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Der neue Roman der italienischen Bestsellerautorin – endlich auf Deutsch 1978: Auf einer Überfahrt von Venedig nach Piräus begegnen sich Edith und Andrea; sie, die gerade Abitur gemacht hat, er, Kapitän des Schiffes. Andrea ist von Ediths rebellischer Art fasziniert. Er löst seine Verlobung. Doch Edith gibt ihm keinerlei Sicherheit, und als Andrea ihr einen Heiratsantrag macht, weist sie ihn schroff zurück. Ihre Wege trennen sich. Doch das unsichtbare Band des Lebens führt sie wieder zusammen. Jahre später begegnen sie sich erneut, zunächst verbunden durch eine innige Freundschaft, die bald in eine tiefe Liebe mündet. Eine Liebe, die unerwartetes Glück schenkt und ebenso einen traumatischen Schicksalsschlag verkraften muss. Susanna Tamaro erzählt auf poetische Weise von zwei Menschen, die sich finden, verlieren und wiederfinden – von einer Liebe, die über den Tod hinaus reicht. »Flüssig, dialogreich und mit Poesie geschrieben.« Hörzu »Die Sprache lässt den Leser nicht los. In ihr liegt eine Traurigkeit, die anzieht und neugierig macht.« OÖ Nachrichten
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Seitenzahl: 273
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelUna grande storia d’amore bei Solferino, Mailand.
© by Susanna Tamaro Deutsche Erstausgabe © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg Coverabbildung von Damiano Baschiera / Unsplash
Gewidmet meinen Eltern, die trotz ihrer verheerenden Fragilität den Mut hatten, mich auf die Welt zu bringen.
Eine große Anzahl von Weisen ist Heil für die Welt.Das Buch der Weisheit 6.24
Schon zu lange
Zwei Tage lang hat es ununterbrochen geregnet. Tief hängende, gebauschte Wolken hielten den Horizont jenseits des Meeres verhüllt. Das Haus ist feucht, das Herz müde, die Zeit rinnt auf dem Sofa vor dem Kamin dahin, mit Büchern, die mich gleichgültig ließen.
Am Spätnachmittag raffte ich mich zu einem kurzen Spaziergang auf. Erst auf dem Rückweg bemerkte ich, dass sich im Westen, wo man an klaren Tagen die bläuliche Silhouette Korsikas sehen kann, die graue Wand auftat, zwei Kumuluswolken waren auseinandergetreten, und in dem Raum zwischen ihnen waren erst zaghaft, dann intensiver, Sonnenstrahlen hervorgekommen; hatten langsam und beharrlich immer weitere Schichten des Himmels für das Licht eingenommen. In der Zeit, die ich brauchte, um die letzten Dinge in Ordnung zu bringen und die Fensterläden zu schließen, hoben sich die Wolken wie ein schwerer Theatervorhang und ließen hinter sich die zartrosa Färbung erkennen, die bei Sonnenuntergang die Wiederkehr schönen Wetters verheißt. Vor dem Hintergrund dieser Hoffnung erschienen die noch schwarzen und kahlen Äste und Zweige der Sträucher im Garten wie Sätze in der für mich geheimnisvollen Sprache, die du so gern entziffert hast.
Ich ging in die Küche: Es war kalt dort, zu lange schon hatte nichts auf dem Herd gebrutzelt. Ich machte mir einen Tee und einen Toast mit dem Wenigen, was im Kühlschrank war. Mit einem kleinen Tablett ging ich zum Sofa, das große Holzscheit war fast heruntergebrannt; ich legte noch eins darauf und fachte mit dem Blasebalg die Glut etwas an, dann ließ ich mich in die Kissen sinken, schaltete den Fernseher ein und aß zerstreut meinen Toast, während eine Reihe Politiker mit ihren belanglosen Reden die Stille des Raums erfüllten.
Bedeckt nur mit einem Plaid, schlief ich ein.
In der abstrusen Wirrheit der Träume erschienen irgendwann deine geliebten Bienenstöcke. Keine Biene flog hinein, keine heraus, es schien kein Leben mehr in ihrem Inneren zu sein. Wie lang waren sie jetzt schon sich selbst überlassen? Seit vielen Monaten, vielleicht zu lang. In den zahlreichen kurzen Wachphasen verspürte ich Gewissensbisse. Ich sollte mich um die Bienen kümmern, es wenigstens versuchen. Vielleicht morgen, dachte ich, wenn die Sonne scheint, wenn … Dann mischte der unruhige Schlaf der Unglücklichen die Karten neu und überließ mich der Dunkelheit der Nacht.
Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Regen hatte den Pflanzen und der Wiese im Garten gutgetan; noch war das Grau des Winters vorherrschend, doch schon brach sich das frühlingshafte Drängen der Erneuerung Bahn. Ein leuchtend grüner Grashalm, an den Ästen das sichtbare Schwellen der Knospen, aus denen in Kürze die Blätter sprießen würden. Ich wartete bis zur Mittagszeit, wie ich es oft bei dir gesehen hatte, und achtete darauf, dass sich auch kein Windhauch regte. Mit einer gewissen Furcht dachte ich an diese Kästen mit ihrem bedrohlichen Inhalt.
