Geschichte der Ukraine - Kerstin S. Jobst - E-Book

Geschichte der Ukraine E-Book

Kerstin S. Jobst

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Beschreibung

Seit dem Beginn der Ukraine-Krise im Herbst 2013 wendet Europa dem nationalen Projekt der Ukrainer - aus leidvollen Gründen - hohe Aufmerksamkeit zu. Dabei besteht eine bezeichnende Geringschätzung gegenüber dem Anspruch der Ukraine und ihrer Bürgerinnen und Bürger auf Integrität ihrer staatlichen Grenzen und auf nationale Selbstbestimmung ebenfalls leider partiell noch immer. Diese Geschichte der Ukraine erklärt die Wurzeln der ukrainischen Nationalität und verfolgt sie in aktualisierter Neuauflage bis in die unmittelbar heutigen Konflikte.

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Seitenzahl: 285

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Geschichte der Ukraine

Kerstin S. Jobst

Reclam

Kerstin S. Jobst ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien.

2., aktualisierte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© 2010, 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Kartenzeichnung: Inka Grebner, Leipzig

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen.

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960760-3

ISBN Buchausgabe 978-3-15-019320-4

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

1 Die »Ukraine-Krise« 2014 und ihre Vorgeschichte

2 Die Ukraine und ihre Erinnerungskulturen

3 Die ukrainischen Staatssymbole

4 Von der frühesten Zeit bis zur Entstehung der Kiever Rus’

5 Der Zerfall der Rus’ in Teilfürstentümer – das Fürstentum Halyč-Volhynien

6 Die ukrainischen Länder als Teil Polens und Litauens

7 Kosakenzeit und Kosakenmythos

8 Die ukrainischen Länder unter russischer Herrschaft

9 Die ukrainischen Länder unter der Herrschaft des Habsburgerreichs

10 Die ukrainischen Länder im Ersten Weltkrieg

11 Die Zwischenkriegszeit (Polen, ČSR, Rumänien)

12 Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USRR)

13 Die ukrainischen Länder im Zweiten Weltkrieg

14 Die ukrainischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg

15 Das ukrainische »Traumagedächtnis«: Holodomor und Čornobyl’

16 Die Krim-Frage, die Annexion durch die Russländische Föderation 2014 und das Problem ethnischer Sondergruppen

Weitere Überblicksdarstellungen

Hinweise zur E-Book Ausgabe

Vorwort

»Die Ukrainer sind keine Russen«, so lautete die kategorische Feststellung des Wiener Osteuropahistorikers Andreas Kappeler im Dezember 2014 in seinem Beitrag in der österreichischen Tageszeitung Der Standard zur Ukraine-Krise. Der renommierte Forscher sah sich zu dieser Aussage gezwungen, da sich die Erkenntnis, dass es sich bei Ukrainern eben nicht um Russen handele, sondern um eine vom großen nördlichen Nachbarn trotz aller kulturellen, sprachlichen und historischen Berührungspunkte distinkte Nationalität, ganz offenbar in Teilen der deutschsprachigen Öffentlichkeit immer noch nicht durchgesetzt hat. Folgt man den seit dem Beginn der sog. Ukraine-Krise im Herbst 2013 geführten Debatten in Deutschland, der Schweiz oder auch Österreich, frappiert nämlich in der Tat zumal bei einigen ehemals exponierten oder noch aktiven Politikern die Geringschätzung des von Russland unabhängigen ukrainischen nationalen Projekts, welches seit 1991 trotz aller Probleme besteht. Dennoch wird in deutschsprachigen Feuilletons und Talkshows das russische Vorgehen in der Ukraine häufig als legitim gedeutet; die Russländische Föderation habe demnach ein ›Recht‹ auf eine exklusive ›Einflusszone‹, die das Territorium der 1991 auseinandergebrochenen Sowjetunion umfasse, so ist zuweilen zu hören. Diese Stimmen bewerten also den ›Anspruch‹ der ehemaligen Weltmacht (und eines der größten Rohstofflieferanten der Welt) weitaus höher als den der Ukraine und ihrer Bürgerinnen und Bürger auf die Integrität ihrer staatlichen Grenzen und auf nationale Selbstbestimmung. Ein Grund für diese Einschätzung liegt wohl darin, dass die Ukraine mit ihren Bewohnern für viele Menschen im westlichen Europa immer noch eine weithin unbekannte Weltgegend ist und dass in der Politik das Recht des Mächtigeren, des Stärkeren häufig akzeptiert und toleriert wird. In jedem Fall ist Folgendes festzuhalten: Die 2010 bei der Veröffentlichung der ersten Auflage der nun aktualisiert vorliegenden Geschichte der Ukraine im Vorwort geäußerte Hoffnung, dieses schöne und große, sich von den Karpaten bis an das Schwarze Meer erstreckende Land möge für die Westeuropäer nicht länger eine terra incognita sein, hat sich leider nur sehr partiell erfüllt. Dies gilt auch für die akademische Landschaft, denn es gibt immer noch keine Professur für Osteuropäische Geschichte im deutschsprachigen Raum, welche speziell diesem Gebiet gewidmet ist. Und wenn die Ukraine in den letzten Jahren in die Schlagzeilen geriet, dann zumeist weniger wegen positiver Neuigkeiten, wie beispielsweise anlässlich der alles in allem doch letztlich gut organisierten Fußballeuropameisterschaft 2012, die gemeinsam mit Polen ausgerichtet wurde. Im Westen wurde die Ukraine eher – und dies nicht ohne Grund – als Krisenland wahrgenommen; die schlechte wirtschaftliche Lage und die in der Inhaftierung der Oppositionsführerin Julija Tymočenko kulminierende politische Krise waren beständige Themen auch in deutschsprachigen Medien. Gleichwohl kam der Euromajdan, der im Herbst 2013 begann, den Wunsch vieler Ukrainerinnen und Ukrainer nach einem politischen Neubeginn auszudrücken und letzteren schließlich machtvoll einforderte, für viele Beobachter überraschend. Vieles ist im Fluss: Gegenwärtig versucht das gebeutelte Land abermals nach der letztlich gescheiterten Orangen Revolution von 2004 einen Neuanfang. Dafür ist dem Land, aber auch Europa insgesamt viel Glück zu wünschen. Gerade die Europäische Union, welche der Ukraine nach 2004 nicht die notwendige Unterstützung gewährt hat, ist nun gefordert. Die vorliegende kleine aktualisierte Einführung in die Geschichte mag, so steht zu hoffen, das Verständnis für die Region und seine Bewohnerinnen und Bewohner wecken und die Kenntnisse über die Hintergründe der politischen Ereignisse erweitern.

