Herz der lila Distel - Helga R. Müller - E-Book

Herz der lila Distel E-Book

Helga R. Müller

0,0

Beschreibung

Zwei Kulturen, Intrigen und Betrug gegen die magische Kraft der lila Distel. „Herz der lila Distel“ erzählt eine deutsch-türkische Liebesgeschichte. Das Wunder einer außergewöhnlichen Liebe wird von einem besonderen Medaillon und der lila Distel symbolisiert. Die deutsche Kunststudentin Katharina Jasmin, verliebt sich während einer Studienreise an der türkischen Riviera in den einheimischen Fischer Kenan. Wenige Tage und Stunden müssen genügen, damit die Schicksalsgöttin die Flamme der Liebe in ihnen entfacht. Nach ihrer Heimreise heckt die Studentin einen Plan aus, um den Mann ihres Herzens wiederzusehen. Intrigen seitens seiner Familie, sowie ihrem Professor und künftigem Ehepartner, verhindert das gemeinsame Glück. Jahrzehnte später stirbt ihr Ehemann und ihre Freundin Rebecca, die nichts von dieser Vergangenheit ahnt, bucht eine Urlaubsreise. Das Ziel - ausgerechnet die Türkei. Findet Jasmin dort endlich genügend Selbstvertrauen für die Suche nach ihrem verlorenen Glück?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 448

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchbeschreibung:

„Herz der lila Distel“ erzählt eine deutsch-türkische Liebesgeschichte. Das Wunder einer außergewöhnlichen Liebe wird von einem besonderen Medaillon und der lila Distel symbolisiert.

Während einer Studienreise verliebt sich die deutsche Kunststudentin Katharina Jasmin Wendlinger, meist nur Jasmin genannt, an der türkischen Riviera in den einheimischen Fischer Kenan. Wenige Tage genügen, damit die Schicksalsgöttin die Flamme der Liebe in ihnen entfacht. Das Mädchen heckt einen Plan aus, um den Mann ihres Herzens wiederzusehen. Allerdings scheitert sie an den Bestimmungen einer ihr fremden Kultur, sowie an den Intrigen seiner Familie. Dass ihr Professor Kenntnis von ihrem Schmerz hat, hilft ihr nicht, weil er sie ebenfalls liebt. Er nimmt ihr das Versprechen ab, über die Vorkommnisse in der Türkei zu schweigen und heiratet sie. Die Ehe steht allerdings unter keinem glücklichen Stern. Kurz vor ihrer Silberhochzeit stirbt er und sie gibt sich die Schuld an seinem Tod. Fünf Monate später bucht ihre Freundin Rebecca, die nichts von dieser Vergangenheit ahnt, eine gemeinsame Urlaubsreise mit dem Ziel Antalya. Jasmin ist schockiert, doch bald spürt sie Schmetterlinge in ihrem Bauch und ihr Medaillon sendet Signale.

Die Autorin bereiste das Land an der Mittelmeerküste oft mit dem Rucksack und erkundete die meisten Orte selbst. Sie beschreibt das beliebte Urlaubsland und lässt den Leser/die Leserin in die unterschiedlichsten Facetten, die von Kultur, Sitten und Bräuchen bestimmt ist, neben typischen Landschaften an der türkischen Riviera und an der Ägäis eintauchen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 1

Dem ungeduldigen Hupkonzert ihrer Freundin Rebecca zum Trotz hält die Schwarzgekleidete ihre Tochter weiter im Arm. Zärtlich streicht ihr Daumen über die feuchte Wange.

»Ich verstehe Papas Tod ebenso wenig wie du mein Schatz«, flüstert sie ihr ins Ohr.

»Katharina Jasmin Wendlinger, lass Marina endlich los,« drängt die nervlich Angespannte am Treppenabsatz. Unmittelbar danach erinnert die Hupe erneut an den dringenden Aufbruch. Sie küsst ihr Kind auf die Stirn und schiebt sie von sich, um zu verhindern, dass der Wartenden der Geduldsfaden reißt.

»Ich ruf dich morgen Abend an,« ruft sie ihrer Tochter nach, wohlwissend, dass die beiden ihre Flugzeuge verpassen, wenn sie jetzt nicht loslässt. Sowie das Mädchen den untersten Treppenabsatz erreicht, wird sie auf den Beifahrersitz gedrängt. Dann hetzt auch die Fahrerin um den Mietwagen herum und knallt die Tür zu. Der Motor heult auf und Jasmin sieht dem Wagen hinterher, bis er in die Hauptstraße abbiegt.

Nun fühlt sie sich endgültig alleingelassen. Jasmin zieht die Tür hinter sich ins Schloss und schon umfängt sie Totenstille. Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. Ihre Hände beginnen zu zittern und sie greift nach dem Türpfosten, um Halt zu finden, denn die Kraft, die sie bisher aufrecht hielt, schwindet. Im Nachhinein ist es ihr ein Rätsel, wie sie die Trauerfeierlichkeiten, ohne zusammenzubrechen überstehen konnte. Entkräftet rutscht sie auf den Fußboden hinab, faltet sich wie ein Embryo zusammen und lässt ihren Tränen endlich freien Lauf. Minutenlang liegt sie wie versteinert auf dem Parkett, bis sie sich tränenüberströmt aufrafft. Beim Aufstehen muss sie sich abstützen, dann streift sie den Witwenschleier ab. Sie stiert auf den Hut, als verkünde er eine unsichtbare Gefahr. Jasmin wirft ihn auf den Garderobenschrank, bevor sie ihre Pumps in den Schuhschrank stellt. Auf Seidenstrümpfen schleicht sie steifbeinig durch die Jugendstilvilla, die sie vor Jahrzehnten mit ihrem Ehemann bezog. Vor einem geöffneten Fenster saugt sie die frische Luft ein, ohne den Duft der Blütenpracht wahrzunehmen.

