Geschichtenrad - Helga R. Müller - E-Book

Geschichtenrad E-Book

Helga R. Müller

4,8

Beschreibung

Wie beim Dreh am Rad, bleibt das "Geschichtenrad" mitten im Leben stehen, widersprüchlich und verschiedenartig, geradeso, wie kein Mensch dem anderen gleicht. Kurze Geschichten für den Strand oder für Tage im Krankenhaus, für die ruhige Minute oder einfach so zwischendurch. Mit einer Drehung am Geschichtenrad befindet sich der Leser/die Leserin mittendrin im chaotischen Umzug, amüsiert sich mit einer eifersüchtigen Henne, oder entflieht mit den sibirischen Hühnern in die Sonne. Die Morgenröte geht im Osten auf und eine Schwabenkätzin schnurrt mit einem Berliner Kater um Zwetschenkuchen und Kehrwoche. Zuweilen gibt es scheinbar keinen Ausweg, oder die Nebelgeister schweben über dem Bodensee. Das Internet saugt einen Jugendlichen in gefährliche Abgründe und die unglückliche Urlauberin findet über Strandgut zum Paradies. Mit dem Fesselballon schweben über den bizarren Landschaften in Kappadokien, bevor zuletzt eine abenteuerliche Zeitreise mit einem magischen Wanderfalken startet. Gespannt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 102

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Geschichtenrad

Chaotischer Umzug

Schattenlichter

Eifersucht am Hühnerhof

Morgenröte

Gestrandet im Berliner Eck

Nebelgeister am Bodensee

Ohne Ausweg

Gedankensplitter

Sibirische Hühner auf Sonnentour

Entscheidung im Augenblick

Strandgut im Paradies

Ballonfahrt über Kappadokien

Abenteuerliche Reise mit Zadak

Geschichtenrad

Ja wo ist sie jetzt nur wieder? Die Geschichte, die wie ein Blitz durch die Gedanken schoss, während ich anderweitig beschäftigt war. Ich wollte sie aufschreiben, gleich, wenn ich fertig bin. Und nun - dreht das Geschichtenrad einen Kreis um den anderen und ich finde die Idee nicht mehr. Nutzlos schweben die Finger über der Tastatur. Das Fragment der Kurzgeschichte, die meinen Geist inspirierte, hat sich verflüchtigt, ist abhandengekommen, hat seinen Weg genommen, ohne mich mitzunehmen. Nur - wohin ist es gegangen? Nach rechts oder links? Vielleicht geradeaus? Ach, wenn ich es nur wüsste, ich würde ihm folgen. Was geblieben ist, das ist so ein winziges Stückchen an Erinnerung, das in mir herumgeistert, sich aber kaum mehr konkret greifen lässt. Und doch… ist so viel davon übrig, dass es mich weiterhin beschäftigt.

Ich versuche den Befreiungsschlag, will bewusst an etwas anderes denken. Mal schauen.

Morgen findet mein monatlicher Literaturabend statt und ich freue mich auf jeden Einzelnen von ihnen. Alle werden sie ihre neuesten Geschichten zum Besten geben. Rita ruft gerne Erin nerungen an die Kindheit wach, bewältigt mit dem Vater Ängste, bekommt von der Mutter Schelte. Wer kennt sie nicht, diese Erinnerungsstücke der eigenen Kindheit? Heinz hingegen liebt Bodenseegeschichten. Er schildert das geliebte Schiff und fabuliert von einsamen nachdenklichen Stunden, mit nur mehr einer einzigen Zigarette. Ottmar findet mit traumhafter Nachvollziehbarkeit die Worte der Poesie, die uns mitnehmen in seine Gedankenwelt, wenn er die Umgebung betrachtet. Und Bianca? Sie hat während des Umzugs bestimmt ein Ereignis gefunden, das niederzuschreiben sich lohnte. Margrit unternahm vielleicht einen neuen Spaziergang am Fluss. Ob in ihr das rosarote Fischernetz noch einmal lebendig geworden ist? Ließ die geistig verwirrt alte Frau sich in Gedanken erneut von der Argen umschlingen? Theo hingegen ruft gerne Episoden wach, auf die er sein das Augenmerk lenkt, wenn ihm Menschen begegnen, die es wert sind, zu Papier gebracht zu werden. Freund Dieter sitzt heute bestimmt, so wie ich, vor einem leeren Blatt. Erst im letzten Augenblick fällt ihm dann ein Zitat ein, wenn er ein Buch zur Hand nimmt, oder ein Satz aus einem Zeitungsartikel ihn anspringt. Bringt er die Gehirnzellen in Bewegung, entstehen am Ende kurze, markante Zeilen, die er uns vorträgt. Was Johannes uns wohl mitbringt? Der Junge, zwischen Kind und Mann, der es versteht, zu formulieren. Er setzt Worte aneinander, versieht sie mit Anschauungen, die normalerweise, weit hinter dem Horizont eines Jugendlichen zu finden sind. Diemut, die gerne als Letzte lesen will, immer den anderen den Vortritt lässt, was wirst du uns vorlesen? Eine Geschichte mit bizarren, aber klar umrissenen Gestalten oder Gedanken zur heimatlichen Scholle, zur Mutter Erde, die jetzt im Frühjahr aufbricht und Neues hervorbringt?