In den letzten Jahren hast du fast manisch von deinen Bienen gesprochen. Wenn wir Gäste hatten, unterbrach ich dich nach einer Weile diskret, weil ich fürchtete, sie könnten sich bei deinen begeisterten Schilderungen der Welt der Hautflügler langweilen. Wenn wir allein waren, fragtest du mich manchmal: »Hörst du mir zu?« Und wenn ich mit ausweichendem Blick nickte, sagtest du wie eine strenge Lehrerin: »Dann wiederhole mir, was ich gesagt habe.« Da versuchte ich zu mogeln, und ich tat es so offenkundig, dass du lachen musstest.
Jetzt bereue ich das. Warum habe ich dir nicht zugehört? Vielleicht, weil in der Zerstreutheit, die mich oft überkommt, unter allen möglichen Gedanken dieser nie aufgetaucht ist: dass du gehen könntest und ich als Hüter deiner Bienen hier zurückbleiben würde.
Bruchstücke tauchten aus der Erinnerung auf, aber es waren konfuse Bruchstücke, ich hätte sie nie zusammensetzen können auf der Suche nach etwas, das Sinn hat. Nur ein Bild stand mir klar vor Augen: Wie du mit ruhiger Stimme leise summend zu diesen Kästen hingingst und sanft an die Holzwand klopftest wie an die Tür eines Kinderzimmers, bevor du mit einer langen Stange den Deckel abhobst.
»Darf ich?«, hast du immer gefragt und erst dann vorsichtig den Bienenstock aufgedeckt.
»Warum machst du das?«, fragte ich dich eines Tages.
»Weil das freundlich ist«, lautete deine Antwort.
»Freundlich, warum?«
»Wenn du in der Dunkelheit leben würdest, möchtest du auch gewarnt werden, wenn das Licht hereinbricht.«
Auf wie viele Arten kann der Wind wehen?
Und wie viel Stille kann in einem Haus sein, in dem die einzigen Schritte, die widerhallen, deine eigenen sind? Wenn auf dem Meer der Wind dein Boot herumwirft, hüllt sein Gebrüll dich ganz ein, und außer deiner eigenen Stimme hörst du nur das Klappern all dessen, was sich bewegt. Wenn dagegen starker Wind auf ein Haus trifft, sind es die Zimmer, die sprechen: Der klappernde Fensterladen, die ächzenden Tür- und Fensterrahmen sind Geräusche eines Lebens, die aus einem geheimnisvollen Winkel hervorbrechen und mit der beharrlichen Treue der Erinnerung um dich herumtanzen. Was ist dieses Summen? Etwa der Kühlschrank? Und diese Art düstere Klage, sind das die Angeln der Speichertür, die du schon längst hättest schmieren sollen? Oder vielleicht der eintönige Gesang eines Nachtvogels, das Knarren der Bodendielen im Zimmer nebenan? Du reißt die Tür auf und rufst in barschem Ton: »Wer ist da?« Aber die einzige Antwort ist wieder nur der Wind.
Werden die Häuser von Toten bewohnt? Oder nur von unserer Angst?
Es wird keine anderen geben
Als wir dieses Haus zum ersten Mal sahen, war es wenig mehr als eine Ruine. Es war die Zeit der ersten Mobiltelefone, und diese Neuigkeit erfüllte uns mit den schönsten Hoffnungen für die Zukunft. Eben vom Handy aus riefen wir die Nummer des Maklers an, die auf einem bereits ausgebleichten Schild an der Haustür stand.
Mit der Gewissheit des Wünschelrutengängers riefst du schon von Weitem: »Ja, das ist es. Kein Zweifel.«
»Wie kannst du dir so sicher sein? Vielleicht finden wir in einer Woche eins, in das wir uns verlieben.«
Du hast den Kopf geschüttelt. »Es wird keine anderen geben. Nicht zu klein, nicht zu groß, mit ausreichend Grund, geschützt gegen den Nordwind und nach vorne offen, stets bereit, die Sonne aufzunehmen. Es gibt weise Bäume in der Nähe, und die Sträucher machen fröhlich.«
Dinge zu sehen, die kein anderer sieht, war eine deiner einzigartigsten Begabungen. Ich erschauerte bei der Vorstellung, dem Makler zu sagen: »Wir kaufen es, weil es dort weise Bäume gibt.« Also brachte ich unter Aufbietung all meines gesunden Menschenverstands vor: »Mir scheint, es verlangt ein bisschen sehr viel Arbeit.«
Aber du warst schon mit der Aufteilung der Räume beschäftigt. Hier dein Arbeitszimmer, daneben das Schlafzimmer, dort die Küche, das Bad. Und ein Eckchen im Garten, wo wir die Schaukel für die Enkel aufhängen würden, die bestimmt eines Tages kämen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagtest du und riebst dir die Hände, als wären sie schon vom Staub der Umbauarbeiten bedeckt, »ich kümmere mich um alles.«
»Man sieht das Meer nicht«, bemerkte ich, mittlerweile fast schon resigniert.
Da bist du stehen geblieben und hast geschwiegen, ein paar Möwen flogen über unsere Köpfe hinweg; du hast den Finger in die Luft erhoben, als wolltest du die Windrichtung bestimmen oder ein Kind tadeln.
