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Eine der fünf Geschichten aus dem Band Love, über die Federico Fellini sagte: »Authentisch geschriebene, erschreckende Erzählungen, die in der Nähe von Dickens und Oliver Twist stehen.«
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Seitenzahl: 81
Susanna Tamaro
Eine Kindheit
Erzählung
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes
Stellen Sie sich zum Beispiel Folgendes vor: Da sind zwei Autos, die zur gleichen Zeit von verschiedenen Seiten losfahren. Eines der beiden hätte früher fahren sollen, aber der Besitzer wird im letzten Augenblick eine halbe Stunde lang am Telefon aufgehalten. Wenn er nicht abgenommen hätte, wäre er rechtzeitig losgefahren. Er nimmt aber ab und verspätet sich. So treten alle beide um die gleiche Zeit die Reise an. Während sie schon unterwegs sind, überschlägt sich auf der Straße, die sie entlangfahren werden, ein großer Lastwagen. Er wird schnell weggeräumt, doch auf dem Boden bleibt ein Ölfleck zurück. Genau auf dieser Strecke fährt eines der beiden Autos sehr schnell. Auf welcher Fahrbahn der Ölfleck ist? Auf seiner. Der andere fährt langsam, denkt an seine Frau, der es seit einer Weile nicht besonders gut geht. Er will sie zu einem Arzt bringen, als er plötzlich erkennt, dass ein Auto von der gegenüberliegenden Fahrbahn auf ihn zurast. Das Auto prallt mit ihm zusammen. Es war sein letzter Gedanke, denn er ist sofort tot. Wenn er das Telefon hätte läuten lassen, anstatt abzuheben, wäre ihm nichts passiert. Ein anderer wäre an seiner Stelle gestorben oder keiner. Womöglich sitzt der, der sterben sollte, schon in Pantoffeln zu Hause vor dem Fernseher, sitzt dort und sieht den grauenhaften Unfall. Ist das die Straße, die er auch gefahren ist? Ja, genau die. Auch die Uhrzeit ist fast die gleiche. Was für ein Glück, sagt seine Frau und fährt ihm mit der Hand durchs Haar. Glück. Verstehen Sie? Glück. Wie auch immer, fahren wir fort. Es gibt Kinder, die schon mit sechs Jahren sagen: Ich will Arzt werden, und dann werden sie es wirklich. Andere wollen Ingenieur, Missionar oder Automechaniker werden, und dann werden sie es tatsächlich. In der Schule hatte ich einen Freund, der schon mit fünf Jahren alle Elektrogeräte im Haushalt auseinandernahm und fehlerfrei wieder zusammenbaute. Er wollte Physiker werden, es lag ihm im Blut, verstehen Sie? Im Blut oder sonst wo, jedenfalls stand irgendwo geschrieben: Giovanni wird einmal das und das, und Giovanni wird es, weil er nicht anders kann. Bei mir war es genauso. Ein vom Glück begünstigtes Kind. Am selben Tag, an dem ich gelernt habe, Fragen zu stellen, habe ich auch gewusst, was meine Aufgabe war. Ich war nicht dazu geboren, Menschen zu kurieren oder Maschinen zu bauen, ich war dazu geboren, in den Dingen rundum Ordnung zu schaffen. Ich bin im Herbst zur Welt gekommen, den Tag und den Monat wissen Sie, es steht ja in den Papieren. Ich erwähne es, weil es auch eine Rolle spielt. Im Horoskop zu meinem Sternzeichen ist von zäher, hartnäckiger Geduld und von einem ausgeprägten Hang zur Ordnung die Rede. Es liegt im Geist der Jahreszeit: Alles stirbt, sammelt sich unten, mischt sich verfaulend, um später wiedergeboren zu werden. Einsicht in innere Zusammenhänge, analytisches Denkvermögen, Genauigkeit, hervorragendes Gedächtnis sind denen eigen, die in dieser Zeit geboren sind. Das gilt auch für mich. Ich weiß nicht mehr, wann, aber ich glaube, mehr oder weniger sofort, von dem Augenblick an, in dem ich gelernt habe, meine Zunge zu gebrauchen, habe ich begonnen, Fragen zu stellen. Ich ging mit meiner Mutter hinaus und fragte sie, was ist dieses, was ist jenes? Und sie antwortete, das ist ein Stein, das ist ein Vogel.
