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Keine drei Wochen sind seit dem Stromausfall vergangen und die Grenze zwischen "die" und "wir" hat sich verschoben. Vom Hunger Getriebene überfallen Umbach und während Malte sich für Humanität einsetzt, kämpfen anderen bereits Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wie gefährlich sind die Freyristen oder sind sie tatsächlich nur ein Teil der Gemeinschaft? Simones Heimweg wird immer schwerer und die Hilfsbereitschaft schwindet. Wird sie ihre Familie jemals wiedersehen? Wie viel Menschlichkeit kann man sich noch erlauben? Das mittelhessische Dorf Umbach neunzehn Tage nach dem Blackout. Die Einwohner haben sich mit den neuen Umständen arrangiert, erleben aber immer wieder Rückschläge. Vieles, das vor dem Stromausfall als selbstverständlich angesehen wurde, muss nun mühsam erarbeitet werden. Während Malte mit dem Dorfrat das Dorf durch die Katastrophe führt, droht ihm das Verhältnis zu seinem Sohn zu entgleiten. Jutta steuert nun Kutschen statt eine 767 und beginnt zu ahnen, wie ihr Mann wirklich ist. Simone kann immer noch keinen Kontakt mit ihrer Familie aufnehmen und erlebt Hilfsbereitschaft und abgrundtiefe Rücksichtslosigkeit. Florian ist vordergründig hilfsbereit, nutzt aber rücksichtslos jede Chance zu seinem Vorteil. Lukas kann nicht schnell genug erwachsen werden und zeigt sich offen für das Gedankengut der völkischen Freyristen. Laura wird Ziel von religiös-fanatischen Moralvorstellungen. Wer ist verantwortlich für die brennenden Kreuze? Stecken Frau Armsteiner und ihre Schergen hinter den Angriffen auf Umbach? Was für eine Gesellschaft wird das Dorf aufbauen?
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Seitenzahl: 657
Für meine Eltern, die mir den Spaß am Lesen vorgelebt haben.
Danke dafür und für so vieles mehr.
Vorwort
Hallo liebe Lesende!
Am Anfang stand die einfache Frage „Wie gut würden wir ohne Strom zurechtkommen?“, die mir Mitte der Neunziger eines Nachts auf der beleuchteten belgischen Autobahn zwischen Lüttich und Verviers durch den Kopf ging.
Man denkt dann zunächst an Licht, den Wecker, die Kaffeemaschine. Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr erkennt man weitere Abhängigkeiten. Aber ich will der Geschichte nicht vorgreifen!
Noch während des Schreibens des Romans holte mich die Realität ein. Der erste Corona-Lockdown und die Sache mit den Nudeln und dem Toilettenpapier Ziegen, wie irrational sich Menschen verhalten können. Das Ahrtalhochwasser und ein durch ein überflutetes Umspannter ausgelöster Stromausfall, von dem über 100.000 Menschen betroffen waren, machte das Thema erneut hochaktuell. Die überstrapazierten Lieferketten und unsere Just-In-Time Lebensweise wurden durch die Corona-Pandemie, die den Suezkanal blockierende Energien und dem Ukrainekrieg an die Grenzen und darüber hinaus gebracht.
Das Thema bleibt so aktuell, dass es zu dieser Neuveröffentlichung im Chiemsee Verlag führte.
Nicht der totale Stromausfall ist im Zentrum der Handlung „Ohne Strom“, sondern wie normale Menschen mit den Folgen eines Blackouts umgehen.
Gute Unterhaltung und immer genug Licht und Wärme zum Lesen,
Markus Mattzick
Dritter Akt
Tag 20
Jutta
Jutta saß im Wohnzimmer ihres Bruders und beobachtete ihn. Er hatte gegenüber Platz genommen, den Kopf in seinen Händen versenkt, und ihr lange und ausführlich berichtet, wie er den Angriff erlebt hatte.
»Weißt du«, setzte er fort, hob den Kopf und sie konnte sehen, dass seine Augen rot unterlaufen waren, »wir sind anders erzogen worden, ich habe versucht, die Werte, die unsere Eltern uns mitgegeben haben, an meine Kinder zu vermitteln. Und all das ist in nur drei Wochen zusammengebrochen.«
Sie erwiderte nichts, ging davon aus, dass er mehr sagen würde.
»Auf einmal ist alles zusammengebrochen«, wiederholte er. »Letztens war bei den Flüchtlingen ein Arbeitskollege. Jemand, mit dem ich mich gut verstand, mit dem ich freundschaftlich verbunden war. Er hat mich um Hilfe angefleht, für seine Kinder. Ich habe ihm nicht geholfen, seinen Blick werde ich niemals vergessen.«
Jutta unterbrach ihren Bruder immer noch nicht. Dafür kannte sie ihn gut genug, er brauchte etwas Zeit, um sich die Gedanken von der Seele zu reden.
»Ich weiß nicht, wo Simone ist, und kann ihr nicht helfen und auf dem Feld vor unserem Dorf sterben Menschen, ist ein Freund von Lukas erschossen worden. Direkt vor meinen Augen. Wie kann man so etwas aushalten?«
Nun war der Zeitpunkt für eine Antwort gekommen: »In Krisen wachsen die meisten über sich selbst hinaus. Und bisher hast du dich gut geschlagen!«
»Bisher musste ich nicht meine Werte über den Haufen werfen«, entgegnete Malte. »Und ich finde es schlimm, dass mir bei vielen Diskussionen die Argumente ausgehen. Mit den neuen Gefangenen wird die Frage, was wir mit ihnen machen sollen, dringender.«
Jutta waren die wenigen Optionen bewusst: »Ich bin froh, dass ich das nicht entscheiden muss.«
Malte blickte sie mit sorgenvollem Gesicht an: »Vielleicht wirst du das mit entscheiden, wir werden das in der Versammlung diskutieren lassen.«
Jutta hatte das schon mitbekommen: »Und was glaubst du, wie das Dorf entscheiden wird?«
»Wir haben durch die Angriffe Leute verloren«, erklärte Malte, »das wird viele Leute gegen die Gefangenen stimmen lassen.«
»Das bedeutet, sie werden hingerichtet?«, fragte Jutta.
»Hingerichtet«, reagierte Malte, »ermordet. Nenne es, wie du willst. Es ist falsch, aber mir fehlen Argumente dagegen. Uns fehlen die Möglichkeiten, sie länger gefangen zu halten. Wenn wir sie laufen lassen, werden sie zur Gefahr für uns.«
»Wir könnten sie brandmarken«, schlug Jutta vor.
Erschrocken schaute ihr Bruder sie an: »Mit voller Geschwindigkeit zurück ins Mittelalter?«
»Du hast Alternativen gesucht«, erklärte Jutta, »ich habe dir eine geliefert, bei der die Gefangenen nicht ermordet werden.
Wie viele sind es überhaupt?«
»Ich weiß es nicht genau«, gestand Malte.
»Hat Lukas das mit seinem Freund mitbekommen?« Jutta wusste, dass das Thema für Malte schwer war, sie dachte an Lukas, den das auch mitnehmen würde.
»Nein«, Malte schüttelte den Kopf, »und ich würde es vorziehen, wenn er es nicht mitbekommt.«
»Ja«, nickte Jutta, »das wäre besser. Was geschieht mit den toten Angreifern?«
»Was nach jeder Schlacht mit ihnen passiert.« Malte ekelte sich. »Die Leichen werden geplündert und in ein Massengrab geworfen.«
Ihr Bruder gefiel ihr in diesem Moment gar nicht. Von jeher war er das sensiblere Kind ihrer Eltern, versuchte das fast sein ganzes Leben lang zu unterdrücken. Während sie ihn beobachtete, überlegte sie, ob sie ihn mit ›andere haben auch Probleme‹ motivieren sollte, entschied sich dagegen.
Sie stand auf und legte ihre Hand auf seine Schulter: »Bist du fit genug für die Versammlung?«
»Ja«, er ergriff ihre Hand. »Danke, dass du für mich da bist.«
Als sie am Versammlungsort ankamen, waren viele Umbacher bereits dort.
Mit zwei beherzten Pfiffen brachte Nadine Ruhe in die Menge: »Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Ich bitte um eine Schweigeminute für unsere Freunde, Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, die ihr Leben bei der Verteidigung unseres Dorfes verloren haben.«
Nadine las die Namen der Gefallenen vor und bat um das Schweigen.
Die meisten senkten den Kopf, andere schauten mit Tränen in den Augen nach vorne. Jutta musterte die Menge und rief sich die erste Versammlung nach dem Stromausfall in die Erinnerung. Die Frisuren wirkten fettiger und ungepflegter, die Kleidung war fleckiger und alle rochen strenger.
Robert Kempf beendete die Stille: »Ich möchte eine kurze Zusammenfassung von dem geben, was wir wissen.«
Er nahm seinen Notizblock und rückte seine Brille zurecht: »Es ist davon auszugehen, dass der Angriff von vorgestern Abend mit dem von gestern zusammenhängt. Beim Ersten wurde vermutlich unsere Verteidigungstaktik getestet.
Gestern wurde versucht, die Nordpforte mit schierer Masse zu überrennen, an der Südpforte kam es zum Angriff besser bewaffneter Einheiten. Trotzdem gelang es unserer Miliz, mit der Hilfe von Einheiten aus Waldgirmes, diesen Angriff zurückzuschlagen. Die Polizeiuniformen dieser Angreifer lassen einen Zusammenhang mit denen des Bauernhofes vermuten, die Menschenmenge wurde gegen uns aufgehetzt.
Aus Gesprächen mit Gefangenen wissen wir, dass ihnen versprochen wurde, wir hätten mehr als genug zu essen für alle und jeder könne sich mitnehmen, soviel er braucht.«
»Wann schlagen wir zurück?«, forderte ein Mann aus der Versammlung heraus.
