3,99 €
Ohne Strom: nur ein Gedanke oder bevorstehende Realität? Unsere moderne Gesellschaft wär ohne Strom nicht denkbar. Doch was, wenn dieser plötzlich ausfällt? Für die Anthologie beleuchten zehn AutorInnen auf unterschiedliche Weise, was geschieht, wenn die Grundlage jeglichen modernen Lebens nicht mehr existiert und ein Blackout mit voller Wucht zuschlägt. Michael Krause-Blassl Gedichte ohne Strom Eine Zukunft ohne Strom? Andrea Nesseldreher Insel ohne Strom KINDERGESCHICHTE 2 Kinder, 2 Diebe und ein Stromausfall auf einem Schiff. Die beiden wachsen über sich hinaus. Ella Stein Katharina oder Hotel ohne Strom BEZIEHUNGSDRAMA In der Ehe von Lorenz und Nicole kriselt es, auch während des gemeinsamen Trips in die Berge. Als der Strom ausfällt, lernt er die attraktive Katharina kennen. Tom U. Behrens Der Schattenmann oder Aufzug ohne Strom THRILLER Es sollte ein perfekter Auftragsmord werden. Doch er hat nicht damit gerechnet, während eines Stromausfalls mit dem Opfer im Fahrstuhl festzustecken … Tira Beige Verwegenheit ohne Strom EROTIK Lea lässt sich auf einen gewagten Flirt mit dem verheirateten Nils ein. Ist der Stromausfall vielleicht ein Zeichen? Markus Mattzick Schrei ohne Strom POSTAPOKALYPSE Ein Stromausfall sorgt für Chaos auf der Autobahn und Menschen zum Äußersten getrieben werden. Markus Mattzick Herbst ohne Strom POSTAPOKALPYSE Dirk erlebt mit, wie Gewalt die Oberhand gewinnt und gerät dabei in Lebensgefahr. Markus Mattzick Weihnachten ohne Strom POSTAPOKALPYSE Tobias steht Weihnachten vollkommen isoliert da und sucht einen Ausweg … Christina Marie Huhn Stromlos am See oder See ohne Strom POSTAPOKALPYSE Eine Dorfgemeinschaft wird durch einen Stromausfall erschüttert. Mine und Juliane versuchen jeden Tag ihr Leben zu meistern. Judith Hages Aus oder Heimweg ohne Strom POSTAPOKALPYSE Während eines Stromausfalls bricht Panik aus. Marie findet ein kleines Mädchen, deren Mutter gerade verstorben ist … AlphaLimaEchoXray Tagebuch des Grauens oder Familie ohne Strom POSTAPOKALYPSE Auf authentische Weise beleuchtet der Twitterthread, wie die Tage aussehen könnten, wenn das Schreckensszenario einsetzt. Nico von Cracau Allein ohne Strom HORROR Mathilda arbeitet als Krankenschwester. Als der Strom ausfällt, steckt sie mit einem gerade Verstorbenen im Aufzug fest … Markus Mattzick Wanderschaft ohne Strom HORROR Stefan und Marion sind seit dem Stromausfall auf der Flucht. In der Natur treffen sie auf ein Rudel verwilderter Hunde …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Geschichten Ohne Strom
Eine Anthologie
AlphaLimaEchoXray - Andrea Nesseldreher - Christina Marie Huhn - Ella Stein - Judith Hages - Markus Mattzick - Michael Krause-Blassl - Nico von Cracau - Tira Beige - Tom U. Behrens
Das Buch
Das Buch:
An einem Nachmittag im Sommer fällt der Strom aus.
Komplett. Keine Elektrizität aus der Steckdose, keine Dynamos, keine Batterien funktionieren. Der Verkehr kommt zum Erliegen, die Wasserversorgung bricht zusammen und die Telekommunikation fällt aus.
Ein Szenario für postapokalyptische Geschichten.
Aber nicht nur: Zehn Autorinnen und Autoren haben Gedichte und Geschichten über diese Welt »Ohne Strom« geschrieben. Der Reiz dabei ist einerseits, dass die meisten aus einem anderen Genre kommen und in diesem „Ohne Strom“ geschrieben haben, und einige den Sprung gewagt und genrefremd gearbeitet haben.
Ein Gedicht und vierzehn Kurzgeschichten bieten kurzweilige Unterhaltung.
Michael Krause-Blassl
Gedichte ohne Strom
GEDICHT
Eine Zukunft ohne Strom? Für viele undenkbar. Das Gedicht zeigt auf erschreckende Weise, was uns bevorstehen könnte.
Andrea Nesseldreher
Insel ohne Strom
KINDERGESCHICHTE
Zwei Kinder, zwei Diebe und ein Stromausfall auf einem Schiff. Eine spannende Kindergeschichte über zwei mutige Geschwister, die über sich hinauswachsen.
Ella Stein
Katharina
oder
Hotel ohne Strom
BEZIEHUNGSDRAMA
In der Ehe von Lorenz und Nicole kriselt es immer wieder, auch während des gemeinsamen Trips in die Berge. Kurz bevor der Strom ausfällt, lernt er an der Hotelbar die attraktive Katharina kennen.
Tom U. Behrens
Der Schattenmann
oder
Aufzug ohne Strom
THRILLER
Es sollte ein perfekt kalkulierter Auftragsmord werden. Doch der Schattenmann hat nicht damit gerechnet, während eines Stromausfalls mit seinem Opfer in einem Fahrstuhl festzustecken …
Tira Beige
Verwegenheit ohne Strom
EROTIK
Lea lässt sich auf einen gewagten Flirt mit dem verheirateten Nils ein. Ist der Stromausfall vielleicht ein Zeichen dafür, noch einen Schritt weiterzugehen?
Markus Mattzick
Schrei ohne Strom
POSTAPOKALYPSE
Ein Stromausfall sorgt auf einer deutschen Autobahn dafür, dass das Chaos ausbricht und Menschen zum Äußersten getrieben werden. Hier bekommt jeder, was er verdient...
Markus Mattzick
Herbst ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Dirk muss sich nach dem Stromausfall in Umbach zurechtfinden. Er erlebt hautnah mit, wie die Gewalt die Oberhand gewinnt und gerät dabei selbst in Lebensgefahr.
Markus Mattzick
Weihnachten ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Auch Tobias ist ein Opfer des Stromausfalls in Umbach geworden. Weihnachten steht er vollkommen isoliert da und ringt sich zu einem letzten, tragischen Ausweg durch …
Christina Marie Huhn
Stromlos am See
oder
See ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Eine Dorfgemeinschaft wird durch einen Stromausfall erschüttert. Mine und Juliane versuchen jeden Tag aufs Neue ihr Leben zu meistern. Doch wie lange noch?
Judith Hages
Aus
oder
Heimweg ohne Strom
POSTAPOKALPYSE
Während eines Stromausfalls bricht Panik aus. Mitten auf der Straße findet Marie ein kleines Mädchen namens Ida. Da deren Mutter vor wenigen Minuten verstorben ist, muss Marie die Rolle als Ersatzmutter übernehmen – und das mitten im größten Chaos ihres Lebens.
AlphaLimaEchoXray
Tagebuch des Grauens
oder
Familie ohne Strom
TWITTERTHREAD/POSTAPOKALYPSE
Das Leben geht weiter – auch ohne Strom? Auf authentische Weise beleuchtet der Twitterthread, wie die Tage aussehen könnten, wenn das Schreckensszenario einsetzt.
Nico von Cracau
Allein ohne Strom
HORROR
Mathilda arbeitet als Krankenschwester. Sie steckt mit einem gerade erst Verstorbenen in einem Aufzug fest, als mit einem Schlag der Strom ausfällt. Bald ist sie nicht nur allein mit ihrer Angst, sondern wird auch von Hunger und Durst überfallen, die sie zum Äußersten treiben …
Markus Mattzick
Wanderschaft ohne Strom
HORROR
Stefan und Marion flüchten nach einem Stromausfall aus der Zivilisation hinein in die Natur. Hier treffen sie auf ein Rudel verwilderter Hunde, das sie angreift und so dafür sorgt, dass die Menschen selbst zu Tieren werden.
Ein Buch entsteht selten als Einzelarbeit.
Diese Anthologie ist all denen gewidmet, die Autorinnen und Autoren mit Rat und Tat zur Seite stehen! Vielen Dank für eure Hilfe!
Vorwort
Hallo,
und willkommen (zurück) in einer »Welt Ohne Strom«!
Zehn Schreibende haben sich dorthin getraut und ihre Eindrücke mitgebracht. Die Bandbreite reicht von Lyrik und einer Kindergeschichte über Beziehungsdrama und Thriller, bis hin zu Horror und Erotik. Dazu noch Postapokalyptisches und als besondere Literaturform ein Twitterthread.
Genau wie im Roman »Ohne Strom - Wo sind deine Grenzen?« spielt die Ursache des Stromausfalles keine Rolle, es geht darum, wie Menschen die Folgen eines Blackouts auf sehr verschiedene Weisen erleben.