»Man sieht es nicht … aber hör doch!«
Die Steine knirschten unter meinen Schuhen, die Möwen verschwanden aus unserem Blickfeld. Ich hob den Kopf: Von links kam aus der Ferne das Geräusch einer Motorsäge. Als sie verstummte, hörte ich von der anderen Seite schwach, aber unverwechselbar das Geräusch der Wellen, die sich an den Felsen brachen.
Wieder einmal hattest du recht.
Gegen deine Energie anzukommen war sehr schwierig, und so wurde diese verlassene Ruine mitten auf einer Insel unsere Heimstatt.
Die Umbauarbeiten waren langwierig und kompliziert, weil wir noch nicht dort wohnten. Abwechselnd, je nach unseren Arbeitsverpflichtungen, fuhren wir auf die Insel und beaufsichtigten ein paar Tage lang die Baustelle. Als wir zwei Jahre später an einem kalten Märzmorgen einziehen konnten, war der Garten noch wild.
Sofort hast du an der Tür und an den Ecken des Hauses Glöckchen aufgehängt, die du von einer deiner Asienreisen mitgebracht hattest. Schon eine leise Brise bewegte sie sacht.
»Das ist ein kleiner Engelschor«, hast du gesagt, »ein Willkommenschor.«
Du hast die Tür geöffnet, und dort im Eingang, wo es noch nach frischer Farbe roch, haben wir uns umarmt. Ein dicker Mantel, mehrere Pullover, und unter all diesen Schichten du. Die Zerbrechlichkeit eines Vögelchens im Schutz seines Nests. Ich weiß nicht, was du in dem Moment von mir dachtest. Ich, der Große und Starke, der auch im Sturm den Kurs hält? Aber ich erinnere mich, dass du den Kopf an meine Brust lehntest, ich trug einen alten blauen Wollpullover.
»Wie viele Jahre sind das jetzt?«, fragtest du.
»Viele«, antwortete ich und streichelte dein Haar.
Der Wind hatte sich gelegt, tiefe Stille umgab uns. In dieser Umarmung spürte ich deinen Herzschlag. Vielleicht du auch den meinen. Das Glöckchen an der Haustür klingelte leise.
»Schwierig?«, fragtest du.
»Ja«, sagte ich, und wir verharrten noch ein wenig in dieser Umarmung.
Schlaflose Nächte in einem leeren Haus sind etwas schwer Erträgliches. Aufstehen, in die Küche gehen, etwas zu essen holen und wissen, dass es unnütz ist, die Ohren zu spitzen, weil da nebenan niemand ist, keine Atemzüge, keine abgerissenen Worte aus wirren Träumen; essen und wieder ins Bett gehen, sich zusammenkauern in der Furcht, aus der warmen Kuhle hinauszumüssen. Wenn man in der Stadt lebt, gibt es Ablenkung: die Wasserspülung von oben, der zu laute Fernseher eines anderen Schlaflosen, der Verkehr auf der Straße, ein Krankenwagen, ein Feuerwehrauto, zwei Betrunkene, die zu später Stunde ausgerechnet unter deinem Fenster ihren Streit ausfechten, aber in einem Haus zwischen Himmel und Meer, welche Zerstreuung, welchen Rettungsanker kann es da geben? Da ist nur dein Körper, dein Geist, die Gespenster, die das Haus und die Dinge um dich herum bewohnen.
Aus dem Haus voller Leben ist ein Geisterschiff geworden. Keiner lenkt es mehr, weil niemand dazu imstande ist. Im Bruchstück eines Traums habe ich den Sextanten in der Hand, ich drehe und wende ihn, ich sehe ihn an, und mir wird klar, dass ich ihn nicht mehr zu gebrauchen weiß. Das ist überholt, flüstert mir eine der geheimnisvollen Stimmen zu, die im Traum zu uns sprechen. Es gibt Bordcomputer, was willst du mit diesem Stück Metall anfangen? Das stimmt, sage ich mir, aber die Angst in mir wächst.
Vielleicht ist diese Verwirrung ein Zeichen des Alters. Beginnende Demenz, das Wissen um die Dinge verlieren; ich kann keine Route mehr zeichnen, auch weiß ich nicht, nach welcher Seite ich das Steuerrad drehen muss; der Horizont schwankt nach den Launen der Strömung. Zerrissene Segel, Holz und Messingbeschläge matt wegen mangelnder Pflege, driftet das Geisterschiff dahin in Erwartung des Felsens, der seinen Tagen ein Ende bereiten wird. Ich denke noch: Nicht einmal an den Sternen kann ich mich mehr orientieren, dann versinke ich in dem traurigen Schlaf, den Tabletten schenken.
Um sechs bin ich schon wach, mit einem völlig leeren Tag vor mir. Das Haus ist umhüllt vom Heulen des Maestrale. Ich versuche, den Kamin anzumachen, doch das erweist sich als unmögliches Unterfangen; bei jedem Windstoß strömt der Rauch in dichten und mächtigen Schwaden ins Zimmer. Um nicht zu ersticken, muss ich die Fenster aufreißen, dann fährt der Wind ins Zimmer, lässt die Bilder klirren und wirbelt die herumliegenden Blätter auf.