Jeder meiner Literaturfreunde birgt Vorlieben in sich. Ich bewundere im Stillen die Stabilität, mit der sie ihre Aneinanderreihung von Worten zuwege bringen, die aus ihnen herausströmen und die sie auf dem Papier festhalten Meine Geschichte will heute nicht wiederkommen. Nur einzelne Fetzen schweben in mir, doch so sehr ich auch versucht habe, sie fliegen zu lassen - bleibe ich an diesem Nachmittag chancenlos.

Chaotischer Umzug

Der Umzugstag gestaltet sich zum rabenschwarzen Tag. Umziehen, nein, das will ich nicht. Es ist Freitagmorgen und es ist der Dreizehnte, da fängt der Tag bereits gut an. Dreimal schwarzer Kater fluche ich und spurte ins Badezimmer. Die Uhr läuft und ich begnüge mich deshalb mit der Katzenwäsche. Kaltes Wasser ins Gesicht, abtrocknen, Faltencreme hinterher. Hoffentlich bügelt sie die Falten aus, die in letzter Zeit so zahlreich über die abgeschlaffte Haut kriechen. Mit der zahnlos gewordenen Bürste streiche ich durchs Haar. »Eine Neue wäre kein Luxus mehr«, überlege ich, während gleichzeitig meine Nase, knallrot im Spiegel aufleuchtet. Eine Rotznase. Als ob ich die gebrauchen kann! Die fehlt mir zum Glück, wie das Salz im Kaffee. Ich durchwühle die Schachtel nach der Medikamententasche. Zuunterst. Natürlich. Als olle Schnupfnase presse ich mit Schwung die Düse des Meerwassersprays ins rechte Nasenloch. Pffffffffft. Noch eine geballte Ladung ins linke, pffffffffffft.

Das Spray wandert in die Hosentasche, während die herumliegenden Utensilien in den knatschgelben Kosmetikbeutel fliegen. Zusammen verstaue ich das Beutelwerk im Karton. Drei dunkelblaue Edding-Buchstaben hüpfen mir entgegen, als ich die Klappe der BAD-Kiste schließe. Ein letzter Blick. Nichts vergessen? Nein, hier bin ich fertig.

Auf der Stelle gehe ich in die Küche zum Teewasser. Beim Aufbrühen schwappt ein Schwall über den Teebeutel hinaus. »So ein… Ach was.« Ich dränge die aufsteigende Erregung zurück. Ich ziehe aus. Basta. Meine Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich, bevor die Hände automatisch nach dem Lumpen greifen. Systematisch, gründlich, aus reiner Gewohnheit beginnt sie die überschüssige Flüssigkeit vom Schrank und vom Boden aufzuwischen. Mein Kopf unterdessen will nicht begreifen, dass ich das geliebte Nest am Seeufer verlassen soll. Und das nur, weil die Tochter des Vermieters sich nach 20 Jahren entschloss, ins Elternhaus zurückzukehren. Phhhhhh, billig wohnen, das will die aufgetakelte Modepuppe. Aber wenn der aufgedonnerte Pudel dann die schlabbrigen Popos wischen, darauf können die Alten lange warten. Geschieht ihnen recht, schäumt es in mir, bevor das Eigenmitleid meine Brust zuschnürt. »Und ich? Wer denkt an mich? Wen interessiert, dass ICH fort muss. Weg von den treuen Freunden. Wer kümmert sich in Zukunft um das weiße Schwanenpaar, um die braunen Enten und die schwarzen Blesshühner. Jeden Abend, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, ging ich zum See, fütterte die mir vertrauten Schützlinge«. Ein tiefer Seufzer zerrt an meinen dürren Rippen. Einmal mehr ergebe ich mich dem Schicksal und werfe den letzten bereitgelegten Würfelzucker in die farbenfrohe »Gute-Laune-Tasse«. Mir steht keineswegs der Sinn danach und da hilft selbst der Pott kaum, den ich an die Lippen hebe und… verdammt aber auch, mir die Zungenspitze verbrenne.