Zahlreiche deutschsprachige Osteuropaforscher haben sich in den letzten fünfzehn Jahren allerdings mit einigem Erfolg bemüht, die Geschichte der ukrainischen Länder auch in unseren Breiten bekanntzumachen. Die von Andreas Kappeler 1994 veröffentlichte Monographie zur Geschichte der Ukraine oder der von Frank Golczewski ein Jahr vorher herausgegebene Sammelband zum gleichen Thema trugen dazu ebenso bei wie die Arbeiten Ernst Lüdemanns, Gerhard Simons oder Kathrin Boeckhs und Ekkehard Völkls zur Entwicklung des Landes seit der Unabhängigkeit. Gemeinsam mit den englischsprachigen Werken Orest Subtelnys und Paul Robert Magocsis (siehe Literaturhinweise) gehören diese Darstellungen zu den wesentlichen Überblicksdarstellungen. Der vorliegende Band berücksichtigt besonders die zahlreichen, oft widersprüchlichen historiographischen Diskurse. Diese Darstellung folgt im Wesentlichen einer zeitlichen Chronologie, die allerdings an einigen Stellen durchbrochen wird. Dem komplexen Thema des ukrainischen Opfergedächtnisses wird am Beispiel der ukrainischen Hungerkatastrophe zu Beginn der 1930er Jahre und des Reaktorunglücks von Čornobyl’ genauso ein zeitübergreifendes Kapitel gewidmet wie den nationalen Minderheiten. Vereinfachungen und Auslassungen der so viel komplexeren ›eigentlichen‹ ukrainischen Geschichte sind diesem Vorhaben immanent, die deshalb zu erwartende Kritik ist anzunehmen. Ein ursprünglich beigegebenes Kapitel über die transnationale Prozesse so trefflich beleuchtende Literatur der ukrainischen Länder konnte (genauso wie ein ausführliches Literaturverzeichnis) aus verlagsinhaltlichen Gründen nicht in diesem Band berücksichtigt werden. Es wird alsbald als Open-Access-Dokument jedoch verfügbar sein. Ich danke Herrn Dr. Rudolf A. Mark (Hamburg), Prof. Alois Woldan (Wien) sowie meinem Mann Dr. John Zimmermann für die Anregungen und die substantielle Kritik.

Kapitel 1

Die »Ukraine-Krise« 2014 und ihre Vorgeschichte

Gegenwärtig befindet sich der ukrainische Staat in der schwierigsten Situation seit Erlangung seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991. Es ist sogar berechtigt zu konstatieren, dass die ukrainischen Länder, d. h. die Territorien der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR), welche bis zum März 2014 die Ukraine bildeten, seit dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Kapitel 13) keine größere Krise durchlebten. Und dies, obwohl die Jahre nach der Befreiung von den nationalsozialistischen Besatzern seit 1944 alles andere als leicht gewesen waren: Die weitläufigen Zerstörungen durch Kampfhandlungen, die rücksichtlose, auch wirtschaftliche Ausbeutung der sog. Kornkammer Europas und der gnadenlose Vernichtungskrieg, mit dem die Deutschen und ihre Verbündeten die ukrainischen Länder genauso überzogen wie die übrigen Territorien der UdSSR, derer sie Herr werden konnten, hatten eine unvorstellbare Schneise der Verwüstung geschlagen. Auf Bevölkerungstransfers großen Ausmaßes im Weltkrieg (so 1941, als sog. Russlanddeutsche auch auf dem Gebiet der USSR von den sowjetischen Behörden umgesiedelt wurden), den nationalsozialistischen Judenmord sowie die Verschleppung sowjetischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich folgten großangelegte und brutal durchgeführte Deportationen seitens der sowjetischen Macht, die heutzutage als ethnische Säuberungen qualifiziert werden würden. Diese von Stalin angeordneten Maßnahmen betrafen beispielsweise die krimtatarischen Muslime (vgl. Kapitel 16) oder die Polen in den neu der UdSSR zugeschlagenen Gebieten in der Westukraine, die in der Zwischenkriegszeit zum polnischen Staat gehört hatten. Es folgten die schweren Jahre des Wiederaufbaus und der neuerlichen politischen Pressionen von 1948 bis zu Stalins Tod im Jahr 1953. In den nächsten Jahrzehnten durchlebte die ukrainische Sowjetrepublik im Wesentlichen alle Höhen und Tiefen, welche die UdSSR als Gesamtorganismus durchlief – die sog. Tauwetterperiode nach 1956 (vgl. Kapitel 14), die Erlangung eines gewissen gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes, welcher den Krieg nicht vergessen machen konnte, aber die klaffendsten Wunden wenigstens etwas zu schließen vermochte. Es folgten die ›bleiernen‹ Jahre der späten Brežnev-Zeit, die auch für die ukrainischen Territorien eine Phase der politisch-gesellschaftlichen Stagnation darstellten. Einen gemeinschaftlichen Aufbruch bedeutender Teile der ukrainischen Bevölkerung wie der Sowjetunion insgesamt bewirkte erst eine Katastrophe, nämlich der Reaktorunfall von Čornobyl’ im April 1986 (vgl. Kapitel 15). In der Rückschau markierte dieser technische ›Größte Anzunehmende Unfall‹ (GAU) ein nicht gering zu schätzendes Ereignis, das den Zerfall des Vielvölkerstaates zumindest beschleunigte.

