vorzüglich in dem stets höher geachteten Kriegsdienst zu Pferde bestanden zu haben. Vor allem aber in der historischen Erinnerung an die Taten der Vorfahren, in einem traditionellen Heldenruhm des Geschlechts, den zu behaupten und zu vermehren der Stolz der Nachkommen war. Ebenso wurde in Kriegszeiten der Herzog, wie Tacitus ausdrücklich sagt, nicht nach Geburt, sondern nach Verdienst gewählt. Endlich war auch jeder Freie in persönlichen Dingen selbständig auf sein eigen Schwert gewiesen; er hatte das Recht der Selbsthülfe gegen jeden einzelnen Beleidiger, ja, in äußersten Fällen sogar die Pflicht der Blutrache. Und so entwickelte sich schon so frühe ein anderes charakteristisches Element des Rittertums: der wunderbare Geist der Ehre, jene erhabene Gesinnung, die, wie ein weltliches Gewissen über alle materiellen Rücksichten hinausgehend, die rohe Kraft bändiget und im Bunde mit der Religion die Nationen groß macht.
Am folgenreichsten aber vielleicht für alle künftigen Zeiten hat sich wohl die hohe Stellung erwiesen, welche die Frauen bei den Germanen einnahmen, während sie bei den andern alten Völkern zu dumpfer Sklaverei herabgewürdiget oder höchstens, wie in Rom und Griechenland, als pikanter Zeitvertreib und Zierat des souveränen Männerlebens geduldet wurden. Bei den Germanen dagegen war die Strenge und Innigkeit der nach freier Wahl und Neigung geschlossenen Ehen ein Gegenstand allgemeiner Verwunderung der Römer, und wir sehen die Frauen überall an Kampf, Not und Freude der Männer tröstend, hülfereich und erfrischend teilnehmen. Daher bestand, wenigstens bei den adligen Geschlechtern, die Morgengabe der Frau in Schlachtroß, Schild und Waffe. Denn die Frauen folgten dem Heere in den Krieg, die Verwundeten pflegend und nicht selten durch ihren beseelenden Mut die wankende Schlacht wendend, oder, wenn alles verloren schien, sich selbst einem freiwilligen Tode weihend. So ergänzten sich fortdauernd beide Geschlechter, Kraft und Milde. Und nur aus solcher wechselseitigen Achtung konnte die Macht geistiger Liebe hervorgehen, deren Glanz das ritterliche Mittelalter so wunderbar beleuchtet und die das Christentum als ebenbürtig anerkannt hat.
Man sagt, der allgemeine Schönheitssinn der Griechen sei vorzüglich durch den täglichen Anblick der Tempel und Kunstwerke auf allen öffentlichen Plätzen geweckt und genährt worden. Mit noch größerem Rechte darf man behaupten, daß die ernste und strenge Schönheit unserer Heimat einen ähnlichen Zauber auf ihre Bewohner ausgeübt hat; dieses von Gebirgen, kräftigen Strömen und grünen Tälern durchzogene Land mit seinen Felsentrümmern und geheimnisvollem Quellenrauschen, wo, nach der Beschreibung des älteren Plinius, »tausendjährige Eichen mit gegeneinander strebenden, ineinander verschlungenen Wurzeln und Ästen, hohe Schwibbögen, Gänge und Gestalten bilden, sonderbar ähnlich den kühnen Gebäuden der Menschenkunst, nur größer, lebendiger und freier, wie zu einem Riesentempel der Natur erhoben«. Daher bauten die germanischen Völker nur wenige Städte, sondern wählten ihren Wohnsitz, ohne Rücksicht auf gemeines Bedürfnis, am liebsten auf freien Höhen oder in einsamen Tälern. Daher das tiefe Naturgefühl, das in Deutschland alle Wandelungen der Jahrhunderte überlebt hat, und noch bis heut, wie ein erfrischender Waldeshauch, auch unsere Poesie, wenn wir etwa den wesentlich germanischen Shakespeare ausnehmen, von der Poesie aller anderen Nationen unterscheidet.
Wenden wir uns nun nach diesem kurzen Überblick des innern Lebens jener Zeit, die, wie wir gesehen, poetische Elemente genug aufzuweisen hat, zu ihrer Poesie selbst, so müssen wir uns abermals lediglich auf das Zeugnis der Römer verlassen. Diese römischen Nachrichten aber sind verworren, lückenhaft und durchaus unzureichend. Wir haben schon oben gelegentlich Julians verwerfendes Urteil über den deutschen Kriegsgesang vernommen; andere urteilen nicht günstiger und klagen besonders über die vermeintliche Härte und Ungeschlachtheit der germanischen Sprache. Nur Tacitus, dessen Tiefsinn und unbeugsame Wahrheitsliebe freilich alle andern überwiegt, spricht auch hier mit besonnener Anerkennung des deutschen Wesens. Er gedenkt ihrer begeisternden Schlachtgesänge, Götter- und Heldenlieder und rügt die vornehme Beschränktheit der Griechen, die nur das Ihrige kannten und schätzten und der Lieder von Hermanns Heldentaten nicht achteten, die noch damals durch alle deutschen Gauen erklungen.