Ich gehe in die Küche und ergebe mich der modernen Technik des Pelletofens. Ich habe ihn gestern Abend vorbereitet, und er funktioniert mit Fernbedienung. Ein Timer schaltet sich ein, und die komprimierten Zylinder entzünden sich. Der Küchentisch ist voller Krümel und schmutziger Teller, die darauf warten, in die Spülmaschine gesteckt zu werden. Die Milch im Kühlschrank ist abgelaufen, also entscheide ich mich für etwas Warmes.
Die Spuren deiner Vorlieben sind noch überall sichtbar: Teedosen gibt es mindestens zehn; ich nehme willkürlich eine davon, der Tee ist sehr dunkel und hat einen rauchigen Geschmack.
Du hattest die Angewohnheit, schon abends den Tisch für das Frühstück am nächsten Morgen zu decken.
»Warum machst du dir die Mühe?«, fragte ich dich, als wir eben auf die Insel gezogen waren. »Es ist doch nicht viel mehr als etwas Tee und Kaffee.«
»Weil das eine Übung in Hoffnung ist.«
»Was hat Hoffnung mit Keksen und Marmelade zu tun?«
»Das hat mit Tag und Nacht zu tun. Angesichts der Dunkelheit sind wir wehrlos, wir haben keine Sicherheiten, wir können nur hoffen, einmal mehr das Tageslicht wieder zu erblicken. Sich auf den kommenden Morgen vorzubereiten, bedeutet, das Licht zur Wiederkehr einzuladen.«
Diese Beobachtung von dir beeindruckte mich. Ich hatte die Nacht nie als Moment der Ohnmacht gesehen. Ich konnte mit dem Sextanten umgehen, ich konnte in den Sternen lesen wie in einer Fibel: Da gab es Wolken, sicher, aber da war auch der Wind, der sie vertreiben würde. Ich hatte nie an die Dunkelheit wie an etwas gedacht, das einen verschlingen könnte.
Erst heute Morgen, nach dieser Nacht, vor diesem Tisch voller Krümel und der Spüle voller Geschirr habe ich begriffen, dass du recht hattest. Die Hoffnung aufrechterhalten oder sich ergeben, weiterfahren auf der Suche nach einem Leuchtturm oder die Ruder ins Boot ziehen und auf den Zusammenprall mit dem Felsen warten.
Bin ich oberflächlich gewesen?
Bin ich dumm gewesen?
Der Maestrale hat einen Fensterladen aus den Angeln gehoben, der nun in unregelmäßigem Rhythmus schlägt. Tock-tock, tock-tock. Wenn das eine Antwort auf meine Fragen ist, so bin ich nicht imstande, sie zu verstehen. Unterdessen hat sich das Pellet im Ofen von Braun nach Rot verfärbt: lauter winzig kleine Glutpünktchen. Ein gezähmtes, geordnetes Feuer, ohne das wütende Geknister und den beißenden Rauch eines noch zu feuchten Holzscheits.
Ist dies das Feuer, in welches sich unsere Liebe im Alter verwandelt hätte?
Und welches war das Feuer, das in unserer Jugend brannte?
Trotz des Maestrale habe ich für einen Spaziergang über die Insel das Haus verlassen. Ob man mit oder ohne Wind geht, ändert alles: Wenn du in der Stille gehst, sind die Gedanken in deinem Kopf vor dir hingebreitet wie ein geordnetes Feld, du lenkst deine Schritte und weißt, wohin du unterwegs bist; aber wenn du bei Wind gehst, braust alles in deinem Kopf, alles gerät durcheinander und verwirrt sich; du musst das Gleichgewicht halten, in den Beinen kurz abfedern, bevor die Bö dich trifft; du kämpfst unentwegt mit dem, was außer dir ist, und das bringt zum Vorschein, was in der Stille verborgen bleiben würde.
Kurz vor der Steilküste setzte ich mich. Die Wellen waren hoch, sie brachen sich mit großem Getöse. Für jemanden wie mich, der sein Leben auf dem Meer zugebracht hat, ist es merkwürdig, mitten im Sturm tatenlos zu sein. Wäre ich an Bord eines Schiffes gewesen, hätte ich bei diesem Wetter alle Hände voll zu tun gehabt, aber hier konnte ich einfach ruhig sitzen bleiben und den Wellen zuschauen.
Plötzlich tauchte in meiner Erinnerung ein anderes Pfeifen auf, das der Bora, die um das Haus meiner Kindheit wehte.
An einem Tag mit Bora war ich in die Bibliothek meiner Eltern geschlüpft. Ein bis an die Decke mit Büchern ausgekleideter Raum. Bücher meines Vaters, meines Großvaters, meines Urgroßvaters: Das papierene Gedächtnis meiner Familie war dort verwahrt. Ein großes Fenster ging auf den Garten, aber die Läden wurden nie geöffnet. Ein Schreibtisch, ein verstaubter Globus, ein Papierkorb, in den nie jemand Papier warf. Kein Ofen, kein Heizkörper. Die Wände verströmten die feuchte Eiseskälte des Winters, und diese Kälte setzte sich in den Büchern fest. Es war einer der unwirtlichsten Orte in dem großen Haus auf dem Hügel, und es sollte einer meiner Lieblingsorte werden. Ich nahm eine Decke und eine Taschenlampe mit und verbrachte dort ganze Nachmittage, wie ein neugieriges Mäuschen.
