GESCHICHTE EINER LIEBE - Iris Bleeck - E-Book

GESCHICHTE EINER LIEBE E-Book

Iris Bleeck

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Beschreibung

Stiene Mattis ist eine alt gewordene Frau. Sie sagt von sich, dass ihr Leben hiner dem Deich ranzig geworden ist. Was gibt es noch zu tun? Sie hat sich wund gewartet, während sie auf ein Lebenszeichen ihrer Liebe, Josef Kacperek, hoffte. Josef war Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg auf dem Gut im Dorf. Stiene erwartet ein Kind und Josef wird verraten, dass er eine Beziehung zu einer arischen Frau hat. Um dem Tod zu entgehen, verhilft Stiene ihm in einem geklauten Beiboot zur Flucht nach Dänemark, und hört nie wieder etwas von ihm. Als die junge Fotografin, Ulrike Mertens, in ihr Leben tritt, sucht diese ihn in Polen und wird fündig. Josef Kacperek ist ein bekannter polinscher Bildhauer. Es treffen zwei alt gewordene Menschen mit unterschiedlichesten Biografien aufeinander. Stiene durchlebt Prozesse der Wut und des Verstehenwollens. Zum Schluss kommt es anders, als sie es sich gedacht und gewünscht hatte.

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Iris Bleeck

GESCHICHTE EINER LIEBE

Du kannst nur das bereuen, was du nicht gelebt hast

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

STIENE

Malte

Ulrike

Karl Kliesows Enkel

Reise nach Polen

Christian Burwitz

Kacpereks

Christian und Marie

AUSSTELLUNG IN STETTIN

Josefs Haus

Christian Burwitz

Heimreise

Stienes Sohn

Stiene

Ulrike Mertens

Christian Burwitz

JOSEF KACPEREC

Riecke

Herbst

Vorweihnachtszeit

Weihnachtszeit

Ausstellung

Impressum neobooks

STIENE

Schon aus der Ferne erkannte sie ihn. Es war Josef, der ihr am Strand entgegen kam. Manchmal sanken seine Füße zu tief in den nassen Sand, was seine rudernden Bewegungen etwas unbeholfen aussehen ließ. Stiene lachte als Josef sich bückte, um etwas aufzuheben. Sie breitete ihre Arme aus, wippte federleicht über den Strandsand. Ein Gefühl von Glückseligkeit strömte durch ihren jungen Körper. Sie wollte eben seinen Namen rufen, als ein lauter Schlag sie aus ihrem Traum riss.

Ein von See kommender Sturm war hinter die blau gestrichenen Holzläden der kleinen Schlafstube ihrer Kate gekrochen. Er ließ eine vom Haken gelöste Lade rhythmisch hin und her tänzeln. Manchmal schlug diese mit Gepolter bis zum Fensterrahmen und dann zurück an die Hauswand. Die alte Frau drehte sich mit einem seufzenden Fluch in ihrem Bett herum. „Deibel noch mal, der Lärm zerschlägt meine Träume und den Morgen.“ Lautstark fluchen konnte sie, das lag in ihrer Familie, sie war damit aufgewachsen. Auf dem Papier hieß die alte Frau Kristine Mattis, aber solange sie denken konnte, wurde sie Stiene genannt. Verblasste Erinnerungen suggerierten, dass sie früher, in guten Momenten, Tienchen gerufen worden war. Aber das war über achtzig Jahre her. Dieses Erinnern war manchmal so weit weg, wie der endlose Blick auf das Meer, das gleich hinter dem Deich begann. Zuweilen benahm es sich wie die lose Lade, schlug donnernd zu, um anschließend ruhig auf der Lauer zu liegen. Stiene überlegte, ob es vielleicht der Tod sein könnte, der gierig um ihr Haus schlich. „Schließlich bin ich nah am Verfallsdatum. Bloß, dass es nirgendwo draufsteht,“ bemerkte sie lachend. Es gab nichts mehr, dass sie noch festhalten wollte. Gelassen sah sie dem Unabwendbaren entgegen. Die alte Kate war mit den Jahren, genau wie Stiene Mattis, in sich zusammengesackt. Und Stiene fragte sich, was sie wohl noch in ihrem alten Haus erledigen müsse? Es ging ja nur noch um alltäglichen Kram, und wenn das Wetter mitspielte, um den morgendlichen Gang zum Meer. Dort ließ sie ihre Kleider fallen, und tauchte kurz in die Wellen, so wie früher.

Achtzig Jahre und mehr war es her, der Beginn ihres irdischen Daseins. Neuerdings wurde sie wunderlich und sprach beim Auftauchen aus dem Wasser: „Ich taufe dich auf den Namen Tienchen.“ Dann lächelte sie, bis ihr einfiel: „Mein einziges Kind und dessen Vater, mein Bruder und meine Eltern, sie alle haben mich verlassen und manchmal geht mein Geist eigene Wege. Na gut, den Sohn Malte gibt es noch. An dessen Wegbleiben trage ich auch einen Teil. „Verdammt Malte, du könntest dich auch mal wieder blicken lassen, bevor ich ganz tüttelig werde,“ fluchte sie. Aber, vielleicht, war der windige Poltergeist heute Morgen auch mein Bruder. Sein Schicksal endete jung auf See. Ob nun seine Seele nach der letzten Mattis in diesem Katen Ausschau hält? „Ach Malte, stöhnte sie, bist schon siebzig Jahre tot. Wenn du nicht über Bord gegangen wärst, hättest du das Haus geerbt. Und wer weiß, wen ich geheiratet hätte, um ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben?“ Ein bisschen kicherte sie bei diesem Gedanken.