Diese Rüge aber und der scheinbare Widerspruch jener alten Nachrichten erklärt sich einfach daraus, daß die Griechen und Römer dazumal nur eine bereits überfeinerte Kunstdichtung, die Deutschen nur eine Volkspoesie besaßen, welche zu allen Zeiten einander unverständlich und daher auch stets gegeneinander ungerecht sind. Eine eigentliche Volkspoesie in so umfassendem Sinne haben überhaupt die andern alten Völker niemals gehabt. Bei den Griechen durchzogen besondere, mehr oder minder geschulte Sänger das Land, und in ihrem Homer sind die alten Volkssagen bereits in eine sehr fühlbare Kunstdichtung verschmolzen, gleichwie auch unsere vaterländischen Sagen später in unserem Nibelungenepos zusammengefaßt und zu ihrer jetzigen Gestalt verarbeitet wurden, als die Heldenlieder, die es enthält, nicht mehr lebendig von Mund zu Munde gingen. Bei den ältesten Römern dagegen gehörte die Poesie ganz und gar dem Gottesdienste an, und Vates war mit Dichter, Priester oder Seher, Carmen für Dichtung und jederlei gottesdienstliche Formel gleichbedeutend. Ebenso befand sich bei den Kelten, deren Gebräuche und Einrichtungen bisher mißverständlich den germanischen Völkern angefabelt worden, die Poesie ausschließlich in den Händen einer besonderen Künstlerklasse, der Barden, die nur das poetische Organ ihres Druidenordens war. Die Deutschen aber hatten weder Druiden noch Barden, d.h. weder eine erbliche Priesterkaste noch eine von den Priestern abhängige Dichterzunft. Ihre Dichterschule war das Leben und ihre Poesie die Freude und Seele dieses Lebens. Die Helden waren selbst die Dichter, sie taten, wie sie sangen, und sangen, was sie taten, allen gleich verständlich, weil in allen wesentlichen Lebensansichten noch ein gemeinsamer Geist die ganze Nation verband, die nicht in Herren und Sklaven, wie bei andern gleichzeitigen Völkern, und noch nicht wie bei uns in Gebildete und Pöbel zerfallen war. Daher sehen wir hier Fürsten und Mannen an der fröhlichen Sangeskunst gleichmäßig teilnehmen; der Held Horant betritt singend die Hallen der soeben von ihm eroberten Burg, Regner Lodbrog haucht im Gesange sein Leben aus, selbst der schon christliche König Alfred geht als Sänger verkleidet in das feindliche Dänenlager, und der Spielmann Volker im Nibelungenliede schwingt mit gleicher Gewalt den Fidelbogen wie das Schwert. Daher kreiste an den Königshöfen und in ihren Volksversammlungen die Harfe von Hand zu Hand, während die Zuhörer in den Gesang mit einstimmten, gleichsam wie der Chor der alten Tragödie in die besungene Handlung lebendig hineinrankend. Es war der Hauch nationaler Heldenerinnerungen, der durch die Wipfel dieses uralten Dichterwaldes in wunderbaren Liedern ging, von deren mächtigem Einfluß auf das ganze Leben die Römer voll Erstaunen erzählen.