Spannende Unterhaltung wünschen
Alex, Andrea, Christina Marie, Ella, Judith, Michael, Nico, Tira Beige, Tom und Markus
»Der äußere Fortschritt hat uns vom Ochsenkarren zum Düsenflugzeug geführt, aber innerlich hat sich das Individuum überhaupt nicht verändert.«
(Krishnamurti)
Ohne Strom
wird das Leben sehr schwer
ohne Strom
geht vieles nicht mehr.
Ohne Strom
platzt die dünne Schicht
von Kultur und Zivilisation
ohne Strom
scheinen Frieden und Liebe
wie Lügen und Hohn.
Ohne Strom
müssen wir weit in die Natur zurück
ohne Strom
finden wir nur in Kleinigkeiten
ein wenig Glück.
Ohne Strom
gilt es nur zu überleben
ohne Strom
wird es vieles nicht mehr geben.
»Wir haben Ideale ohne Zahl gehabt,
alle heiligen Bücher sind voll davon,
doch wir sind weiterhin gewalttätig.«
(Krishnamurti)
Über Michael Krause-Blassl
Michael fiel mir das erste Mal auf Facebook auf, wo er einerseits in verschiedenen Gruppen, in denen ich ebenfalls bin, Lyrik teilte, aber auch, weil er jemand ist, der in der Gegend um Wetzlar öfter Lesungen gehalten hat (aktuell wegen Corona etwas weniger). Nach einem ersten Kontaktversuch meinerseits war er es dann auf einmal, der mich kontaktierte, weil er (musikalische) Unterstützung für eine Lesung benötigte. Unsere gemeinsame Bekannte Andrea Nesseldreher hatte mich empfohlen.
Schnell haben wir festgestellt, dass wir gut harmonierten und nachdem ich ihn bei einer Lesung musikalisch unterstützt hatte, haben wir eine erste gemeinsame Lesung gehalten, weitere Veranstaltungen folgten. Wir hoffen, dass wir ab Sommer da wieder etwas mehr machen können.
Der pensionierte Lehrer hält Schreibkurse an der VHS und für Kinder, schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa und ist das Genre betreffend für mich schwer einzuordnen. Seine spannende Vita führte schon zu dem einen oder anderen längeren Gespräch.
http://www.wüstenvogel.de
Die Geschwister standen auf dem Sonnendeck der Autofähre »Uthlande«, die sie zur Insel Amrum bringen sollte. Die Geschwister waren die einzigen Passagiere an Deck, denn es nieselte, war windig und kalt. Ihre Eltern saßen im warmen Salondeck und tranken Kaffee und »Tote Tante«, so nannte man hier im Norden heißen Kakao mit einem Schuss Rum.
Anna zog die Kapuze ihrer Regenjacke fester um den Kopf und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Nordsee. Die Wellen trugen Schaumkrönchen und bewegten sich beinahe so, als wären sie lebendig. Trotz des Seegangs stampfte die behäbige Fähre unbeirrt gegen den Wind an und bewegte sich auf ihre Lieblingsinsel zu. Das Wummern der Dieselmotoren war auf dem Schiff allgegenwärtig.
»Wer den Leuchtturm als Erstes sieht, hat gewonnen!«, rief Finn.
»Und muss dem anderen im Café Pustekuchen ein Eis ausgeben!«, erwiderte seine Schwester Anna. Sie hielt ihrem Bruder die Hand hin und Finn schlug ein.
»Abgemacht!«
Es war Tradition unter den Geschwistern, nach dem Amrumer Leuchtturm Ausschau zu halten. Schlechtes Wetter konnte sie nicht davon abhalten. Finn blickte über die Reling auf das Autodeck unter ihnen. 75 Autos fanden dort in fünf engen Reihen Platz. In der letzten Reihe stand außerdem ein großer LKW. Er trug den Aufdruck der Supermarktkette, die auf Amrum einige Läden betrieb.
Finn bemerkte, dass eine schwarz gekleidete Gestalt sich zwischen die Autos schob. Die Person sah sich nach allen Seiten um und machte sich an einer Autotür zu schaffen. Finn stieß Anna an.
»Guck mal, der da, der sieht aus, als ob er das Auto aufbricht«, sagte er leise und deutete auf das Autodeck.
»Stimmt, mit Schlüssel wäre das Auto schon offen.«
Die dunkel gekleidete Gestalt öffnete nun die Tür, schob sich auf den Fahrersitz und stieg nach wenigen Sekunden mit einem kleinen, schwarzen Gegenstand in der Hand wieder aus.
»Das ist ein Navi!«, flüsterte Finn aufgeregt. »Der hat das Navi geklaut!«
Eine zweite Person, mit einer dunkelgrünen Jacke bekleidet, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, tauchte in der Autoreihe auf, hielt der ersten Gestalt einen Rucksack hin und das offensichtlich geklaute Navi verschwand darin.
Die erste Gestalt machte sich an zwei weiteren Autos in gleicher Weise zu schaffen, stieg kurz ein und reichte der Zweiten mehrere Gegenstände, die diese im Rucksack verschwinden ließ.
Atemlos und starr vor Entsetzten beobachteten Anna und Finn die Diebe. Diese sahen sich zwar immer wieder um, hatten die beiden Kinder auf dem Sonnendeck aber noch nicht entdeckt. Vermutlich gingen sie davon aus, dass sich bei Wind und Nieselregen dort niemand aufhielt.
»Die klauen Navis!«, hauchte Anna.
»Krass! Was machen wir denn jetzt?«, überlegte Finn.
»Mach mal einen Film, als Beweis!«
»Gute Idee.« Finn zog sein Handy aus der Tasche und richtete die Kamera auf die Diebe, die gerade ein weiteres Auto aufbrachen. Er beendete die Aufnahme, nachdem ein weiteres Gerät in den Rucksack gewandert war. Anna bemerkte einen Totenkopf-Aufdruck auf dem Rucksack.
»Gibt’s hier an Bord Polizei?«
»Ich glaub nicht. Wir sagen erst mal Mama und Papa Bescheid.«
Die Geschwister liefen zu ihren Eltern und berichteten aufgewühlt, was sie beobachtet hatten. Der Vater runzelte die Stirn. »Und ihr seid sicher, dass es Diebe waren?«
»Auf jeden Fall, das haben wir genau gesehen«, sagte Finn.
»Können wir vom Schiff aus die Polizei anrufen? Und die verhaftetet die Diebe dann am Fähranleger?«, fragte Anna.
»Das ist eine gute Frage. Wir sollten den Kapitän einschalten«, schlug die Mutter vor. »Geht ihr zur Brücke, ich bleibe hier.«
Finn, Anna und ihr Vater machten sich auf den Weg zur Brücke. An der Tür wollte einer der Seeleute sie abfertigen. »Es tut mir leid, wir können im Augenblick keine Fahrgäste auf die Brücke lassen. Wir haben Ostwind und extremes Niedrigwasser, die Mannschaft braucht alle erdenkliche Konzentration, um das Schiff in der Fahrrinne zu halten. Beim nächsten Mal können Sie gerne einen Blick auf die Brücke werfen.«
Papa kratzte sich am Kopf. »Wir möchten nicht zusehen, sondern eine Stratftat melden.«
»Eine Strafttat?«
»Ja, meine Kinder haben beobachtet, wie Autos aufgebrochen und Gegenstände entwendet wurden.«
»Ich hab einen Film als Beweis.« Finn hielt sein Handy hoch.
»Okay«, sagte der Mann. »Dann kommen Sie rein.« Er wandte sich an den Mann, der vor den Steuerinstrumenten saß. »Bernd? Kommst du kurz rüber? Ich übernehme für dich.«
»Bernd Krüger, Kapitän der Uthlande«, stellte sich der Angesprochene vor. Mit seinem dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart sah er wie ein echter Kapitän aus.
Papa stellte sich, Anna und Finn vor und die Kinder berichteten, was sie gesehen hatten. Finn zeigte sein Handyvideo.
Kapitän Krüger strich über seinen Bart. »Tatsächlich, das scheinen professionelle Autoknacker zu sein. Das habt ihr gut beobachtet«, lobte er. »Das ist in den letzten Monaten häufiger vorgekommen und es scheint, als hättet ihr die Täter auf frischer Tat ertappt. Ich benachrichtige die Polizei auf Amrum. Es wird dann eine Durchsuchung aller Personen und Gepäckstücke geben.« Er wandte sich an Finn. »Dein Video liefert dazu wichtige Hinweise. Man erkennt die Statur und die Kleidung die der Täter. Die Polizei befragt euch sicher auch.«
Anna und Finn kehrten mit stolz geschwellter Brust auf das Salondeck zur Mutter zurück. »Stell dir vor, wir werden als Zeugen befragt, wenn wir in Wittdün sind.«
Mama nickte lächelnd. »Da beginnt unser Urlaub ja gleich mit einem echten Abenteuer.« Voller Ungeduld rutschten Anna und Finn auf ihren Sitzen hin und her. Sie konnten kaum abwarten, bis die »Uthlande« endlich den Fähranleger von Wittdün erreichen würde. Anna starrte auf den Bildschirm, der die Schiffsposition anzeigte und wünschte sich, der blinkende Punkt, würde sich schneller bewegen. Vergessen war die Wette um den Leuchtturm.