Sie hatte auch nicht mit diesem Dach über dem Kopf geheiratet. Und den unehelichen Sohn ohne Mann großgezogen. Stienes Erinnerungen, an das blonde Mädchen, das furchtlos mit seinem Vater zum Fischen rausfuhr, an die schöne hochgewachsene junge Frau, die ihr blondes Haar in einem dicken Zopf bändigte und nicht nur damit Begehren bei einigen Männern weckte, begannen brüchig zu werden. Mal konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, jung gewesen zu sein. Vater und Mutter gehabt zu haben, dann holten Träume längst Vergangenes in ihr Bewusstsein. Sie gruselte sich ein wenig, wenn Bruder Malte nachts auf ihrer Bettkante saß, schweigend und mit traurigem Gesichtsausdruck. Als ob es ihre Schuld gewesen wäre, dass er so jung sterben musste. „Nein, schrie sie, Malte das hat niemand gewollt, auch Vadding nicht.“ Dann verschwand Malte und Stiene fluchte, dass ihr Leben und ihre Träume, sich auf die wenigen Personen ihrer Ursprungs-Familie beschränkte. Sie hatte nichts dagegen, dass Malte sie nachts heimsuchte. Nur lächeln könnte er schon mal. Wenn Stiene darüber nachdachte, erinnerte sie, Malte war eher ein melancholischer Junge gewesen. Er grübelte viel und schwieg die meiste Zeit. Warum sollte er nun grienen, wenn er auf seine alt gewordene Schwester und ihr zusammen geschrumpfte Leben schaute? Vielleicht hoffte sie, dass ein Lächeln ihren Alltag verschönen könnte.

Malte

Es war einer dieser unberechenbaren stürmischen Tage am Meer. Trotz Sturmwarnung fuhr Stienes Vater mit dem acht Meter langen Holzkutter und seinem Sohn Lütt Malte auf See. Der Vater war sich so sicher, noch vor Ausbruch des Unwetters wieder im Hafen zu sein. Der alte Malte war, wie alle seine Vorfahren, hinter der Düne in der reetgedeckten Kate zur Welt gekommen. Schon von klein an hatte er die Nase im Wind. Niemand, außer Malte, konnte das Wetter so gut voraussagen. Seinen Kutter den sollte der Junge bald erben. An diesem Morgen, es war Lütt Maltes sechzehnter Geburtstag, hatte der Vater es ihm versprochen. Hatte der Alte vor, den Jungen heute ordentlich durchrütteln zu lassen, ihn zum Mann zu machen, mit Schiss in der Büx, wie sie es alle hatten, wenn sie begannen sich mit dem Meer zu messen? Dem alten Malte war es nicht besser ergangen mit seinem Vater. Aber Lütt Malte wurde noch immer seekrank. Damit das endlich aufhört, musste er heute durch. Malte kräuselte die Stirn, wenn der Junge halbtot an der Reling hing, und das wurde langsam peinlich vor den anderen Fischern. Die witzelten, wenn Vater und Sohn das Boot im Hafen zum Fischen klar machten: „ Lütt Malte, hast du auch ordentlich gefrühstückt, damit die Fische genug zu fressen kriegen?“ Nun war der Junge alt genug Jahre und heute wollte der alte Mattis ihn kurieren. Aber der hatte das erste Mal im seinem Leben das Wetter unterschätzt. Es hatte ihn genarrt, in die Irre geführt, hatte ihn glauben lassen, dass die Gewitterfront nach Westen abziehen würde, aber sie blieb im Osten hängen. Ein bedrohliches Sturmtief braute sich zusammen.

Die Frauen schauten zuhause besorgt aus dem niedrigen Küchenfenster. „Mein Gott, das geht nicht gut,“ rief die Mutter. „Muddig, sowas darfst du nicht denken. Die kommen wieder. Vadding kennt die See.“ Die Ahnung der Mutter hatte etwas damit zu tun, dass Lütt Malte ihrem Herzen am nächsten stand. Sie liebte nur ihn mit dieser Intensität, die kaum noch Raum für einen anderen Menschen übrig ließ. Beim ersten gewaltigen Donnerschlag ließen beide wortlos die Hausarbeit liegen. Die wenigen Schritte zum Meer waren schnell gelaufen. Vielleicht waren die Männer eine Stunde auf See, als die Wellen das Ufer peitschten, Sand fraßen und gierig an den Dünen leckten. Mit zugekniffenen Augen suchten sie den Horizont nach Hoffnung ab, nach dieser acht Meter langen Nussschale. Des alten Mattis ganzer Stolz. „Wo bleibt der verdammte Kutter,“ fluchte Stienes Mutter. Dann nahm sie einen Stein und warf ihn wütend ins tobende Meer. Sie wusste um Lütt Maltes Seekrankheit. Auch deshalb hatte sie tiefes Mitgefühl mit ihrem Sohn. Aber es gab noch einen anderen Grund, Lütt Malte wollte gar kein Fischer werden. Er hatte ihr anvertraut, lieber an Land bleiben zu wollen. Irgendwann verstummten Else Mattis Flüche. Nur noch Angst bestimmte ihre Gebete.