Robert Kempf versuchte, den Rufer in der Menge auszumachen, und kniff dabei die Augen zusammen: »Gar nicht. Wir wissen nicht, wer unser Gegner ist. Bei der Verteidigung haben wir uns bisher gut geschlagen, ein Angriff hingegen ist eine andere Geschichte.«
»Wir müssen uns wehren!« Der gleiche Mann bestand auf seinen Vorschlag.
Der Major übernahm das Wort: »Durch die Gefangenen und Kundschafter haben wir einen kleinen Überblick und eine Vermutung.
Für den Angriff wurden Flüchtlinge aus Sammelunterkünften zusammengetrieben und losgeschickt. Schusswaffen hatten nur die eigenen Leute, die in erster Linie zum Antreiben der anderen dienten. Vermutlich gehen einige der gefallenen Angreifer auf deren Kosten.
Wo genau die Gruppe ihren Stützpunkt hat, wissen wir nicht. Ich wüsste nicht, wo wir angreifen sollten, um den Gegner entscheidend zu schwächen.
Wir brauchen hier jeden für die Verteidigung. Durch einen Angriff können wir im Moment nichts gewinnen.«
Die Worte des Majors zeigten Wirkung und ein Angriff war kein Thema mehr.
Holzer nutzte die Gelegenheit, um sein Thema zur Diskussion zu stellen: »Da das damit ausdiskutiert ist, sollten wir uns alle gemeinsam Gedanken machen, was mit den Gefangenen passieren soll.«
Kühl übernahm Pape das Wort: »Vorher will ich ein paar Fakten aufzählen: Durch die beiden Angriffe haben wir im Moment Gefangene. Alle wurden bei den Kämpfen verletzt und verbrauchen Verbandsmaterial, das wir für uns selbst brauchen, und essen müssen die auch.
Wenn wir die weiterhin gefangen halten wollen, stellt sich die Frage, wie lange und wie viele unserer Ressourcen wir mit ihnen teilen sollen.
Auf der anderen Seite müssen wir uns überlegen, wie wir verhindern können, dass sie uns noch mal angreifen.«
Holzer kam direkt zum Punkt: »Wir sollten uns nicht weiter mit denen abmühen, während wir selbst gerade genug zu essen für uns haben. Außerdem sind sie Mitschuld am Tod unserer Freunde!«
Jutta hatte den Eindruck das Pape und Holzer sich auf diese Diskussion vorbereitet hatten und war nicht wenig überrascht, als sich ein Freund der beiden mitten aus der Menge lauthals meldete: »Wir sollten kurzen Prozess mit ihnen machen! Auge um Auge! Keine Verschwendung für Menschen, die uns töten wollten!«
Ivonne Schuldacker, die mit Holzer beim Aufstellen von Dorfpolizei und Miliz als Gegengewicht zur Seite stand, regte sich auf: »Du willst Menschen umbringen? Was für ein Rechtsverständnis hast du denn? Wir sind nicht im finsteren Mittelalter!«
»Sind wir nicht?«, entgegnete der Angesprochene, »schau dich um, irgendwie sind wir es doch. Willst du die Leute von deiner Ration durchfüttern? Willst du das? Können wir die in deinen Keller sperren? Für wie lange?«
Schuldacker war auf den Angriff nicht vorbereitet: »Wir sind immer noch ein Rechtsstaat! Wir können doch nicht unsere Werte über Bord werfen!«
Ihr Gegenüber schien ihr einen Schritt voraus zu sein: »Wo war denn dein Rechtsstaat, als der Mob unsere Familie und Freunde getötet hat? Die Mörder geben nichts auf unsere Werte. Das Einzige, was die interessierte, waren unsere Vorräte. Da du ausweichst, nehme ich an, dass du ihnen nichts von deiner Ration abgibst? Warum sollte es sonst jemand von uns machen?«
Erschrocken stellte Jutta fest, dass die Stimmung schnell gekippt war, Frau Schuldacker stand auf verlorenem Boden und am Gesicht ihres Bruders erkannte sie seine Verzweiflung, dass ihm nichts einfiel, mit dem er gegen die harte Linie argumentieren konnte.
»Gibt es denn keine andere Option?«, fragte Kempf.
»Wenn wir sie hinrichten«, sagte Pape, »bekommt das außen keiner mit. Wir sollten ein paar laufen lassen, die darüber berichten können, wie wir mit Räubern und Plünderern umgehen!«
»Früher hat man Dieben die Hand abgeschlagen«, wusste jemand in der Menge.
»Man könnte sie brandmarken«, schlug ein anderer vor.
»Man sollte sich bewusst sein«, ermahnte Kempf, »dass jemand die Strafen ausführen müssen wird. Ich würde deswegen vorschlagen, dass jeder, der für diese Strafen stimmt, in die Auswahl derer kommt, die die Henkersarbeit übernehmen.«
»Ich bin mir sicher, wir finden jemanden, der das freiwillig macht«, entgegnete Pape. »Wenn sich sonst niemand findet, mache ich das.«
Ihr Bruder und Kempf schauten Pape geschockt an, in der Versammlung wurde getuschelt und Holzer ergriff das Wort: »Wir sollten abstimmen. Falls keiner Einwände hat.«
Er schaute erst die anderen Ratsmitglieder, dann die Versammlung an, niemand meldete sich zu Wort.
»Wer ist für freilassen?«, forderte Holzer die Handmeldungen. Jutta sah, dass sich außer Frau Schuldacker kaum jemand meldete.
»Wer ist für gefangen halten?«, fragte Holzer nach der zweiten Möglichkeit, worauf sich etwa ein Viertel der Anwesenden, inklusive Jutta, Malte, Nadine und Kempf meldeten.
»Wer ist für die Hinrichtung?«, Jutta sah, wie ihr Bruder seinen Kopf sinken ließ, als mehr als die Hälfte der Anwesenden die Hände hoben, darunter Holzer und Pape.
Zufrieden lächelte Holzer: »Bitte noch die Enthaltungen.«
Neben dem Major meldeten sich einige andere, das Schicksal der gefangenen Angreifer schien damit besiegelt zu sein.
»Carl, Andreas«, resignierte Kempf, »bereitet das bitte vor.
Ich würde die Sitzung an dieser Stelle gerne beenden und hänge morgen früh den Termin für die nächste Versammlung aus.«
Vor dem Bürgerhaus wartete Jutta auf Nadine und ihren Bruder, die etwas länger brauchten, bis sie herauskamen.
»Ich gehe nach Hause«, erklärte Malte, »das war mir zu heftig.«
Nadine wirkte ebenfalls sehr mitgenommen: »Ich muss jetzt etwas anderes machen. Wollte Verena Kratsch nicht heute in den Wald, um Kräuter und Pilze zu sammeln?«
»Ja«, bestätigte Jutta, »wir gehen bei mir vorbei und nehmen Körbe zum Sammeln mit. Mir wird etwas Waldluft guttun.«
Die Heilpraktikerin hatte angefangen, gemeinsam mit einigen anderen Kräuter- und Pilzkundigen, abwechselnd Wanderungen zum Sammeln anzubieten. Jutta war einmal mitgegangen und war stolz, sich an das ein oder andere aus ihrer Pfadfinderzeit zu erinnern.
Neben Pflanzen und Pilzen diente der Wald als Jagdgebiet für das Dorf und Jutta musste kurz an die Schweine denken, die sie aus dem Transporter gerettet hatte. Wie viele davon noch lebten und wie viele Jägern zum Opfer gefallen waren?
Der Wald selbst war gefährlicher geworden, denn man begegnete oft Wanderern und anderen Flüchtlingen, die die Hauptstraßen verlassen hatten, um dort Unterschlupf und Nahrung zu suchen. Die meisten davon waren froh, in Ruhe gelassen zu werden und versuchten Menschen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem kam es gelegentlich zwischen den Flüchtlingsgruppen untereinander und mit den Bewohnern der benachbarten Dörfer zu Zusammenstößen. Auch wenn es keine entsprechende Regel gab, ging kaum jemand alleine in den Wald.
Nachdem sie zwei Weidenkörbe bei Jutta abgeholt hatten, schafften es die beiden Frauen pünktlich zum Treffpunkt und Verena Kratsch erklärte der kleinen Gruppe vor ihr, welche Pflanzen und Früchte sie zu finden hoffte: »… findet man Brombeeren und Himbeeren. Verschiedene Brennnesselarten und Breitwegerich eignen sich für Suppen, Salat oder Tee.
Bei den Pilzen ist jetzt Pfifferlingszeit …«
»Den Vortrag hält sie definitiv nicht das erste Mal«, flüsterte Nadine Jutta zu.
Beide grinsten und folgten, nachdem Verena ihre Erklärungen beendet hatte, der kleinen Gruppe den kurzen Weg bis in den Wald, der an mehreren Stellen direkt ans Dorf reichte. Sie waren mit Verena acht Frauen und Männer, Jutta und Nadine bildeten die Nachhut.
Nach fünfzig Metern erreichten sie eine kleine, künstlich entstandene Lichtung. Man hatte dort angefangen, eine Schneise in den Wald zu schlagen. Frauen und Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen, diese zu entasten und in transportierbare Größe zu zersägen. Teile des Holzes waren als Palisade für den Verteidigungswall gedacht. Andere würden als Brennholz Verwendung finden.
»Hier könnten Pferde hilfreich sein«, stellte Nadine fest. »Die könnten die Stämme aus dem Wald ziehen.«
»Meinst du nicht, dass eure Pferde nicht genug zu tun haben?«, konterte Jutta.