»Was geht heute gerade?«, schimpfe ich vor mich hin, als es klingelt. Es klingelt nicht normal, nein, nein. Es läutet Sturm. Garantiert erlaubt sich der Rotzlümmel von nebenan auf dem Weg zur Schule wieder seinen Spaß und pappt den Kaugummi auf den Klingelknopf. Plötzlich verstummt das Dauergeräusch. Sekunden später setzt das penetrante Drrrrrrrrrrrrrrttt erneut ein.

Mit der flachen Hand klatsche ich mir ans Hirn. »Verdammt, pennst du mit offenen Augen? Die Möbelpacker!«, erleuchtet mich ein Blick zur Armbanduhr. Ich drücke den Öffner, schiebe den dreifachen Sicherheitsriegel zur Seite und spähe zu den beiden Hungerhaken, die im Treppenhaus in den zweiten Stock heraufsteigen. »Packer? Du liebe Güte? Die stehen mir an Dürre kaum nach«, runzelt sie verwundert die Stirnfalten. »Das wird heiter. Diese Fliegengewichte brechen unter den Bücherkisten zusammen und das Klavier?« Das Gewicht meiner Habseligkeiten widerspricht jeglicher Vorstellungskraft, den Domizilwechsel mit den Spargelstangen zu schaffen, die mir entgegenkommen.

Dabei gab ich mir Mühe bei der Wahl des Unternehmens. Durchforstete tagelang sämtliche Internetseiten nach einer Firma, die professionelle Hilfe für eine alleinstehende Frau beim Umzug versprach. Zum günstigsten Preis – versteht sich, ich wohne nicht umsonst seit zwei Jahrzehnten im Schwabenland. Hier dreht man den Pfennig schon mal so lange um, bis er eine neue Verwendung als Kupferdrähtchen findet. Diesen Grundsatz begriff ich, die ich aus dem Norden stamme rasch, als mich die Karriere an den Bodensee verschlug. Spare in der Zeit, so hast du in der Not!, predigte meine sparsame Vermieterin unverdrossen, wenn ich mit einem winzigen Anliegen vor ihrer Tür stand. Im Laufe der Jahre lernte ich, wie enorm spaßig die knickrige Schwabenart sein konnte. Das Möbelpacker-Angebot aus Ulm jedenfalls war der Hammer gewesen, kein anderes vermochte es zu toppen. Die windigen Packer mussten erst 100 Kilometer anreisen, aber - sie erscheinen wie vereinbart - Punkt 9.00 Uhr. Eine ebenso wichtige Eigenschaft bei den alemannischen Bergvölkern. Pünktlichkeit. Ich verlange sie gerne von meinen Mitmenschen, bei mir selbst - konnte ich, ganz relaxt nach Hannoveraner Art, allerdings äußerst großzügig sein. Resolut schiebe ich die abschweifenden Gedanken zur Seite und versuche mir vorzustellen, wie die Knochengerüste mit den vierzig, fünfzig Bücherkisten die Treppe hinunter poltern.

»Miro«, stellt sich der ältere der beiden knapp vor, weist auf seinen milchgesichtigen Partner, der die Zwanzig noch nicht überschritten hat. »Das ist Juri. Wir sind ihre Möbelpacker. Wo anfangen?«

Selbstbewusst treten sie durch meine Wohnungstür. »Was zuerst?«, fragt die Spargelstange, der die Antwort wohl zu lange dauert. Er sieht sich um und weist auf den Flachbildschirm. »Hier anfangen, Frau? Fernseher, Stereoanlage, Computer, ja? Dann Kühlschrank und Geschirrspülmaschine? Wir machen Transport Elektronik erst«, will er bestimmen und beginnt sogleich, das teure Gerät vom Strom zu nehmen. Bevor er weitere Stecker zieht, fahre ich schockiert dazwischen.

»Hey, sind Sie verrückt. Lassen Sie das«, herrsche ich ihn an. »Zuerst muss ich die Kabel bezeichnen, verstehen? Ich nicht fertig!«, donnere ich entsetzt.