Es stimmte und stimmte doch nicht. Denn »Stein« war jedes Mal etwas anderes, und der Vogel war klein und braun oder groß und schwarz mit gelbem Schnabel. Man musste Ordnung schaffen, und um es zu tun, musste man die Namen kennen. Also fragte ich weiter: Was ist dies, was ist jenes? Doch sie erwiderte: Sei nicht lästig, ich hab es dir doch schon gesagt, und zerrte mich am Arm weiter. Schon damals arbeitete meine Mutter als Krankenschwester. Wenn ich mit ihr ins Krankenhaus ging, zwickten mich ihre Kolleginnen in die Wange. Sie sagten zu mir: »Bist du froh? Du hast die liebste Mama der Welt!« Sie war lieb, in der Tat, nur hatte sie keine Geduld. Bei Tisch dachte ich nur an eins, an die Namen, und aß langsam. Sie dagegen hatte es eilig. Daher hielt sie mir die Nase zu, um mich zu füttern. Wenn ich keine Luft mehr bekam, öffnete ich den Mund, und sie schob mir sofort die Gabel in den Hals. Über das Fleisch sind wir sehr oft aneinandergeraten. Ich mochte es nicht, ich mag es bis heute nicht.
Vor Blut hat mir immer gegraut.
Sie hatte diese Arbeit seit kurz nach meiner Geburt. Es war eine Arbeit, aber auch eine Leidenschaft. Zu Weihnachten bekam sie immer Dutzende von Glückwunschkarten. Ihren Patienten widmete sie sich von ganzem Herzen. Zu Hause war sie dagegen immer müde, so habe ich sehr bald verstanden, dass es besser war, sie nicht mit meinen Fragen zu belästigen. Ich stellte sie mir selbst und antwortete mir auch selbst. Dann kam ich zum Glück in die Schule und lernte lesen. Erst da hat meine Ordnung eine wahre Form angenommen. Ich hielt die Bücher auf den Knien und las stundenlang laut darin. Mit gedämpfter Stimme buchstabierte ich ein Wort nach dem anderen. Es gab immer eine Abbildung und daneben einen Namen. So habe ich gelernt, dass der Vogel mit dem roten Bauch Rotkehlchen heißt und der beinahe durchsichtige Stein Quarz. Es war jedes Mal aufregend. In all der Unordnung rundherum bekam etwas seinen Platz. Wenn ich es nicht tat, war kein anderer da, der Ordnung schuf. Ich musste es tun.
Meine erste Leidenschaft waren die Steine. Sie waren am leichtesten zu katalogisieren. Sie liegen herum, man musste sich nur bücken, um sie aufzuheben. Mit sieben Jahren hatte ich schon über hundert. Nein, Mama hatte ich nichts davon gesagt. Ein bisschen aus Angst, ein bisschen, weil es eine Überraschung sein sollte. Eines Tages wollte ich ein großer Wissenschaftler sein, ein herausragender Wissenschaftler. Sie sollte es aus der Presse erfahren. Eines Morgens hätte sie eine Zeitung aufgeschlagen und das Bild ihres Sohnes gesehen. Erst würde sie vielleicht denken, es sei ein Irrtum. Doch dann, beim Lesen des Textes, würde sie begreifen, dass es wirklich stimmte: dass ihr Sohn tatsächlich einer der größten Wissenschaftler der Welt war. Daraufhin hätte sie mir alles verziehen und mich umarmt, wie sie ihre Patienten umarmte, wenn sie geheilt waren.