In der Kate stand das fertige Geburtstagsessen im Ofenrohr, zugedeckt mit warmen Tüchern. Auf dem Tisch in der guten Stube ein Napfkuchen bestreut mit ordentlich Puderzucker. Auf Lütt Maltes Platz lag ein aus Schafwolle gestrickter Pullover mit dicken Zöpfen verziert. Den hatte er sich gewünscht. Stiene hätte gern mitgeholfen, aber die Mutter gab die Handarbeit nicht aus der

Hand. Obwohl die Mattis- Kate außerhalb des Dorfes stand, blieben Stiene und ihre Mutter nicht lange allein am Strand. Etliche Dorfbewohner gesellten sich zu ihnen, vor allem die Fischer des Dorfes. Dass ein Kutter überfällig war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Man stand zusammen und irgendjemand begann wortlos Schnaps auszuschenken. Als das Boot endlich in Sicht kam und auf die Küste zusteuerte, brach großer Jubel aus, weiter konnte Stiene nicht denken. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, musste sie in letzter Zeit immer weinen, wenn dieser Unglückstag in ihre Erinnerung kam.

Die Männer am Strand packten an und halfen Malte beim Festmachen. Stienes Mutter war nicht mehr aufzuhalten und sprang auf das Schiff. „Wo ist mein Junge?“, schrie sie aufgebracht, obwohl sie längst ahnte, dass der lütte Malte nicht mehr nach Hause kommen würde. Dabei schlug sie immer wieder auf ihren Mann ein, bis einige Männer sie von Bord brachten. Was war geschehen? Im tobenden Sturm hatte eine Welle den Kutter überrollt und unter Wasser gedrückt. Als der wieder auftauchte, war Lütt Malte verschwunden. Der Vater schleuderte den Namen seines Sohnes gegen den Wind, gebündelt mit inniger Hoffnung, dass Malte da irgendwo auf einer Welle schwimmen würde und er ihn wieder einsammeln könnte. Er hatte nicht nur das Netz verloren, nun auch noch den Jungen. Kurz überlegte er, ob er den Kutter und sich absaufen lassen sollte. Aber irgendwie hing der alte Mattis an seinem Leben. Daran änderte auch der Tod seines einzigen Sohnes nichts. Er wollte Lütt Malte zum Mann machen, stattdessen hat er ihn in den Tod geschickt. Gott würde ihm das sicher übelnehmen.

Wie er sich nach Hause gekämpft hat, das war aus seinem Bewusstsein gefallen, zu sehr fürchtete sich Malte davor, das Unwiederbringliche seiner Frau sagen zu müssen. Die vergötterte den Jungen, was oft genug zwischen den Eheleuten zu lautstarken Auseinandersetzungen führte. Stiene schmiss bei solchen Gelegenheiten ein warmes Schultertuch um und ging mit großen Schritten über die Düne zum Meer. „Die zanken sich mal wieder um das goldene Kalb, ich bin ja wohl nur Bronze“, schimpfte sie.

Else Mattis sprach an diesem verfluchten Tag und auch an den nächsten Tagen kein Wort mehr. Sie schloss sich in der guten Stube ein. Alles Klopfen nützte nichts. Als sie endlich heraus kam, zerschnitt sie den Pullover und warf ihn Stück für Stück in den Ofen. Dabei starrte sie ins Feuer das lichterloh brannte. Als sie auch noch den Napfkuchen verbrennen wollte, nahm Stiene ihn an sich. „Mudding, das bringt Malte nicht zurück. Der Kuchen kann nichts dafür.“ „Was weißt du denn?“ schrie sie die Tochter an.

Dabei hätte die Mutter ihre Tochter kaum übersehen können. Stiene war hoch gewachsen, fast so groß wie ihr Vater. Wenn sie ging, federten ihre Schritte ein wenig. So, als ob sie auf Moos treten würde. Ihr Körper war schlank und fraulich, ihr Haar hellblond, wie bei allen Mattis Abkömmlinge. Einmal sagte ihr Vater: „Deine Augen sind so blau, wie die lütten Vergissmeinnicht in unserem Garten.“ Das freute Stiene, weil er sonst nicht mit Komplimenten um sich warf. Als er längst neben den anderen Mattis auf dem heimischen Kirchhof lag, schaute Stiene immer mal in ihrer kleinen Badestube in den Spiegel: „Vadding,“ sagte sie, „du hattest recht, meine Augen sind immer

noch so blau wie Vergissmeinnicht.“ Mit Maltes Tod kamen Veränderungen. Die Mutter, die sonst wie Stiene kichern und lachen konnte, verschloss sich. Sie trauerte die nachfolgenden Jahre und bezog immer wieder den verlorenen Sohn in all ihre Handlungen ein. Was hätte der Junge dazu gesagt? Wen hätte er geheiratet und wie viele Enkel hätte er ihr geschenkt? Während sich bei Tochter Stiene diesbezüglich nichts tat. Nicht einmal einen Freund hatte sie. Die Mutter lebte ein Leben der Erinnerungen. Der alte Malte trank mehr als bisher und kam oft betrunken nach Hause. Es war immer das gleiche Ritual, kaum betrat er die Stube, keifte seine Frau ihn an. Sie machte kein Hehl aus ihrer Schuldzuweisung. Warum musste er auch bei Sturmwarnung noch rausfahren? Er war doch ein erfahrener Seemann! Warum war der Junge nicht unter Deck, was hatte der da draußen in dieser Apokalypse zu suchen? Stienes Mutter sprach es aus, was dem alten Malte das Herz nach und nach brach: „Du hast den Jungen auf dem Gewissen.“

Seit dem Tod des Sohnes fuhr der Alte zwar noch zur See, kam aber oft genug ohne Fang zurück. Stiene war das unheimlich, er hatte doch sonst gut gefischt, verstand etwas von seinem Handwerk. Was macht er da draußen? Auf ihre Nachfrage, woran das wohl lag, murmelte er: „Ich hab jedes Mal Angst, dass der Junge in meinem Netz ist.“ Stiene schüttelte sich bei diesem Gedanken. „Das will ich mir gar nicht vorstellen,“ flüsterte sie. Jetzt wusste sie, dass ihr Vater immer dieses Horror Bild vor Augen hatte, wenn er das Netz auswarf. Es folgte ein seltener Moment zwischen Vater und Tochter.