»Können wir nicht schneller fahren?«, stöhnte Anna. Aber die Fähre stampfte mit derselben Geschwindigkeit durch das nordfriesische Wattenmeer, wie sie es immer tat.
Mit einem Mal erstarb das eintönige Wummern der Dieselmotoren. Irritiert blickten sich die Fahrgäste um. Die Gespräche an den einzelnen Tischen verstummten und es war geradezu gespenstisch still.
»Was ist denn los?«, fragte Anna in die Stille hinein. Papa zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Im Flüsterton fügte er hinzu: »Es ist wohl mit dem Motor etwas nicht in Ordnung. Bestimmt gibt es gleich eine Durchsage von Kapitän Krüger.«
»Das Licht ist aus«, bemerkte Finn. Zwar war es helllichter Tag, über den Tischen im Salon waren die Lampen dennoch angeschaltet gewesen. Nun brannten sie nicht mehr. Auch der Bildschirm war dunkel.
Ringsherum wurden wieder Stimmen laut. »So ein Mist!«, schimpfte ein Mann am Nachbartisch, der an seinem Laptop gearbeitet hatte. »Jetzt ist der Strom weg. Hoffentlich ist meine Datei nicht kaputt, wenn der Strom wieder angeht«, sagte er zu der Frau, die ihm gegenübersaß. »Müsste es nicht eigentlich mit dem Akku laufen?«, fragte die Frau.
»Mein Handy geht auch nicht«, hörten sie jemanden von einem weiter entfernten Tisch sagen.
»Vielleicht hat die Polizei das Schiff gestoppt?«, überlegte Finn. »Wegen der Diebe?«
»Das glaube ich nicht. Und selbst wenn, gäbe es keinen Grund den Strom auszuschalten«, sagte Papa.
Eine Weile geschah nichts. Die Fahrgäste unterhielten sich und spekulierten, was passiert war. Unruhig standen einige auf, gingen zwischen den Tischen entlang und sahen sich um. »Was ist denn hier los?«, fragte ein Fahrgast eine der Bedienungen, die ebenfalls ratlos um sich blickten.
Gerade als jemand sagte »Ich gehe jetzt zum Käpt´n, ich will wissen was los ist«, näherten sich Kapitän Krüger und zwei weitere Männer in Uniform der Schiebetür zum Salon. Normalerweise hätte sich die Tür automatisch geöffnet, aber jetzt tat sich nichts. Der Kapitän öffnete eine Klappe oberhalb der Tür und entriegelte sie. Dann schob er die Tür von Hand beiseite und trat ein.
»Moin. Werte Fahrgäste, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass unser Schiff einen Motorschaden erlitten hat und auch sonst alle Systeme ausgefallen sind.«
Ein Raunen ging durch die Anwesenden.
»Sie haben sicher bemerkt, dass der Strom an Bord des Schiffes ausgefallen ist. Wir haben dafür keine Erklärung. Weder Funkgeräte noch Telefone funktionieren. Daher haben wir auch keine Möglichkeit, Hilfe von Amrum oder vom Festland anzufordern.« Kapitän Krüger sah sich um. »Funktioniert eines Ihrer Handys?«
Wer bislang noch nicht auf sein Handy geschaut hatte, nahm es nun in die Hand, nur um festzustellen, dass bei allen Geräten das Display dunkel blieb. Kapitän Krüger erntete nur Kopfschütteln. Das Gemurmel wurde lauter.
»Wir werden langsamer.«
Finn sah aus dem Fenster. Das Schiff trieb zwar weiter vorwärts, hatte aber deutlich an Fahrt verloren.
»Was passiert jetzt?«, rief jemand.
»Wie kommen wir hier weg?«
Anna umklammerte Mamas Hand. »Sinkt das Schiff jetzt?«, flüsterte sie. In ihre Augenwinkel stahlen sich Tränen.
Kapitän Krüger antwortete an Mamas Stelle. »Nein, Anna.«
Anna freute sich, dass er sich an ihren Namen erinnerte.
»Das Schiff wird ganz sicher nicht sinken«, sagte er leise zu ihr.
Dann wandte er sich laut an alle anderen Fahrgäste: »Im Augenblick sind wir manövrierunfähig. Unser Bordmechaniker wird versuchen, den Motor wieder in Gang zu bringen, aber sicherheitshalber werden wir das Schiff evakuieren. Bitte bewahren Sie Ruhe und halten Sie sich an die Anweisungen der Crew.«
Das anfänglich verhaltene Raunen verwandelte sich schlagartig in lautes Stimmengewirr. Alle redeten und riefen durcheinander, Kinder begannen zu weinen, Hunde bellten und viele Fahrgäste sprangen aufgewühlt auf. Einige wollten an den Crew-Mitgliedern vorbei laufen, um auf das Autodeck zu gelangen. Kapitän Krüger hielt sie auf. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie das Autodeck nicht mehr betreten dürfen.«
»Warum?«
»Ich will doch noch meine Sachen holen!«
»Meine Papiere sind im Auto!«
»Ich brauche meinen Rucksack, da sind wichtige Medikamente drin!«
Der Kapitän schüttelte jedoch energisch den Kopf. »Wenn jeder noch Gepäck mitnimmt, sind die Rettungsboote überladen, das kann ich nicht verantworten.«
Als er das Wort Rettungsboot erwähnte, schrien mehrere Fahrgäste erschrocken auf. Eine Frau wies aus dem Fenster. »Bei dem Wetter in einem Rettungsboot? Wie soll das gehen?«
«Wir werden alle sterben!«, jammerte eine Frau mit panischer Stimme.
Finns Augen weiteten sich. Papa der bislang ruhig geblieben war, stand nun ebenfalls auf. »Bitte bleiben Sie ruhig! Panik bringt uns nicht weiter!«, rief er in die Menge.
Der Kapitän blickte ihn dankbar an und ergänzte. »Es besteht keine unmittelbare Gefahr. Wir beginnen nun mit dem Abfieren der Rettungsinseln.«
In diesem Moment durchfuhr ein heftiger Ruck das Schiff und es kam unmittelbar zum Stehen. Diejenigen, die gestanden hatten, stürzten zu Boden oder konnten sich gerade noch irgendwo festhalten. Auch Papa strauchelte und taumelte gegen Anna. Einige schrien, andere stöhnten. Wieder war Kinderweinen zu hören.
Jetzt wurde auch der ruhige Kapitän unruhig. Mit gehetztem Blick sah er sich um. »Ist jemand verletzt?«
Niemand antwortete. Einige Personen rieben sich Schulter oder Knie, aber ernsthafte Blessuren schien niemand zu sein haben. Der Kapitän atmete auf.
»Was war das?« Finn sprach aus, was alle dachten.
Einer von der Crew antwortete. »Wir sind vermutlich auf eine Sandbank längs der Fahrrinne aufgelaufen. Wir haben ablaufendes Wasser und der Ostwind treibt das Wasser noch schneller hinaus als gewöhnlich. Die Fahrrinne ist an dieser Stelle relativ eng und wir haben das Fahrwasser verlassen.«
Finn blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass in unmittelbarer Nähe zum Schiff tatsächlich eine Sandbank lag, die in regelmäßigem Abstand von den Wellen überspült wurde.
Die Crew begann, die Passagiere in Gruppen von etwa 20 Personen einzuteilen, darum bemüht, Familien nicht zu trennen. Jeder der Seeleute und der Stewards, die für die Bewirtung an Deck zuständig waren, sprach den Menschen aufmunternde oder beruhigende Worte zu, denn allmählich spitzte sich die Situation zu. Einige Personen, mehrere Kinder und zwei ältere Damen hatten zu schluchzen begonnen und waren kaum noch zu beruhigen. Einige andere versuchten sich vorzudrängeln. Kapitän Krüger sorgte mit befehlsgewohnter Stimme jedoch rasch für Ordnung.
»Es besteht kein Grund zur Panik oder zum Drängeln. Wir haben ausreichend Rettungsinseln an Bord. Sie werden gerade klar gemacht. Es bekommt jeder einen Platz, das garantiere ich Ihnen.«
Finn fiel erst jetzt auf, wie viele Personen sich an Bord der Fähre befanden. Er konnte schlecht schätzen, aber mehr als 500 mussten es sein. Finn, Anna und die Eltern waren mit der ersten Gruppe auf das Sonnendeck geschleust worden, weil sie zufällig dicht an der Tür gesessen hatten.
Finn dachte an die Diebe. Die Diebstähle interessierten im Augenblick aber keinen mehr. Vermutlich hatte der Kapitän zwar vor dem Stromausfall über Funk eine Meldung an die Polizeistation auf Amrum abgesetzt, doch jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Draußen erhielten Anna, Finn und ihre Eltern eine Rettungsweste, die sich im Inneren der Sitzbänke an Deck befanden. Einer der Seeleute sorgte dafür, dass alle die Westen korrekt anlegten.