Zu jener Zeit schliefen wir häufig beieinander. Sie lud mich nicht dazu ein, sondern ich ging zu ihr hin, wenn sie schon schlief. Die Laken waren kalt, und sie lag mit zusammengekauertem Körper auf einer Seite. Sie wirkte wie ein Bergsteiger am Rand einer Schlucht. Auch mir gefiel es, so zu tun, als fiele ich, also hielt ich mich hinter ihr an ihrem Rücken fest, und wir fielen gemeinsam bis fast zum Morgen. Kurz bevor die Sonne aufging, kehrte ich in mein Bett zurück.
Über eines ärgerte sie sich, ja: dass ich ihr nie in die Augen schaute. Tatsächlich hielt ich die Augen immer auf den Boden gerichtet. Aus Gewohnheit, wegen der Steine, glaube ich. Ich weiß nicht, ich schaute auch der Lehrerin nie in die Augen, weder ihr, noch der Lehrerin, noch sonst irgendeiner Frau. Sie sagte: »Schau mich an!«, und ich wurde rot. Sie sagte nochmals: »Schau mich an!«, und mein Hals knickte im rechten Winkel zum Körper nach vorne. Daraufhin packte sie mich am Kinn und zog es nach oben. Sie zog so lange, bis es krack machte, und ich schloss die Augen. Ich schloss sie, und sie machte sie mit den Fingern auf, hob die Augenlider, als wären es Vorhänge. Sie starrte mich an und schrie: »Schau mich an! Schau mich an!« Wer anderen nicht in die Augen sieht, ist entweder feige oder er verbirgt etwas Schlechtes, sagte sie. Ich konnte ihr nichts von den Steinen sagen, es sollte ja eine Überraschung für sie werden, wenn ich groß war. So bezog ich immer eine Menge Prügel.
Zur gleichen Zeit, zu der die Onkel zu kommen anfingen, nahm ich die Gewohnheit an, vor dem Einschlafen die Namen aller meiner Steine zu wiederholen. Ich wiederholte sie nicht, indem ich sie ansah, sondern mit geschlossenen Augen unter der Bettdecke. Ich war sicher, dass nichts passierte, wenn ich sie nur alle richtig aufsagte.
Die Onkel waren die Freunde von Mama. Sie kamen nach dem Abendessen. Es waren viele, verschiedene, und mit mir sprachen sie kaum. Sie taten ihr weh, da bin ich sicher. Oftmals hörte ich auch durch alle geschlossenen Türen ihr Klagen. Deshalb durfte ich mich beim Aufsagen der Namen der Steine nicht irren, denn sonst starb sie. Nein, sie hegt noch immer nicht den geringsten Verdacht, dass sie es mir zu verdanken hat, wenn sie noch lebt. Ordnung, Einsicht in innere Zusammenhänge, hervorragendes Gedächtnis, sehen Sie? Schon damals besaß ich im höchsten Grad alle Anlagen zum großen Wissenschaftler.
In der Schule war ich überhaupt nicht gut. Ich mochte die anderen Kinder nicht. Sie machten Lärm, schrien grundlos laut herum. Jetzt denke ich, dass ich vielleicht auch gern so gewesen wäre wie sie: dass ich gerne herumgeschrien und mich schmutzig gemacht hätte, ungehorsam gewesen wäre und mich dafür hätte bestrafen lassen. Aber damals war ich in andere Dinge vertieft. Die Lehrerin erklärte das Bruchrechnen, und ich dachte, wie ist es möglich, dass es so viele Formen gibt auf der Welt? Wieso nicht ein Vogel, sondern viele? Wieso nicht nur die Maus, sondern auch das Eichhörnchen; das Eichhörnchen und den Biber? Natürlich wusste ich noch nichts von der Evolution, die ganze Geschichte von den vorteilhaften Mutationen, vom Fressen und Gefressenwerden, vom Finden der richtigen Nische, in der man sich verkriechen kann und in Sicherheit ist bis zum Anbruch einer neuen Ordnung. Vor fünfzehn Jahren war es nicht üblich, den Kindern solche Sachen zu erzählen.