Stiene ging auf ihn zu und umarmte ihn, dabei legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Malte Mattis war keine Zärtlichkeiten mehr gewöhnt. Er wusste nicht einmal in diesem Moment, ob es sich schickte, so innig von der eigenen Tochter umarmt zu werden. Er schluckte, als er sich von ihr löste: „Lass man gut sein, Dirn. Gott wird das alles richten.“ Das Leben wurde durch den schlechten Fang nicht leichter. Oft saß der alte Malte auf dem Steg, an dem sein Kutter vertäut war und warf Angeln aus. Für das tägliche Essen reichte das, was er dort fing, aber nicht zum Überleben. Es waren karge Zeiten und im Dorf munkelte man, dass der alte Mattis tatsächlich das Fischen auf See verlernt hatte. Als Stiene zugetragen wurde, dass auf dem Gut eine Mamsell gesucht wurde, lief sie so schnell sie konnte zum Gutshaus. Niemand sollte ihr zuvorkommen. Betend hoffte sie, mit der Arbeit auf dem Gut, dem trostlos gewordenen Elternhaus tagsüber den Rücken kehren zu können. Frau von Arndt, deren Mann seit dem Winter 1943/44 in Russland vermisst blieb, kannte Stiene bereits als Kind. Und die Gutsherrin ging davon aus, dass dieses kraftvolle Fischermädchen sie nicht enttäuschen würde. Während es für den alten Mattis inzwischen ein Ritual geworden war, das Wochenende im Dorfkrug beim ollen Peters zu verbringen.

Es war immer derselbe Weg, den er dorthin nahm. Er ging aus dem Haus, über den Hof, durch den Gemüsegarten, über die Streuobstwiese, bis zum Deich. Er hätte auch gleich den Weg vom Haus auf den Sandweg durch den kleinen Kiefernhain bis zum Dorf nehmen können. Aber Malte mochte es auf seinem Land zu gehen, den Boden unter seinen Füssen zu spüren, wie einst seine Vorfahren. Am Deich angekommen, fixierte er das Meer. Seit Lütt

Maltes Tod hatte er sich angewöhnt, so lange er Wasser sah, zu fluchen. Er kramte alle Schimpfwörter aus seinem Gedächtnis, die er je gehört hatte. Erst als er in die Nähe des Dorfes kam und das Meer aus seinem Blickfeld verschwand, schwieg er bis zum Dorfkrug. Hier war der Ort, an dem er geschätzt wurde, wo man ihm auf die Schulter klopfte. Es gab Gleichgesinnte und Männer, die ihn verstanden und ihm nie die Schuld an dem Unglück gegeben hätten. Viele von ihnen kannten ähnliche Situationen, hatten aber mehr Glück gehabt.

Der alte Mattis muss sternhagelvoll gewesen sein, als er sich endlich auf den Weg nach Hause machte. Auf dem Deich entlang, wo ihm die Flüche ausgingen, durch die Streuobstwiese, den Gemüsegarten, bis zum Hof. Als er an der alten Kate anlangte, sah er einen schwachen Lichtschein durch die niedrigen Fenster. Else saß wohl noch mit einer Petroleumlampe in der Küche und wartete, um ihn zu beschimpfen. Heute brachte er es nicht über sich, hineinzugehen. Malte torkelte über die Dünen bis ans Meer. Anders als im Suff konnte er seine Schuld und Elses Hass nicht mehr ertragen. Sie hatte sich sogar ausgedacht, dass Lütt Malte nicht Fischer werden wollte. Das hätte der Bengel ihm doch gesagt. Ihm seinem Vadding, wenn es so gewesen wäre.

Es war Februar und eine sternklare kalte Nacht. Selbst der Mond hatte ihm freundlich nach Hause geleuchtet. Der alte Mattis setzte sich ans Ufer und begann, mit seinem Jungen zu reden: „Du Dösbaddel, warum bist du nicht unter Deck geblieben, so wie ich es dir befohlen hatte? Hast nicht auf deinen alten Vadding gehört.“ Malte wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus seinem zerfurchten Gesicht, als aus dem Meer sein

Junge auf ihn zukam. „Donnerluttchen,“ entfuhr es Malte, „das ist ja wie bei Jesus!“ Der lütte Malte schien ganz lebendig und sah aus wie damals, bevor ihn das Meer holte. Das Herz des Mannes wurde ganz warm und die Tränen liefen nur so aus ihm heraus, und mit ihnen all dieser entsetzliche Schmerz der letzten Jahre. Ordentlich gesund fühlte er sich, als der kleine Malte ihn umarmte und tröstete: „Nicht weinen Vadding, mir geht es gut und dir geht es nun auch gut. Ich nehme dich mit, dann sind wir wieder zusammen.“ Der alte Malte sah, wie die Sonne hinter ihm aufging, obwohl das nicht möglich war, so mitten in der Nacht. Es erklang eine Melodie, wie die der Spieluhr seiner Kindertage. Er roch intensiv an seinem Jungen, staunte über die Frische dessen Haut und sein Herz füllte sich mit Liebe. Wie ein ausgetrockneter Brunnen, der endlich wieder genug Wasser hatte.