Die Ukraine, so viel mag deutlich geworden sein, war auch schon vor 2014 keinesfalls eine Insel der Seligen, sondern ein Gebiet in der Mitte Europas, welches historisch immer Durchzugs- und Interessengebiet auswärtiger Akteure gewesen ist. Dies ist ein Grund dafür, dass erst nach dem Zerfall der Sowjetunion eine unabhängige Ukraine entstehen konnte, der eine längere Lebensdauer beschert ist als deren Vorgängerprojekten. Trotz aller Widrigkeiten ist die Ukraine – von den drei baltischen Republiken einmal abgesehen – derjenige aus der Erbmasse der UdSSR hervorgegangene Staat, welcher in den Jahren seit 1991 am konsequentesten den Weg zur Demokratie zu beschreiten versuchte. Das zeigte sich nicht zuletzt in den Ereignissen im Dezember 2004, als das alte Regime nach gefälschten Präsidentenwahlen auf Druck großer Teile der Bevölkerung hinweggefegt wurde; dass dieser dann als Orange Revolution bezeichnete Umsturz keine Revolution gewesen ist, darauf wird noch zurückzukommen sein. In jedem Fall hatten sich Ansätze einer profunden zivilgesellschaftlichen Entwicklung gezeigt, denn ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gleich welcher ethnischen Herkunft hatten ihr eigenes politisches »Personal« zu einem Politikwechsel gezwungen. Leider sollte dieses Personal in der Folge nicht immer die richtigen Weichenstellungen treffen. Unter anderem deswegen kam es zu der sog. Ukraine-Krise 2014, die eben auch – aber nicht nur – als eine Art Bürgerkrieg anzusehen ist. Doch der Reihe nach:

Am 21. November 2013 hatte der ukrainische Ministerpräsident Mykola Azarov die Aussetzung des bereits im Sommer 2012 paraphierten Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine verkündet, das einige Tage später bei einem Treffen der EU-Regierungsspitzen mit dem seit 2010 amtierenden ukrainischen Präsidenten Viktor Janukovyč im litauischen Vilnius feierlich hätte unterzeichnet werden sollen. Der Präsident reiste zwar an und erklärte sein ungebrochenes Interesse daran, sein Land näher an die EU zu binden, verlangte aber eine Beteiligung der Russländischen Föderation an diesem Abstimmungsprozess, was Brüssel seinerseits ablehnte. Das politische Europa zeigte sich bass erstaunt über das Vorgehen Kievs, weil man im Assoziierungsabkommen für das osteuropäische Land auf längere Sicht nur Vorteile erkennen wollte, versprach es doch Freihandelselemente sowie eine wechselseitige Marktöffnung für Waren. Kurzfristig hätte es gleichwohl, dies war vielen Beobachtern durchaus klar, zu gewissen Problemen in der seit der Krise von 2008 ohnehin gebeutelten ukrainischen Wirtschaft führen können. Die von der EU geforderte Anpassung an die eigenen Gesetze und Normen war dennoch eine Kröte, die zu schlucken war. Die für die ukrainische Seite so wichtige Visumsfreiheit ihrer Staatsbürger bei Reisen in die EU war außerdem nicht Bestandteil der Vereinbarungen gewesen, obgleich man diese umgekehrt für EU-Bürger bereits 2005 eingeführt hatte. Immerhin: Wenn die Ukraine sich denn an europäische Standards angepasst hätte, sollte ihr dereinst der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt werden; dies war insofern bemerkenswert, als die Möglichkeit einer ukrainischen Mitgliedschaft im exklusiven europäischen Klub lange Zeit für dessen politische Verantwortliche undenkbar gewesen war. Vielen europäischen Politikern (und vielen Bürgern der EU!) galt (und gilt) dieser Staat als ›zu wenig‹ europäisch, ungeachtet seiner geographischen Lage und seiner großen kulturellen Leistungen etwa auf dem Gebiet der Literatur, oder als wirtschaftlich zu rückständig, was allerdings bei der Integration anderer Länder Südosteuropas in die EU offenbar keine Rolle gespielt hatte. Mancher Europäer fürchtete zudem in Anbetracht der innerhalb der Union garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit den ungebremsten Zuzug ukrainischer Bürgerinnen und Bürger, was in vergleichbaren Fällen der Osterweiterung von 2004 aber durch entsprechende Regelungen gelöst worden war.

Besonders im deutschsprachigen Raum sprach und spricht sich eine meinungsstarke Gruppe zumeist nicht mehr aktiver Politiker wie die ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder demgegenüber für die – nach ihrer Auffassung – Wahrung legitimer russischer Interessen aus. Im veröffentlichten Diskurs werden die ehemaligen Kanzler zumeist euphemistisch als »Russlandversteher« bezeichnet; letztlich sind diese aber der Auffassung, dass die Anerkennung doch ebenfalls legitimer ukrainischer Interessen, über wirtschaftliche, politische oder militärische Bündnisse selbständig entscheiden zu können – seien es Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder in der NATO –, irgendwie unangemessen sei. Unangemessen deshalb, da die freie Entscheidung eines unabhängigen Staates wie der Ukraine dann geringer zu veranschlagen sei als die Interessen der Russländischen Föderation. Dabei wird offenbar vergessen, dass sich die Sowjetunion im Dezember 1991 mit der Deklaration von Alma-Ata/Almaty aufgelöst hat.