Wollen wir uns aber das eigentliche Grundwesen dieser Volkspoesie klarmachen, so müssen wir auch hier auf die religiösen Quellen zurückgehen, die ihr ihre Eigentümlichkeit gegeben. Die Religion der alten Germanen war allerdings, wie die aller Urvölker, ein Naturglaube; sie verehrten die Sonne, das Feuer und Wasser. Was uns aber dabei zunächst auffällt, ist die Einfachheit ihres Gottesdienstes, der weder Götzenbilder, noch irgend weitläufige Zeremonien kannte; ihr Tempel war der Wald mit seinen grünen Bogen und schlanken Säulenhallen. Vor allem aber ist es das Übersinnliche dieser Götterlehre, die sie von den andern Religionen des Altertums unterscheidet. Die Römer, und noch mehr die Griechen, zogen ihre Götter zur Erde in den Kreis der menschlichen Leidenschaften herab. Ihr Olymp, wenn wir durch den überreichen Fabelschmuck auf den eigentlichen Kern sehen und diesen als die sittliche Grundlage des Volksglaubens nehmen müssen, erscheint doch nur als ein fast kindischer Religionsversuch; ein lustiges Herrenhaus genialer Dynasten, die, weil sie sich selbst durchaus nicht zu regieren wissen, ein gar wunderliches Weltregiment führen. Wie unendlich größer, tiefer und wahrer als dieser Zeus oder Jupiter, der mit sultanischer Laune heut die Europa entführt und morgen wegen derselben Galanterie den Paris andonnert, ist die altgermanische Idee der ewigen Gerechtigkeit, des »Allvaters« Wodan, des höchsten Richters und Rächers des Unrechts. Weder König noch Volk hatten das Recht des Blutbanns, die seltenen Todesurteile wurden nur in Wodans Namen gesprochen und verkündigt. Und mit dieser Vorstellung hing wesentlich auch ihr fester Unsterblichkeitsglaube zusammen. Das Jenseits der Griechen war nur ein ungewisses nebelhaftes Schattenspiel des irdischen Daseins, die Walhalla der Germanen dagegen eine freudige Zuversicht, die in Schlacht oder Gefangenschaft heldenmütige Todesverachtung erzeugte.
Am unmittelbarsten aber blickt der Geist dieser Götterlehre uns aus der Edda an, seltsam fremd und doch befreundet. In diesem mythologischen Götter-und Heldengedicht, das von Deutschland ausgegangen und in der spätern skandinavischen Auffassung bis auf uns gekommen ist, waltet ein tragischer Tiefsinn, in welchem wir, da ein Einfluß des Christentums darauf historisch sich nicht nachweisen läßt, bereits eine Ahnung der göttlichen Wahrheit kaum verkennen können. Unter dem Baum des Lebens, der heiligen Esche Yggdrasill, die ihre Wurzeln durch alle Tiefen und ihre Zweige über das Weltall ausbreitet, kämpfen die Asen und Lichthelden mit den alten Naturkräften und Riesen der Finsternis. Aber alle diese Helden sind dem Untergange geweiht, der sich durch den Tod Balders, des schönsten unter ihnen, wehmütig ankündigt. Denn die Dämmerung der Götternacht bricht unaufhaltsam herein, und noch einmal siegt die alte Finsternis und der furchtbare böse Loke, bis endlich die neue Götterwelt in himmlischer Verklärung emporsteigt.
Erblichen sind diese Göttergestalten vor dem neuen Morgenrot, verklungen alle Heldenlieder dieser Zeit, nur zwei erst vor kurzem in Merseburg wieder aufgefundene Zaubersprüche gemahnen uns noch wie rätselhafte Trümmer einer versunkenen Welt. Aber eine dunkle Erinnerung an die verschlossenen Heroen und Sagen ist im Volke geblieben und mit ihr jener wundervolle Naturklang und tragische Geist der Edda, der mythische Kampf mit den Riesen und Ungeheuern der Finsternis, und der großartige Untergang der alten Heldengeschlechter, der das Grundthema aller spätern Volksepen und mittelalterlichen Rittergedichte bildet.
II
Die alte Welt war allmählich eine Lüge geworden; Götter, an die niemand mehr glaubte, Staatseinrichtungen für Tugenden, die man nicht mehr verstand oder verlachte, und dabei noch immer die fortgeerbte römische Prätention einer Weltherrschaft, die doch nur von den sogenannten Barbaren noch gehalten wurde. Der Schutt der Jahrhunderte, auf dem nur üppige Giftblumen wucherten, mußte hinweggeräumt, das ganze trügerisch morsche Prachtgerüst erst gebrochen werden, damit es das neue Leben nicht weiter hindere. Und dies eben war die welthistorische Bedeutung der Völkerwanderung, jener rätselhaften Völkerströme, die erfrischend von Norden und Osten über den todmüden Süden hereinbrachen; und eben deshalb ist das einzige Wandervolk, welches diese Mission nicht begriffen und dem Lichte des neuen Lebens sich störrig verschlossen hatte, das wilde Heer der Hunnen, nachdem es die untergeordnete Aufgabe des bloßen Niederwerfens erfüllt, auch spurlos von dem großen Schauplatze wieder verschwunden.