Am Morgen des nächsten Tages tobte Stienes Mutter: „Nun säuft der Alte schon die ganze Nacht durch! Der soll mir mal nach Hause kommen, den schmeiß ich nun endgültig vor die Tür.“ Ein zaghaftes Klopfen an der Haustür beruhigte sie für diesen Moment. Herein kam Karl Kliesow, der hatte nach seinem neuen Beiboot geschaut. Das tat er nun täglich, nachdem ihm das alte vor einiger Zeit gestohlen worden war. Und dabei hatte er den Malte Mattis erfroren am Strand gefunden. Stienes Mutter stieß einen spitzen Schrei aus. Warum auch immer. Vielleicht, weil ihr das Opfer abhandengekommen war? Weil sie nun Witwe war, oder weil das Schicksal es nicht gut mit ihr meinte? Karl reichte ihr seine schwielige Hand und murmelte: „Mein Beileid Frau Mattis, Malte war ein feiner Kerl, den werden wir vermissen.“

Legte sich mit diesem Bewusstsein, dass ihr Malte ein feiner Kerl war, von allen geschätzt, nur nicht von ihr, plötzlich ein Schalter in ihr um? Sie würde sich zusammenreißen und ihm eine gute Beerdigung zukommen lassen. Das war sie dem Dorf schuldig. Sie war zu beschäftigt mit all diesen Gedanken, um zu bemerken, dass Stiene längst zum Strand gelaufen war. Einige Fischer standen um den Toten und einer sagte: „Wenn ick auch so glücklich aussehe, wenn ick dod bin, dann braucht man keine Angst vorm Sterben nich zu haben. Vielleicht hat ihn sogar ein Engel geküsst.“ Stiene kniete neben ihrem Vater und spürte den Frieden, der von ihm ausging. Sie schaute auf das Meer und ahnte, ihr Bruder hatte ihn befreit von allem Schmerz und der Schuld, die der Vater schweigend ertragen hatte. Von nun an musste sie mit ihrer Mutter leben, die ihre Tochter in den Jahren seit Maltes Tod, nur noch als Hilfskraft im Haus wahrgenommen hatte. In diesem Moment bedauerte Stiene, dass sie nicht die Wahrheit über das Kind in ihrem Bauch dem Vater mitgeteilt, weil sie zu lange gewartet hatte. Vielleicht wäre es die Freude seiner alten Tage geworden? Länger konnte sie es nun nicht mehr aufschieben. Der Dorfdoktor hatte ihr gesagt, dass es noch drei Monate bis zur Geburt sind. Nach der Beerdigung würde sie mit ihrer Mutter reden. Stiene nahm sich vor, sich nicht vor diesem Gespräch zu fürchten. Die Holzlade hatte wieder zugeschlagen und das erboste Stiene mächtig: „Ist ja gut, ich werde dich festhaken. Sonst gibst du keine Ruhe.“ Langsam setzte sie sich auf und ließ ihre Beine aus dem Bett baumeln. Seit geraumer Zeit sprach sie mit sich oder so, als ob jemand anwesend wäre: „ Geht eben nicht mehr so fix, musst schon

warten, bis ich fertig bin.“ Die einzige Uhr im Haus, eine weiß lackierte Standuhr mit rund geformtem Kopf und nach unten ausladendem Körper, setzte zum Schlag an. Stiene zählte: “Eins, zwei, drei, bis acht.“ Dann verstummte der tiefe Klang, der sich bis in Stienes Herz fortsetzte. Sie war der Meinung, dass dieser Ton ihr Herzschrittmacher sei, besser als all der neumodische Kram und Tabletten. Manchmal grübelte sie, wer von ihren Vorfahren die Uhr wohl angeschafft hatte, aber sie wusste es nicht. Die stand schon immer in der guten Stube, die nur an Sonn- und Feiertagen geöffnet wurde, um schweigend darin die Mahlzeit einzunehmen. Halbstündlich schlug sie einmal und dann zur vollen Stunde. Stiene hörte bereits die Mechanik, wenn die sich für ihre Aufgabe sortierte. Das klang wie leises Rascheln im Stroh. Die Uhr holte zum Schlag aus, der Ton schwoll an, erfasste das ganze Haus. Erst gemächlich, dann donnernd, bis alle Zellen in Stienes Körper mitschwangen. Der Ton hallte nach, verschwand nicht so schnell, fing und versteckte sich in den Ecken der kleinen Stuben und verweilte in Stienes Körper bis zur nächsten Stunde. Sie fand es bequem, nachts die Uhrzeit im Bett zu zählen. Und sie mochte es, die schweren Messing-Gewichte aufzuziehen.

Manchmal fragte Stiene sich, wer diese schon vor ihrem Dasein hochgehievt hatte. Gute, harte, zärtliche, fordernde Hände, die ganze Palette der Mattis Sippe. Für diese Uhr musste sie auch noch ein gutes Zuhause finden. Seit einiger Zeit beschäftigte sie sich damit, Erben für Gegenstände zu suchen, die materialisierten Erinnerungen glichen. Für sie waren diese Erinnerungen wertvoll, da sie fest überzeugt war, in ihnen befinden sich gesprochenen Worte vergangener Generationen.

Diese Energie hing in den Erbstücken, wie der Ton des Gongs der schlagenden Uhr in Stienes Körperzellen.