Zwei Mitglieder der Crew waren dabei, einen kleinen Behälter mithilfe eines Krans ins Wasser abzulassen. An langen Seilen wurde der Kasten mit einem Kran über Bord gehievt.
»In die kleine Kiste sollen alle Passagiere hineinpassen?« Finn riss ungläubig die Augen auf.
Einer der Seeleute hörte ihn und rief ihm zu: »Eine solche Rettungsinsel kann 200 Personen aufnehmen.«
Die weiße Box hatte die Wasseroberfläche erreicht und tanzte auf den Wellen. Einer aus der Crew löste mit einem Seil den Mechanismus aus. Die Box klappte auf und mittels Druckluft wurde eine gigantische Rettungsinsel aufgeblasen.
Dicht an der Bordwand entlang wurde ein schlauchartiges Gebilde aus Stoff angebracht, in dessen Inneren sich eine Treppe aus Netzgewebe befand. Zwei Crewmitglieder kletterten über die Reling nach unten in die Rettungsinsel, die sich inzwischen vollständig entfaltet hatte und einem riesigen, teilweise überdachten Schlauchboot glich. Die ersten Passagiere kletterten vorsichtig die schwankende Behelfstreppe hinab und kamen wohlbehalten unten an.
Anna und Finn standen mit den Eltern dicht an der Reling und beobachteten alles genau. Während Anna stumm die Hand der Mutter umklammerte, stellte Finn pausenlos Fragen. Einige konnte der Vater beantworten, andere Informationen erhielten sie von den Seeleuten.
»Warum funktioniert der Kran ohne Strom?«
»Das ist ein Davit-Kran, der funktioniert nur mit Schwerkraft.«
Nun waren auch Anna, Finn und ihre Familie an der Reihe. Mama stieg als Erste hinab. »Es ist gar nicht so schwierig, Anna!« rief sie. »Nur Mut!«
»Das ist so ähnlich wie das Klettergerüst auf dem Spielplatz.« Auch Finn versuchte seiner Schwester Mut zu machen. Ganz einerlei war ihm jedoch selbst nicht, als er hinter ihr her kletterte. Die Nottreppe schwankte unter seinen Schritten. Finns Herz klopfte bis zum Hals und er war erleichtert, als Mama ihn unten in Empfang nahm. Papa folgte als Letzter.
Sie fanden einen überdachten Sitzplatz. Es nieselte noch immer. Der Wind hatte zwar abgeflaut, doch war er kräftig genug, um die Rettungsinsel schaukeln zu lassen. Finn und Anna waren froh über ihre warmen Jacken. Finn beobachtete die Evakuierung des Schiffes. Zwei weitere Rettungsinseln wurden besetzt. Anna dagegen wollte nichts davon sehen und vergrub ihr Gesicht an Mamas Brust.
Die Seile, die die Insel noch mit der »Uthlande« verbanden, wurden gekappt und das Gefährt trieb rasch mit der Strömung davon. Die beiden Crewmitglieder hatten die in der Insel verstauten Ruder übernommen und stießen die Insel immer wieder von der nahen Sandbank ab.
»Wir haben Glück«, rief der eine den Passagieren zu. »Das ablaufende Wasser zieht uns in Richtung Amrum und der Wind weht aus der richtigen Richtung. Wenn es gut läuft, treiben wir direkt auf den Wittdüner Hafen zu.«
»Stimmt, wir sind ja direkt vor Wittdün!«, rief Finn. Anna blickte auf. Der Wittdüner Fähranleger war nur wenige hundert Meter entfernt.
Die meisten Passagiere hatten sich inzwischen beruhigt, vereinzeltes Schluchzen und leises Gemurmel war zu hören. Der kühle Wind ließ die meisten frösteln. Familien saßen dicht nebeneinander, viele umarmten sich.
Finn hörte dem leisen Gespräch der beiden Seeleute zu.
»Anscheinend hat noch keiner mitbekommen, dass wir Hilfe benötigen.«
»Wie auch? Wir konnten ja weder funken noch telefonieren.«
»Aber wir sind so dicht vor Amrum, da muss doch einer von der Insel sehen, was hier los ist.«
»Das kann ich mir auch nicht erklären.«
Finn blickte zum Fähranleger. Sie waren ein gutes Stück näher gekommen, aber weder kam ihnen ein Schiff zu Hilfe, noch waren Personen zu sehen, die die Ankunft der Rettungsinseln vorbereiteten. Finn drehte sich um und konnte drei weitere Rettungsinseln hinter der ihren erkennen. Alle wurden vom Wind und dem Sog des ablaufenden Wassers in die gleiche Richtung getrieben und schaukelten nur ein paar dutzend Meter voneinander entfernt auf dem Wasser.
»Da!«, rief plötzlich einer der Seeleute. »Da ist einer von der Reederei!«
»Hallo! Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«, schrie der andere.
Die Passagiere, die gesessen hatten, standen nun auf und begannen ebenfalls laut zu rufen.
»Hilfe!«
»Wir sind in Seenot!
»SOS!«
Alle schrien durcheinander. Der Reedereimitarbeiter wurde aufmerksam und gab winkend Handzeichen.
»Er hat uns gesehen«, sagte Anna erleichtert.
»Warum tun die nix?«, fragte Finn.
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte einer der Seemänner wütend. »Die sollen ein Schiff schicken, das uns in den Hafen schleppt.«
»Und wo bliebt eigentlich die »Ernst-Meier-Hedde«?«
Finn wusste vom letzten Urlaub auf Amrum, dass das der Name des Seenotrettungskreuzers war, der im Amrumer Seezeichenhafen lag und bei Notfällen zum Einsatz kam.
Sie waren inzwischen so nah an den Amrumer Hafen heran getrieben, dass sie verstehen konnten, was der Mann am Ufer rief.
»Können nichts tun! Stromausfall!«, brüllte er aus Leibeskräften.
»Stromausfall?«
»Auch auf der Insel?«
»Und warum fährt dann kein anderes Schiff mehr?«
Die gleichen Fragen schwirrten quer über die Rettungsinsel und nun wurden die Passagiere doch wieder unruhig. Einer sprang sogar auf und begann, seine Kleidung auszuziehen. »Ich schwimme jetzt, ich will nicht mehr warten, bis wir hier ertrinken!«
Die beiden Seeleute hatten ihre liebe Not, alle zu beruhigen.
Der Mann am Ufer hatte weitere Männer herbeigerufen. Einige Personen kamen aus dem Reedereigebäude gelaufen und trugen Bündel auf ihren Armen.
Die Seeleute und vier weitere Passagiere versuchten nun mit Hilfe der Paddel, die Rettungsinsel in Richtung der Kaimauer zu bewegen. Sie paddelten aus Leibeskräften und nach ein paar Minuten war das scheinbar Unmögliche geschafft. Sie warfen den Männern am Ufer ein Seil zu, mithilfe dessen die Insel an den Rand der Kaimauer gezogen wurde. Jemand hatte eine Strickleiter organisiert und an einem Poller befestigt. Über die Leiter verließen die Geretteten die Rettungsinsel, allen voran ein kleines Mädchen. Von unten gestützt und von oben gezogen, stand sie bald darauf sicher am Ufer und eine Dame legte ihr eine Decke um. Auch Anna, Finn und die Eltern erhielten Decken.
»Ich würde Ihnen gerne etwas Warmes zu trinken anbieten, aber wir haben einen Stromausfall, scheinbar auf der ganzen Insel. Ich kann weder Tee noch Kaffee kochen«, sagte die Dame. Ein Schildchen an der Brust wies sie als Mitarbeiterin der Reederei aus.
»Danke, es geht schon«, sagte Mama.
»Wir sind erst mal froh, an Land zu sein.«
Die Familie umarmte sich. An der Kaimauer hörten sie ein Streitgespräch zwischen einem der geretteten Passagiere und einem Reedereimitarbeiter.
»Warum ist keine Rettungsmannschaft anwesend? Wo ist die Polizei? Was ist mit der Seenotrettung, die müssten doch längst vor Ort sein!«
»Es wusste niemand von der Havarie der Fähre. Wir haben erst vor ein paar Minuten gesehen, was passiert ist.«
»Wie kann das sein? Das ist ihr verdammter Job, sich um Verunglückte zu kümmern. Nicht mal Kaffee gibt es hier!«
»Wir haben einen inselweiten Stromausfall und haben mit anderen Problemen gekämpft. Es gibt nicht mal mehr Telefon.«
»Das wird Folgen haben. Ich mache sie schadenersatzpflichtig. Ich bin Anwalt.«
Der Reedereimitarbeiter zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen, dass Ihnen das was nützt.«
Der Mann war noch immer erbost, musste aber einsehen, dass er im Augenblick nichts ausrichten konnte.
»Der ist vielleicht doof!« Anna zog die Decke fester um sich. »Der soll froh sein, dass er nicht ertrunken ist.« Finn nickte. Er blickte noch einmal auf sein Handy, doch noch immer blieb das Display dunkel. Auch die Handys von Mama und Papa funktionierten nicht.