»Wir haben im und um den Ort etwa 100 Pferde«, überlegte Nadine. »Die werden nicht immer einen Pflug oder eine Kutsche ziehen und man kann sie bei anderen Arbeiten einsetzen.«
»Manchmal merkt man dir total an, dass du auf dem Bauernhof aufgewachsen bist«, kommentierte Jutta, »da kommt oft ein Pragmatismus durch, um den ich dich beneide.«
›Kleine Tante‹ war ein Kindheitstraum von ihr und sie hatte bisher versucht, ihr das Pferdeleben so angenehm wie möglich zu machen. Natürlich war ihr bewusst, dass das Pferd nicht frei war, und hatte schon einige Diskussionen über die moralischen Fragen des Reitsportes und der Pferdehaltung insgesamt gehabt.
Dass ihr geliebtes Pferd Nutztier werden oder von anderen als potenzielles Nahrungsmittel gesehen werden könnte, machte ihr etwas Angst: »Wird es Forderungen geben, Pferde zu schlachten?«
Nadine schaute traurig: »Ja. Bei uns im Ort nicht so schnell, aber wenn die Nahrung knapp wird, werden es welche fordern.«
Lukas
»Wunderbar«, freute sich Dirk, »der halbe Ort wird direkt mit Wasser versorgt und wir haben vier alte Brunnen aktiviert. Das bedeutet zwar noch kein fließendes Wasser für alle, aber die großen Wassertouren haben wir damit erst mal hinter uns.«
Die Mitglieder der Feuerwehr, die Helfer der Wasserversorgung und Teile des Rates waren im Feuerwehrhaus und besprachen den aktuellen Stand in der Wasserver- und -entsorgung: »Die Kanalisation ist problematisch. Wir versuchen sie an einigen Stellen zu durchspülen, Schmutz und Unrat sind oft hartnäckig. Das Fehlen von Toilettenpapier und die verschiedenen dafür als Ersatz genutzten Sachen verstopfen auch größere Rohre.«
»Wir kommen um die Latrinen und Sickergruben vorerst nicht herum?«, fragte Robert Kempf.
»Nein«, bestätigte Dirk die Vermutung, »aber das dürfte den meisten klar werden, wenn sie durch das Blumenviertel laufen, dort sind die Verstopfungen am schlimmsten und der Gestank am heftigsten.«
Das Blumenviertel bestand aus Straßenzügen, die nach Blumen benannt waren. Der Gedanke, dass die Straßen, die nach wohlriechenden Blüten benannt worden sind, am meisten stanken, amüsierte Lukas.
»Für uns reduziert sich der Bedarf an Arbeitskräften«, fasste Dirk zusammen, »und bevor ihr euch darüber freut: Das Dorf hat genügend andere Aufgaben, für die Leute gebraucht werden.
Mit den meisten von euch hatte ich vor dem Treffen gesprochen. Am Schwarzen Brett hängen Dienstpläne für die nächsten Tage, die wie immer ohne Gewähr sind.«
Lukas hatte Dirk geholfen, die Listen mit einer alten Schreibmaschine zu erstellen. Die mechanischen Tastaturen waren kein Vergleich zu den Computertastaturen, die er benutzt hatte und statt der Eingabetaste gab es für den Zeilenwechsel und Wagenrücklauf einen Hebel. Da es nur noch ein Ersatzfarbband für die Maschine gab, versuchten sie, sparsam damit umzugehen und die mühselig formatierte Tabelle war an vielen Stellen mit Kugelschreiber korrigiert worden.
Die Erntearbeit war zwar nicht erledigt, aber momentan waren es weniger Felder, die reif waren und Lukas hatte es wieder in die Position als Dirks Assistent gedrängt. Der freute sich über die Hilfe und versuchte mit Lukas sein Wissen für die Brandursachenermittlung zu teilen, musste aber eingestehen, bei allen Brandstiftungen nach dem Blackout ohne konkrete Spur zu sein.
»In der Ermittlungsarbeit der Polizei hilft nicht selten Kommissar Zufall«, hatte Dirk erklärt. »Vielleicht wird das hier auch so sein.«
Auf der Liste mit den Aufgaben war Lukas mit ein paar anderen für den restlichen Tag zur Materialkontrolle im Feuerwehrhaus eingeteilt. Zusammen mit Dirk und Guido stand Lukas vor einem der großen Einsatzwagen und begutachtete den Inhalt.
»Das ist definitiv zu groß, um von Pferden gezogen zu werden«, befand Guido, »aber vielleicht bekommen wir von einem der Landwirte eine Kutsche, die wir zum Einsatzwagen umfunktionieren können?«
»Kannst du mit Pferden umgehen?«, stichelte Dirk ihn und Lukas war sich sicher, wie die Antwort lautete.
»Nein«, fügte sich Guido, »aber es wird sich jemand finden, der das kann. Lukas, was ist mit dir? Deine Tante hat doch ein Pferd?«
»Exakt«, bestätigte der, »meine Tante. Nicht ich. Als ich jünger war, hat sie mich mal reiten lassen, damit hat sich meine Erfahrung mit Pferden erschöpft.
Außer das eine Mal in Frankreich, da habe ich ein Pferdesteak gegessen, erzählt das bitte nicht meiner Tante!«
Die beiden Männer grinsten Lukas an und Guido reagierte: »Ich werde mal herumfragen. Außerdem brauchen wir Pferde, die nahe der Feuerwache untergebracht sind.«
»Platz wäre hier genug«, schlug Lukas vor, »glaube ich zumindest. Wir müssten das Leiterfahrzeug nach draußen schieben.«
»Gute Idee.« Dirk klopfte Lukas auf die Schulter. »Wir …«
Lukas folgte dem Blick von Dirk und sah einen Mann, der auf die Feuerwache zukam. Er wirkte leicht desorientiert, erblickte Dirk und sein Gesichtsausdruck wurde klarer: »Dirk! Ich brauche etwas Gesellschaft.«
»Was ist los, Tobias?«, begrüßte Dirk den Mann.
Lukas erkannte ihn als einen der Gärtner der Gemeinde: »Ich habe den Tod gesehen.«
»Was meinst du genau?«, fragte Dirk. »Der Angriff?«
»Ja«, antwortete Tobias, »Nein, nicht direkt. Ich … hast du einen Schnaps? Oder ein Bier?«
»Lukas«, bat Dirk, »würdest du was vom Vorrat holen?«
›Der Vorrat‹ der Feuerwehr waren drei Kästen Bier und einige Flaschen Hochprozentiges und wurde bisher dezent verheimlicht. Lukas war verwundert, wie offen Dirk vor Tobias davon erzählte, ging davon aus, dass er seinen Grund hatte oder Tobias vertraute. Er beeilte sich, kam mit drei Flaschen Bier zurück und gab Tobias, Dirk und Guido je eine davon.
»Willst du keine?«, fragte Dirk.
»Später.« Lukas wollte nicht verpassen, was dieser Mann zu erzählen hatte.
Sie setzten sich auf eine Bierzeltgarnitur und Tobias fing an zu erzählen: »Boris Kling. Mein Kollege. Er kam gestern nicht auf die Arbeit. Das war gar nicht so ungewöhnlich. Schon vor dem Stromausfall hat der gelegentlich einen Tag krankgefeiert. Er trinkt … trank gerne.
Gestern hatte ich mir keinen Kopf gemacht, aber als er heute früh nicht erschien, dachte ich, ich schaue mal nach ihm. Zwei Tage hatte er nie gefehlt.«
»Noch nie?«, gab Guido zu bedenken.
»Noch nie«, erklärte Tobias, »wir hatten durch die Angriffe einiges zu tun. Das wollte ich nicht alleine stemmen. Wir bekommen viel Unterstützung, aber einige Helfer haben vorher noch nie eine Schaufel in der Hand gehabt.«
Er nahm einen Schluck aus der Flasche und schaute sie an: »Ich habe kein Bier mehr. Auf jeden Fall bin ich zum Haus von Boris, er lebt seit dem Tod seiner Mutter allein.«
»Er wohnte mit seiner Mutter zusammen?« Guidos Stimme klang amüsiert. »Wie alt ist … war er?«
»Ende dreißig«, antwortete Tobias. »So alt wie ich. Ich ging zu seinem Haus und klopfte an.«
Er setzte die Bierflasche ein weiteres Mal an: »Ich rief, ging um sein Haus, und als er nicht reagiert hatte, habe ich angefangen, durch die Fenster ins Haus hineinzuschauen. Im Wohnzimmer sah ich jemanden auf dem Boden liegen und habe wie wild an die Scheibe geklopft und gerufen, es gab keine Reaktion. Ich ging zur Haustür und rüttelte daran und sie war nicht verschlossen, das kleine Hebelchen war auf Entriegelung gestellt und die Tür ließ sich aufschieben. Von der Tür aus konnte ich den Körper im Wohnzimmer sehen und da war Blut. Ich sprach ihn an, aber er reagierte nicht. Als ich näher ging, sah ich, warum er nicht reagierte. Jemand hatte seinen Kopf zu Brei zerschlagen. Und das ist keine Übertreibung, Blut und Gehirn waren über den Boden verteilt. Mir kam das Frühstück hoch und ich rannte raus, kotzte den Vorgarten voll.«
Er nahm einen weiteren Schluck: »Ich stand eine Weile vor dem Haus und habe überlegt, was ich machen soll, und bin zu Lothar Bittler gegangen. Mit dem bin ich bei Doktor Haarberg vorbei und der hat diesen Typen mitgenommen, Florian oder so.«
»Meinen Onkel?«, wunderte sich Lukas und beschrieb ihn.