Ihr Bett war so alt wie die Hütte, es war solange sie denken konnte, hellblau gestrichen. Auch die Fensterläden, die Haustür, die Stühle und der Bauernschrank, in dem Stiene ihre Kleidung und die ihrer Mutter aufbewahrte. Sie konnte sich nicht von den Kleiderstücken ihrer Mutter trennen. Denn Else Mattis besaß das außergewöhnliche Talent aus einfachen Stoffen Kunstwerke zu schaffen. Else stickte mit Leidenschaft und Fantasie Blumen, ganze Landschaften und häkelte kunstvolle Krägen für Blusen. Nun, wo Stiene so alt geworden war, griff sie immer öfter nach einem Rock oder Bluse ihrer Mutter.

Stiene Mattis war die fünfte Generation, die in diesem Haus am Meer geboren worden war. Und voraussichtlich würde sie, wie viele Vorfahren vor ihr, darin sterben. Etwas wehmütig stellte sie fest: „Ich werde die Letzte sein, die hier sterben wird. Oder ich gehe, wie mein Vadding, zum Meer. Die nach mir kommen, gehen lieber ins Krankenhaus, vielleicht in der Hoffnung, dass der Tod sie dort zwischen all den Fluren und Stationen nicht so schnell findet.“ Sie lachte und schaute auf ihre schmalen Beine, deren Haut so dünn wie Pergamentpapier geworden war und die blau schimmernden Gefäße ließen diese krank aussehen. „Da kann man sich ja gruseln, wenn man euch so ansieht. Was ward ihr früher hübsch, so braun im Sommer und fest anzufassen, das fand Josef damals auch.“ Die Alte rutschte vorsichtig von der hohen Bettkante und strich dabei ihr weißes Leinennachthemd glatt: „Damit mir ja keiner unter den Rock guckt, da sieht es noch schlimmer aus, als die dürren Beine.“ Wieder lachte sie. Von einem Holz-Stuhl, auf dem sie ihre Anziehsachen ausgezogen

hatte, nahm sie ein warmes Schultertuch, warf es um sich, schlüpfte in die Hausschuhe, die ihr die Enkelkinder bei ihrem letzten Besuch geschenkt hatten und ging in Richtung Haustür. Es war Ende August und die Nächte wurden empfindlich kühl. „Zu früh“, schimpfte sie, „das gibt frühen Schnee, den brauche ich nicht mehr.“ Sie fröstelte in der letzten Zeit.

Eine zugelaufene Katze, die miauend etwas zum Fressen erbetteln hoffte, strich um ihre nackten Beine, was Stiene sehr angenehm empfand. Das Fell der Katze schimmerte bei Tageslicht orange, ab und zu unterbrochen von weißen Flecken. Wenn es dunkel wurde, funkelten ihre grünen Augen wie kleine Leuchtbojen. „Bist in einen hübschen Farbtopf gefallen“, meinte Stiene und fischte mit einer Gabel aus einem Topf gekochten Dorsch. Dann bückte sie sich mühsam, um den Fisch in einen Napf zu legen: „Du wirst nicht mehr lange Freude an mir haben, solltest dich schon mal nach einem anderen Zuhause umschauen.“ Die Katze schien Stienes Warnungen nicht zu interessieren. Nicht gierig, eher genussvoll fraß sie. „So ist es richtig“, lobte Stiene, und strich dem Tier über den Rücken, „das Essen muss man schmecken, das braucht Zeit. Aber wer hat die heute noch, sie ist einfach auf und davon!“ Dabei fuchtelten ihre Arme durch die Luft. Als sie an einem Holzregal vorbeiging, auf dem ihre größten Schätze, uralte Porzellantassen ihrer Vorfahren standen, entdeckte sie eine Nachricht ihrer beiden Enkelkinder, die sie bis zu diesem Moment übersehen hatte. Erst vor wenigen Tagen waren Wiebke und Olaf wieder nach Hamburg zu ihren Eltern gereist. Stiene griff nach ihrer Brille. „Hallo Oma, frag doch mal bei der Gemeinde nach, wann die endlich einen Internetanschluss legen, WLAN heißt das. Es wäre schön, wenn

es das nächste Mal schon klappen würde. Pass auf dich auf, haben dich lieb, Wiebke und Olaf.“

Stiene griente und drehte grübelnd das Stück Papier. Was ist denn WLAN? Wetter laut Ansage neblig? Sie lachte. Sicher war es das nicht, hatte wohl eher etwas damit zu tun, dass die beiden bei schönstem Sonnenschein auf ihre Computer starrten und ab und zu Geräusche und Worte von sich gaben, deren Herkunft Stiene ganz fremd schien und die sie auch nicht begreifen wollte. Stiene hatte keinen Platz mehr in ihrem Leben für diese Art. Ihr langes Leben hatte sie ihren gesamten Schmerz, ihr kurzes Glück mit Josef und ihre Unsicherheit dem Meer anvertraut. Das war verschwiegen, geheimnisvoll, manchmal totbringend und so unendlich geduldig mit ihr. Wenn sie als junge Frau am Ufer entlang lief, an warmen Abenden einfach ihre Kleider fallen ließ, um im Meer zu baden, fühlte sie sich lustvoll, begehrenswert und befreit von seelischem Ballast. Auch jetzt badete sie nach Befinden und Wetterlage immer noch im Meer. Geblieben war das Gefühl, befreit zu sein. Für einen kurzen Moment, einen Wimpernschlag nur, durchfuhr dann wohlige Erinnerung ihren gesamten Körper. Stiene war fest entschlossen, diese Knechtschaft, die die nachfolgenden Generationen gefangen hielt, keine Zeit zum Essen, zum Lieben oder Menschen zu zuhören, nicht mitzumachen. Die Katze leckte sich genussvoll das Maul und die Pfoten, schnurrte zufrieden und rollte sich wohlig auf dem Dielenboden. Ein schlagendes Geräusch erinnerte Stiene, weshalb sie eigentlich aufgestanden war. In letzter Zeit fielen Worte und Dinge wie durch ein Sieb aus ihrem Bewusstsein. Wenn sie aus dem Haus ging, vergaß sie manchmal bereits an der Tür, was sie erledigen wollte. Wie ein