»Was passiert denn jetzt?«
Papa, der sonst auf fast alles eine Antwort hatte, wusste in diesem Fall auch keinen Rat.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Am besten, wir sehen uns nach einer Unterkunft um, bis die Fähre in den Hafen geschleppt wird und wir unser Auto wieder bekommen. Aber wie, ohne Internet und Telefon?«
Zwei Polizisten auf Fahrrädern trafen ein und notierten die Namen aller Geretteten.
»Wir müssen überprüfen, ob alle Passagiere der Uthlande gerettet wurden.«
»Das dauert aber noch, denn die Passagierlisten im Computer können wir wegen des Stromausfalls nicht einsehen.«
»Weiß man den Grund des Stromausfalls?«, fragte Papa.
»Leider nein. Es weiß auch niemand, warum keine Autos mehr fahren. Sie sind Touristen, nehme ich an?«, fragte der Polizist.
»Ja.«
»Haben Sie eine Unterkunft?«
»Jein«, antwortete Papa. »Wir wollen zelten und haben einen Platz reserviert. Aber unser Zelt ist im Auto an Bord der Fähre.«
»Ich kann Ihnen leider wenig Hoffnung auf ein anderes Quartier machen. Die Insel ist ausgebucht. Es ist Hochsaison.« Der Polizist blickte in Richtung der havarierten Fähre. »Außer vielleicht die 18 Uhr-Fähre kommt nicht und einige Betten bleiben deswegen frei. Aber ohne Telefon lässt sich das nicht koordinieren. Am besten, Sie begeben sich zum Campingplatz, vielleicht haben die eine Lösung.«
Dann wandte sich der Polizist dem nächsten Grüppchen zu. Die Menge der Geretteten aus der ersten Rettungsinsel löste sich allmählich auf. Einheimische machten sich auf den Heimweg, Touristen gingen zu ihren Unterkünften.
Finn, Anna und die Eltern mieteten Fahrräder im Fahrradverleih direkt am Fähranleger und Papa zahlte für drei Tage in bar. Bis dahin würde der Strom zwar sicherlich wieder da sein, aber dann konnten sie die Räder für Ausflüge über die Insel nutzen.
Glücklicherweise hatte es aufgehört zu nieseln, als sie sich auf den Weg durch Wittdün hindurch machten. Überall schnappten sie Gesprächsfetzen auf, in denen es sich um den Stromausfall drehte.
»Ich kaufe ein paar Brötchen«, rief Mama, als sie an der Bäckerei vorbei fuhren.
»Gute Idee.«
Sie hielten an und als Mama an der Reihe war, waren die meisten Regale leer. Nur ein halbes Dutzend Brote, ein paar Brötchen und etwas Kuchen waren noch zu sehen.
»Ich hätte gern zehn Brötchen.«
»Ich bedauere«, sagte die Verkäuferin. »Sechs Vollkornbrötchen kann ich Ihnen anbieten. Die Leute kaufen wie blöd, seit der Strom ausgefallen ist. Als ob der nicht bald wiederkäme.« Die Verkäuferin lachte.
Mama kaufte zusammen mit den Brötchen noch ein Brot und eine Kuchenplatte. Dann setzten sie ihren Weg fort und erreichten den Campingplatz nach zehn Minuten.
Der Campingplatzinhaber empfing sie in seinem Büro. »Familie Jung? Moin. Sie hatten reserviert, ich erinnere mich.«
»Ja, wir hatten reserviert, für ein Zelt. Aber die Fähre hatte einen Motorschaden. Wir wurden evakuiert und mussten unsere Campingausrüstung auf dem Schiff lassen. Ich habe keine Ahnung, wann wir unsere Sachen wiederbekommen.«
»Was denn, die Fähre auch? Hier bei uns springen die Autos nicht an. Und der Strom ist auf der ganzen Insel ausgefallen, soweit ich gehört habe. Merkwürdig.«
»Wir wissen jetzt nicht, wo wir unterkommen sollen. Die Insel ist wohl ausgebucht.«
»Das stimmt. Aber Sie haben Glück. Ich habe heute eine Stornierung reinbekommen für einen der Wohnwagen, die wir vermieten. Den können Sie für´s Erste haben.«
Mama atmete erleichtert auf. »So ein Glück! Vielen Dank!«
»Ich hab schon gedacht, wir müssten heute unter der Brücke schlafen«, scherzte Papa.
»Auf Amrum gibt es doch gar keine Brücke?« Anna sah Papa skeptisch an.
»Das ist ja das Schlimme!«, gab Papa zurück. Anna drehte ihm eine Nase.
Der Campingplatzinhaber nahm einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und ging voraus. Während sie das Sanitärgebäude passierten, erklärte er: »Leider funktioniert wegen des Stromausfalls die Wasserversorgung nicht und natürlich können Sie momentan auch nicht in der Gemeinschaftsküche kochen. Aber Sie haben Gasherd und Toilette im Wagen, damit sind Sie unabhängig. Unser Laden hat noch geöffnet. Im Moment akzeptieren wir allerdings nur Barzahlung, bis die Kasse wieder funktioniert. Ihre Gastkarte kann ich Ihnen auch erst dann ausstellen. Ich denke aber, morgen ist alles wieder in Ordnung. So ein Stromausfall dauert ja nicht ewig.«
Er schloss den Wagen mit der Nummer sieben auf und zeigte ihnen alles. Anna und Finn begutachteten begeistert die Etagenbetten und stritten sofort, wer oben schlafen durfte.
Mama ließ sich auf die Sitzbank sinken. »Mein Gott, was für ein Abenteuer. So hatte ich mir unseren Urlaub nicht vorgestellt. Erst Seenot, dann Stromausfall und jetzt sitzen wir hier ohne unser Gepäck. Ich hoffe, das bald alles wieder normal ist.«
Papa nickte.
Dann stand Mama wieder auf und ging zur Tür. »Ich gehe uns etwas zu essen kaufen.«
Während die Mutter zum Einkaufen ging, erkundeten Anna und Finn den Campingplatz. Auf dem großen freien Platz vor den Versorgungsgebäuden standen Tische und Bänke. Einige waren besetzt und auf der vordersten Bank saßen zwei Mädchen. Das jüngere Mädchen schien in Annas Alter zu sein und beäugte die Geschwister neugierig. Das zweite Mädchen war deutlich älter und musterte sie abfällig mit mürrischem Gesichtsausdruck.
Dennoch sprach Anna die beiden an. »Hallo. Ich bin Anna und wer seid ihr?«
»Was geht´s dich an?«, versetzte die Ältere.
Die Jüngere stieß sie in die Seite. »Sei nicht so unfreundlich.« Sie wandte sich an Anna. »Ich bin Mia und das ist meine Schwester Kim. Sie ist sauer, weil sie nicht mit ihren Kumpels abhängen kann, sondern auf mich aufpassen muss.«
Kim schnaubte und wischte eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie trug einen Undercut mit lila gefärbten Strähnen.
Anna deutete auf Finn. »Das ist mein Bruder Finn. Wohnt ihr auch hier auf dem Platz?«
Mia nickte. »Ja, dort drüben im Zelt, mit unserer Mutter. Die ist gerade nicht da. Sie musste ins Krankenhaus nach Föhr und kommt nachher mit der letzten Fähre zurück.«
Kim fuhr sie an. »Musst du gleich alles austratschen? Das muss doch nicht jeder wissen.«
Mia grinste. »Mama will nicht, dass jemand weiß, dass wir Mädels alleine sind.«
Bei dem Wort Mädels verdrehte Kim die Augen.
»Sie hat immer Angst um uns. Aber erstens kann Kim mich beschützen, sie kann nämlich Taekwondo. Und zweitens kommt Mama gleich zurück.« Mia sah auf ihre Uhr. »Glaube ich zumindest, meine Uhr funktioniert nämlich nicht mehr. Genau wie Kims Handy.«
Kim stöhnte. »Erinnere mich bloß nicht daran.« Sie nahm ein Handy aus der Jackentasche und blickte darauf. »Ich wollte heute Abend noch meine Kumpels treffen. Aber ohne Handy kann man sich ja nicht verabreden.«
»Du sollst die eh nicht mehr treffen, hat Mama gesagt. Die sind kein Umgang für dich«, sagte Mia.
»Was weißt du schon.« Mit einem wütenden Schnauben steckte Kim das Handy wieder ein.
Jetzt schaltete sich Finn ein. »Handys funktionieren nicht mehr, auch kein Telefon und kein Strom. Autos fahren nicht und die Fähre, mit der wir gekommen sind, hatte einen Motorschaden. Wir waren in Seenot und sind mit einer Rettungsinsel nach Wittdün gekommen.«
Mia machte große Augen. »Echt?« Auch Kim zeigte sich ein kleines bisschen beeindruckt.