»Warum bist du dieses Risiko eingegangen, Achim?», murmelt sie auf dem Weg ins Obergeschoss. «Du lässt, ohne mit mir darüber zu reden, eine Herzuntersuchung vornehmen und gehst trotzdem nur Tage später Tauchen. Das ist doch absurd.« Apathisch wechselt sie ihr Kostüm gegen ein Hauskleid und schlüpft in ihre Kuscheljacke. Sie setzt den Weg ins Erdgeschoss fort, um sich Tee aufzubrühen. Als eine kühle Brise die Gardinen bläht, schließt sie die Fenster und nimmt die Teekanne mit in den Wintergarten. Kaum hat sie die Kanne abgestellt, sackt sie im Polstersessel vor dem Kamin zusammen. Die ungeklärten Fragen beschäftigen ihre Gedanken, die wie in einer Dauerschleife vor ihr ablaufen und auf die er ihr niemals mehr eine Antwort geben wird.

Zwei dumpfe Schläge reißen Jasmin aus einem erschöpften Sekundenschlaf. Obwohl völlig übernächtigt, schaut sie nicht auf die antike Uhr. Ihr genügen das Klappern des Briefkastens und die eiligen Schritte der Zeitungsfrau, um zu wissen, es ist kurz nach vier Uhr. Schwerfällig richtet sie sich auf und sieht in den Garten hinaus. Die Dunkelheit weicht bereits dem Morgengrau. Gleich wird das frühmorgendliche Vogelkonzert ertönen, nur wird das Gezwitscher nie mehr wie zuvor klingen. Mit verspannten Muskeln geht sie die beiden Stufen in den Wohnraum hinauf und taumelt an wertvollen Antiquitäten vorbei. Jasmin zieht die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Erst auf dem Rückweg in den Wintergarten beachtet sie ihre Umgebung. In der Kirschbaumvitrine sieht sie die Weingläser einer Glasmanufaktur, die sie vor ihrer Hochzeit mit Achim aussuchte. Die Pendeluhr, das Erbstück seines Großvaters, ebenso der Flügel, auf dem er gelegentlich spielte. Ihr Blick fällt auf die Teetasse neben dem Sessel, in dem sie die Nachtstunden zubrachte. Daneben beleuchtet eine Messinglampe das Mosaiktischchen, das ihr Ehemann von einer Exkursion mitbrachte. Aus der Teekanne auf dem Stövchen duftet es nach Orange und Ingwer. Sie gießt ein weiteres Mal heißen Tee in ihre Tasse. Die Wievielte das ist, das zählt sie nicht mit. In der vergangenen Nacht heftete sie ihr Augenmerk meist in die Finsternis.

Jetzt setzt sie sich erneut in den Sessel, da lächelt Achim ihr vom Bild mit dem Trauerband entgegen. Gebannt visiert sie das Foto an, bis sie trotz aller Freundlichkeit glaubt, dass dieser intensive Blick sie in den Abgrund zieht. Erschüttert schließt sie die Lider, bis sie nach einer Weile hörbar ausatmet, die Augen öffnet und in den Zeitungsseiten zu blättern beginnt. Auf der vorletzten Seite angekommen fixiert sie ihr eigenes verschwommenes Gesicht, verhüllt vom Tüll des Trauerschleiers. Aufgenommen von einem Reporter am Tag zuvor. Bei Rebecca und Marina untergehakt, versammelten sich hinter ihnen weitere Angehörige, Freunde, Kollegen der Universität und Studenten aus mehreren Jahrgängen. War das erst gestern? Die unausgesprochenen Worte klingen gespenstisch in ihr nach und sie sieht den Moment vor sich, wie Achims Eichensarg in das Erdloch gesenkt wird. Es fällt ihr schwer, sich an die bittere Realität des Alleinseins zu gewöhnen. Mit übermüdeten Augen liest sie den Bildtext.

Professor Dr. Achim Wendlinger, Kapazität des kunsthistorischen Institutes in Bonn verunglückte vor der griechischen Insel Lesbos. Ein Infarkt riss den bekannten Altertumsforscher bei einem Tauchgang in der Ägäis mitten aus dem Leben. Die Beisetzung sprengte das Fassungsvermögen der Kapelle auf dem Poppelsdorfer Friedhof. Er hinterlässt bei seiner Familie, aber auch bei Kollegen und Studenten eine kaum schließbare Lücke.

Wochen sind seit der Beerdigung vergangen. Inzwischen erschrickt Jasmin immer öfters an einem wiederkehrenden Albtraum, in dem eine Würgeschlange auf sie zu kriecht, ihr die Kehle zudrückt und mit gespaltener Zunge faucht.

»Schuldig. Es ist deine Schuld, deine Schuld.« Meist gerät sie bei ihrem Anblick in Panik, weil es ihr nie gelingt, sich zu bewegen. Sie ist verdammt dazu zuzusehen, wie die Schlangenhaut ihren Hals immer enger umschlingt. Sie drückt ihr die Atemluft ab, bis sie nur noch röchelt. Dann erst löst sich die Lähmung, ebenso plötzlich, wie sie gekommen ist. Jasmin sitzt danach schweißgebadet im Bett, bis sie bemerkt, dass es ihre eigenen Finger sind, die ihr die Luft abdrücken. Nach solchen Attacken ist sie stets hellwach und es gelingt ihr nur selten, erneut einzuschlafen. In diesen Nächten wandert sie durchs Haus, bis sie ihr Dachstübchen betritt, dessen Behaglichkeit sie wie ein schützender Kokon umgibt. Hier fallen die Panikattacken meist von ihr ab und sie findet oft wieder zur Ruhe. Die Witwe leidet von Tag zu Tag mehr an ihrer Gewissensqual, weil sie glaubt, dass ihr Mann das Leben ohne wahre Liebe, einfach nicht länger aushalten konnte. Jasmin suhlt sich in ihrer Einsamkeit, dabei nimmt sie durchaus zur Kenntnis, dass es an ihr liegt, den unheilvollen Zustand zu beenden. Verlässt sie das Haus, sitzt sie vorzugsweise stundenlang auf einer Bank neben Achims Grab. Sein sinnloser Tod beschäftigt ihre Gedanken und macht sie gemütskrank. Lediglich die abwechselnden Besuche von ihrer Tochter Marina und der Schulfreundin Rebecca zaubern lichte Momente in ihre graue Welt. In ihrer Gegenwart weichen die Beklemmungen, zumindest für die Zeit ihrer Anwesenheit.