bockiges Kind blieb das, was sie sich vorgenommen hatte, in der Kate zurück und wollte nicht mit. „Keiner hört mehr auf mich, nicht einmal ich selbst.“ Beklagte sie sich. „ Die Hauptsache, ich krieg noch mit, wenn ick dod bin.“ Stiene öffnete die Haustür, die sie neuerdings am Abend verriegelte, obwohl sie das sonst nicht getan hatte. Die Enkel hatten es ihr empfohlen. Eigentlich gab es nichts zu stehlen, kein WLAN und sonstiges Zeug, nur ihre alten Porzellantassen. Die wollte sie, bevor der Tod sie holt, auch noch verschenken. An wen? Da war sie sich noch nicht mit sich einig.

Stiene ging um das Haus bis zum Schlafstubenfenster, hielt die lose Lade fest und holte sie an die weiß getünchte Hauswand. Dann ergriff sie den Eisenhaken und drückte ihn in die Krampe, die an der Holz-Lade befestigt war. Eine Windböe schüttelte noch einmal erfolglos die festgezurrten Fensterläden und Stiene lachte, dass sie den Wind ein wenig in die Schranken gewiesen hatte. Nun erst erinnerte sie, dass der Pflegedienst bald kommen würde. Die alte Frau freute sich auf das junge Ding, das aus Polen stammte, immer freundlich und so gesund aussehend, wie Stiene früher. Marie war ihr Name. Marie brachte der alten Frau manchmal Dinge aus der Stadt mit, die es in den umliegenden Supermärkten nicht gab, frisches Wildschwein- oder Hirschfleisch. Den Fisch bekam sie vom Enkelsohn von Karl Kliesow. Der polterte im März, wenn Heringssaison war, schon mal durch ihre Haustür, und rief: „Stiene nicht erschrecken, ist nicht der Klabautermann, nur der Heringsbändiger.“ Sie klatsche dann vor Freude in die Hände: „Oh, so schöner fetter Hering. Mein Junge, ich könnte dich küssen, wo du schön bist.“ „Na, na Stiene nicht übermütig werden, dich würde ich nicht verkraften.“

Als Antwort haute sie ihm lachend eins mit der Fliegenklatsche über. Leicht, geradezu fröhlich, fühlte sie sich, wenn sie den gefüllten Eimer mit Fischen nach draußen unter die Wasserpumpe schleppte. Dort putzte und schuppte sie die Heringe unter den bettelnden und wachsamen Augen der zugelaufenen Katze. Gleich am ersten Tag warf sie acht Heringe in die alte Eisenpfanne. Gemeinsam mit der Katze schlemmte sie den ganzen Tag, bis das Fett aus ihrem Mund auf die Brust tropfte.

Nur die schöne junge Polin, die aus der Gegend von Warschau stammte, verweigerte hartnäckig die angebotene köstliche Mahlzeit. Das waren wundervolle Tage für Stiene. Sie briet Heringe, und legte sauer ein. In Keramiktöpfe füllte sie ihren begehrten Heringssalat. Den verschenkte sie nur an Karl Kliesows Enkel und ihren Sohn Malte in Hamburg, der mochte ihn am liebsten mit Roter Bete, während Karl Kliesows Enkel diese Farbe eklig fand. Der bevorzugte den mit Boskoop Äpfeln und Zwiebeln. Von diesen Schätzen zehrte sie bis zum Mai, dann gab es Hornfisch und sie war wieder für Tage mit Fischverarbeitung beschäftigt, was die zugelaufene Katze noch mehr mit Stiene verband. Wie sollte die sich mal bei einer anderen Frau, die nichts mit Fisch zu tun hat, wohlfühlen? Wo es nur Trockenfutter oder Dosenfutter gab? Sie grübelte: „Vielleicht muss ich für die Katze noch eine Weile durchhalten. Nun kommt es auf ein Jahr mehr oder weniger auch nicht an.“ Sie ging an der Holzmiete vorbei und zurrte den Regenschutz fest, der sich im Wind gelöst hatte. Zufrieden murmelte sie: „Das Holz reicht für den Winter.“ Von dort musterte sie ihr altes Haus, dessen Schilfdach fast durchgängig bemoost war. Im Frühling nisteten und zwitscherten

Spatzen in Scharen in den Ritzen und im Sommer blühten zart rosa Blumen auf dem Moos. Einmal hatte sich ein wilder Rittersporn oberhalb der Regenrinne auf das Dach verirrt. Azurblau schimmerten seine Blüten, worüber sich Stiene mächtig freute. Nun überlegte sie, was wohl werden würde, wenn sie tot ist. Ihr Sohn Malte hatte geäußert, dass er das Haus gern als Ferien- Domizil, ja so vornehm hatte er es ausgedrückt und Stiene hatte kein gutes Gefühl bei diesem Wort, nutzen wolle. Als Ferienhaus, für drei oder vier Wochen im Jahr. Da ist ja kein Leben mehr im Haus, die Geister der Vergangenheit werden sich langweilen und wegen Vereinsamung flüchten. Ein Haus, in dem nicht gelebt wird, ist ein totes Haus. Und wer freut sich dann über die vielen Spatzen? Ich könnte es verkaufen, kam ihr in den Sinn. Stiene beschloss, Karl Kliesows Enkel zu fragen, ob er Interesse hat. Der hatte seinen Kutter im kleinen Fischereihafen liegen und versorgte Stiene mit Fisch. Sie konnte sich immer auf ihn verlassen, auch das Holz für die Miete hatte er gehackt. Und schließlich hatte sein Großvater ihren Vater tot am Strand gefunden, so was verbindet.