Auch wenn die ›Argumente‹ der sog. Russlandversteher also problematisch erscheinen, unstrittig ist, dass die Russländische Föderation die Annäherung der Ukraine an die EU mit Misstrauen begleitete – und mit konkreter Politik zu verhindern trachtete: Seit Sommer 2013 behinderte die Russländische Föderation in erprobter Manier – wie etwa im Falle Georgiens im Vorfeld des russisch-georgischen August-Krieges von 2008 – die Einfuhr ukrainischer Waren, drohte mit Preiserhöhungen für russisches Erdgas oder der Einführung der Visumspflicht für ukrainische Staatsbürger. In Anbetracht ca. 300 000 bis 400 000 ukrainischer ›Gastarbeiter‹ in Russland und ungezählter grenzüberschreitender menschlicher Kontakte war das für Kiev ein bedrohliches Szenario. Hinter dieser Politik der Einschüchterung stand zum einen die nicht nur in Kreml-Kreisen, sondern bei der ganz überwiegenden Zahl der russischen Bevölkerung stark ausgeprägte Überzeugung, bei den Ukrainern handle es sich letztlich (wie auch bei der quantitativ sehr viel kleineren weißrussischen Nationalität) um einen integralen Bestandteil der ostslavischen Völkerfamilie (vgl. Kapitel 2). Zum anderen galt es, ganz pragmatisch vermeintlich vitale wirtschaftliche Interessen Russlands zu verteidigen: Das Regime Putin plante bekanntlich seit längerem, die Ukraine zum Beitritt in die Russisch-Weißrussische-Kazachische Zollunion zu bewegen. Der ukrainische Präsident Janukovyč, ohnehin mehr an Moskau als an Brüssel orientiert, hatte seinerseits offenbar lange geglaubt, die Ukraine könne zweigleisig fahren. Er wurde allerdings im Herbst 2013 u. a. vom Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, eines Besseren belehrt, was die schließlich erfolgte Verweigerung der Unterzeichnung des Abkommens mit Brüssel am 21. November nicht unwesentlich beeinflusst haben dürfte.

Was Janukovyč und die ihn umgebende Nomenklatura aber genauso wenig erwarteten wie Beobachter im Ausland, waren die spontanen Reaktionen in vielen Teilen der Ukraine: Noch am selben Tag kam es in der Hauptstadt Kiev auf dem Unabhängigkeitsplatz (ukr.: Majdan Nezaležnosti) zu ersten Demonstrationen gegen die Regierung und für die politische Annäherung an die Europäische Union. In den nächsten Wochen und Monaten folgten trotz eisiger Temperaturen weitere machtvolle Kundgebungen für einen europafreundlichen Kurs. Vor allem im Zentrum des Landes und im insgesamt stärker ukrainisch-national geprägten Westen sprachen sich die Massen für die Unterzeichnung des Abkommens mit Brüssel aus. Die Menschen verbanden damit nicht nur die Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, sondern auch auf demokratische Standards und eine größere Rechtssicherheit; insbesondere das Thema der Korruption trieb die Bevölkerung um. Im Osten, vor allen Dingen in den Regionen von Donec’k und Luhans’k, kam es zu ganz anders gearteten Aufmärschen: Hier war die Beteiligung geringer als im Westen, wesentlich war aber deren meist anti-europäische oder auch pro-russische Tendenz.

Im Unterschied zu der bereits erwähnten Orangen Revolution von 2004 erwies sich die bald als Euromajdan (ein Kompositum aus »Europa« und »Majdan«, s. o., wohl ursprünglich erstmalig als Hashtag auf Twitter verwandt) apostrophierte Bewegung nicht gewaltarm, was nicht zuletzt dem rücksichtslosen Einsatz der Sicherheitskräfte einschließlich der dem Innenministerium unterstellten Spezialeinheit »Berkut« (ukr.: Steinadler) zuzuschreiben ist. Schnell zeigte sich, dass die Mehrheit der Demonstranten und ihrer Unterstützer keineswegs allein für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU auf die Straße gingen und dafür bei frostigen Temperaturen den zentralen Kiever Platz – eben den Majdan – besetzt hielten, sondern dass sie grundsätzliche Veränderungen der politischen Lage verlangten. Zentral waren die Forderung nach dem Rücktritt Janukovyčs und seiner Regierung sowie die Rückkehr zur sog. Orangen Verfassung, welche seinerzeit die präsidiale Macht beschränkt hatte. Man wollte den Einfluss der Oligarchen beschnitten sehen, auf deren Unterstützung das System Janukovyč mit seiner »Partei der Regionen« rechnen konnte und das die schamlose Bereicherung der ihm nahestehenden politischen Kaste garantierte. Und man wollte endlich die Implementierung rechtsstaatlicher Verhältnisse, von denen man sich seit 2010 eher wieder entfernt hatte. Ein besonderes Ärgernis war (und ist) die alltägliche Korruption: Laut dem Bericht der Antikorruptionsorganisation Transparency International von 2014 rangiert die Ukraine auf dem 142. Platz von 175 erfassten Ländern weltweit.