»Du leidest unter einer Trauerdepression«, stellte ihre Freundin erst vor Kurzem fest.

Anfang Oktober, es sind inzwischen fünf Monate vergangen, peitschen Sturmböen sintflutartige Regenschauer durch die Straßen von Bonn. Das ist wahrlich kein Tag, um das Haus freiwillig zu verlassen. Dennoch ist das Café in der Nähe des Friedhofs brechend voll, weil das tobende Unwetter neben ihr auch zahlreiche andere Menschen überrascht hat. Die Kellnerin ist ohne eine zusätzliche Hilfe mit dem ungewohnten Ansturm heillos überfordert. Bei Jasmin verursacht das dichte Gedränge Herzrasen. Doch die prasselnden Niederschläge verhindern ihr Entkommen. Kaum entdeckt sie eine erste winzige Aufhellung, begleicht sie die Rechnung, noch unsicher, ob das Nachlassen des Regens für einen Spurt nach Hause ausreicht. Obwohl sich hinter dem Gebäude weitere Gewitterwolken auftürmen, jagt sie entschlossen durch die unvermeidbaren Pfützen. Sie hält ihren Regenschirm vors Gesicht, bis ein Windstoß ihr das Gestänge aus der Hand reißt und der Schirm in den Ästen eines Baumes landet. Eine Böe fegt ihr die Kapuze vom Kopf. Blitze zerschneiden den Wolkenhimmel, gefolgt von krachenden Donnerschlägen, bis sie außer Atem ihr Zuhause erreicht. Noch im Laufschritt zieht sie den Schlüssel aus der Jackentasche und dreht ihn mit klammen Fingern im Schloss. Hinter ihr schlägt der Sturm die Tür mit einem Knall zu. Aufatmend schaut sie zu, wie Rinnsale aus ihrer Kleidung auf den Boden tropfen. Im Gästebad zerrt sie das klatschnasse Halstuch herab und wickelt einen Handtuchturban um ihre triefenden Haare. Da klingelt das Telefon. Sie zieht eine Wasserspur bis ins Wohnzimmer und meldet sich.

»Na endlich. Wo steckst du bei diesem Mistwetter? Das ist mein sechster Anruf.«

»Grüß dich Rebecca. Wieso regst du dich so auf. Atme erst einmal durch. Mich überraschte ein Unwetter. Ich saß in einem Café fest. Was gibt es so Dringendes?«

»Hör zu, ich muss gleich zurück ins Meeting. Vor einer Stunde buchte ich unsere Urlaubsreise. Zwei Wochen Sonnenschein und Meer. Wir fliegen nach ...«

»Stopp. Du weißt, wie gleichgültig mir das Reiseziel ist. Ich bliebe sowieso am Allerliebsten da, wo ich bin«, unterbricht Jasmin ihren Redefluss.

»Schluss mit dem Quatsch. Mein Chef bewilligte die Urlaubstage und du kommst mit. Basta. Bis Freitag bleiben dir vier Tage, um dich an den Gedanken zu gewöhnen.«

»Freitag«, stöhnt Jasmin entsetzt.

»Du, bei mir ist die Hölle los. Bis Donnerstag.« Und schon tutet es an ihrem Ohr. Typisch Rebecca, immerzu hektisch. Auch sie legt den Hörer auf die Gabel zurück. Jetzt ist es geschehen, der Urlaub ist gebucht. Noch nie ließ sich ihre Freundin von einem gefassten Vorhaben abhalten. Mallorca erwähnte die Verrückte vor ein paar Tagen, oder waren es die Kanaren? Bisher schenkte sie keinem der zur Sprache gebrachten Reiseziele Beachtung. Solange ihre Freundin die Türkei außen vor lässt, ist sowieso jedes Ziel nebensächlich. Kaum denkt sie an das Land am Mittelmeer, durchflutet Jasmin ein sonderbares Gefühl, dass sich ebenso rasch wieder verflüchtigt. Sie löscht Rebeccas Anrufe vom Anrufbeantworter, bis nur noch eine Verbindung ohne übertragene Nummer übrig bleibt. Bei der knackt es allerdings nur in der Leitung, da der Teilnehmer keine Nachricht hinterließ. Sie drückt ein letztes Mal die Löschtaste. Dann geht sie ins Bad zurück und entledigt sich der nassen Kleidungsstücke. In einen Bademantel gehüllt, beseitigt sie die Wasserspuren. Fröstelnd geht sie ins Obergeschoss, duscht minutenlang und genießt das heiße Wasser, das auf ihre Haut prasselt. Beim Kämmen betrachtet sie ihr feuchtes Haar im Spiegel, das wie eine dunkle Kastanie glänzt, die frisch aus der Schale geplatzt ist. Sie trödelt ein wenig herum, bis sie in warme Sachen schlüpft und ihr Refugium unter dem Dach betritt. Sie versucht, im Ohrensessel ihrer Großmutter Ruhe zu finden, da die Reise sie beunruhigt. Nach einem Weilchen schiebt sie ihre Bedenken zur Seite.

Postwendend tauchen andere Gedanken auf und sie erinnert sich, wie oft ihr Ehemann ihr in den Empfangsräumen im Erdgeschoss ’meine Aphrodite’ ins Ohr geflüstert hatte, wenn sie Gäste im Haus bewirteten. Sein Glück erschien ihr, vor allem nach der Geburt ihrer Tochter stets vollkommen. Sie versuchte, ihm zurückzugeben, was immer ihr Herz zuließ. Im abgelaufenen Jahr jedoch verschwanden die von Liebe erfüllten Augenblicke zusehends, kaum dass sich die Tür hinter ihren Besuchern schloss. Ihre Beziehung wandelte sich, trotzdem verlangte keiner von ihnen die Freiheit.