Finn und Anna berichteten über die Rettungsaktion. »Und weil der Motor von unserer Fähre nicht mehr lief und auch andere Motoren nicht laufen, könnte es sein, dass auch die Fähre nicht fährt, mit der eure Mutter kommen wollte.«
Kim kniff die Augen zusammen. »Du machst Witze!«, blaffte sie Finn an. »Dann muss ich den ganzen Abend bei dir bleiben.« Sie bedachte ihre Schwester mit einem wütenden Blick und verschränkte die Arme. »Na toll. Dann kann ich das Treffen mit Aik und Joris ja gleich vergessen.«
Mia hingegen schien Finns Vermutung zu ängstigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Meinst du wirklich, dass Mama nicht kommt? Oder ist die Fähre vielleicht gesunken, wenn der Motor kaputt ist und Mama ist ertrunken?«
Kim rollte wieder mit den Augen. »Ach, so ein Quatsch. Du musst nicht alles glauben, was der da erzählt.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Finn. »Und hör auf zu flennen, du Heulsuse. Mama wird schon gleich kommen, die lässt uns doch nicht einfach im Stich.«
Finn ärgerte sich über Kims herzlose Reaktion. »Woher willst du das wissen? Du hast ja überhaupt nicht mitgekriegt, was da draußen los ist.«
»Ach ja und du bist der Seenotexperte, bloß weil du mit ´nem Rettungsboot hierher geschippert bist?«
»Nee, aber ich hab mitgekriegt, was alles nicht funktioniert und kann zwei und zwei zusammenzählen«, erwiderte Finn.
»Mitgekriegt, mitgekriegt«, äffte Kim ihn nach. »Du bist wohl Mister Oberschlau!«
Währenddessen hatte Anna einen Arm um Mia gelegt, der dicke Tränen über die Wangen kullerten. »Deine Mama wird schon bald kommen, wenn nicht heute Abend, dann morgen Früh.« Anna versuchte zu trösten. »Und nur weil der Motor bei so einem Schiff kaputt ist, geht es nicht gleich unter. Unsere Fähre ist auf eine Sandbank aufgelaufen und einfach stehen geblieben und nicht untergegangen.«
Obwohl Anna Mia Mut zusprach, konnte sie deren Angst verstehen. Sie selbst hatte sich sehr gefürchtet, als die Passagiere der Uthlande evakuiert worden waren. Mia wischte die Tränen vom Gesicht und sah Anna mit bangem Blick an. »Meinst du wirklich?«
Anna nickte. »Klar!« Sie drehte sich zu Finn und Kim um, die sich noch immer anzickten. »Hört auf, das bringt doch nix.« Die beiden verstummten.
In der Zwischenzeit hatte Mama im Laden die nötigsten Dinge eingekauft und trug alles in einem der Einkaufskörbe, die eigentlich nur im Laden verwendet werden durften. Weil sie keine Tasche dabei hatte, hatte die Verkäuferin ihr erlaubt, den Korb mitzunehmen und ihn später zurückzubringen.
»Wir essen jetzt zu Abend. Kommt bitte mit«, sagte sie zu Anna und Finn.
»Mama?« Anna hatte während des Gesprächs einen schnellen Entschluss gefasst. »Dürfen Mia und Kim bei uns mitessen?«
Irritiert blickte die Mutter sie an. »Warum denn das? Bestimmt gibt es bei ihnen auch gleich Abendessen.« Man konnte Mama ansehen, dass sie nicht begeistert darüber war, zwei fremde Kinder zum Abendessen einzuladen. Anna blieb hartnäckig.
»Nein, die beiden sind alleine hier, ihre Mutter ist im Krankenhaus und kommt erst morgen wieder zurück. Wir haben uns gerade angefreundet. Bitte Mama!« Anna lächelte zuckersüß. Kim und Finn war jedoch anzusehen, dass sie sich alles andere als angefreundet hatten.
Mama zögerte und blickte zwischen den Kindern hin und her. »Na gut, meinetwegen. Aber nur, weil heute irgendwie so ein komischer Tag ist.« Mama lächelte die fremden Mädchen an. »Ihr könnt gerne bei uns mitessen.«
Kim sah sie mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Überraschung an. »Nee, danke, ich bin nicht scharf auf Familienabendessen. Geh du ruhig mit, Mia, ich komm allein zurecht.«
Mia stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast Mama versprochen, auf mich aufzupassen. Also halt dich gefälligst dran.« Zu Mama sagte sie: »Meine Schwester ist gefährlich, sie kann Taekwondo. Legen Sie sich nicht mir ihr an!«
Mama sah zu Kim, die mit finsterem Blick auf den Boden starrte und nickte. »Ja, das werde ich mir merken.« Man sah ihr an, dass sie auch vorher schon der Überzeugung gewesen war, mit Kim solle man sich besser nicht anlegen.
Kim lenkte ein. »Von mir aus!«, knurrte sie.
Und so kam es, dass Familie Jung mit zwei wildfremden Mädchen zu Abend aß. Auf dem Gaskocher im Wohnwagen hatte Mama zwei Dosen Ravioli warm gemacht. Weil es kein fließendes Wasser gab, wischte sie die Teller anschließend mit einem Tuch ab und verteilte unter den Kindern noch Schokolade. Mama hatte auch eine Packung Teelichter gekauft und als es dunkel wurde, zündeten sie einige davon an und spielten ein Kartenspiel, dass sie im Wohnwagen gefunden hatten.
»Eigentlich ganz romantisch, so ein Stromausfall«, meinte Anna.
»Na, ich kann mir Schöneres vorstellen«, erwiderte Mama.
»Morgen ist der Strom sicher wieder da«, sagte Papa.
Später brachte Papa Kim und Mia ebenfalls mit Kerzenlicht zu ihrem Zelt – trotz Kims Protest. Im Wohnwagen lagen Finn und Anna in ihren Betten - mit normalen Kleidern und in Bettzeug ohne Bettwäsche, denn ihre Schlafsäcke und die Koffer mit den Kleidern und Schlafanzügen waren noch auf der Fähre. Um das Zähneputzen waren sie nicht herum gekommen - Mama hatte im Laden auch Zahnbürsten gekauft.
Am nächsten Morgen wachten die Geschwister fast gleichzeitig auf, weil Papa die Wohnwagentür lautstark ins Schloss fallen ließ. Finn angelte nach seinem Handy und versuchte es anzuschalten, stellte aber fest, dass es noch immer nicht funktionierte. »Immer noch kein Strom«, murmelte er.
Inzwischen hatte man festgestellt, dass sämtliche Batterien und Akkus nicht funktionierten. Uhren waren stehen geblieben, Handys schwiegen und es gab kein elektrisches Licht.
Auf dem Campingplatz ging das Leben dennoch seinen Gang. Die meisten Platzbewohner konnten sich, zumindest was das Kochen betraf, mit Gas behelfen und wer keine Campingtoilette besaß, der nutzte kurzerhand die nahe gelegenen Dünen.
Mama war froh, auch einige Flaschen Wasser gekauft zu haben, denn die Vorräte des Ladens gingen zur Neige. Viele Gäste deckten sich mit Vorräten ein. Zum Frühstück aßen sie den Kuchen vom Vortag. Während die Eltern über die außergewöhnliche Situation berieten, streiften Finn und Anna über den Platz. Hinter den Müllcontainern entdeckten die Geschwister drei Gestalten. Zwei davon trugen schwarze Kapuzenpullis und Hosen. In der Dritten erkannten sie Kim mit ihren lila Haarsträhnen.
»Finn, guck mal. Der Rucksack von dem einen da. Der sieht aus wie der von den Dieben auf der Fähre«, sagte Anna. Die Gestalt neben Kim trug einen Rucksack mit einem Totenkopf darauf.
»Die Klamotten stimmen auch. Das sind die bestimmt.«
»Aber was hat Kim mit denen zu tun? Und was machen die da?«, fragte Anna.
»Keine Ahnung. Finden wir es raus«, sagte Finn.
Sie schlichen näher an die Müllcontainer und blieben unbemerkt, weil Kim und die beiden anderen ihnen den Rücken zuwandten. Alle Drei hielten eine qualmende Zigarette in der Hand. Anna rümpfte die Nase.
»Fällt das nicht auf? Einfach so raussegeln?«, fragte Kim gerade.
»Na, und? Kann uns doch keiner verbieten, zu segeln«, sagte einer der anderen. Die Stimme klang jung und männlich.
»Aber man sieht doch das Schiff, wenn es sich der Fähre nähert. Das fällt auf.«
»Quatsch, wir machen auf der Seite fest, wo man nicht hingucken kann.«
»Also, was ist jetzt, bist du dabei?«
Kim nickte. »Ja, bin dabei«, knurrte sie.
»Gut!«, sagte die dritte Gestalt, ebenfalls ein junger Mann. »Zu zweit können wir den Supermarkt-Laster nicht leer räumen.«
»Was wenn andere auf die Idee kommen?«
»Wir müssen eben schnell sein. Strandräuberei zahlt sich nur aus, wenn man schnell ist.«
»Strandräuberei?«, fragte Kim.
»Das hat auf Amrum Tradition. Wenn früher ein Schiff auf eine Sandbank auflief, dann haben sich die Amrumer die Ladung unter den Nagel gerissen«, antwortete der Erste.