In der Summe darf die Bilanz des Präsidenten Janukovyč nicht einmal als durchwachsen gelten, zumal er selbst seine politischen Unterstützer im Osten des Landes nicht wirklich zufriedengestellt hatte: Seine Versprechen etwa, die (mit Ausnahme der Halbinsel Krim) strikt zentralverwaltete Ukraine zu föderalisieren und damit den Regionen mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, waren genauso wenig umgesetzt worden wie die besonders in den russischsprachigen Regionen von Donec’k und Luhans’k sehnsüchtig erwartete Zusage, das Russische zur zweiten Staatssprache zu machen. Nur in wenigen Gebieten, in denen das Russische aber ohnehin schon dominierte, erhielt es den Status der zweiten Amtssprache. Die Wirtschaft erholte sich kaum, zumal der von Moskau diktierte Gaspreis nicht so stark gesunken war wie erhofft, auch wenn sich das Verhältnis zu Russland, wie schon angedeutet, allmählich entspannt hatte. Die im Juni 2012 gemeinsam mit Polen ausgerichtete Fußball-Europameisterschaft verlief insgesamt immerhin weitaus erfolgreicher als prognostiziert. Das galt zwar weniger in fußballerischer Hinsicht, wo die Ukraine bereits nach der Gruppenphase als Dritter in der Gruppe D nach England und Frankreich, aber noch vor Schweden ausgeschieden war. Doch trotz vielstimmiger Befürchtungen, die Stadien würden nicht rechtzeitig fertig, die Hotelkapizitäten seien nicht ausreichend und die Ukraine sei überhaupt nicht dazu in der Lage, ein internationales Ereignis dieser Größenordnung auszutragen, zeigte sich das Land als kompetenter EM-Gastgeber, was auch der Begeisterung der ukrainischen Bürger und Bürgerinnen geschuldet war.

Zumindest in der westlichen Presse, deutlich weniger in der ukrainischen oder russischsprachigen, war das Bild der Präsidentschaft von Viktor Janukovyč von seinem Rachefeldzug gegen seine langjährige politische Gegenspielerin Julija Tymošenko (s. u.) und andere vermeintliche und tatsächliche ehemalige Opponenten geprägt, die er mit einer Reihe von politisch motivierten Prozessen überzog; u. a. wurde Tymošenko ein Prozess wegen vermeintlicher Kompetenzüberschreitung als Ministerpräsidentin bei der Neuaushandlung der Gasverträge mit der Russländischen Föderation im Jahr 2009 gemacht, der sie im August 2011 tatsächlich hinter Gitter brachte. Obgleich der Prozess national und international (u. a. auch im Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft und den Verhandlungen mit der EU) wiederholt als ein politischer kritisiert wurde und dem Ansehen der Ukraine und Janukovyčs schadete, blieb Tymošenko bis zum Ende von dessen Regime in Haft. Überhaupt ist bemerkenswert, dass insbesondere ukrainische Frauen die ansonsten eher geringe Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit auf sich zogen: Neben Tymošenko ist hier vor allen Dingen FEMEN zu nennen. Dabei handelt es sich um eine mittlerweile weit über den ukrainischen oder osteuropäischen Raum hinaus agierende, sich selbst als neu-feministisch bezeichnende Frauenbewegung. Ende der sog. Nullerjahre in Kiev formiert, macht FEMEN seitdem mit Aktionen für Frauenrechte (u. a. im Kontext der EM gegen Sextourismus und Prostitution) und gegen allgemeine Verletzungen der Demokratie (u. a. gegen den sog. Pussy-Riot-Prozess in der Russländischen Föderation 2012) auf sich aufmerksam. Prägnant ist dabei die allerdings gerade angesichts feministischer Ansprüche diskussionswürdige Barbusigkeit der Aktivistinnen.

Im Januar und Februar 2014 hatte sich die Situation in der Ukraine dramatisch zugespitzt, war es doch sowohl auf Seiten der Bevölkerung als auch der staatlichen Organe bereits zu Toten und Verletzten gekommen, was das Regime Janukovyč spürbar erschütterte. Anders als 2004 (s. u.), als die europäische Gemeinschaft sich nur zögerlich einbrachte, reagierte diese nun umgehend: Am 21. Februar 2014 wurde unter Vermittlung Deutschlands, Polens sowie Frankreichs eine Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine vom Regierungslager und der politischen Opposition unterzeichnet – u. a. vertreten durch den ehemaligen Boxweltmeister Vitali Klyčko von der Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen, ukr.: Ukraïns’kyj Demokratičnyj Al’jans za Reformi, zugleich ukr. für ›Schlag‹), Oleh Tjahnybok (Allukrainische Vereinigung Svoboda) sowie von Arsenij Jazenjuk von der Partei Allukrainische Vereinigung Vaterland. Ob dieses nicht unwesentlich die Forderungen der Opposition berücksichtigende Abkommen die Lösung gewesen wäre, ist nicht mehr zu beurteilen, überschlugen sich doch die Ereignisse: Der Präsident, der nicht zuletzt die politische Verantwortung für die bis dahin mehrere Dutzend Toten hätte übernehmen müssen, zog die Flucht in die Russländische Föderation vor. Daraufhin setzte ihn am 22. Februar das ukrainische Parlament (ukr.: Verchovna Rada) ab. Das von seiner Partei der Regionen dominierte Kabinett wurde ebenfalls abgesetzt. Und obwohl dieser Vorgang mit der ukrainischen Verfassung nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist, meinten die Akteure in Anbetracht der eskalierenden Gewalt und der Flucht des gewählten Präsidenten offenbar keine andere Wahl zu besitzen. Tatsächlich führte diese spezifische Form des Notstands dazu, dass die neue Regierung von den meisten Staaten – eine Ausnahme war freilich Russland – als rechtens anerkannt wurde. Die Russländische Föderation unter dem wiederamtierenden und innenpolitisch nicht unumstrittenen Präsidenten Vladimir Putin hatte sich im Angesicht des Euromajdan und der Olympischen Winterspiele im russischen Soči, die quasi zeitgleich zur Flucht Janukovyčs, nämlich am 23. Februar 2014 endeten, anfänglich erstaunlich zurückgehalten. Zwar hatten die staatsnahen russischen Medien bereits einen Krieg der Worte gegen die von ihnen so bezeichneten Faschisten auf dem Majdan begonnen und damit ein Wort instrumentalisiert, welches Russen gleich welchen Alters mit dem wohl traumatischsten Ereignis im kollektiven Gedächtnis verbanden, nämlich dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Dennoch zeigten sich selbst Kenner der osteuropäischen Verhältnisse vom weiteren dramatischen Verlauf überrascht. Als Ende Februar auf der mehrheitlich russisch bewohnten Halbinsel Krim bestens ausgerüstete Kämpfer ohne Hoheits- und Rangabzeichen auftauchten und dies zur zweiten Annexion der Krim nach 1783 durch Russland führte (vgl. hierzu Kapitel 16), begann die Fragmentierung der seit 1991 unabhängigen Ukraine. Deren Ende ist gegenwärtig nicht abzusehen.