Das deutsche Volk ist irgendwo mit Recht der Riese Christophorus genannt worden, der das Christkind durch die Fluten einer wildempörten Zeit getragen. Denn allerdings hatten die südlichen Nationen schon lange vor den Deutschen sich zum Christentum bekannt; allein im byzantinischen Kaisertum war dasselbe in eine zweideutige, den weltlichen Staatsinteressen dienstbare Hofsache umgeschlagen, und in Rom hatte teils das ungeheure Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Religionen, teils die Anstrengung der Gelehrten, die alte Mythologie durch den Neuplatonismus philosophisch umzudeuten und wieder zu beleben, einen vielfach störenden und zersetzenden Einfluß ausgeübt. Man darf daher wohl behaupten, daß erst die jugendfrische und tiefere Auffassung der germanischen Völker das Christentum in Europa wirklich einheimisch gemacht hat.
Indem aber das Christentum den Blick von den geheimnisvollen Naturkräften zu dem Urgrund alles Kreatürlichen, von der Sinnenwelt zum Übersinnlichen wandte, mußte es notwendig überall eine totale Umwandlung der Lebensansicht und Gesamtbildung und somit auch ihres poetischen Ausdrucks herbeiführen. Dies konnte jedoch grade bei einem so treu und ernst gestimmten Volke, wie das deutsche, nicht plötzlich und nicht ohne bedeutende Kämpfe geschehen. So rang im nordöstlichen Deutschland das nationale Heidentum noch lange und hartnäckig mit Karl dem Großen und endete nur mit der völligen Unterjochung der Sachsen. Ebenso entzündete sich in England ein ähnlicher Kampf zwischen den eingewanderten heidnischen Angelsachsen und dem christlichen Keltenkönig Artus, den nachher die christliche Ritterdichtung sagenhaft verklärt hat. Und da nun die alte Odinslehre vom deutschen Boden vertrieben war, flüchtete sie zu den gotischen Stämmen in Schweden, wo sie noch lange die bedeutsame Gestalt bewahrte, wie sie uns in der isländischen Edda erhalten worden.
Bei dieser Nachbarschaft von Heiden und Christen und dem nationalen Verkehr derselben konnte es nicht fehlen, daß nun hier zunächst eine Art von Kriegszustand permanent wurde. Nicht nur mußten die gewaltsam bekehrten Sachsen ihre alten Götter ausdrücklich abschwören, auch die alten Heldenlieder, mit denen die heidnischen Traditionen fortwährend noch herüberklangen, wurden von den geistlichen Behörden als Teufelswerk verboten, woraus denn ihr gänzliches Verschwinden einigermaßen erklärlich wird. Ja, selbst die uralte Form dieser Lieder, die Alliteration oder der sogenannte Stabreim, der, wie eine poetische Runenschrift, die bedeutsamsten Worte jedes Verses durch gleiche Anfangsbuchstaben betonte, ward jetzt mit Mißtrauen betrachtet und allmählich außer Gebrauch gesetzt. – Wir können vom poetischen und historischen Standpunkte aus allerdings nur bedauern, daß diese alten Heldengesänge auf diese Weise verlorengegangen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß das, was uns jetzt nur noch als ein schönes und harmloses Spiel der Phantasie erscheint, damals als wirklicher Volksglaube galt und also überwunden werden mußte.
Auch noch eine andere Folge des Christentums griff wenigstens mittelbar in die germanische Geistesentwickelung ein. Die Deutschen hatten nämlich das Christentum von den Römern und mit ihm die lateinische Sprache empfangen, die überdies, da sie bereits eine Weltsprache, auch zur Verbreitung der neuen Weltreligion am geeignetsten war. Die Sprachen der andern sogenannten romanischen Völker waren schon früher allmählich der übermächtigen römischen gewichen, oder sie hatten sich vielmehr, jede in ihrer Art, lateinisch regeneriert. Die deutsche Sprache aber war noch zu kerngesund, um nicht, mit Ausscheidung des fremden Elements, ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit zu behaupten. Und so erhielten wir schon damals eigentlich zweierlei Sprachen, eine gelehrte und eine Volkssprache, ein Dualismus, den unsere Literatur noch bis jetzt nicht ganz beseitigt hat.
Unter den eingewanderten Völkern ragten ohne Zweifel die Goten an hohem Sinn und Bildung über alle anderen hervor. Weit entfernt daher, die alte Kultur zu zerstören, wie Attila mit seinen Hunnen tat, suchten sie vielmehr alles Große und noch Lebensfähige, das sie vorfanden, auf ihre Weise sich anzueignen. So wissen wir durch gleichzeitige Schriftsteller, daß der Gotenkönig Adolf seinen Ruhm darin suchte, die Herrlichkeit der Römer durch die Kraft der Goten wiederherzustellen und noch zu vergrößern, und daß es schon damals Römer gab, die lieber unter den Deutschen in Freiheit, ob wohl dürftig leben mochten als wie ehemals in steter Angst vor den Erpressungen der alten Regierung. Ihr großer König Theodorich sorgte gleichmäßig für die Erhaltung der römischen wie der gotischen Sprache und Bildung, beide, eine durch die andre wechselseitig ergänzend und neubelebend; und an seinem Hofe wurden die ersten christlichen Heldenlieder gesungen.