Jasmin schiebt die Erkenntnis beiseite, weil sie zum wiederholten Mal darüber nachdenkt, dass das dreistöckige Gebäude viel zu weitläufig für sie ist und ihre Einsamkeit unnötig verstärkt. Wann endlich bringt sie die notwendige Energie auf, um Veränderungen einzuleiten? Seufzend steht sie aus dem Lehnstuhl auf. Das Trommeln der Regentropfen hat aufgehört, das Unwetter ist weitergezogen. Sie öffnet die Dachluke einen Spalt, regenfeuchte Luft strömt herein.

Ungewollt wird sie von Bildern traktiert, welche die Nachricht von Achims Tod aufleben lassen. An jenem Tag vor fünf Monaten dufteten die Blumen im Garten und es roch nach nasser Erde im warmen Mairegen. Professor Tobias Steuer, ein Kollege ihres Ehemannes, mit dem sie beide eng befreundet waren, klingelte. Kreideweiß im Gesicht trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Er nahm sie in den Arm, um das Unglück in Worte zu fassen.

»Es tut mir so leid liebste Katharina, dir das sagen zu müssen. Achim verunglückte heute bei einem Tauchgang. Er tauchte vor der Insel Lesbos, wo die Bootsbesatzung ihn Minuten später bewusstlos ins Boot zog. Sie konnten ihn nicht mehr retten.«

Geschockt sah sie den gemeinsamen Freund an. Als Tobias sich verabschiedete, umarmte er sie ein weiteres Mal und zog ein Kuvert aus der Jackentasche. Er reichte ihr einen Umschlag, auf dem die Adresse einer Klinik in Athen stand.

»Dieser Brief traf heute in Achims Büro ein. Ich dachte, ich bringe ihn gleich mit. Welch ein Verlust für dich, ja für uns alle. Sag Bescheid, wenn ich dir bei irgendwelchen Formalitäten helfen soll.« Am selben Abend flog ihre Freundin Rebecca zu ihr, um ihr bei den notwendigen Formalien der Überführung beizustehen. Den Anruf in Rom bei Marina, den konnte ihr allerdings niemand abnehmen. Ihre Tochter hielt anfangs fassungslos den Atem an, dann schrie sie ihren Schmerz verzweifelt in den Hörer, bis Jasmin nur noch ihr haltloses Schluchzen hörte. Das Mutterherz blutete, weil sie ihr Kind in diesem schrecklichen Augenblick nicht in den Arm schließen durfte. Den Arztbrief öffnete sie in der Nacht vor der Beerdigung. Sein Inhalt stieß sie in ein tiefes Loch. Auch heute noch findet sie es unbegreiflich, dass Achim nie über die gesundheitlichen Probleme mit ihr sprach. Dass er den verhängnisvollen Tauchgang trotz der Herzuntersuchung riskierte, es blieb ein Rätsel. Gab es dafür nur die eine schreckliche Erklärung? Um sich abzulenken konzentriert Jasmin sich auf die Urlaubsreise in die Sonne, die Rebecca für sie beide buchte. Um Lebensfreude zu tanken, wie sie es nannte.

Auf der Stelle kehrt sie zu ihrem Verdacht zurück, am Freitod des Ehemannes schuld zu sein. Warum nur fand sie nie den Mut, ihre Freundin zu fragen? Längst wollte sie mit ihr darüber reden und auch über ihre Verfehlung aus der Vergangenheit. Schließlich galt das Schweigeversprechen, das Achim vor der Eheschließung von ihr verlangte, seit seinem Tod nicht mehr. Kurz vor Mitternacht greift sie entschlossen zum Telefonhörer und wählt Rebeccas Nummer. Allerdings verlässt sie der Mut, bevor noch das zweite Freizeichen ertönt.

Kapitel 2

Rebecca landet pünktlich und ein Taxi bringt sie am Freitagnachmittag zu Jasmin. Wie zu erwarten mischt die Großstädterin das geruhsame Leben ihrer Freundin auf. Sie packt mit ihr zusammen den Urlaubskoffer, dann schleppt sie die Widerstrebende in die Stadt. Beim Einkaufsbummel stockt sie die Sommergarderobe ihrer langjährigen Schulfreundin auf. Das anschließende Abendessen will Jasmin ausschlagen, doch Rebecca besteht darauf. Sie bringt vor Aufregung nur wenige Bissen hinunter und obwohl etliche Gläser Wein für eine gewisse Bettschwere sorgen, findet sie in der Nacht kaum Ruhe. Gerädert und wortkarg hängt sie am Frühstückstisch. Es fällt ihr zunehmend schwerer, Rebeccas munterer Plauderei zu folgen. Schließlich lässt sie sich zu einem Spaziergang überreden, doch in ihrem Kopf summt es wie beim Hummelflug. Die ersehnte Mittagsruhe wird um kurz nach 12.00 Uhr vom Hupen des bestellten Taxis übergangslos beendet.

Hinter Jasmins Stirn dröhnt es, sodass sie am Kölner Flughafen ihrer Begleiterin wie blind hinterher taumelt. Völlig willenlos überlässt sie ihr die Führung und ist froh, mit den anderen Passagieren endlich ins Flugzeug geschoben zu werden. Hier fällt sie hilflos auf den Fensterplatz in der Reihe dreizehn. Ihre Augen brennen vom fehlenden Schlaf und das Licht blendet, denn ihr Kater macht ihr zu schaffen, bis sie ihr Halstuch vors Gesicht zieht. Wortlos klebt sie in den nächsten Stunden auf ihrem Platz. Rebecca redet mit Engelszungen auf sie ein, um sie wenigstens zum Trinken eines Mineralwassers zu animieren. Weiteren Versuchen, ihre niedergeschlagene Stimmung aufzulockern, entgeht Jasmin mit der Vortäuschung, dass sie schläft. Bis die Ansage des Kapitäns sie mit einem Schlag aus ihrer bis dahin gezeigten Lethargie reißt.