Bei einem meiner ersten Besuche, während der Wind durch die Ritzen und Spalten pfiff und die Vorhänge bauschte, als ob es Gespenster wären, hatte ich Marco Polos Il Milione aus einem der unteren Regale geholt. Da mein Vater mir sonntags ab und zu den »Corriere dei Piccoli« mitbrachte, hoffte ich, auf diesen Seiten weitere Abenteuer von Signor Buonaventura zu finden, des legendären Besitzers eines Eine-Million-Scheins. Welche Enttäuschung, als ich feststellen musste, dass da keine Zeichnungen waren. Ich kannte die Personen nicht, von denen auf diesen Seiten die Rede war, außer den Heiligen Drei Königen. So legte ich das Buch auf den Boden, hüllte mich in die Decke und begann zu lesen.
Aus anderen Gründen war auch in deinem Leben Il Milione ein wichtiges Buch.
Haben wir je über die Heiligen Drei Könige gesprochen?
Ich kann mich nicht erinnern.
Zum Mittagessen kehrte ich nach Hause zurück, und vor der Dämmerung hörte der Maestrale auf zu wehen, daher konnte ich endlich im Wohnzimmer den Kamin anmachen. Das Holz ist das der Strandkiefer, die wir in einer Windhose wie einen Stängel umfallen sahen; ich habe es mit der Motorsäge zugeschnitten, während du die Zweige und Pinienzapfen eingesammelt hast.
Jetzt brennt es in einem munteren Feuer, während Harzgeruch sich im Raum verbreitet. In den Flammen erscheinen wieder die Heiligen Drei Könige, erst die Hufe des Kamels von Melchior, dann Kaspar und Balthasar. Trotz ihrer prächtigen Gewänder wirken sie traurig.
Es war die Lektüre des Milione, die mir den Grund für ihre Melancholie enthüllte.
In Bethlehem angekommen, so erzählte Marco Polo, hätten sie zu Füßen des Kindes ihre Gaben niedergelegt, und dabei hätten sie sich gesagt: Wenn der Prophet nach dem Gold greift, ist er ein weltlicher Herrscher. Wenn er den Weihrauch annimmt, ist er ein Gott. Wenn er die Myrrhe ergreift, ist er ein Arzt und Heiler.
Und was hatte das Kind ihnen im Tausch gegeben? Ein verschlossenes Kästchen.
Sie hatten sich wieder auf die Reise gemacht und das Kästchen wie etwas Kostbares behandelt. Auf halbem Weg hatten sie der Neugier jedoch nicht widerstehen können und das Kästchen geöffnet.
Was für eine Enttäuschung!
Darin war nichts weiter als ein nutzloser Stein.
War das etwa eine Art, ihre Gaben zu erwidern, die extreme Mühe ihrer Reise zu belohnen? Vor lauter Enttäuschung hatten sie das Kästchen genommen und in einen nahegelegenen Brunnen geworfen, doch kaum war es am Grund aufgetroffen, war etwas Außergewöhnliches geschehen. Ein helles Feuer war vom Himmel herab in diese Brunnentiefe gestürzt, doch statt im Kontakt mit dem Wasser zu verlöschen, war es nur umso höher aufgelodert. Es war an jenem Tag nicht erloschen, und auch am folgenden Tag nicht.
Vielleicht brennt es immer noch.
Dieses Feuer war in dem Stein verborgen, um den Kleinmut ihrer Herzen zu beleuchten. Sie hatten gesehen und nicht wirklich geglaubt.
Der Stein war ein Symbol für die Festigkeit des Glaubens, die von ihnen verlangt wurde. Er enthielt das Feuer, das nichts auslöschen kann. Wegen seines bescheidenen Äußeren hatten die Könige ihn verachtet und in den Brunnen geworfen. Sie hatten die Gelegenheit gehabt, wirklich reich zu werden, und waren extrem arm geworden.
Ich hätte sie trösten wollen, aber sie waren mit schlurfenden Hufen ihrer Reittiere schon aus dem Zimmer verschwunden.
Unterdessen haben sich die Scheite im Kamin in Glut verwandelt, ich kann nicht schlafen gehen, bevor das Feuer ganz erloschen ist. Die Flammen sind schnell und die Glut langsam. Sie scheinen mir zu sagen: »Hast du es eilig? Warte! Wir sind noch nicht heruntergebrannt.«
Während ich die Glut beobachte, wie sie grau wird, denke ich, dass eines Tages auch ich Gefahr gelaufen bin, mich so zu benehmen wie die Heiligen Drei Könige. Ich hatte ein Geschenk bekommen – das, dich kennengelernt zu haben –, und ich hatte es für einen solchen Stein gehalten, etwas Lästiges, ein Hindernis, von dem ich mich so schnell wie möglich befreien wollte. Ich hatte ein geregeltes Leben und Pläne für die Zukunft, die nicht viel anders waren als ein Zug, der auf eingefahrenen Gleisen dahinfährt.
Dass bei einem Gleis die Möglichkeit des Entgleisens besteht, war mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen.
Adel verpflichtet
Was war meine Bestimmung, als ich auf die Welt kam? Anwalt zu werden, wie mein Vater. Was war deine Bestimmung? Ich habe dich das nie gefragt, aber ich glaube, sie unterschied sich nicht groß von der deiner Mutter. Lehrerin werden, heiraten, das Leben deiner Eltern durch das Geschenk der Nachkommenschaft glücklich abrunden.