Damals, als ihr Vater beerdigt und im Dorfkrug der Leichenschmaus aufgegessen war, hielt Stiene auf dem Weg nach Hause kurz inne: „Mudding, ich krieg ein Kind, schon in drei Monaten, meint der Doktor.“ Sie warf die Worte so hin, als ob es um Alltagskram ginge. Der Ton zwischen den beiden Frauen war seit dem Tod des alten Maltes ohne großes Drama. Stienes Mutter hatte sich in den letzten Jahren durch den Zorn auf ihren Mann verausgabt. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr vergrämtes Gesicht: „Der eine geht und der andere kommt. Wenn es ein Junge wird, soll er Malte heißen. Der Platz für den Namen ist

gerade freigeworden.“ Das sagte sie ohne Aufregung in der Stimme. Für sie war es nun erledigt. Obwohl Stiene gern ihren Namenswunsch, Josef, geäußert hätte, schwieg sie. Erleichtert fühle sie sich, weil die Mutter keine weiteren Fragen stellte. Als Malte Monate später geboren wurde, hörte sie die Mutter sagen: „Was für ein schöner Bengel und so gesund, wie Lütt Malte aus dem Gesicht geschnitten.“ Stiene ahnte, der Sohn würde das Kind ihrer Mutter werden. Und so war es dann auch, bis Malte achtzehn Jahre alt war und gegen den Frauenhaushalt rebellierte. Er fühlte sich bevormundet und eingezwängt in dörfliche Verhältnisse, die ihm antiquiert schienen. Und er empfand die eingeforderte Familientradition nicht mehr zeitgemäß. Zum endgültigen Bruch mit der Großmutter kam es, als er ihr im Zorn vorwarf: „Der lütte Malte hat recht getan, von Bord zu gehen, hier kann man ja nicht atmen ohne Genehmigung.“ Dann stürmte er aus dem Haus, kam am Abend wieder und packte seine Tasche. Wochen später erst erfuhren sie, dass Malte über die Ostsee abgehauen war, in einem geklauten Beiboot. Das war 1963 in der DDR.

Als es geschehen war, da hat Stiene ihm das übelgenommen. Nach einer gewissen Zeit kamen versöhnliche Briefe aus Hamburg. Auf der Werft machte er seinen Ingenieur, verdiente gut und heiratet später eine Hamburgerin. Er schipperte auf den Weltmeeren herum, und wenn er zuhause war, flog er mit seiner Frau in die Karibik. Damit waren Stiene und ihre Mutter fast raus aus seinem Leben. „Was ist bloß in den Bengel gefahren“, schimpfte Stienes Mutter. „Keiner aus unserer Familie wäre auf solche heimatlosen Gedanken gekommen. Stiene, wo hast du den aufgegabelt?“ Das war das erste Mal, dass sie nach dem

Vater des Kindes fragte. Einmal musste es ja sein, obwohl Stiene nicht mehr damit gerechnet hatte. „Mudding, willst du das nach all den Jahren wirklich wissen?“ „Würde ich sonst fragen?“ Stiene überlegte eine Weile, immer noch unsicher, ob und wie sie mit ihrer Geschichte beginnen sollte.

„Damals, als ich auf dem Gut als Mamsell arbeitete, du weißt schon, ein Jahr vor Vaddings Tod, da gab es einen polnischen Zwangsarbeiter und ich glaube, die anderen drei waren Russen oder Ukrainer. Ich brachte den Männern jeden Abend das Essen in ihre Unterkunft. Auch, weil einer von ihnen, Josef, so schön singen konnte. Es waren schwermütige Lieder in seiner Sprache und die anderen stimmten oft mit ein.“ Stienes Mutter unterbrach: „Sag bloß, weil er so schön singen konnte, hast du ein Kind von ihm bekommen? Ich hatte dich klüger eingeschätzt.“ „Was hat das mit Klug sein zu tun“, empörte sich Stiene, „ich war seine Liebe und er meine. Josef blieb der einzige Mann in meinem Leben. Wir wussten beide, dass wir damals im Krieg, mit dieser verbotenen Beziehung unser Leben aufs Spiel setzten, wenn wir uns nachts am Strand oder im Kiefernhain trafen. Wir hatten Angst, aber das Gefühl war stärker.“ „Warum ist er dann bei Nacht und Nebel kurz vor Kriegsende mit dem Beiboot von Karl Kliesow übers Wasser nach Dänemark abgehauen? Er hat Kliesow beklaut und von unserem Kutter den vollen Dieselkanister mitgenommen. Damals hat sich das ganze Dorf aufgeregt über so viel Unverfrorenheit, bloß du nicht, nun weiß ich auch warum.“ „Mudding, es ging um sein Überleben. Der Ortsgruppenführer wollte die Zwangsarbeiter erschießen, weißt du das denn nicht mehr?“ „Ach, der olle Peters, der hat doch nur sein großes Maul aufgerissen.“ „Hätten wir es darauf