»Hoşgeldiniz liebe Feriengäste. Wir befinden uns bereits im Landeanflug und erreichen in Kürze Antalya. Die Crew wünscht Ihnen einen erholsamen Urlaub bei derzeit heiteren 26 Grad. Wir hoffen, Sie bald auf einem weiteren Flug mit unserer Airline begrüßen zu dürfen.« Jasmin Desinteresse am Reiseziel löst sich schlagartig in Luft auf. Aufgebracht zerrt sie an Rebeccas Ärmel und krächzt.

»Rebecca, der Kapitän begrüßte uns eben mit einem türkischen Willkommensgruß. Sag bitte, dass ich mich verhört habe. Sag mir, dass ich an Wahnvorstellungen leide, und lass um Gottes willen nicht Antalya das Ziel sein. Verfluchter Brummschädel.» Die Urlaubsbegleiterin sieht überrascht von ihrer Illustrierten auf, in der sie bisher in Ermangelung einer Gesprächspartnerin gelesen hat.

»Keine Halluzinationen, meine Liebe, weil unser Zielflughafen Antalya heißt. Und mein Kopf ist übrigens völlig in Ordnung.« Rebeccas Ungerührtheit löst einen Gefühlsausbruch in Jasmin aus, den sie kaum zu kontrollieren vermag. Panik übernimmt das Ruder und sie begreift entsetzt, dass sie der Situation ausgeliefert ist.

»Wieso fliegen wir plötzlich nach Antalya? Ich will nicht dort hin! Auf keinen Fall wollte ich in die Türkei.« Ihre Stimme überschlägt sich, sodass die in der Nähe sitzenden Passagiere aufhorchen.

»Warum Rebecca? Warum denn ausgerechnet hierher«, flüstert sie entsetzt. Sie verstummt, weil ein Blick in Rebeccas Gesicht ihr Angstgefühl bestätigt. Eine Rückkehr, unmöglich. Gefangen auf dem Sitz des Flugzeugs ringt sie um Luft. Ohne jeden Übergang erscheint vor ihren Augen die Schlange aus ihren Albträumen und ihr Gesichtsausdruck ist zu einer boshaft grinsenden Fratze verzerrt.

»Rebecca!«, mit einem Ratsch zerreißt Jasmin die aufsteigende Panikattacke. »Unsere Reise sollte auf die Kanaren gehen, nach Tunesien, von mir aus auf die Kapverdischen Inseln oder auch nach Timbuktu. Überallhin, aber doch nicht ausgerechnet in die Türkei.« Die Worte fallen ihr schwer, denn noch immer sieht sie die Schlangenfratze vor sich. Sie krallt ihre Fingernägel in den Arm ihrer Begleiterin. Ihr Magen hebt sich wie bei einer Achterbahnfahrt und ihr ist speiübel. Verständnislos löst Rebecca den schmerzhaften Klammergriff ihrer Finger und drückt besänftigend ihre Hand.

»Was soll die Aufregung. Du wolltest nicht in die Ägäis. Lesbos gehörte zu deinen Tabuzielen, warum auch immer? Unser Reiseziel liegt an der türkischen Riviera. Wir sind hunderte von Kilometern weit weg von den ’Da-will-ich-nicht-hin-Zielen’. Die Hotels sind fast alle im 5-Sterne-Bereich. Luxus pur also und selbst der Oktober beschert ausgiebige Sonnenstunden. Sonnenschein wird deine Schwermütigkeit bald vertreiben. Wirf sie doch am besten gleich über Bord, das Meer da unten ist tief genug.« Der Versuch, ihre Urlaubspartnerin aufzumuntern, scheitert. Stattdessen kämpft Jasmin inzwischen einen stummen Kampf mit sich selbst. Ihr wird bewusst, dass sie allein sich in dieses Dilemma hinein manövrierte. Jetzt kann die Katastrophe nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ihre ahnungslose Begleiterin buchte ein für sie unerträgliches Ziel, ohne Kenntnis davon zu haben, was das für sie bedeutet.

Hätte sie Rebecca bloß in der Gewitternacht ihr Geheimnis anvertraut. Sie aber legte den Hörer feige auf, anstatt mit ihr zu reden. Dafür kroch sie hinter die Verkleidung der Dachschräge und zerrte aus der hintersten Ecke den von Spinnweben behangenen Karton hervor. Zwei Jahrzehnte zuvor füllte sie diesen mit quälenden Erinnerungen, bevor sie ihn den Krabbeltieren überließ. Die Schätze ihrer Jugend auf dem Schoss, verbrachte sie die Nachtstunden im Dachzimmer. Behutsam hob sie den verstaubten Deckel an, um die Erinnerungsstücke zu betrachten. Zärtlich fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über die Verzierung, die ein silbernes Herzamulett schmückte. Sie legte es sich in die offene Handfläche und schloss die Finger. Irritiert öffnete sie die Faust, weil das Schmuckstück eine seltsame Aura ausstrahlte. Aus dem Gleichgewicht gebracht legte sie das Amulett beiseite und tastete nach dem vergilbten Liebesbrief in der Schachtel. Mit einem tiefen Seufzer zog sie ihn an ihre Brust. Die andere Hand ergriff das Bild des Liebsten, welches sie an einem glücklichen Morgen hoch über dem Meer von ihm zeichnete. Ein einziger Blick in seine silbergrauen Augen schlug eine Schneise in ihr Herz. Auch jetzt schmerzte sie der Anblick, denn sie hatte ihn für immer verloren. Dennoch stellte sie es auf den Schreibtisch neben das Schmuckstück und dämmte das Licht der Leselampe. Als sie den Brief öffnete, den Kenan ihr in der Nacht vor dem Abschied schrieb, fiel eine getrocknete Distelblüte auf den Boden. Wehmütig hob sie die Trockenblume auf und betrachtete die ausgebleichten lilafarbenen Blütenstände zwischen spitzigen Dornen. Die Distel stand von Anfang an für das Wunder ihrer Liebe, doch ebenso umfasste sie bereits den Schmerz, der folgen sollte. Sie drapierte sie zur Zeichnung und las.