Ich fasse ihn am Ärmel und bugsiere ihn ins Arbeitszimmer. »Da! Hier stehen die Bücherkartons. Das ist mein Leben. Bitte.« Ich sehe ich ihn mit Rehaugen an und versuche, mich deutlich auszudrücken. »Sehr gut aufpassen, klar?«

Der Ältere zuckt die Achseln und wirft seinem Partner einen Blick zu. Das Ganze ist komisch, aber wie soll ich das »Warum«, benennen? Ich zucke irritiert die linke Schulter und die Packer wuchten sich die ersten Bücherkisten mit Gurten auf den Rücken. Dem kurzen Ächzen folgt, mit einem verzerrten Grinsen im Gesicht, Migros Frage, ob ich Steine verpackt habe. Ich fühle mich verunglimpft und drehe ihm wortlos die Kehrseite zu. Sie traben los und ich zolle den Fliegengewichtlern trotz meiner Verstimmung schweigend Respekt. Ich ziehe den Vorhang am Küchenfenster beiseite und beobachte, wie die Pakete im Lieferwagen verschwinden. Der Transporter trägt die Aufschrift »Wir transportieren alles« über einer Telefonnummer. Die Hälfte der Kisten übersiedelt in der nächsten Stunde im Bauch des Gefährtes. Ich stelle den wortkargen Trägern Limonade zurecht.

»Kein Bier?«

Energisch schüttle ich den Kopf. »Alkohol? Nein. Sie müssen doch fahren«.

Ohne jeden weiteren Kommentar setzt er die Limoflasche an den Mund und er stützt die prickelnde Füllung gluckernd in den Hals. Juri schnappt sich die zweite Pulle. Auch sein Adamsapfel hüft und erstaunt beobachte ich, wie rasch der Inhalt verschwindet. Lautstarke, geradezu widerwärtige Rülpser folgen. Angewidert drehe ich mich um und packe alle Pflanzen zusammen. Ich bedeute Juri, die zarten Heiligtümer zu meinem Auto hinunterzutragen. »Der weiße Golf, vor eurem Lieferwagen«, weise ich ihn an und hänge den Autoschlüssel an seinen freien Finger. Die Wohnung leert sich, die Kisten stapeln sich im Transporter. Der Fernseher, dessen Anschlüsse jetzt ordentlich beschriftet und die Kabel in einer Plastiktüte verpackt drankleben folgt, genauso wie die wertvolle Stereoanlage. Ich verriegle die Wohnungstür. Miro und Juri schieben den Computer aus Platzgründen in meinen Wagen, nachdem der dort platzierte Pflanzenkarton auf Juris Schoß landet. Vorsorglich drücke ich den beiden die neue Adresse in die Hand. »Fahren Sie hinter mir«, rufe ich ihnen zu, bevor ich den Golf starte. Zwei rote Ampeln weiter, das orangefarbene Leuchten der Lieferwagenplane bleibt brav heckwärts. Gemeinsam biegen wir auf die Hauptstraße ein.

Der Weg führt mich weg vom See. Schmerzhafte Abschiedsgedanken, und der Zorn auf die Modepuppentochter steigen in mir auf, während die Schnupfennase tropft. Die depressive Stimmung verschwindet, währenddessen ich das Gaspedal durchdrücke. Ich rase mit dem alten Cabrio, sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtend, über die Schnellstraße. Erst als das montfortsche Schloss der neuen Wohnstadt mein Sichtfeld kreuzt, kehrt auch der Verstand langsam zurück.

Scharf bremsen, rechts blinken und raus. Die lang gezogene Auffahrt bis zum Brückenkopf hinauf halte ich meinen Renner mühsam in der Spur. Jetzt das Blinklicht links. Hundert Meter bergan schlage ich das Lenkrad ein und biege in die Seitenstraße ein, mit der ich mich seit Wochen verzweifelt versuche anzufreunden.

Vor einem Zweifamilienhaus drehe ich den Zündschlüssel um und wische mir nach einem Blick in den Rückspiegel über die Augen. Wo ist der Lieferwagen abgeblieben? Wo das orangefarbene Gefährt, dessen Verschwinden ich im Fahrtrausch nicht bemerkt habe. »Wo ist der Transporter?«, brumme ich ratlos vor mich hin.

Die Minuten ticken in Zeitlupe. Eine Viertelstunde später hämmere ich mit den Fingerspitzen nervös auf das Ziffernblatt der Uhr.