Dies gilt auch für den Konflikt im Osten der Ukraine, vor allen Dingen in den bereits erwähnten Regionen von Donec’k und Luhans’k. Von den insgesamt bislang mehr als fünftausend Toten ist der weitaus größte Teil dort zu beklagen. Im Frühjahr 2014 waren die meisten Bewohner dieser Region vermutlich gar nicht für einen Anschluss an Russland, wohl aber für weitergehende föderale Eigenständigkeit, die – das gilt es nicht zu vergessen – gerade ›ihr‹ Kandidat, Viktor Janukovyč, nicht umgesetzt hatte. Weniger sprachliche Probleme mit der Kiever Zentrale als vielmehr eine recht vage Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität mochte Einwohner dieser Region im Verlauf der Krise diffus pro-russisch gestimmt haben. In jedem Fall erklärten sich die genannten Gebiete im April 2014 zu unabhängigen »Volksrepubliken«; sie hatten ohnehin durch das jahrelange Meinungsmonopol der Partei der Regionen wenig Deutungskompetenz hinsichtlich der Ereignisse auf dem Majdan, so dass die Meistererzählung von ›den Faschisten aus dem Westen‹ dort verfing. Gemünzt war diese Narration vor allen Dingen auf die in der Tat aus der westlichen Perspektive sehr problematischen Parteien des extremen rechten politischen Spektrums wie die bereits erwähnte »Svoboda« oder der »Rechte Sektor« (»Pravyj Sektor«), die bei den Wahlen zum Parlament vom Oktober allerdings marginalisiert wurden: Erste erhielt 4,7, letztere 2,4 Prozent.

Im Mai 2014 war bereits ein neuer Präsident gewählt worden: der sog. Schokoladenkönig Petro Porošenko, ein politisch offenbar recht flexibler Oligarch, der dem orangen Regime genauso gedient hat wie dem blauen des Viktor Janukovyč. Zugute zu halten ist ihm jedoch, dass er sowohl während der Krise zum Jahreswechsel 2013/14 mit seinem Fernsehkanal die Verbreitung von nicht-regierungskonformen Positionen gewährleistete als auch dezidiert für eine pro-europäische Ausrichtung der Ukraine stand. Den andauernden Konflikt im Osten des Landes wollte oder konnte er aber nicht verhindern: Die ukrainische Armee begann im Sommer 2014 im Osten eine sog. Anti-Terror-Operation gegen die in ihrer Wahrnehmung separatistischen Gruppen. Diese scheinen allem Anschein nach von Russland militärisch, logistisch und personell unterstützt zu werden, was der Kreml und Putin aber bestreiten. Ein tragischer und wohl in der Bewältigung und Handhabung solcher Unglücke präzedenzloser und würdeloser Tiefpunkt ist ohne Zweifel der Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17, eines internationalen Linienflugs von Amsterdam nach Kuala Lumpur, der am 17. Juli 2014 im Luftraum über dem zwischen ukrainischen Streitkräften und Separatisten umkämpften Gebiet von einer Rakete getroffen wurde, wobei alle 298 Insassen ums Leben kamen. Vermutlich handelte es sich dabei um einen versehentlichen Abschuss durch eine Flugabwehrrakete im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ostukraine. Auch wenn sich die Schuldfrage nicht abschließend klären lässt, nachhaltig verstört das Verhalten der zu dem Zeitpunkt das Gebiet kontrollierenden Separatisten, die Plünderungen nicht verhinderten oder sich sogar selbst daran beteiligten bzw. den internationalen Bergungs- und Untersuchungskräften den Zugang zum Absturzort lange verweigerten.

Die Parlamentswahlen im Oktober 2014 brachten schließlich eine Mehrheit für die alles in allem als gemäßigt zu bezeichnenden Parteien, über deren Fortune gegenwärtig noch nicht geurteilt werden kann. Fest steht allerdings, dass das Sterben in der Ostukraine weitergeht. Das abermals unter Vermittlung der EU und der OSZE sowie unter der Beteiligung der Russländischen Föderation, der Ukraine sowie der Separatisten der sog. Volksrepublik Donbass bestätigte Minsker Abkommen von Anfang September 2014 hat weder zur Einstellung der Kampfhandlungen geführt noch zur Aufnahme tatsächlicher Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Mittlerweile befinden sich – einmal mehr kaum beachtet von westlichen Medien – mehrere Hunderttausend Menschen auf der Flucht aus den Kampfgebieten bzw. der annektierten Krim. Da diese mehrheitlich innerukrainisch unterwegs sind bzw. in der Russländischen Föderation und damit bei einem hauptverantwortlichen Akteur der Krise Zuflucht suchen, bleibt das Interesse des westlichen Europa gering – wie so häufig im Zusammenhang mit der Ukraine. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll angefangen.