Benim aşkım, meine Liebste,

Heute Abend versank die Sonne glutrot im Meer. Ihr letztes Licht und der schwarze Mantel der Nacht verbinden dein Herz mit meinem Herzen. Niemand darf uns trennen. Untrennbar schlagen die Herzen im Gleichklang, liegen die Hürden auch noch so hoch. Ich verspreche dir, Mittel und Wege zu finden, die uns vereinen. Vertraue den Sternen am Himmelszelt, wenn du an mir zweifelst! Morgen gehst Du fort, bitte weine nicht. Du willst, dass ich zurückbleibe, um die Ehre meiner Familie zu achten. Mein Glück und alle Hoffnung aber liegen einzig und allein auf deiner Rückkehr. Kismet, die Schicksalsgöttin gönnte unserer Liebe nur wenige Stunden des Glücks und so durchschreiten wir morgen gemeinsam das Tor einer schmerzhaften Trennung. Die verbundene Herzen tragen schwer an der Trauer des Abschieds. Vertrau uns. Unvergessen bleiben die Momente, die du träumend neben mir lagst. So will ich dich immer in meinen Gedanken behalten. Die lila Disteln, aşkım, hielt ich für Unkraut. Erst du öffnetest mir den Blick für das Sinnbild unseres Bundes. Ihre Blütenstände halten die Erinnerung wach, denn sie sind das widerkehrende Zeichen für deine Rückkehr. Bewahre diese kleine Blüte bei dir. Ich liebe Dich. Seni çok seviyorum, benim aşkım.

Senin Kenan.

Tränen rannen über ihr Gesicht, weil die melancholischen Worte des Liebsten ihr Herz wie in den hoffnungsvollen Tagen berührten. Mühelos folgte sie nach all den Jahren Kenans türkischer Heimatsprache. Da es sein einziger Brief war, hütete sie ihn bis heute mit den anderen Erinnerungen wie einen Schatz. Nur ihre mütterliche Freundin Leyla auf Lesbos kannte den Inhalt des Liebessbriefes. Sie unterstützte sie bei der Übersetzung, als ihr Wörterbuch zum selbstständigen Lesen nicht ausreichte. Kenans hoffnungstragende Gefühle vereinten sich mit ihren und sie schenkte damals der Beteuerung Glauben. Monate später trug die Ehre der Familie den Sieg über die Liebe davon. Kenans babaanne mochte sie, doch die Großmutter war die einzige Bewohnerin des Bergdorfes, die ihr mit Respekt begegnete. Sie schritt ein, bevor sie ihr Leben in den Bergen oberhalb von Karaaĝa wegwerfen konnte. Ohne Kenan noch einmal wiederzusehen, kehrte sie nach Deutschland zurück. Ihr Herz aber, das blieb für immer bei ihm. Jasmins Mundwinkel zitterten im verhaltenen Schmerz, da vibrierte das Herzmedaillon, das Abschiedsgeschenk von Kenans Großmutter auf dem Tisch. Sie umschloss es ein weiteres Mal mit der Faust und wieder erwärmte es sich in ihrer Hand, drängte wie eine Mahnung, die auf ihre Entscheidung wartete. Im Landeanflug auf Antalya erinnert sie sich an ihre Spekulationen in den irrealen Nachtstunden. Hätte sie ihre realitätsbetonte Freundin in jener Nacht angerufen und mit ihr die grotesken Ansichten geteilt, wäre diese über ihre Gefühlsduselei definitiv in Gelächter ausgebrochen. Vermutlich hätte sie den nächstbesten Flug gebucht, um den vermeintlichen Unsinn aufzuklären. Unwissentlich setzte sie dennoch Jasmins größte Befürchtung in die Tat um. Jetzt fragt sie sich, ob ihr eigener ruheloser Geist das Unfassbare in Gang brachte oder ob das Medaillon magische Kräfte besitzt. Gleich wie sie es dreht und wendet, das Schicksal fordert eine abschließende Entscheidung.

Sie spürt Rebeccas verständnislosen Blick und weil Geduld nicht zu ihren Stärken gehört, ist ihr langmütiges Schweigen erstaunlich. Jasmin räuspert sich, um den Frosch im Hals loszuwerden.

»Weshalb hast du ausgerechnet einen Urlaub in der Türkei gebucht? Darüber hattest du nie gesprochen.« Rebecca sieht erleichtert aus, weil sie endlich spricht. Auf der Stelle taucht die Zielbewusste an der Oberfläche auf.

»Warum denn nicht? Beantwortest du mir zuerst meine Frage?« Jasmin zuckt ratlos die Schultern, weil sie nicht weiß, wie sie es erklären soll.

»Wie viele Vorschläge habe ich dir gemacht? Kein Ziel schien dir recht zu sein und selbst heute Mittag auf dem Flughafen fragtest du kein einziges Mal nach dem Reiseziel. Jetzt musst du es nehmen, wie es ist.« Jasmin öffnet den Mund, da wird sie sofort aufgehalten.

»Ich versprach dir erholsame Urlaubstage. Millionen Touristen können kaum irren. Morgen faulenzen wir im Liegestuhl und du vergisst endlich deinen Kummer. Es ist höchste Zeit, wenn du mich fragst, dass du dein Leben in den Griff bekommst. So kann es jedenfalls nicht mehr mit dir weitergehen.« Rebeccas Stimme klingt energisch, trotzdem streichelt sie sanft ihre Hand. Jasmin holt Luft, doch der Versuch, etwas zu sagen, wird erneut abgewehrt.

»Ich wartete lange genug, bis du aus dem Schneckenhaus gekrochen bist. Jetzt gibt es kein zurück! Mach Schluss mit dem Trübsalblasen. Trauer gehört zum Alltag nach dem Tod eines geliebten Menschen. Du aber erstickst darin. Lass dir endlich helfen! Dazu musst du mir natürlich anvertrauen, was an Antalya so furchtbar ist.« In Jasmins Kehle kratzt es.