Mein Vater war Anwalt, wie sein Vater und auch mein Urgroßvater es gewesen waren: ein kleiner Provinzadliger und Beamter des Habsburgerreiches, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Cormòns gezogen war.
Eine herrschaftliche Villa mit der Annehmlichkeit von etwas Land rundherum, ein Stall mit Pferden und einer Kutsche, woraus im Lauf der Zeit das erste Automobil im Ort geworden war, die große Bibliothek, in der ich meine Zeit zubrachte, der Flügel, der von allen vergessen in einem Winkel des Salons stand, einige angeschlagene Porzellanteller, auf denen man den Schatten eines Adelswappens erkannte, das war es, was uns von den Leuten im Ort unterschied. Der ehrerbietige Respekt der Umgebung bestätigte die genetische Gewissheit, einer anderen Welt anzugehören.
»Vergiss deinen Adel nicht!« Das ist einer der ersten Sätze meines Vaters, an die ich mich erinnere.
Das Bewusstsein des Adels ist schon mit sechs, sieben Jahren in mein Leben getreten: Mit Kindern spielen, die ich ausgesucht hatte und nicht er, herumtoben, zu laut sprechen, unartig sein, oder schlimmer, es in der Öffentlichkeit sein, all das waren Verhaltensweisen, die mit diesem Satz geahndet wurden.
Was Adel sei, war mir, der ich 1950 geboren bin, ein absolutes Mysterium: etwas, das uns von den anderen unterschied, doch der Grund für diese Verschiedenheit war mir nicht klar. Wir waren nicht reich, oder besser, wir waren es nicht mehr.
Dieses große Haus mit den eisigen Zimmern war wie das Skelett eines Dinosauriers, das traurige Relikt eines vor Zeiten erloschenen Lebens. Die Ländereien waren noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verkauft worden, die Pferde waren verschwunden, und in der Garage stand eine Limousine, die nur mit Schwierigkeiten ansprang. Wir lebten von der Arbeit meines Vaters, von seiner Anwaltskanzlei in Görz. Meine Mutter hatte Geisteswissenschaften studiert und ein paar Aushilfsstunden in Griechisch und Latein gegeben, bevor sie heiratete.
Meine Eltern haben nach Kriegsende geheiratet. Ihre erste Begegnung hat in einem Zug stattgefunden, er war wegen eines Schadens stehengeblieben, und in der langen Wartezeit hatten sie Gelegenheit, Bekanntschaft zu machen. Ich habe sie nie gefragt, in welcher Jahreszeit das war, aber ich stelle mir vor, es war im Monat Mai: die erste Hitze, gerötete Wangen, diese subtile Erregung, welche die menschlichen Wesen erfasst, wenn ringsum das Leben üppig sprießt.
Wie hatten sie es angestellt, sich wiederzufinden? Sicher war nicht sie es, die die Initiative ergriff, das wäre unschicklich gewesen. Wahrscheinlich war er regelmäßig auf dieser Eisenbahnstrecke gefahren oder erwartungsvoll um die Schule herumgelaufen, in der sie unterrichtete.
Meine Mutter hieß Aldina, und für meinen Vater war dieser profane bürgerliche Name ein unüberwindliches Hindernis. So hat er in dem Moment, als er ihr den Verlobungsring schenkte und ihr den Antrag machte, eine eigenartige Bitte angefügt, nämlich die, ihren Namen zu ändern. In der Erregung des Augenblicks willigte sie ein und lachte über die Absonderlichkeit. In beiderseitigem Einverständnis haben sie über ihre neue Identität entschieden.
Sie würde Maria Vittoria heißen, für Freunde Mavi.
»Sind Sie, Aldina, hierhergekommen …«
»Sind Sie, Maria Vittoria …?«
In diesem Unterschied lag für meinen Vater die ganze Welt.
»Ich habe deine Mutter geheiratet, weil sie sehr schön war«, erzählte er mir eines Tages, als ich an der Schwelle zum Erwachsenenalter war, wir saßen unter der blühenden Glyzinie vor dem Haus. Den Grund, warum sie ihn geheiratet hat, habe ich nie erfahren.
Mütter sind geschickter im Schweigen.
Über dem Zusammenfinden von Paaren liegen oft Abgründe des Schweigens, und mit diesen Abgründen müssen die Kinder es früher oder später aufnehmen.
Ich habe ein genaues Bild von diesem Moment der Erleuchtung: An einem schwülen Nachmittag bäuchlings auf dem kühlen Fußboden liegend, lege ich ein altes Puzzle. Ich kann das Bild zusammensetzen, doch dann stutze ich. Kein Teil passt in die leer gebliebene Lücke. Hartnäckig versuche ich es wieder und wieder, doch irgendwann reißt mir die Geduld, und wütend zerstöre ich mein Werk, ich springe auf und versetze der Schachtel einen Tritt, bevor ich das Zimmer verlasse.
Ein Mosaikteil fehlt, und es wird für immer fehlen.
Dasjenige, das unser Dasein in der Welt rechtfertigt. Wessen Kind bin ich? Der Konvention? Der Selbstverständlichkeit? Eines Missbrauchs? Eines Irrtums?