»Das machen wir jetzt auch. Man muss schließlich sehen, wo man bleibt!«, sagte der andere.
»Wird die Fähre bewacht?«, fragte Kim.
»Glaub ich nicht. Die haben alle wegen des Stromausfalls anderes zu tun.«
«Was springt eigentlich für mich dabei raus?«, fragte Kim.
Die beiden jungen Männer sahen sich an. »Du kriegst ’nen Anteil«, sagte der eine.
»Ich will Kippen. Schokolade. Und was zu essen für mich und meine kleine Schwester.« Kim hielt den jungen Männern die Hand hin. Beide schlugen ein.
»Okay. Wir behalten auch was und verkloppen den Rest. Was glaubt ihr, wie begehrt Essen ist, wenn es knapp wird. Heute ist noch keine einzige Fähre angekommen. Wenn das so weitergeht, gibt’s bald nichts mehr.«
»Guten Morgen! Was macht ihr denn hier?«, sagte eine helle Stimme hinter ihnen.
Anna und Finn schraken zusammen, ebenso wie Kim und ihre Begleiter. Mia war neben den Müllcontainern aufgetaucht.
»Ich hab dich gesucht!«, sagte sie vorwurfsvoll zu ihrer Schwester.
»Scheiße, wer ist das?«, fragte einer der Kerle neben Kim.
Kim verdrehte die Augen. »Meine Schwester und ihre Freunde.«
»Mama hat gesagt, du sollst die nicht mehr treffen«, sagte Mia.
Einer der jungen Männer fing an zu lachen und äffte sie nach. »Mama hat gesagt, Mama hat gesagt!«
Mia fuhr unbeirrt fort. »Und geraucht hast du auch. Wenn Mama das wüsste.«
Kim wurde wütend. »Mama ist aber nicht da. Halt gefälligst die Klappe.«
Jetzt traten wieder Tränen in Mias Augen. »Ja, genau, Mama ist immer noch nicht wieder da und wir wissen nicht, wann sie wiederkommt und du treibst dich hier rum.«
»Oh, die Mami ist weg und Kimmi treibt sich rum! Armes kleines Mädchen«, spottete der größere der beiden Männer und schüttelte sich vor Lachen.
Kim war jetzt wieder ganz die Beschützerin. »Lass bloß meine Schwester in Ruhe. Und dass meine Mutter nicht da ist, ist nicht witzig! Also halt die Fresse.«
Bisher hatten Anna und Finn die Unterhaltung gespannt verfolgt, aber jetzt siegte Finns Neugier.
»Was ist hier eigentlich los? Ihr wollt zur Fähre segeln und was klauen? Wer seid ihr überhaupt?«
»Verdammt, die Gören haben uns belauscht!«, rief der Kleinere.
»Das ist mein Kumpel Aik«, sagte Kim. Dann stellte sie den Größeren vor. »Und das ist Joris.« Die beiden mochten 18 oder 19 sein.
»Hört mal gut zu, ihr Winzlinge. Ihr haltet gefälligst die Klappe über das, was ihr gehört habt«, sagte Joris.
»Und was, wenn nicht?« Finn stellte sich ihm mutig gegenüber.
»Dann,…. Dann….. .« Joris brach ab. »Ach, weiß ich auch nicht.«
Finn überlegte kurz. Ein Segelboot brauchte keinen Motor. Wahrscheinlich war das die einzige Möglichkeit, die Insel zu verlassen, ohne zu schwimmen. Ihm kam eine Idee.
»Wenn ihr wollt, dass wir euch nicht verraten, dann müsst ihr was für uns tun.«
»Was?« Joris fuhr herum.
Kim warf Finn einen wütenden Blick zu, aber Finn ließ sich nicht beirren.
»Die Mutter von Mia und Kim ist immer noch im Föhrer Krankenhaus. Bevor wir zu Fähre segeln, holen wir sie dort ab.«
Aik zog die Augenbrauen hoch. »Wir? Ich hör immer wir!«
»Klar, wir kommen natürlich mit, damit ihr nicht einfach abhaut.« Obwohl Finn das Herz bis zum Hals klopfte, schaffte er es, cool zu wirken. Anna und Mia starrten ihn an, aber Kim reagierte sofort.
»Mein Kumpel hier hat recht.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Finn. »Wir helfen euch nur, wenn ihr uns helft.«
»Du glaubst also, du kannst hier Forderungen stellen?« Aik trat bedrohlich nahe an Finn heran. »Und was, wenn nicht, du kleener Schieter?«
Finn schluckte, blieb aber standhaft. »Dann gehen wir zur Polizei. Und zu Kapitän Krüger.«
Anna stellte sich jetzt neben ihn. »Genau. Und dann erzählen wir der Polizei, dass ihr auf der Fähre Autos aufgebrochen und Navis geklaut habt.«
Diese Information war wohl auch für Kim neu. Sie sah Aik und Joris von der Seite an. »Echt jetzt?«
Die beiden waren sichtlich erschrocken und machten schuldbewusste Gesichter.
»Woher wisst ihr das?«, fragte Aik.
»Wir haben euch gesehen«, antwortete Anna.
Für einen Moment schwiegen alle.
»Also, was ist jetzt?«, fragte Kim schließlich.
Joris spuckte vor ihr auf den Boden. »Du fällst uns auch noch in den Rücken, du miese Verräterin.«
»Man muss halt seh’n wo man bleibt. War das nicht euer Motto?«
Aik und Joris tauschten einen Blick aus. Dann nickte Aik und zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen »Also gut!«
»Wir treffen uns wie verabredet am Seezeichenhafen.« Mit dieser Bemerkung verschwanden die beiden in Richtung Hauptstraße.
Mia umarmte Anna spontan. »Wir holen unsere Mama!« Anna freute sich mit ihr.
Kim nickte Finn anerkennend zu. »Ganz schön clever, Kleiner. Auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Und Mut hast du auch.«
»Danke. Hoffentlich klappt auch alles. Können die überhaupt segeln?«
»Ja, auf jeden Fall. Ihre Eltern sind Segler und die zwei segeln, seit sie Kinder sind. Ich war letzte Woche schon mal mit«, sagte Kim.
»Mama hat sich die Augen aus dem Kopf geheult, weil du mit den beiden unterwegs warst. Siehst du, sie hat recht gehabt. Das sind Diebe!«, sagte Mia vorwurfsvoll.
»Aber jetzt sind sie nützlich für uns«, gab Kim zurück.
»Ein bisschen mulmig ist mir schon, wenn wir nachher einfach so mitsegeln…..«, sagte Anna.
»Willst du Mama und Papa einweihen?«, fragte Finn.
»Bloß nicht! Dann fliegt alles auf und unsere Mutter kann nicht nach Amrum zurück«, rief Kim.
Finns Gerechtigkeitssinn meldete sich.
»Aber wir können Joris und Aik nicht einfach mit allem durchkommen lassen. Autos aufbrechen, Essen klauen und dann weiterverkaufen. Das ist strafbar!«
Anna pflichtete ihm bei. »Finn hat recht. Die müssen bestraft werden.«
»Aber erst, wenn Mama wieder da ist.« Mias Stimme wurde wieder weinerlich.
»Wir brauchen einen Plan!«, erklärte Finn mit entschlossener Miene und die Vier berieten, was sie nun tun würden.
Zum verabredeten Zeitpunkt fanden sich Anna, Finn, Kim und Mia dann im Seezeichenhafen ein. Kim zeigte ihnen den Weg zur »Libelle«, dem Segelschiff von Joris´ Eltern. Die Libelle wirkte größer, als sich Anna und Finn vorgestellt hatten. Aik und Joris hatten bereits alle Vorbereitungen getroffen und sie gingen direkt an Bord. Während Joris die Segel hisste, schärfte Aik ihnen ein, was zu tun sei.
»Auf Föhr gehen Kim und ich ins Krankenhaus und holen ihre Mutter. Ihr bleibt mit Joris unter Deck. Auf dem Rückweg machen wir an der Uthlande fest, klettern rein, knacken den Laster und räumen die wertvollsten Sachen aus. Ihr helft beim Verladen, Verstanden?« Die Kinder nickten wortlos.
Der Wind stand günstig, sodass Aik und Joris das Segelboot problemlos ohne Motor aus dem Hafen manövrieren konnten. Die erfahrenen Segler steuerten das Schiff geschickt im Wind und nach einer knappen Dreiviertelstunde erreichten sie Föhr. Ihre Einfahrt in den Hafen wurde beobachtet und kaum dass sie festgemacht hatten, wurden sie auch schon angesprochen und ausgefragt. Wie die Situation auf der Schwesterinsel sei, ob es dort auch keinen Strom gäbe, ob man Kontakt zum Festland hätte, wie man mit den Urlaubern verfahre. Aik antwortete nur einsilbig und drängte zur Eile.
»Sie muss ins Krankenhaus«, sagte er und deutete auf Kim. Die Männer von der Hafenverwaltung sahen Kim misstrauisch an, da sie nicht krank wirkte. »Da werdet ihr nicht viel Glück haben, die können ja kaum behandeln, ohne Strom.«
»Ich brauche nur Medikamente«, schwindelte Kim und sie rannten los.