»Rebecca ...«. Erneut räuspert sie sich und spielt nervös mit ihrer Hand. »Meine beste Freundin kennt eben nur fast alles aus meinem Leben. Ich schleppe seit Jahrzehnten eine große Schuld mit mir herum.« Ihre Begleiterin reißt überrascht die Augen auf.

»Ich versprach Achim vor unserer Hochzeit es niemandem zu sagen. Jetzt, nach seinem Tod, möchte ich das Geheimnis aus der Vergangenheit gerne mit dir teilen.« Sie wählt ihre Worte behutsam, denn das Reden fällt ihr schwer. Rastlos irrt ihr Blick zur Sitznachbarin, dann zum Fenster mit dem Meer dahinter. »In der Nähe von Antalya erlebte ich die qualvollste Enttäuschung meines Lebens.« Mit einer Kopfbewegung deutet sie hinaus und ignoriert Rebeccas überraschten Blick. »Bald erfährst du mehr, jetzt sei bitte geduldig mit mir. Ich muss den Schock unseres Reisezieles erst selbst verarbeiten.« Rebecca zieht die Stirn kraus, dann poltert sie los.

»Herrschaftszeiten! Ich verstehe nicht, von was für einer Schuld und von welcher Enttäuschung du redest. Wir fliegen nach Antalya, in einen sonnigen Urlaub. Wenn du bisher ein Geheimnis gehütet hast, behalt es oder spuck es endlich aus.« Jasmin sieht sie bestürzt an.

»Im Boden dieses ...«. Wieder heftet sie den Blick aufs Bullauge. Ohne den Blick von den Bildern, die sich vor ihr ausbreiten zu lösen, redet sie fast tonlos weiter. »Dort unten stecken ... mein Gott, wie soll ich dir das erklären?«, unterbricht sie sich verzweifelt. »Vor Jahrzehnten pflanzte ich Wurzeln in die türkische Erde, die seither in der Tiefe festsitzen. Oft nahmen sie mir in der Vergangenheit die Luft zum Atmen«, stößt sie todunglücklich aus. Ihre Katzenaugen streifen die Urlaubsbegleiterin, welche die eigenartigen Andeutungen mit dem Hochziehen der Augenbrauen kommentiert. Jasmin redet rasch weiter, damit die normalerweise nie um Worte Verlegene keine Fragen stellt..

»Lass uns zuerst ankommen.« Sie hält Rebecca einen Finger an die Lippen. »Ausgerechnet die Türkei. Selbst Achim schaffte es in all den Jahren nie, mich zurückzubringen.« Sie drückt die Hände ihrer Reisebegleitung mit schweißnassen Handflächen und bittet sie ihr Zeit zu lassen. Schweigen breitet sich zwischen den Frauen aus. Jasmins Blick hängt an den Bildern vor dem Fenster, währenddessen der Pilot eine Schleife ins Bergland zieht, bevor er Kurs übers Meer einschlägt. Ihre Augen liegen auf der Hafenbefestigung, die den früheren Piratenhafen einrahmt. Sie stellt sich selbst die Frage, ob der Flug der tausend Tränen nun dem endgültigen Ziel entgegenfliegt. Eröffnet ihr das Schicksal eine zweite Chance? Erinnerungsfragmente klettern aus einem lange unter Verschluss gehaltenen Gefängnis und flüchten an die Oberfläche, sodass sie die Flashbacks kaum kontrollieren kann.

***

Vierundzwanzig Jahre zuvor. Das Datum des 25. Juni 1977 brannte sich wie ein schwarzer Fleck in ihre Erinnerung ein. An jenem Tag donnerte das Flugzeug mit ihr an Bord über dieselbe Startbahn hinweg, der sie heute entgegenfliegt. Tränenüberströmt sah sie beim Rückflug ins trostlos leer erscheinende Deutschland aus dem Fenster.

Aufregende Monate lagen hinter Jasmin, nachdem sie ihrem Vater die Zustimmung für das Studium am kunsthistorischen Institut in Bonn abringen konnte. Obwohl er sich durchaus damit brüstete, dass die Tochter studierte, hätte er es vorgezogen, auf Ihrer Hochzeit zu tanzen. Im Spätsommer des Jahres 1976 bot die Fakultät eine Exkursion auf die hellenische Insel Lesbos an. Um die Reisekosten zu decken, kellnerte sie und büffelte ungeachtet dessen wie wahnsinnig, um die hohe Messlatte für das Auswahlkriterium zu erreichen. Achim, damals ihr Professor, leitete die Studienfahrt und sie gehörte zu den Ausgewählten. Tage nach der Bekanntgabe fuhren sie mit dem Zug nach Athen. Es folgte ihre erste Schifffahrt über ein Meer. Im Team erforschten sie vor Ort die Ursachen um das Verschwinden der Amazonen. Sie freundete sich mit Leyla, der Witwe eines Altertumsforschers an und lernte bei ihr einen übersichtlichen türkischen Wortschatz kennen, den sie am Ende ihrer Studienreise erprobte. Die Studentengruppe fuhr mit der Fähre in die benachbarte Türkei, um das aus alter Zeit stammende Pergamon zu erkunden. Mit Marion, einer weiteren Studentin fertigte sie zahlreiche Detailzeichnungen an, die anderen trugen die Rechercheergebnisse zusammen. Bei der Debatte zu den abschließenden Reisetagen fiel die Entscheidung auf die antiken Stätten Aspendos und Troja. Die Gruppe teilte sich. Der griechische Helfer Stavros brach mit seinem Team zu Schliemanns Ausgrabungen nach Troja auf. Jasmin und Frank begleiteten den Studienleiter Professor Dr. Achim Wendlinger in den Süden. Bald ging ihr das Ständige überwacht werden auf den Geist. Nach ihrer Ankunft im Dorf Kumköy erbettelte sie sich die Erlaubnis, allein an den Strand zu gehen. Überglücklich entzog sie sich der Aufsicht ihrer Begleiter, die ihren neugewonnenen Drang um Selbstständigkeit einengten. Leicht fand sie den schmalen Pfad, den ihr die Gastgeberin in der Pension beschrieben hatte. Inmitten einiger Felsen über dem Sandstrand entdeckte sie eine außergewöhnliche Naturschönheit. Eine Distel mit lilafarbener Kugel zwischen nadellangen Dornen. Sie übertrug die Konturen in ihren Zeichenblock, setzte mit Buntstiften Akzente und verwischte mit dem Zeigefinger die Kanten des Kohlestiftes. Die fertige Zeichnung hielt ihrem kritischen Blick stand. Zufrieden schob sie die Zeichenutensilien in die Tasche, lehnte sich an einen aufgeheizten Felsbrocken und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie genoss die fliehende Hitze des Tages. Hinter verschlossenen Lidern verstärkte sich ihr Geruchssinn. Ein blumiger, teils modriger Geruch vermischte sich mit der salzhaltigen Brise. Permanente Wellengeräusche schaukelte das Meer in seinem sanften Rhythmus. Vor und zurück, eintönig gleich und doch einzigartig. Da kreischte eine Seemöwe und unmittelbar danach zerschnitt ein knatterndes Geräusch die Idylle.