Jetzt, da alle das Wort »Liebe« im Munde führen, jetzt, da die Kinder vom ersten Tag an in eine allzu klebrige Wolke dieses Gefühls oder dessen äußerlicher Darstellung gehüllt werden, ist es unwahrscheinlich, dass Menschen sich der Nacktheit ausgesetzt sehen, wie das in früheren Generationen der Fall war. Umgeben von gut gekleideten und lächelnden Schaufensterpuppen, erwidern sie selbstgewiss deren Lächeln, überzeugt, dass das Leben in diesen Ausdrücken der Befriedigung seine Erfüllung findet.
Wir, die wir mit den rauchenden Trümmern des Zweiten Weltkriegs hinter uns und der wirbelnden Dynamik des Wirtschaftswunders vor uns geboren wurden, sind dem Betrug nicht zum Opfer gefallen: Wir haben das Drahtgestell und die Zelluloidmaske der Schaufensterpuppe gesehen, und dieser Draht und dieses Zelluloid haben uns schlaflose Nächte bereitet. Weshalb bin ich auf die Welt gekommen? Da das Wort »Liebe« nicht vorgesehen war, begannen wir schon bald, mit unserem Schicksal zu hadern. Verstehen, wer ich bin, verstehen, was ich will, wohin ich gehen will, auf der Stelle wissen, dass die Energien, die wir einsetzen können, nicht die der Ruhe, sondern die des Zusammenstoßes sind.
Ohne Zusammenstoß keine Eroberung.
Ohne Eroberung keine Möglichkeit, sein Schicksal zu gestalten.
Mein Vater war kein schlechter Mensch, eher ein in seiner Durchschnittlichkeit befangener Mann. Er spielte die Rolle des Vaters, wie sein Vater und sein Großvater es getan hatten, nur dass die Welt sich in der Zwischenzeit geändert hatte. Ein Jahrhundert war zu Ende gegangen, und ein neues hatte begonnen. Zwei Kriege waren ausgebrochen, der Friede war wiedergekehrt, und das Familienvermögen war zerronnen. Er aber hatte ein Rollenmodell erlernt und hatte es wieder verwendet, ohne sich nach der Rechtfertigung seines Handelns zu fragen.
So war es gemacht worden, und so musste es für immer sein!
Das ist eine der heimtückischsten Fallen, die sich im Leben der Menschen auftun: Die Schuhe eines anderen anziehen und damit laufen, damit weitergehen, auch wenn sie zu klein sind, auch wenn sie drücken, auch wenn man sich wund läuft.
Bis zum Alter von zehn Jahren betrachtete ich meinen Vater mit der stillen Verehrung des Welpen, doch im Sommer zwischen dem Ende der Grundschule und dem Beginn der Sekundarschule geschah etwas, das in mir zu arbeiten begann wie die unterirdischen Triebe des Unkrauts, die den Asphalt aufwerfen können.
Es war Juli, und aus gegebenem Anlass hatte mein Vater sich von einem Freund einen roten Sportwagen geliehen. Der Anlass war, dass er mich nach Görz mitnehmen wollte, um mir seine Kanzlei zu zeigen, mir die Leute vorzuführen, mit denen er arbeitete, und die wichtigen Freunde, die er in der Stadt hatte.
Die Hinfahrt war sehr schön, es war noch nicht zu heiß, und der Geruch der sommerlichen Erde strömte mir entgegen; vielerorts arbeiteten die Mähdrescher, und das Stroh leuchtete wie Goldstaub in der Luft.
»Das ist mein Nachfolger!«, rief mein Vater großspurig, als er in die Kanzlei kam. Er zeigte mir sein Büro, die Wände bedeckt von massiven, dunklen Bücherregalen voller verstaubter Bände, das Wartezimmer mit den durchgesessenen Ledersesseln und ein paar juristischen Zeitschriften auf dem Tischchen, ein Kämmerchen mit der Schreibmaschine und einigen gewöhnlichen Regalen, wo Signorina Nives arbeitete, seine Sekretärin. Er sprach voller Enthusiasmus, als ob er einen Saal im Louvre erläuterte, ich bemühte mich, denselben Enthusiasmus zu empfinden, während ich ein Pfefferminzbonbon lutschte, das Signorina Nives mir gegeben hatte.
Als die Besichtigung abgeschlossen war, stiegen wir wieder ins Auto und fuhren zu seinen Freunden, die sich in der Bar auf dem Hauptplatz versammelten. Dort wurde ich denen, die etwas zählten, vorgestellt, und nachdem ich einen Fruchtsaft und sie einige Gläschen Wein getrunken hatten, gingen wir in eine Trattoria in den nahegelegenen Hügeln. Wir aßen im Freien unter Linden.
Eine Weile lang versuchte ich höflich, der Unterhaltung zu folgen, doch bald schon überkam mich diese Langeweile, die Kinder beim Essen mit Erwachsenen befällt. So begann ich eine kleine Spinne zu beobachten, die sich von der Linde herabließ und vor meinen Augen schaukelte, und Enten auf einem nahegelegenen Weiher, die auf der Suche nach Nahrung den Kopf ins Wasser tauchten.