»Ja, das ist er«, antwortete Tobias. »Wir sind zu viert zurück zum Haus von Boris, Bittler hatte Einweghandschuhe für alle mitgebracht und erklärt, dass er versuchen würde, Spuren zu sichern und wir sollten den Tatort nicht verunreinigen. Im Haus haben sie sich zuerst den Leichnam angeschaut und Bittler ist mit mir durch das Haus gegangen. Hatte wohl gedacht, dass ich ihm etwas zu Boris erzählen konnte, aber wisst ihr, es ist erschreckend, wie wenig ich über ihn weiß. Im Wohnzimmer war Bittler ein Karton mit Zigarettenstangen aufgefallen und er meinte, dass das ein potenzielles Motiv wäre. Er war sich sicher, dass jemand im Dorf Hehlerware verkauft hatte, schon vor dem Stromausfall. Es gilt herauszufinden, ob Boris Kunde oder der Verkäufer war. Selbst wenn man nicht raucht, sind die Stangen mehr wert, als Geld es momentan ist!«
»Ja«, bestätigte Dirk, »bei den meisten ist der Vorrat aufgebraucht, die würden dir vermutlich ihren Erstgeborenen schenken, um an eine Zigarette zu bekommen!«
»So was sagte der Bittler auch«, kommentierte Tobias.
»Warum hat der Täter die Zigaretten nicht mitgenommen?«, wunderte sich Lukas.
»Das habe ich auch gefragt«, sagte Tobias, »Bittler vermutete, dass der Täter gestört wurde.
Weil er keine Kampfspuren gesehen hat, geht er davon aus, dass das Opfer den Täter kannte.«
»Könnte es sein«, mutmaßte Lukas, »dass das der Kunde war und der Täter der Schmuggler?«
»Der hätte nicht die restlichen Zigaretten dort gelassen«, vermutete Dirk.
»Ich bin mit Bittler durch das Haus gegangen«, fuhr Tobias fort, »und ihr könnt euch das nicht vorstellen.«
»Du hast Boris nie besucht?«, wunderte sich Guido. »Ihr arbeitet seit zehn, fünfzehn Jahre zusammen.«
»Nein, noch nie«, bestätigte Tobias, »schon das Wohnzimmer wirkte seltsam, seine Mutter ist einige Jahre tot. Ich bin überzeugt, dass er nicht mal die Tischdecke gewechselt hat. Es wirkte schon gepflegt, aber trotzdem wie eine Reise durch die Zeit. Auch die Küche ist aus den Siebzigern, mit dieser orangenen Front. Im Obergeschoss sind wir ins erste Zimmer, das war das von Boris und ich wette mit euch, dass das sein altes Jugendzimmer ist. Das Einzige, was da nicht Achtzigerjahre rief, war der große Flachbildfernseher, der Computer und die Pornosammlung.«
»Pornos gab es damals schon«, korrigierte Dirk.
Tobias schüttelte den Kopf: »Aber die waren dann doch moderner. Neben dem Bett lag eine aufblasbare Puppe und es ekelte mich so richtig. Bittler durchwühlte Schubladen und Schränke und schaute sich die Papiere auf dem Schreibtisch an. Ob er die Kundenliste suche, fragte ich ihn und er bejahte das. Oder zumindest irgendetwas, aus dem sich Verdächtige ergeben würden. Danach sind wir in den nächsten Raum, das Schlafzimmer der Eltern und das war seit dem Tod der Mutter unverändert. Bis auf Lattenrost und Matratzen, die hatte jemand zur Seite geräumt und Bittler vermutet, dass Boris dort die Zigaretten versteckt hatte.«
»Also hat jetzt jemand in Umbach Unmengen an Zigaretten?«, sagte Guido, »der muss doch zu finden sein! Spätestens wenn der die zu verkaufen versucht.«
»Ja«, stimmte Dirk zu, »es dürfte nicht lange dauern, bis den letzten die Zigarettenrationen ausgehen und man muss sich nur umschauen, wer munter Kippen aus frischen Packungen raucht.«
»Was ich eben vergessen hatte«, ergänzte Tobias, »im Zimmer von Boris konnte ich einen Blick auf einen seiner Kontoauszüge werfen. Dass der überhaupt geschmuggelt hat, wundert mich, denn nötig hatte er das nicht. Das Haus hat er von den Eltern zusammen mit einem kleinen Vermögen übernommen und viel braucht er nicht. Wir sind wieder nach unten gegangen, und Haarberg war mit seiner Untersuchung fertig und packte mit dem Pfleger den Leichnam in eine Plane. Er schätzte, dass Boris 36 bis 40 Stunden tot sei, da die Leichenstarre noch anhielt.«
Lukas rechnete kurz nach: »Das wäre etwa in der Zeit des ersten Angriffs.«
Dirk schien einen ähnlichen Gedanken zu haben: »Für die Zeit hat jeder im Dorf ein Alibi.«
»Wenn es jemand aus dem Ort war«, gab Guido zu bedenken.
»Seit dem Stromausfall war die Aufklärungsrate der Verbrechen im Ort nicht gerade hoch«, urteilte Guido. »Gibt es denn irgendwelche Spuren?«
»Der Doktor meinte nur«, antwortete Tobias, »dass der Täter zumindest kräftig sein muss.«
»Super«, befand Dirk, »dann ist das halbe Dorf verdächtig. Ich beneide Bittler nicht.«
Tobias trank einen Schluck aus seiner Flasche: »Haarberg und der andere haben Boris in eine Plane gewickelt, damit sie ihn später abholen können. Bittler hat mich eine Weile befragt und wollte die Nachbarn noch befragen.«
»Harter Tobak«, urteilte Dirk, »als ob die Zeiten nicht hart genug wären.«
Guido schüttelte den Kopf: »Und ich glaube, das wird schlimmer werden.«
»Noch schlimmer?«, wunderte sich Lukas. »Wir haben die Angriffe auf den Ort mit Toten, den Mord … und du meinst, es soll noch schlimmer werden?«
Guido verschränkte die Arme vor der Brust: »Uns geht es hier noch relativ gut. Andere hatten nicht so viel Glück wie wir. Überlege dir, was den Eltern von Gordon passiert ist.«
Lothar Bittler betrat die Feuerwache, sah Dirk und die anderen und ging direkt auf sie zu: »Tobias Rickschitz, ich muss dich bitten mitzukommen.«
Tobias schaute den Polizisten verwirrt an: »Wieso? Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Haben Ihnen die Nachbarn denn nicht helfen können?«
Der Angesprochene schaute die Gruppe am Tisch an und wiederholte sich dann: »Tobias, ich muss dich noch mal bitten mitzukommen. Ich habe ein paar Fragen an dich und da muss niemand dabei sein.«
Tobias schüttelte den Kopf: »Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen, für heute habe ich genug erlebt.«
Er trank den letzten Schluck aus seiner Flasche und stellte sie auf den Tisch. Bittler schaute ihn traurig an: »Tobias, wo warst du während des ersten Angriffs?«
Dieser schien nun zu bemerken, in welche Richtung die Fragen gehen sollte: »Was soll das? Verdächtigst du mich?«
»Wo warst du«, wiederholte Bittler seine Frage.
»Daheim«, antwortete Tobias knapp.
»Kann das jemand bezeugen?«, setzte Bittler nach.
»Nein«, Tobias war verärgert, »Ich lebe alleine! Und der letzte, den ich an dem Tag gesehen habe, war Bori …«
Er brach bei der letzten Silbe ab und schien zu bemerken, dass er kein gutes Alibi hatte und vermutlich der Letzte war, der Boris lebend gesehen hatte: »Wenn ich Boris was angetan haben soll, wäre ich so dumm zu dir zu gehen?«
Bittler schaute ihn ernst an: »Ich war eben bei dir zu Hause, hatte eine andere Frage. Als du nicht geantwortet hattest, wollte ich gehen. Durch die halb offene Tür habe ich einen Karton in deiner Garage gesehen, der mich an den bei Boris erinnerte.«
»Ja, und?« Tobias schien überrascht zu sein.
»In deiner Garage steht ein Karton, der identisch mit dem in Boris Wohnzimmer ist«, erklärte Bittler.
Tobias starrte sein Gegenüber entgeistert an: »Ich weiß nicht, wie der Karton dahingekommen ist!«
Bittler blieb unnachgiebig: »Tobias Rickschitz: Als Vertreter der Ortspolizei nehme ich dich wegen des Mordes an Boris Kling fest.«
Tag 21
Laura
Wie so oft wachte Laura vor Gordon auf und schlich sich aus dem Bett. In einem Anflug von Hoffnung nahm sie ihr Handy aus ihrem Nachttischschränkchen. Verstohlen schaute sie nach Gordon, der es nicht bemerken sollte. Sein tiefer und fester Schlaf sorgte dafür, dass er sie nicht erwischte. Sie drückte auf alle Knöpfe des Gerätes und bemerkte, wie ihr die Tränen ins Auge schossen. Auch wenn sie es mittlerweile gut vor ihrer Familie und Gordon verbergen konnte, sie fühlte sich ohne Social Media blind, taub und stumm.
Vorsichtig legte sie das Gerät wieder zurück und ging zur Gästetoilette, die sie, gemeinsam mit Gordon, in eine Komposttoilette umgebaut hatte. Dazu hatten sie die Keramikschüssel entfernt, den Abfluss abgedichtet und ein Holzgestell gebaut, unter dem ein mit Rindenmulch und Stroh gefüllter Eimer gestellt wurde. Das Loch darüber deckten sie mit dem Deckel der alten Toilette ab, vorne befestigten sie eine Blende. Das kleine Geschäft wurde direkt in einen extra Behälter abgeleitet. Die undankbare Aufgabe, den Eimer und den Urinbehälter auf den Komposthaufen in der hintersten Ecke des Gartens zu leeren, wurde reihum von jedem übernommen.
Nachdem sie sich kurz mit kaltem Wasser gewaschen hatte, bereitete sie Frühstück vor. Der Kaffee war in der Woche zuvor ausgegangen und zwei Tage davor die letzte Gasflasche geleert worden. Seitdem nutzten sie Holz, um Wasser und Mahlzeiten zu erhitzen. Laura hatte sich mit den Landfrauen an Kaffee-Alternativen versucht, bisher konnte sie keine davon überzeugen und sie entschied sich für einen Tee.