Das Krankenhaus lag nicht weit vom Hafen entfernt und das Außengelände wirkte verlassen. Als sie die Eingangshalle betraten, bemerkten sie sofort die hier herrschende Hektik. Männer und Frauen in weißen Kitteln hasteten hin und her, ein Mann im Rollstuhl wurde über den Flur geschoben und vier kräftige Männer trugen ein Bett mit einer Person darin durchs Treppenhaus.
»Was machen die da?« Aik runzelte die Stirn.
»Wenn hier auch kein Strom ist, dann funktionieren die Fahrstühle nicht.« Kim hatte mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen. Die Türen der Fahrstühle standen offen und die leeren dunklen Schächte wirkten wie leblose Augenhöhlen.
»Wo ist deine Mutter?«
»Zimmer 328. Hat sie mir gestern noch geschrieben.«
Sie stiegen hinauf bis ins dritte Stockwerk, fanden Zimmer 328 jedoch leer vor.
Kim sprach eine Pflegerin an. »Ich suche Frau Melanie Perschau. Wissen Sie, wo sie ist?« Die Pflegerin hob ihren Blick und Kim sah, dass sie vollkommen übermüdet war.
»Wir haben alle nach Hause geschickt, denen es einigermaßen gut ging, als der Strom heute Morgen immer noch nicht wieder da war.«
»Sie war hier nicht zu Hause, wir wohnen auf Amrum, im Urlaub.«
Die Pflegerin hob die Brauen. »Amrum? Und wie kommt ihr hierher? Es fährt doch kein Schiff mehr?«
»Wir sind gesegelt«, erklärte Aik.
»Die Amrumer sind alle unten in der Cafeteria und beraten, wie sie zurückkommen. Erdgeschoss, links an den Fahrstühlen vorbei.«
»Danke!«
Aik zog Kim mit sich. »Das ist Scheiße!«, zischte er.
»Warum?«
»Wenn die Amrumer mich erkennen, dann wollen die alle mit. Sieh zu, dass du nur deine Mom da rausschleust. Ich warte draußen.«
Als sie die Cafeteria erreichten, zog sich Kim die Kapuze ihres Pullovers tief ins Gesicht und betrat den Raum. Lautes Stimmengewirr schallte ihr entgegen, etwa 20 Personen saßen in kleinen Gruppen an den Tischen ringsum. Eine einzige Person saß alleine an einem Tisch.
»Mama!«, entfuhr es Kim, doch zum Glück hatte keiner der aufgeregt schnatternden Menschen sie gehört. Die Mutter sprang auf, lief auf Kim zu und umarmte sie.
»Wo kommst du denn her. Wo ist Mia? Wie geht es ihr?« Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Ersten an den Tischen drehten sich um, doch weder erkannte jemand Kim noch kümmerte man sich um die fremde Frau. Alle übrigen schienen Amrumer zu sein.
»Erklär ich dir später. Los komm, erst mal hier raus.«
Es gelang ihnen, Cafeteria und Krankenhaus unauffällig zu verlassen. Kims Mutter bedachte Aik mit einem misstrauischen Blick.
»Hatte ich dich nicht gebeten, ihn und seinen Kumpel nicht mehr zu treffen?«
»Ohne ihn hätten wir dich nicht abholen können. Auf Amrum ist auch kein Strom mehr und dass keine Fähre fährt, weißt du ja bestimmt.«
Die Mutter nickte. »Allerdings. Ich war zig Mal am Hafen, aber es gab keine Möglichkeit, nach Amrum zu kommen. Ich hab mir solche Sorgen gemacht, weil ihr Mädels allein wart. Wie ist es euch ergangen, ohne Strom?«
Während sie zum Hafen liefen, erzählte Kim, was passiert war und dass Aik und Joris sie nun zurück nach Amrum segeln würden. Dass noch ein kleiner Umweg geplant war, verschwieg sie. Unter den strengen Augen der Hafenmitarbeiter kletterten sie an Bord der »Libelle«.
»Na endlich!«, blaffte Joris.
Mia kam aus der Kabine und rannte auf die Mutter zu, Mit einem lauten Schluchzer fielen sie sich in die Arme. »Mia! Gott sei Dank, dir geht es gut.« Erst dann bemerkte die Mutter die anderen Kinder. Kim stellte alle vor, während Aik und Joris die Ausfahrt aus dem Hafen vorbereiteten. Sie mussten all ihre Segelkünste aufbieten, um ohne Motor aus dem engen Liegeplatz herauszumanövrieren.
»Da hat es doch mal was gebracht, dass mein Vater uns das immer hat üben lassen«, sagte Joris zu seinem Kumpel. Nachdem sie den Hafen verlassen hatten, wurde es einfacher. Erst als sie sich der Fähre näherten, war wieder mehr Geschick gefragt.
Kims und Mias Mutter blickte von einem zum anderen, als sie bemerkte, dass die jungen Segler offenbar auf die Fähre zuhielten.
»Was wird das hier?«, fragte sie.
Kim schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Aik und Joris wollen noch was von der Fähre holen. Sie haben da gestern was Wichtiges vergessen«, schwindelte sie.
»Stimmt gar nicht!«, rief Mia. »Sie wollen da was klauen!«
»Wie bitte?« Die Mutter blickte entsetzt zwischen ihren Töchtern hin und her.
»Sie wollen die Sachen dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen«, erklärte Finn.
»Und gestern auf der Überfahrt haben sie auch schon Autos aufgebrochen und Sachen rausgeklaut, dabei haben wir sie beobachtet«, ergänzte Anna.
»Also, ich weiß ja nicht, was ich davon halten soll.« Kims und Mias Mutter warf einen Blick auf die beiden jungen Männer, die zu beschäftigt damit waren, das Schiff an die Bordwand der Fähre zu manövrieren, um etwas zum Gespräch beitragen zu können.
»Ihr macht mit Dieben gemeinsame Sache? Das ist ja allerhand!«
»Ansonsten hätten wir dich nicht von Föhr holen können«, rechtfertigte sich Kim.
»Wir haben sie erpresst!« Mia verschränkte die Arme vor der Brust und klang fast ein wenig stolz.
»Dann seid ihr auch nicht besser als sie.« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Da lässt man euch eine Nacht alleine und ihr werdet kriminell!«
Aik und Joris hatten die »Libelle« direkt an die »Uthlande« herangesteuert, und genau unterhalb des Rettungsschlauchs festgemacht, durch den die Passagiere der Fähre gestern in die Rettungsinseln geklettert waren.
Joris stieg auf der Treppe aus Netzen nach oben, während Aik die anderen anwies. »Kim, du kommst mit, ihr anderen bleibt hier und nehmt die Sachen entgegen, die wir euch runterwerfen und verstaut alles so platzsparend wie möglich, verstanden?«
Dann kletterten auch Kim und Aik im Treppenschlauch hinauf. Erst als sie oben angekommen waren, bemerkten sie, dass sie nicht allein an Bord der Uthlande waren.
Vier Männer und zwei Frauen, einige davon in Polizeiuniform, erwarteten sie. Joris hatte man bereits Handschellen angelegt und auch um Aiks Handgelenke klickten die Fesseln.
»Was zur Hölle?«, entfuhr es ihm, als er bemerkte, dass man Kim keine Handschellen anlegte.
»Du miese Schlange, du hast uns verraten!« Aik machte einen Schritt auf sie zu und trat in ihre Richtung. Kim wich aus und eine Polizistin hielt ihn zurück.
Inzwischen waren auch Finn und Anna über die Reling geklettert. Beide strahlten.
»Hallo Kapitän Krüger!«, rief Anna.
»Das hat ja alles super geklappt!«, meinte Finn.
»Das verdanken wir euch. Wenn ihr das nicht alles beobachtet und beim Supermarkt Bescheid gesagt hättet, dass hier ein Diebstahl bevorsteht, dann wären die Jungs vielleicht unbehelligt davongekommen«, sagte Kapitän Krüger. Der Mann neben dem Kapitän stellte sich als Leiter des Marktes heraus.
»Ich hätte nicht gedacht, dass nur wenige Stunden, nachdem der Strom ausgefallen war, schon Diebe über die bestellte Lieferung herfallen. Wir haben selbst schon überlegt, wie wir die Waren ans Festland bekommen, aber noch keine Lösung gefunden. Herzlichen Dank an euch, dass ihr so aufmerksam wart.«
Auch die Polizistin wandte sich an die Kinder. »Kapitän Krüger teilte mir mit, dass ihr die beiden Langfinger auch schon beim Aufbrechen von Autos beobachtet habt. Solche Diebstähle finden schon seit einiger Zeit sporadisch statt, aber wir haben die Täter noch nicht ausfindig machen können.« Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Aik und Joris, die mit gesenkten Köpfen nebeneinander standen. »Die beiden waren clever, haben immer nur alle paar Wochen einen Beutezug gemacht und wir konnten ja nicht jeder Fähre Polizeigeleit geben.