Mit fortschreitender Stunde und steigender Anzahl der Flaschen auf dem Tisch war die Unterhaltung immer geräuschvoller geworden; zuerst sprachen sie über die Probleme des Weinbaus, doch nach dem zweiten Gang kam die Rede auf Politik. Irgendwann geschah etwas, was ich mir nie hätte vorstellen können: Mein Vater sprang auf und stieß ein absolut verpöntes Wort aus, wobei er mit der Faust auf den Tisch schlug.
»Rodolfo!«, hatte ein Freund ihn genannt und beim Arm genommen.
»Rudolf! Ich heiße Rudolf«, schrie mein Vater und machte sich los. Gleich darauf stimmte er, die Hand auf dem Herzen, mit geschlossenen Augen und einer Träne, die sich unter den Lidern hervorstahl, die österreichisch-ungarische Hymne an.
Am Schluss erhob sich von den Tischen ringsum Applaus.
»Bravo! Bravo!«
»Warum singen Sie nicht auch für uns?«, fragte ein junger Mann, der an einem Tisch in der Nähe saß, und mein Vater kam seinem Wunsch nach. Am Schluss brach der junge Mann in Gelächter aus und rief: »Du alberner Hanswurst! Warum scherst du dich nicht zurück ins Kartoffelland?«
Mein Vater stürzte sich wütend auf ihn, aber der Typ hielt seinen Arm fest und drehte ihn ihm auf den Rücken. Er ließ erst los, als er meinen Vater vor Schmerz schreien hörte.
»Hau doch ab, du alter Hanswurst!«
Ich war schon auf den Beinen.
»Schnell!«, rief mein Vater auf Deutsch, lief auf den Ausgang zu und setzte sich ins Auto. Wir waren bereit, mit quietschenden Reifen davonzufahren, aber er konnte die Schlüssel nicht finden, und so wurden wir weiter von Spott und Gelächter verfolgt.
»Faschisten! Faschisten!«, schrie mein Vater, sobald wir losgefahren waren. »Verfluchte Nationalisten!«
Er fuhr wie ein Verrückter. Ich saß neben ihm und war doch ganz abwesend. Statt die Landschaft anzuschauen, dachte ich an die Enten, daran, wie schön es sein musste, in einer Wirklichkeit zu leben und durch ein Biegen des Halses in eine andere einzutauchen. Vom Lärm der Welt in die Stille unter Wasser.
Unsere erste Begegnung
Ich musste für einen Tag geschäftlich nach Livorno. Der Maestrale hatte sich gelegt und strömendem Regen Platz gemacht: Einen Tag, zwei Tage; am dritten war ich wutgeladen, fühlte mich gefangen im Haus und auf der Insel.
Bei strömendem Regen bin ich aufs Schiff gegangen und bei strömendem Regen in Livorno ausgestiegen. Fabio, ein alter Kollege von mir, hat mich abgeholt, und wir haben den Großteil der Zeit miteinander verbracht.
Am Nachmittag regnete es immer noch, aber während ich auf die Fähre für die Rückfahrt wartete, erschien im Westen ein schmaler Lichtstreif: Anfangs war es nicht mehr als ein Goldfaden am Meereshorizont, die grauen Wolken wirkten wie ein Dickhäuter, der ihn zu erdrücken drohte, doch dann dehnte sich diese gleißende Klinge nach und nach aus und riss dabei immer größere Löcher in die darüber liegende Masse.
Als ich an Bord ging, glitten die Sonnenstrahlen schräg über die Wasseroberfläche hin. Ich schloss die Augen, fast verärgert über diese plötzliche Wiederkehr des Lichts.
Genauso war dein Einbruch in mein Leben.
Unsere erste Begegnung war bestimmt nicht ideal.
Juli 1978, seit vier Jahren arbeitete ich als Offizier auf der Schifffahrtslinie zwischen Venedig und Piräus. In der Wintersaison beförderten wir hauptsächlich LKW, aber im Sommer wurde ein Großteil des Platzes von den Autos und Wohnwagen der Touristen belegt. Es gab auch etliche Passagiere ohne Auto, meist Studenten, und da sie kein Geld hatten, nutzten sie die billigste Übernachtungsmöglichkeit und schliefen auf Deck.
Deine Gruppe habe ich bemerkt, als wir schon recht weit vom Hafen entfernt waren. Mich beeindruckte, dass jeder von euch eine Zigarette in der Hand hatte, ich sah die kleinen Glutpunkte in der Nacht. Ich erinnere mich noch an den Gedanken: So jung, und schon rauchen sie wie die Schlote. In der Morgendämmerung sah ich euch in eure Schlafsäcke kriechen wie Raupen, die sich verpuppen. Später habt ihr euch im Kreis gesetzt, und einige von euch haben Panflöte gespielt.
Es war später Vormittag, und ich war unterwegs zur Messe, als ich dich neben der Treppe zur Kommandobrücke sah, du saßest im Schneidersitz am Boden.
Ich blieb stehen.
»Signorina, hier ist Rauchen verboten.«
Anstatt die Zigarette auszumachen, hast du einen noch tieferen Zug genommen und den Rauch durch die Nasenlöcher ausgestoßen wie ein chinesischer Drache.
»Wer sagt das?«
»Das Schild hinter Ihnen.«
Du hast dich umgedreht und die Aufschrift NOSMOKINGAREA über deinem Kopf betrachtet.
»Haben Sie das beschlossen?«, hast du provozierend gefragt.