Nacheinander kamen ihr Vater, ihr Freund und ihr Bruder die Treppe herunter und setzten sich zu ihr. Während Gordon wortlos eine Scheibe Brot und ein Stück Käse aß, erzählte Lukas von Tobias› Bericht und dessen anschließender Festnahme.
Gordon hörte kurz zu kauen auf und kommentierte: »Das wäre das erste Verbrechen im Ort, das aufgeklärt wurde!«
Lukas schaute ihn böse an, ignorierte den Kommentar: »Dirk meinte später, dass Tobias nur Verdächtiger ist und es nur Indizien sind, die gegen ihn sprechen. Wie werdet ihr da vorgehen, Papa?«
Malte wirkte nachdenklich: »Wir müssen uns erst mit dem Rat und den Richtern besprechen. Niemand hatte damit gerechnet, dass es gleich um einen Mordfall geben würde.«
»Ich möchte eine Waffe haben«, sagte Lukas, »die ich ständig bei mir trage.«
»Wir hatten das Thema doch schon«, entgegnete Malte und Laura fand, dass er dabei unnötig aggressiv klang. »Ich habe nichts dagegen, wenn du unter Aufsicht den Umgang mit Waffen lernst, aber ich möchte nicht, dass du eine mit dir trägst. Und versuche gar nicht erst, Dirk oder dem Major Honig um den Mund zu schmieren, ich werde mit beiden sprechen!«
»Wenn du meinst, dass du das machen musst.« Lukas stand auf, ging zur Haustür hinaus und knallte sie mit Wucht zu.
Malte wollte seinem Sohn folgen, doch Laura stellte sich ihm in den Weg: »Wo willst du hin?«
»Was soll die Frage?« Er versuchte erst links, dann rechts an ihr vorbei zu kommen, aber sie blockierte ihn geschickt. »Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen.«
»Sprich mit Dirk und spreche heute Abend noch mal mit Lukas«, vermittelte sie. »Wenn du ihm jetzt hinterherläufst, werdet ihr euch richtig in die Haare bekommen. Gib ihm ein wenig Zeit. Und behandle ihn nicht ständig wie ein kleines Kind.«
»Er ist ein Kind!« Malte verhielt sich trotzig und Laura musste lächeln.
»Und wer verhält sich hier wie ein Junge?« Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er sich erwischt fühlte. »Unser Ort ist kurz davor, Menschen hinzurichten. Menschen wurden auf den Feldern vor dem Dorf getötet, weil sie auf der Suche nach etwas zu Essen sind. Wenn Lukas Kind sein will, dann wird er versuchen, sich die Zeit zu nehmen. Aber er möchte ein ›Mann‹ sein und wünscht sich, von dir ernstgenommen zu werden.«
»Wir haben dieses Gespräch schon mal geführt.« Ihr Vater war gleichzeitig genervt und schien sich schuldig zu fühlen. »Es ist auch für mich nicht einfach! Meine Frau ist da draußen, wo Menschen für ein wenig Essen töten!
Und es ist gefährlich geworden, viel gefährlicher. Ich …«
Ihr Vater machte eine Pause, seine Augen füllten sich mit Tränen und er atmete mehrmals tief durch: »Ich möchte ihn doch nur beschützen.«
Laura nahm ihn in den Arm und er ließ sich fallen.
Nach einer Weile löste er sich aus ihrer Umarmung: »Danke, es geht schon wieder. Was habt ihr heute vor?«
»Die Pastorin und der Pfarrer haben diesen Sonntag als arbeitsfrei durchgesetzt!«, erinnerte ihn Laura. »Der erste seit dem Stromausfall! Auf den Feldern braucht es nur wenige Leute und das Wetter ist doch bombastisch! «
»Der Bademeister hat das Freibad zum Schwimmen freigegeben«, freute sich Gordon. »Bisher scheint das Wasser nicht umgekippt zu sein. Wir wollen die Chance nutzen, bevor es der zweite Löschwasserteich wird.«
»Passt auf, dass ihr keinen Sonnenbrand bekommt«, ermahnte Malte.
Kurze Zeit später hatte Laura eine Tasche für Gordon und sie selbst gepackt, die er, ganz Gentleman, zum Schwimmbad trug. Das Geläut beider Kirchen rief die Gläubigen zum Gottesdienst und Laura staunte einerseits, wie viele Menschen dorthin unterwegs waren, andererseits, dass sich viele, trotz der warmen Temperaturen, für den Gottesdienst Anzüge und Krawatten angezogen hatten.
»Krisen treiben Menschen dem Glauben zu«, kommentierte Gordon die Kirchgänger. »Als ob das ihnen helfen würde.«
»Wenn es den Menschen hilft, sich besser zu fühlen, ist es doch nicht verkehrt«, entgegnete Laura,
»Das machen sie nicht«, reagierte Gordon gereizt, »und ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, wie ausgerechnet du das verteidigen kannst.«
»Wieso ausgerechnet ich?«
»Funktioniert die Verdrängung bei dir so gut?«, warf Gordon ihr vor. »Es sind solche Leute, die dich Hure genannt haben und aus der Kinderbetreuung rausdrängen wollen.«
»Ein paar Idioten gibt es überall«, entgegnete Laura, »und für die können doch die anderen nichts. Und dieser Johannes Orloff hat nichts mit den Kirchen zu tun, der ist nur ein Spinner!«
»Wo wir von ›den anderen‹ reden, dort kommen sie.« Gordon deutete auf eine Gruppe, die ihnen entgegenkam.
Laura sah Orloff, der schien sie ebenfalls erkannt zu haben. Die Gruppe, die bisher in Zweier- und Dreierreihen gelaufen war, fing an, sich auf der Straße breitzumachen. Es war offensichtlich, dass sie Laura und Gordon den Weg blockieren wollten. Etwa drei Meter vor ihnen blieben sie stehen, verhakten die Arme ineinander und sperrten so die ganze Straße ab.
Laura und ihr Freund gingen die restlichen Schritte auf die Menschenkette zu und stellten sich direkt vor Johannes Orloff.
Gordon überragte ihn und schaute auf ihn herunter: »Würden Sie uns durchlassen? Sie stehen uns im Weg!«
Der Mann blickte Gordon in die Augen und spuckte vor ihm auf den Boden: »Die Sünde hat hier in Umbach nichts zu suchen!«
Laura widerte das Verhalten des Mannes an und sie wollte ihm etwas entgegnen, doch Gordon kam ihr zuvor: »Wissen Ihre Eltern, wie sie sich hier benehmen? Glauben Sie, Ihr Verhalten würde Ihrem ›Jesus‹ ge …«
»Schweig, du Sünder, nimm den Namen des Herren nicht in den Mund!«, schnitt Orloff ihm schroff das Wort ab.
»Nein«, Gordon baute sich in voller Größe auf, spannte die Muskeln an, Laura war erstaunt, dass der Mann sich davon nicht einschüchtern ließ. »Sie haben weder mir noch sonst jemandem zu erzählen, wann er zu schweigen hat.«
Er hob drohend den Finger und deutete auf die Stirn des Mannes: »Ich weiß nicht, was bei Ihnen falsch läuft, würde es aber begrüßen, wenn Sie uns jetzt aus dem Weg gehen.«
Der Mann neben Orloff griff nach Gordons Unterarm, doch seine Reflexe waren schnell, er wich aus und ergriff seinerseits den Arm seines Gegners: »Ja? Wollen Sie wirklich Körperkontakt?«
»Ist gut«, wies Orloff seinen Nachbarn an, »wir lassen die Hure und den Sünder …«
»Wenn Sie Spinner meine Freundin noch einmal Hure nennen«, hob Gordon die Stimme an, »dann …«
»Dann?« Er wartete darauf, dass er etwas Weiteres sagen würde, Laura erkannte, dass Gordon nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte.
Sie kannte das aus der Arbeit in der KiTa, da ging es ihr öfter so.
Gordons Blick drückte wohl Entschlossenheit aus, ihre Gegner traten zur Seite: »Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?«
»Psalm 118?«, überraschte Gordon Laura und anscheinend auch Orloff mit Bibelkenntnissen.
Der legte nach: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!«
»Matthäus 3?« Gordon lieferte sich ein Blickduell mit seinem Gegenüber.
»Jetzt ist es gut«, reagierte Laura. »Vielleicht sollten Sie einen Psychiater aufsuchen!«
Die beiden drängten sich durch die kleine Lücke und setzten ihren Weg zum Freibad fort. Aus dem Hintergrund konnten sie Orloff rufen hören: »Wir lassen es nicht zu, dass unsere Gemeinschaft wegen eurer Sünden leiden muss!«
Gordon wollte sich umdrehen, doch Laura hielt ihn davon ab: »Lass uns einen schönen Tag im Schwimmbad haben und die Spinner labern.«
»Wie kannst du nur so ruhig bleiben?« Sie bemerkte, wie er sich langsam wieder entspannte.
»Ich bin es nicht«, gestand Laura, »aber ich glaube nicht, dass man mit diesen Menschen reden kann. Woher kanntest du die Bibelstellen?«
»Und dann sollen wir denen das durchgehen lassen?« Gordon ballte seine Fäuste. »Ich habe es satt, wie sich manche Menschen verhalten. Und die Bibelstellen: Es ist noch nicht lange her, da war ich aktiv beim CVJM.«
»Irgendwas müssen wir machen«, drängte Gordon. »Denn der Klügere gibt nur solange nach, bis er der Dümmere ist.«
»Lass uns jetzt den Tag genießen.« Laura hatte sich auf das Freibad gefreut. »Und ein wenig die Sonne ausnutzen. Wetten, ich bin immer noch schneller als du?«
Laura schwamm mehr als passabel, während Gordon zwar größer und stärker, aber definitiv ungeübter im Wasser war: »Neben Tanzen ist das vermutlich der einzige Sport, in dem du mich schlägst.«
Sie neckte ihn zurück: »Ach ja? Beim Schach auch!«
Im Dorf war die Geldwirtschaft seit dem Stromausfall praktisch zum Erliegen gekommen. Noch waren sie darauf eingestellt, dass das Überleben der Gemeinschaft das oberste Ziel war, dem der schnöde Mammon untergeordnet wurde. Laura fragte sich, wie lange das so weitergehen würde, bis der quasi Kommunismus, in dem sie lebten, wieder von der Marktwirtschaft eingeholt werden würde. Der Eintritt ins Schwimmbad war frei und auch wenn es viele Menschen an dem Morgen in den Gottesdienst gezogen hatte, war reichlich Betrieb auf der Liegewiese des Freibades.