Der Auftritt Ruslanas beim – wie es im Volksmund immer noch heißt – Grand Prix Eurovision de la Chanson in Istanbul 2004 war in musikalischer Hinsicht ein weiterer Meilenstein des Siegeszugs des sog. Ethnopops. Dieser vermischt Elemente zeitgenössischer populärer Musik mit denen der Volksmusik und entwickelte sich seit Ende der 1990er Jahre höchst lukrativ. Vor allen Dingen die Vertreter des ehemaligen Ostblocks hatten schon einige Jahre zuvor damit begonnen, diese musikalische Symbiose aus Tradition und modernem Stil auf diesem Musikfestival zu popularisieren – wenn auch nicht gleichermaßen erfolgreich. Der Auftritt Ruslanas und ihrer Mitstreiter verband allerdings sehr medienwirksam archaisch präsentierten Sex mit stampfenden Rhythmen, welche sich, so konnte man allerorten lesen, an der traditionellen Musik der in den Karpaten beheimateten Volksgruppe der Huzulen orientiert haben sollen. Er wäre vermutlich dennoch rasch vergessen worden, hätte jene Ruslana nicht eine gewisse Rolle beim politischen Umbruch in ihrer Heimat nur wenige Monate später gespielt: bei den Ereignissen rund um die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine nämlich, der Orangen Revolution. Gerade die Musik – eine spezifische, ukrainische Popularmusik – spielte bei diesem Umbruch eine kaum zu unterschätzende Rolle. Ein ukrainischer Historiker sprach in diesem Zusammenhang begeistert von einem »ukrainischen Woodstock« auf dem Majdan, dem Kiever Hauptplatz – wobei das ukrainische Woodstock jedoch ungleich stärker politisiert war als sein vermeintliches historisches Vorbild aus dem Jahr 1969. Manche mochten sich allerdings daran erinnern, dass bereits der Systemwechsel in der Ukraine in den Jahren 1990 bis 1992 musikalisch begleitet gewesen ist: Wie auch im Baltikum, wo im estnischen Fall sogar von einer »Singenden Revolution« die Rede war, gehörte Musik zwar zu den unabdingbaren Bestandteilen der abgehaltenen Volksversammlungen, doch ganz anders als fünfzehn Jahre später in der Ukraine.

In der Umbruchphase der Sowjetunion stand traditionelles Liedgut, oft mit stark religiösen Texten, nämlich im Mittelpunkt der Aufmärsche. Das von MykolaLysenko (1842–1912), einem der bedeutendsten ukrainischen Komponisten der Neuzeit, vertonte Gedicht Hyrhorij Konys’kyjs etwa, »Großer Gott, Du Einziger, schütze unsere Ukraine« (»Bože Velykyj, Jedynyj, Nam Ukraïnu chrany«), erklang beispielsweise Anfang der 1990er Jahre buchstäblich aus aller Munde.2004 hingegen stand Ruslana gemeinsam mit ihren Kollegen und den Politikern, die sich im Wahlbündnis »Naša Ukraïna« (»Unsere Ukraine«) zusammengefunden hatten, auf dem Majdan in Kiev und hatte aus Protest gegen den zweiten, allem Anschein nach gefälschten Wahlgang um die Präsidentschaft vom 21. November 2004 einen Hungerstreik angekündigt. Auffällig viele dieser Musiker, die für den oppositionellen Kandidaten Viktor Juščenko und für den politischen Wechsel in der Ukraine eintraten, stammten aus dem westlichen Landesteil, dem ehemaligen Galizien, der im Allgemeinen als Hort des ukrainischen Nationalismus gilt; nicht nur Ruslana selbst, auch die Gruppe »Tartak«, die mit dem Lied »Ja ne choču bohater Ukraïny« (»Ich will kein Held der Ukraine sein«) reüssierte, die Sängerin Talita Kum sowie die mittlerweile über die Ukraine und die Russländische Föderation hinaus sehr populäre Band »Okean Elsy« (»Elsas Ozean«). Mit deren Sänger Svjatoslav Vakarčuk hatte Ruslana übrigens einige Zeit später noch mehr gemein: Nach der Orangen Revolution versuchten sich beide eine Zeitlang als Politiker. Für das siegreiche Wahlbündnis des neuen Präsidenten Viktor Juščenko »Naša Ukraïna« saßen sie als Abgeordnete im ukrainischen Parlament, der »Verchovna Rada«: Ruslana zwischen Anfang 2006 und Mitte 2007, und Vakarčuk demissionierte im September 2008 nach nur zwölf Monaten. Dem Vernehmen nach sollen beide von der auch nach dem politischen Umbruch ungelösten Dauerkrise des Parlaments enttäuscht gewesen sein.

Die Ukraine seit 1991

Enttäuschung herrschte mittlerweile bei vielen Ukrainern, welche im kalten Winter 2004/2005 die Orange Revolution begeistert mit Demonstrationen, Streiks und zivilem Ungehorsam unterstützt hatten. Die politischen Verhältnisse blieben instabil, die Weltwirtschaftskrise hatte das Land mit voller Wucht getroffen, und der seit dem Umbruch allwinterliche Gaskrieg mit der Russländischen Föderation zermürbte viele. Dabei war anfangs, zwischen November 2004 und Januar 2005, die Euphorie groß: Nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen versammelten sich Hunderttausende täglich trotz Minustemperaturen auf dem Unabhängigkeitsplatz der Hauptstadt. Sie tauchten ihn in ein Meer aus Blau-Gelb, den ukrainischen Nationalfarben, und Orange, welche seitdem als Farbe des Sieges gilt. Gewählt hatte diese der spätere Sieger Juščenko schon zwei Jahre vorher, nach der Besteigung des höchsten Bergs der Ukraine, des Goverlo in den Karpaten. Offenbar hatte er sich bei der Farbwahl von der in den 1980er Jahren während des Kriegsrechts im polnischen Wrocław entstandenen oppositionellen »Pomaraczowa Alternatywa« (»Orange Alternative«) inspirieren lassen, die auf ironische Art und Weise mit vielen Aktionen auf die politischen Umstände aufmerksam machte.