Sie sind zwar sämtlich verloren, so wie die Lieder, welche später Karl der Große sammeln ließ, aber dennoch können wir auf diesen Spuren den Strom der deutschen Poesie aus dem alten Sagenwalde bis tief in das Mittelalter hinein verfolgen. Denn jene Gotenlieder, die von lateinischen Schriftstellern als Volksgeschichte in Prosa aufgelöst worden, feierten vorzüglich den Ruhm und die Taten des Heldengeschlechts der Amelungen, später auch Attila, Odoaker und Theodorich selbst in ihren Kreis mit aufnehmend; sie wurzelten also noch in den Nationalerinnerungen der ältesten Vorzeit. Eben diese Lieder aber waren es, wie wir anzunehmen berechtigt sind, welche die erwähnte Sammlung Karls des Großen bildeten, aus welcher dann wiederum vieles und vielleicht das Bedeutendste im Nibelungenliede und Heldenbuche nachgeklungen hat. Und so geben denn auch wirklich die Nibelungen, selbst in ihrer jetzigen kunstmäßigen Gestalt, noch ein lebensvolles Bild jenes allmählichen Überganges vom Heidnischen zum Christlichen. Hier sehen wir noch die starren Zacken des alten Urgebirges drohend hereinragen, aber schon wunderbar beglänzt von dem Morgenrot des Christentums, bei dessen Widerscheinen gleichwohl in den nur erst ungewiß beleuchteten Abgründen noch die alten Ungeheuer und Drachen sich widerwillig ringeln, unzähmbare Kraft, Rache, und alle die entsetzliche Naturgewalt menschlicher Leidenschaften, bis zuletzt die furchtbare alte Heldenwelt, wie im Zorne, vor dem milderen neuen Lichte tragisch zusammenbricht.
Erhalten hat sich von den Goten nur ein einziges schriftliches Denkmal, das aber von dem majestätischen Klange, dem Reichtum, Wohllaut und strengem Bau ihrer Sprache ein überraschendes Zeugnis gibt. Es ist dies die vom gotischen Bischof Ulfila verfaßte Übersetzung der vier Evangelien. Die im 16. Jahrhundert aufgefundene und später in Prag aufbewahrte Handschrift wurde am Schluß des Dreißigjährigen Krieges von den Schweden entführt und befindet sich gegenwärtig in Upsala; während erst im Jahre 1818 durch den Kardinal Mai auch noch die Briefe des Apostels Paulus in Ulfilas Übersetzung im lombardischen Kloster Bobbio entdeckt worden sind. Von Dichtungen aber besitzen wir aus der ältesten Zeit überhaupt, d.i. aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, nur noch drei in ihrer damaligen Gestalt: das Hildebrandlied, den Walter von Aquitanien und den Beowulf.
Das Hildebrandlied bekundet auf eine merkwürdige Weise den vorhin behaupteten Zusammenhang der uralten und spätern Sagenwelt, indem es den Inhalt des, also schon damals alten, Nibelungenliedes zum Hintergrunde hat. Denn Hildebrand ist der Waffenmeister Dietrichs von Bern (des Gotenkönigs Theodorich), mit dem er nach der furchtbaren Schlußkatastrophe der Nibelungen vom Hofe Etzels (des Hunnenkönigs Attila) in seine Heimat zurückkehrt. Hier hatte er vor dreißig Jahren seinen Sohn Hadubrand verlassen, der nun selbst seitdem zum Helden herangewachsen ist und dem Vater, den er nicht kennt, den Eingang verwehrt. Vergebens erzählt dieser ihm seine Geschichte, der mißtrauische und trotzige Sohn ist nicht zu überzeugen. Da ruft Hildebrand: »Weh, waltender Gott, jetzt kommt das Wehgeschick! Sechzig Sommer und Winter bin ich außer Landes gewallet, und nun soll mich mein Kind mit dem Schwerte hauen oder ich zum Mörder an ihm werden!« Aber es wäre unerhörte Feigheit, den Sohn vom Kampfe abzuhalten, nach dem ihm so gelüstet. Und so kämpfen sie miteinander auf Tod und Leben. – Man sieht, das ist noch wesentlich heidnische Tugend. Und dieselbe wildfremde Urgebirgsluft weht uns auch aus den beiden andern oben erwähnten Dichtungen an: wie dort