Neben einem Planschbecken gab es ein 20 Meter langes Schwimmbecken, die flachere Hälfte davon war mit einer kleinen Mauer vom Schwimmbereich abgetrennt. Laura und Gordon verstauten ihre Wertsachen in einem der Spinde, suchten sich einen Platz auf der Liegewiese und schwammen ein paar Bahnen, wobei Laura tatsächlich schneller als Gordon war.
Der beeindruckte sie dafür mit verschiedenen Salti, die er vom Startblock sprang und wie jedes Mal, wenn sie dort waren, beschwerte er sich, dass ein richtiges Sprungbrett fehlen würde: »Oder ein Drei-Meter-Turm, das wäre klasse!«
»Du bist nur am Rumnörgeln«, warf Laura ihm vor. »Genieße das kühle Nass und das tolle Wetter!«
Mit einer vom Startblock gesprungenen Wasserbombe verwandelte er den hinteren Teil des Beckens kurzfristig in ein Wellenbad. Nach dem Auftauchen schwamm er zu Laura, drückte sie an sich und küsste sie sanft auf die Lippen.
»Lass uns rausgehen«, schlug Laura vor. »Ein wenig in der Sonne aufwärmen.«
»Na danke«, grinste Gordon, »geh du vor, ich muss kurz im kalten Wasser bleiben. Ansonsten könnte man mir Erregung öffentlichen Ärgernisses vorwerfen.«
»Wenn du dich nicht unter Kontrolle hast«, neckte sie ihn, »dein Problem!«
Sie stieg aus dem Wasser und achtete darauf, sich übertrieben sexy zu bewegen und ihn damit ein wenig zu provozieren.
Die Liegewiese teilte sich in drei Abschnitte: Der erste umgab das Planschbecken und den Sandkasten und wurde von Familien mit kleineren Kindern frequentiert, der zweite lag neben einem Bolzplatz und einem Beachvolleyballfeld und der dritte war einfach nur Wiese. Gordon und Laura hatten ihre Decke und Taschen dorthin gelegt. Sie nahm ihr Handtuch, trocknete sich flüchtig ab und legte sich bäuchlings auf die Decke, um den Blick über die Besucher wandern zu lassen.
Auf dem Bolzplatz spielten einige Jugendliche und junge Männer Fußball auf das Tor, das, wenn nicht Fußball gespielt wurde, Kindern als Klettergerüst diente. Laura fand, dass die Fußballspieler ein wenig anachronistisch wirkten und überlegte, wieso sie darauf kam. Dann fiel ihr auf, dass es an deren Frisuren lag. Mit dem Undercut und den sportlichen Körpern wirkten sie fast wie Soldaten auf Fronturlaub. Sie suchte die Liegewiese ab, bis sie in einer Ecke eine Gruppe junger Frauen sah, die Badeanzüge trugen, die aussahen, als ob sie aus den Dreißigerjahren wären.
Freyristen. Laura stellte fest, dass Übergewicht innerhalb ihrer Gemeinschaft kein Problem war. Körperliche Fitness war etwas, worauf geachtet wurde und auch wenn die Gemeinschaft von einer Frau geführt wurde, war das Rollenbild traditionell.
Nachdem sie genug gesehen hatte, nahm sie ihr Buch aus dem Korb und begann zu lesen. Daheim hatte sie überlegt, ihr Handy mitzunehmen, vielleicht würde es wieder funktionieren, wollte aber nicht riskieren, dass Gordon es mitbekam. Die Ausbrüche hatte sie unter Kontrolle.
Beim Lesen konnte sie sonst gut abschalten, ihre Gedanken wanderten trotzdem zwischendurch wieder zu ihrem Handy und zum Streit zwischen ihrem Vater und Bruder. Nachdem sie eine Seite das vierte Mal gelesen hatte, ohne den Inhalt mitzubekommen, legte sie das Buch weg. Fast im gleichen Moment landete ein Fußball kurz vor ihrer Decke und mit guten Reflexen hielt sie das Leder mit einer Hand auf.
»Respekt«, bekundete einer der Fußballer, der dem Ball hinterhergelaufen war. »Schnelle Reaktion! Wir könnten eine Torfrau gebrauchen.«
Sie richtete sich auf und ärgerte sich, nicht die Sonnenbrille aufzuhaben, er konnte erkennen, wie sie seinen Körper musterte: »Na, ich weiß nicht, ihr kommt gut ohne mich zurecht!«
»Schade«, sagte er, »aber wir wollten sowieso gleich aufhören.«
Er warf einen Blick auf ihr Buch: »›Der Report der Magd‹? Schwere Kost, meinst du nicht, das Leben ist im Moment kompliziert genug? Wäre etwas Heiteres nicht besser?«
»Lese ich als Nächstes«, reagierte Laura. »Aber der Roman ist schon spannend, kann ich dir empfehlen.«
Der Fußballer lächelte: »Ich müsste es mir bei dir ausleihen!«
Er drehte sich um und warf den Fußball seinen Freunden zu und wandte sich wieder an Laura: »Magst du dich mit zu uns legen? Kannst ja ein wenig vom Buch erzählen.«
»Nein, danke«, sagte Gordon, der aus dem Becken zurückgekommen war. »Wir liegen hier recht gut.«
Der Fußballer musterte Gordon von oben bis unten, schaute Laura an und dann wieder zu Gordon: »Ich habe sie gefragt, nicht dich. Neger.«
Malte
Malte fühlte sich erschöpft und er blieb lange, nachdem Laura das Haus verlassen hatte, am Tisch sitzen. Der Streit mit Lukas setzte ihm mehr zu, als er vor Laura zugeben mochte, und er wünschte sich, er würde einen Weg finden, ihn schnell zu beenden. Es erinnerte ihn an seine eigene Jugend, an die Konflikte, die er mit seinem Vater ausgetragen hatte. Jahre später hatte er herausgefunden, dass sein Vater mit seinem Vater ähnliche Probleme hatte, und vermutlich waren alle, genau wie er selbst, überzeugt, es besser als der eigene Vater zu machen. Dabei musste er sich schon als Teenager eingestehen, dass er es mit seinem Vater, im Vergleich zu seinen Freunden, gut erwischt hatte.
Vielleicht war es die Kombination aus dem Fehlen von Simone und den neuen Gefahren in der veränderten Welt, die es ihm schwerer machten, seinem Sohn genügend Freiraum zuzugestehen. Er stand auf und blieb lange vor der Fotowand stehen, nahm das Hochzeitsbild von Simone und sich von der Wand und setzte sich damit auf den Sessel.
Er drückte es an sein Herz und flüsterte: »Du fehlst mir, ohne dich schaffe ich es nicht.«
Tränen kullerten seine Wangen herunter und verfingen sich im Bartansatz. Normalerweise rasierte er sich elektrisch, hatte aber auch Nassrasierer. Seit dem Stromausfall war er nicht mehr zum Rasieren gekommen. Nicht, weil er es nicht wollte. Jedes Mal, wenn er daran dachte, war er weit weg von seinem Badezimmer.
Malte würde gerne mal wieder die Beatles oder Pink Floyd hören, und hatte schon probiert die LPs auf den Plattenspieler zu legen, um den Teller mit der Hand zu drehen. Wenn man mit dem Ohr nahe an die Nadel ging, konnte er leise die Lieder wahrnehmen. Ein Grammophon wäre toll, aber bisher hatte er niemanden in Umbach gefunden, der eines hatte. So blieben ihm seine eigenen leidlichen Fähigkeiten als Musiker oder die Talente seiner Kinder, denen er gerne zuhörte.
Trotz der relativ guten Versorgungslage in Umbach war das kulturelle Leben fast vollkommen zum Erliegen gekommen. Die kleiner werdenden Bestände an Bier und Wein trugen ihren Teil dazu bei, aber auch der Mangel an Strukturen dürfte mit verantwortlich sein.
In Ermangelung anderer Ablenkung hatte er wieder angefangen, mehr zu lesen, und sein Stapel ungelesener Bücher nahm rasant ab. Auch wenn die viele körperliche Arbeit, denn er wurde nicht von der Arbeit auf dem Feld verschont, ihn abends schnell ermüdete, war er überrascht, dass er trotzdem noch oft lesen konnte, bis das Licht zu dunkel dazu wurde.
Er war versucht, sich an dem Kerzenvorrat zu vergehen, da es lange hell blieb, entschied er sich dagegen. Einige Bücher hatte er nur als E-Book, die waren unerreichbar für ihn. Bei einem davon hatte er versucht herauszubekommen, ob jemand eine Printausgabe hatte, zumal ihm nur das letzte Viertel fehlte. Jedoch ohne Erfolg. Er würde sich damit abfinden müssen, nie das Ende des Romans zu erfahren.
Erstaunlich wenig vermisste er Filme und Fernsehserien. Eine Gruppe junger Erwachsener hatte um Zeiten im Bürgerhaus gebeten und war dabei, ein Theaterstück vorzubereiten, der Premierentermin stand noch nicht fest. Für die kleineren Kinder hatte jemand sein altes Kasperletheater aktiviert und die erste Vorführung im Bürgerhaus war bei den Kleinen ein Riesenerfolg.