Ein erster Wahlgang am 31. Oktober 2004 hatte keinem der beiden erstplatzierten Kandidaten, Juščenko und Viktor Janukovyč, amtierender Ministerpräsident und Wunschkandidat des Präsidenten Leonid Kučma (geb. 1938), die notwendige Mehrheit beschert. Die regelhaft zu Wahlen in der ehemaligen Sowjetunion ausschwärmenden Beobachter der OSZE beurteilten die Vorgänge bei diesem Urnengang als problematisch und reklamierten noch eine Verschlechterung gegenüber der letzten Wahl von 1999, bei der Kučma in seinem Amt bestätigt worden war. Die Bevölkerung nahm diese Einschätzung noch mehr oder weniger ruhig auf. Alle Hoffnungen derjenigen ukrainischen BürgerInnen, die auf einen politischen Wechsel setzten und mehrheitlich im Zentrum und im Westen des Landes beheimatet waren, ruhten nämlich auf der für den 21. November anberaumten Stichwahl. Aus dieser ging Janukovyč mit einem Vorsprung von drei Prozentpunkten hervor. Allerdings mussten die von der OSZE entsandten Wahlbeobachter, im Gegensatz zu ihren Kollegen aus der Russländischen Föderation, noch gravierendere Verstöße feststellen als bereits im Oktober: Zu den systematischen Übertretungen zählten sie nun u. a. die Zerstörung von Wahlurnen, Mehrfachwahlen, Erpressung von Wählern, Bestechung und spürbaren Druck auf WählerInnen und WahlhelferInnen. Massenproteste in Kiev und bald in weiten Teilen des Landes waren die Folge. Schon zwei Tage nach der Wahl annullierte der Oberste Gerichtshof das Ergebnis und ordnete für den 26. Dezember eine Wiederholung an. Diese verlief den Verlautbarungen nach korrekt ab. Juščenko konnte sie eindeutig mit einem Vorsprung von fast acht Prozent der Stimmen für sich entscheiden. Die Orange Revolution hatte gesiegt.

Dass der Abstand zwischen Juščenko und seinem Opponenten Janukovyč indes weitaus weniger deutlich ausgefallen war als erwartet, lag an dem vom Zentrum und dem Westen des Landes stark abweichenden Wahlverhalten im Osten: Nicht nur auf der primär russischsprachigen Halbinsel Krim, ohnehin ein »Sorgenkind« ukrainisch-nationaler Zentralisten, sondern auch in den übrigen Gebieten der ehemaligen, im Zarenreich als Süd- oder Neurussland bezeichneten östlichen Bezirke hatte der als prorussisch geltende Ministerpräsident gesiegt. Seine eigentliche Basis aber lag im Donec’k-Gebiet, wo angeblich 96 Prozent für ihn gestimmt haben sollen, traut man den von dort eingelangten, allerdings zu bezweifelnden Zahlen. Als ehemaliger Gouverneur war er dieser Region stark verbunden, hatte sich für die Subventionierung der stark defizitären Kohlegruben eingesetzt und dafür gesorgt, dass Löhne, Gehälter und Pensionen auch zu einem Zeitpunkt pünktlich ausgezahlt wurden, als dies in den meisten anderen Gebieten der Ukraine eher die Ausnahme war. Dieser Verlierer wollte sich trotz seiner unzweideutigen Niederlage nicht gleich in sein Schicksal fügen, musste dem Druck der Demonstranten allerdings bald weichen, nachdem sein bisheriger Mentor Kučma die Zeichen der neuen Zeit erkannt hatte und sich dem Wechsel nicht länger verschloss. Selbst Russlands damaliger Präsident Putin, der sich mit erheblichen finanziellen Mitteln und seinem Know-how für ihn engagiert hatte, wandte sich von dem Garanten einer dezidiert prorussischen Politik ab. Ende Oktober 2004 hatte er noch gemeinsam mit Janukovyč und Kučma in Kiev eine Militärparade abgenommen, die viele Beobachter an eine Inszenierung im sowjetischen Dekor erinnerte. Der Sieg der Orangen Revolution galt nicht umsonst als eine der größten außenpolitischen Schlappen Putins seiner ersten beiden Amtszeiten. Gleichwohl ist der Terminus »außenpolitisch« insofern verhandelbar, als weite Kreise der russischen Nomenklatura die ukrainische Frage auch nach der Auflösung der UdSSR weiterhin als Teil der eigenen Innenpolitik ansehen. Dem Kreml gelten die ehemaligen Gebiete der untergegangenen UdSSR jedenfalls als »nahes Ausland« und damit als ureigene russische Interessensphäre. Dass in Russland die Auffassung von einer kulturellen, religiösen und ethnischen Einheit der Russen, Weißrussen und Ukrainer zu einer festverwurzelten Denkgewohnheit gehört, belegte nicht erst die Krise von 2014, sondern beispielsweise bereits eine in der Russländischen Föderation im Jahr 1997 durchgeführte Befragung. Darin zeigten sich 56 Prozent der befragten Russen davon überzeugt, es handle sich bei diesen drei Gruppen um ein Volk. Sie teilen somit die Meinung politischer oder intellektueller Vordenker wie des mittlerweile verstorbenen Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatolij Sobčak. Wie immer man auch zu dieser Frage stehen mag, der russische Faktor in Abgrenzung und in der Symbiose ist nicht nur für die weitere Entwicklung der Ukraine von großer Bedeutung, er war es auch in der Vergangenheit.