Malte bewunderte Robert Kempf für dessen Weitsicht und Aktionismus direkt am Anfang des Stromausfalls, aber auch viele andere Umbacher waren über sich selbst herausgewachsen. Die Krise hat Menschen zusammenarbeiten lassen, die sonst im Leben keine Berührungspunkte hatten, und er war froh, dass man die Landwirte nicht zwingen musste, ihre Vorräte mit dem Dorf zu teilen. Trotzdem würde die Solidarität nachlassen und man würde konkret über Bezahlung und Entschädigungen nachdenken.
Der Sommer hatte erst angefangen, der Winter würde aber kommen, und es waren die Landwirte, der Gartenverein und die Landfrauen, die massiv die Bevorratung für die kalte Jahreszeit planten und ihr Wissen teilten.
Kälte würde ein Problem werden, denn sämtliche modernen Heizungen funktionierten nicht mehr und bisherige Versuche, sie auf stromlosen Betrieb umzurüsten, waren gescheitert. Etwa jedes zehnte Haus hatte einen offenen Kamin, einen entsprechenden Holzofen oder eine Feststoffheizung. Für viele andere Häuser würde man schlichte Öfen bauen, damit zumindest ein Raum beheizt werden konnte.
Erstaunlich gut hatten sich die meisten Dorfbewohner arrangiert, dass ihre bisherigen Berufe nicht mehr von Relevanz waren. ITler, Kaufleute, Sachbearbeiter hatten Tastatur und Kugelschreiber gegen Sensen, Sägen und Äxte ausgetauscht und durchliefen bei Land- und Forstwirten kurze Einweisungen, um als Handlanger zu helfen. Sport und Fitnessstudios wurden durch die harte körperliche Arbeit vorerst überflüssig.
Wie die anderen Mitglieder des Rates war Malte nicht von der Feldarbeit befreit, wobei man Robert Kempf ausbremsen musste, da er oft versuchte, über seine Fähigkeiten mitzuarbeiten. Holzer hingegen schaffte es, sich erfolgreich vor zu anstrengender Arbeit zu drücken. Bevorzugt ließ er sich vom befreundeten Förster für die Jagd einteilen. Wie viel der Wildbestand in den Wäldern zur Versorgung beitragen konnte, war umstritten.
Malte und Andreas Pape hatten sich bei den Fällarbeiten gemeldet. Holz wurde als Baumaterial für die Verteidigungsanlagen, zum Bauen und als Brennstoff benötigt. Für das Feuerholz würde die Zeit zum Trocknen definitiv nicht reichen, was für viele Rauch in den Zimmern bedeuten würde.
Da Umbach an zwei Seiten direkt an den Wald grenzte, hatten sie sich dazu entschieden, entlang zweier Waldwege breite Schneisen zu schlagen, die eine unbemerkte Annäherung an den Ort erschweren sollten. Malte zog seine Sicherheitsschuhe an, die er beim Bau des eigenen Hauses gekauft hatte, und machte sich auf den Weg in den Wald. Schutzhelme, Fällkeile, Seile und Äxte hatten der Förster und Umbacher zusammengestellt, die schon vor dem Stromausfall ihr eigenes Holz gemacht hatten.
Andreas Pape war einer davon und bereits im Wald, als Malte ankam: »Gut gefrühstückt? Heute brauchst du all deine Kraft!«
Er hielt Malte einen Helm entgegen, der ihn anzog: »Ich habe von gestern noch Muskelkater!«
»Das vergeht«, lachte Pape, »heute sägen wir gemeinsam.«
Er nahm eine große Säge in die Hand, die von zwei Mann bedient werden musste: »Das ist eine Blattsäge, die Sägezähne sind auf beiden Seiten geschliffen, weil wir die in beide Richtungen ziehen. Lass uns da drüben anfangen.«
Pape zeigte auf einen Baum mit ordentlichem Durchmesser: »Zuerst schlagen wir mit der Axt einen Spalt auf der einen Seite. Dann sägen wir von der anderen und wenn er fällt, sehen wir zu, in Sicherheit zu kommen.«
»In Sicherheit kommen?« Malte war skeptisch.
»Alles halb so wild«, beruhigte ihn Pape, »so schnell fällt der Baum nicht um und wir müssen nur aus der Fallrichtung herauslaufen.«
Jedes Team hatte ein kleines Areal zugewiesen bekommen, damit man sich nicht gegenseitig in Gefahr brachte. Die Arbeiten wurden vom Förster überwacht, der selbst überall Hand anlegte. Viele kleine Lichtungen zeugten vom raschen Fortschritt der Arbeit und die Schneise war bereits zu erahnen.
Am Baum, Malte erkannte eine Buche, den Stammdurchmesser schätzte er auf 60 oder 70 Zentimeter, ergriff Pape beidhändig die Axt und schlug die ersten Kerbe in den Stamm. Immer wieder erklärte er Malte die Axthaltung und wo er am effektivsten schlagen sollte. Von den anderen Gruppen hallten ebenfalls die Schläge herüber, selten auch ein »Baum fällt«. Nach einer Weile drücke Pape Malte die Axt in die Hand und der führte die Arbeit fort.
Zwei Wechsel später rief Pape: »Das reicht! Jetzt sägen wir!«
Sie stellten sich auf die andere Seite des Baumes, setzten die Säge in der Höhe der Kerbe an, die sie auf der gegenüberliegenden Stammseite geschlagen hatten, und sägten los. Zunächst kamen sie nicht voran und mussten die Blattsäge mehrmals neu ansetzen. Nach einem kurzen Moment fanden sie den richtigen Rhythmus und wurden schneller.
»Und weg!«, rief Pape und gemeinsam suchten sie Schutz hinter einem benachbarten Baum.
Ihre Buche neigte sich erst langsam, dann immer schneller, bis der Baum auf den Waldboden aufschlug, kurz nachfederte, um wieder auf den Boden aufzuschlagen.
»Weißt du, was ich am Holzmachen mag?«, fragte Pape. »Es macht dir dreimal warm: das erste Mal beim Schlagen, das zweite Mal beim Stapeln und das dritte Mal, wenn du es verbrennst.«
Zufrieden mit sich selbst nahmen beide ihre Äxte, gingen an entgegengesetzte Enden des Baumes, um mit dem Entasten anzufangen. Später würden die Äste und Zweige eingesammelt werden, denn die waren schwer erarbeitetes Brennmaterial. Danach zersägten sie den Stamm in transportierbare Abschnitte, die von Pferdegespannen direkt ins Dorf gebracht wurden.
»Heute Nacht werde ich gut schlafen«, kommentierte Malte.
Pape grinste: »Das Fitnessstudio können wir uns so auf alle Fälle sparen.«
»BLEIB HIER, WENN ICH MIT DIR REDE!«, wurden sie von einer lauten Männerstimme aus ihrem Gespräch gerissen.
Neugierig versuchten sie auszumachen, wer da am Schreien war.
»Russki, du sollst mir nicht den Rücken zudrehen.« Malte erkannte Ernst, vom Hofgut, der einem anderen Mann hinterherlief. Erst als der sich umdrehte, sah er, dass es Alexander war, der Adjutant vom Major.
»Sascha, lass den Spinner«, wurde der von einem weiteren Mann angesprochen, der versuchte ihn von Ernst wegzuziehen, »den nehmen wir uns bei anderer Gelegenheit vor!«
»Feiger Slawe«, legte Ernst hinterher. »Aber das wundert ja nicht.«
Alexander drehte sich um und ging auf Ernst zu, bis beide Nase an Nase voreinander standen.
»Du bist doch nur mutig«, konterte Alexander, »weil du dich schnell unter den Rock von eurer Führerin verstecken kannst, wenn …«
Malte hatte nicht gesehen, wie Ernst ausgeholt hatte, sein Schlag ging aber ins Leere und irgendwie hatte Alexander dessen Schwung genutzt, sich gebeugt und Ernst über seinen Rücken geworfen.
Der schien erst überrannt zu sein, stand aber umgehend wieder auf und die beiden Männer umrundeten sich wie zwei Kämpfer. Nicht wie Boxer, eher so wie die Kerle, die im Käfig gegeneinander kämpfen.
Ernst ließ erneut seine Faust nach vorne schnellen, diesmal konnte Alexander den Schlag nur abwehren, ging flink in die Knie und brachte mit seinem Bein Alexander zum fallen. Der rollte sich ab, beim Versuch wieder aufzustehen, bekam er einen Stoß von Alexander, der ihn auf den Bauch fallen ließ.
Anstatt nachzusetzen, wartete Alexander ab und erst da fiel Malte auf, dass sich um die beiden drei Gruppen gebildet hatten. Einmal Männer vom Hofgut, ihnen gegenüber ähnlich viele Deutschrussen und etwas abseits alle, die weder der einen noch der anderen Gruppe zugehörten.
Ein lauter Knall ertönte, Malte pfiff es in den Ohren und jeder schien an sich herabzuschauen, ob er getroffen wurde.
»GEHT ES NOCH!« Der Förster hatte das Gewehr in der Hand, den Lauf zum Boden zeigend. »Ihr sollt hier zusammenarbeiten, damit wir unser gemeinsames Dorf verteidigen können. Wenn ihr meint, zu viel Kraft zu haben, dann lasst das an den Bäumen aus.«
Er hatte sich breitbeinig neben die beiden Streithähne gestellt und blickte beiden abwechselnd in die Augen.
»Wir sehen uns noch ›Sascha‹«, Ernst spuckte den Namen fast aus.
»Ich warne dich.« Malte wunderte sich, dass Alexander so ruhig sprechen konnte, er sollte zumindest außer Atem sein. »Andere mögt ihr blenden, wir beobachten euch sehr genau. Und ihr seid nicht im Ansatz so stark wie ihr …«
»Schluss jetzt«, dem Förster wurde es zu viel, »geht arbeiten oder verlasst meinen Wald.«
Wortlos trennten sich die beiden Streithähne und die kleine Ansammlung löste sich wieder auf.
Malte und Pape wollten gerade beim nächsten Baum mit der Axt anfangen, als ein Jugendlicher auf dem Fahrrad zu ihnen kam: »Herr Pape? Herr Kinzig? Herr Kempf schickt mich, Sie mögen bitte zu ihm kommen.«
Es kam nicht selten vor, dass Robert Kempf spontan eine Sitzung des Rates einberief, um neue Entwicklungen zu besprechen. Oft waren es Themen, die hätten warten können, an dem Tag war Malte froh, denn seine Hände hatten vom Führen von Axt und Säge Blasen bekommen.
Auf dem Weg ins Dorf kamen sie an einem Holzgestell vorbei, an dem zwei Männer arbeiteten, und Malte wurde bewusst, dass dort der Galgen aufgebaut wurde. Seine Hoffnung, dass man eine andere Lösung für die Gefangenen finden würde, schwand immer mehr.
Pape bemerkte sein Unwohlsein: »Malte, sie haben es verdient! Sie haben Menschen aus unserem Ort umgebracht und wollten unsere Nahrung klauen.«
»Sie waren verzweifelt«, versuchte Malte zu erklären, »in ihrer Situation hättest du vermutlich nicht anders gehandelt.«
Pape schüttelte den Kopf: »Vielleicht. Aber man kann davon ausgehen, dass sie sich ihres Risikos bewusst waren.«
»Das Risiko beim Angriff zu sterben«, entgegnete Malte, »aber doch nicht hingerichtet zu werden!«
»Das Ergebnis ist das Gleiche«, erwiderte Pape.
Malte wollte etwas entgegnen, entschied sich dagegen und so schwiegen sie sich den Rest des Weges an.
»Hallo, ihr beiden«, begrüßte sie Kempf, der am Tisch mit dem bereits angekommenen Holzer und Nadine saß. »Schön dass ihr so schnell kommen konntet.«
Pape setze sich neben Holzer, Malte nahm auf dem Stuhl neben Nadine Platz: »Ein Deo wäre eine Option gewesen.«
»Für euch beide«, schob Nadine hinterher.
Malte sagte: »Wir kommen …«
»Aus dem Wald«, unterbrach sie ihn, »ich weiß und es war nur ein Spaß. Ihr riecht einfach männlich.«
»Das muss dich irritieren«, stichelte Pape, »so was richtig Männliches.«
»Kinder!«, ermahnte Kempf, »benehmt euch. Heute erreichte mich eine Anfrage aus Blasbach, übermittelt durch den Pony-Express. Deine Schwester hat etwas Tolles aufgebaut!«
Er kratzte sich an der Schläfe: »Bei einem Brand auf einem Bauernhof ist deren Großteil an Getreidevorräten verbrannt. Man bittet uns und die anderen Gemeindeteile um Hilfe.«
»Das hätten wir bei der Sitzung morgen besprechen können«, nörgelte Holzer.
»Wenn die nicht auf die eigenen Sachen aufpassen«, sagte Pape, »ist das ihr Problem. Außerdem ist Erntezeit, die sollten bald genügend haben.«
Kempf überging Holzers Beschwerde: »Ich gebe zu bedenken, dass wir durch Blasbach im Norden recht gut geschützt werden. Was denkt ihr, wird passieren, wenn denen die Vorräte ausgehen?«
»Ist es denn so akut?«, fragte Holzer. »Die werden doch ein paar Tage damit zurechtkommen?«
»Blasbach ist mit uns verbündet«, sagte Malte. »Wenn wir irgendwann wieder so etwas wie Normalität haben wollen, müssen wir Verbindungen aufbauen und zusammenarbeiten.«
»Ja, klasse«, gab sich Holzer genervt. »Du Gutmensch willst gleich wieder allen helfen. Verteil doch unser Getreide, wir brauchen nicht so viel, Hauptsache die anderen werden satt.«
Nadine wurde merkbar sauer: »Du musst nicht gleich übertreiben. Uns ist allen klar, dass unsere Ressourcen knapp sind, aber Blasbach ist nicht ›alle‹ sondern direkte Nachbarschaft. Vielleicht haben die irgendetwas, was wir brauchen?«
»Die haben Bäume«, Pape war ebenfalls genervt, »und offensichtlich kein Getreide mehr.«
Kempf versuchte, Ruhe in die Sitzung zu bekommen: »Ich finde die Idee, dass man dort etwas haben könnte, was wir brauchen, recht gut. Vor allem ist die Zusammenarbeit bei der Verteidigung nicht zu unterschätzen!«
»Wir sollen wegen ein paar Söldnern ein ganzes Dorf durchfüttern?«, regte sich Holzer auf.
»Wir hatten bisher Glück«, gab Malte zu bedenken. »Beim Supermarkt ist nur ein Teil unserer Bestände verbrannt. Es hätte genauso gut unsere Getreidevorräte treffen können. Dann wären wir die, die bei den Nachbarorten um Hilfe gebettelt hätten.«
»Und du glaubst, die hätten uns geholfen?«, fragte Holzer.
»Wenn jeder darauf wartet, dass der andere zuerst etwas macht«, sagte Malte ruhig, »wird nie etwas passieren.«
Holzer und Pape erwiderten nichts, Malte ekelte deren Einstellung und er wollte ihnen etwas Passendes an den Kopf werfen, entschied sich aber dagegen.
Stattdessen übernahm Kempf das Wort: »Wir müssen dringend intensiver mit den anderen Gemeindeteilen zusammenarbeiten. So etwas wie eine Föderation. Das ergibt sich schon aus der räumlichen Nähe und vor vier Wochen waren wir noch eine kommunale Einheit. Da sollten wir ansetzen.«
»Sollten wir dazu nicht das Thing befragen?«, schlug Holzer vor. »Immerhin ist das eine Entscheidung, die den Ort nachhaltig betrifft.«
»Das was?«, fragte Nadine.
»Das ›Thing ‹ war eine germanische Volksversammlung«, erklärte Kempf. »Der Begriff hat sich in den skandinavischen Ländern in den Parlamentsnamen gehalten. Ein wenig romantisierend könnte man es als eine der Keimquellen von Demokratie sehen: Jeder freie Mann eines Stammes hatte dort eine Stimme. Aber wie genau das stimmt, wissen wir nicht und die Quellen dazu waren nur spärlich.
Und nun gibt es einige Leute, die sind der Ansicht, die Dorfversammlungen könnte man ›Thing ‹ nennen.«
»Ah«, Nadine betonte es übertrieben, »wir müssen nicht sofort entscheiden, aber bevor wir etwas zu einer Entscheidung an die Vers … das Thing übergeben, sollten wir wissen, über was entschieden werden soll. Ihr erinnert euch sicher an die Brexitabstimmung? Es gab nur ein ›Remain ‹ oder ›Leave ‹, wie das ›Leave ‹ genau aussehen sollte, wurde nicht erwähnt.«
»Das klingt vernünftig«, lenkte Pape ein, »laden wir die Führungen der anderen Gemeindeteile ein?«
»Danke.« Kempf war merklich erleichtert. »Ich habe eine Einladung formuliert und ein paar Tagungspunkte der zu besprechenden Themen …«
»FEUER! FEUER!«, wurde er von draußen unterbrochen.
»Schon wieder?«, wunderte sich Malte.
Gemeinsam gingen sie zur Feuerwache und wurden von Dirk zur Eimerkette eingeteilt. Malte war nah genug am brennenden Haus, um zu erkennen, welches es war. Er wusste, dass dort eine marokkanische Familie wohnte, die schon so lange im Dorf lebte, dass ihr erstes in Deutschland geborene Kind bereits erwachsen und ausgezogen war.
Tag 22
Florian
Es könnte für Florian kaum besser laufen: Bittler war der von ihm gelegten Spur auf den Leim gegangen und hatte Tobias als Verdächtigen verhaftet. Nun musste er schnell handeln, um den Verdacht zu erhärten.
Nachdem Jutta das Haus verlassen hatte, begab er sich über Umwege zu seinem Versteck, verpackte zwei Kartons mit Zigarettenstangen in eine große Sporttasche und nutzte jeden Schleichweg, um möglichst ungesehen zum Friedhof zu kommen. Sein Plan war ähnlich banal wie der Karton in der Garage von Tobias. Diesmal versteckte er die Kartons in einer der Nebenräume der Friedhofshalle. Der Polizist würde bei seiner Spurensuche die Arbeitsstätten von Tobias durchgehen und damit den Verdacht erhärten. Das Schloss der Friedhofshalle war für Florian keine Herausforderung und so hatte er seine Arbeit schnell erledigt.
Er war auf dem Weg nach Hause, als er Iris traf: »Hallo Florian, hast du mich vermisst?«
»Iris«, tadelte er, »du weißt, dass wir vorsichtig sein müssen.«
»Zwei erwachsene Menschen, die sich im Dorf über den Weg laufen?«, neckte sie ihn. »Das ist sehr verdächtig. Bestimmt wissen alle Bescheid: ›Seht ihr das? Florian fickt die Frau vom Holzer! ‹.«
Er sah sich um und war froh, dass niemand zu sehen war. Iris wurde ihm langsam zu fordernd und er müsste einen Ausweg finden, bevor ihm die Kontrolle entglitt.
»Lass uns zum Haus der Zieglers gehen«, schlug er vor.
»Wie immer auf verschiedenen Wegen?«, provozierte sie ihn.
»Es würde reichlich seltsam aussehen«, entgegnete er, »wenn wir zusammen in ein verlassenes Haus gehen.«