Jasmin öffnete die Augen und sah hinab ins türkisblaue Element. Obwohl sie nichts sah, verstärkte sich das Knattern. Sie suchte die Silhouette am Wasserrand ab, bis sie im entfernten Schilfgürtel eine Bewegung wahrnahm. Im selben Moment schob sich der Bug eines Fischerbootes aus dem Dickicht. Der Steuermann lenkte den Kahn am Ufer entlang. Sie beobachtete, wie er den Gashebel lässig in der Hand hielt. Kaum entdeckte er sie, da drosselte er den Motor. Um den Kopf trug er ein Tuch mit rot-weißem Paisleymuster, das dem Fischer das Aussehen eines Piraten verlieh. Er stand auf, balancierte auf den wackligen Planken und winkte sie zu sich. Ein Lächeln umspielte seinen Mund, das sie elektrisierte. Eine sonderbare Hitzewallung ergriff sie, doch den türkischen Wortschwall, den er herüberrief, dem vermochte sie nicht zu folgen. Sie zuckte die Achseln, da untermauerte er die Kommunikation mit deutlichen Gesten. Er wollte sie mit hinausnehmen. Ihr Herzschlag begann zu trommeln. Nervös sprang sie auf, griff nach ihrer Tasche und hetzte die Anhöhe hinauf. Bei ihrer Flucht stieß sie mehrmals mit den Zehen schmerzhaft an scharfkantige Muschelsteine. Kaum stand sie mit pochendem Herzen auf der Höhe, setzte das Knattern des Motors wieder ein. Sie wartete, drehte sich um und beobachtete, wie der aufregende Seeräuber das Schiff in den Abend dirigierte. Das späte Sonnenlicht legte sich inzwischen ein wenig auf die Wasserfläche. Ihre Augen erfassten das Schauspiel, doch in Wirklichkeit folgten sie dem Objekt, bis es am Horizont verschwand. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag und sie beneidete den Piraten um seine Freiheit.

Obwohl sie in der Folgenacht kaum Schlaf fand, strotzte sie am Morgen vor Unternehmungsgeist. Frank indes lümmelte mieslaunig am Frühstückstisch.

»Was machen wir in diesem Kaff mit ein paar Wellblechhütten, solange Sie unterwegs sind? «, maulte er den Professor an, als der ihnen von einer Verabredung mit einem Kollegen in Antalya erzählte.

»Ergänzt die Tagebücher, bearbeitet eure Aufzeichnungen. Von mir aus legt euch auch ein paar Stunden in eine Hängematte oder ihr geht an den Strand.« Jasmin überredete ihren Kommilitonen schließlich zu einer katastrophalen Entdeckungstour durchs Dorf. Der Miesepeter benahm sich so unleidlich, dass sie ihren normalerweise umgänglichen Studienkollegen nach dem Mittagessen sich selbst überließ. Grimmig schulterte sie ihre Tasche und schlug den schmalen Weg ans Meer ein. Dabei entdeckte sie weitere aufgeblühte Distelkugeln und sie fand auch den Platz wieder, an dem sie der Fischer am Abend zuvor aufgeschreckt hatte. Die Fantasie gaukelte ihr sofort das markante Piratengesicht vor, das in der Nacht in ihrem Jungmädchenkopf herum spukte. Die Beine zum Schneidersitz angezogen, begann sie Luftschlösser zu bauen, mit dem Jungen in der Hauptrolle. In ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge. Erst der laute Schrei eines Eichelhähers brachte ihre Traumwelt zum Einsturz.

Sie ergänzte die Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch und vertraute ihm die Eindrücke der vergangenen Tage an. Antalyas steil abfallende, verwinkelte Gassen, die winzigen Läden in der Größe einer Abstellkammer. Jasmin dachte an Franks Geschenk und an sein peinliches Erröten nach ihrem Dankeschönkuss. Das Tagebuchschreiben ersetzte ihr die Freundin, der sie sonst alles anvertraute und sie schrieb unermüdlich. Stahlblau wölbte sich der Himmel über ihr und nur vereinzelte Schleierwolken unterbrachen das klare Blau. Wellenschläge schaukelten an den Strand, unterbrochen vom kreischenden dschää-dschää-Ruf eines Eichelhähers oder dem Schrei einer Seemöwe. Einige Zeit später legte sie den Stift beiseite und klappte das Buch zu. Ihr Blick wanderte zu den Wellenausläufern, die den Sand leckten, und im ewig gleichen Rhythmus die Sandkörner schliffen. Die Abendsonne tanzte bereits auf der Wasseroberfläche, da fiel ein dunkler Schatten über sie. Sie erschrak und ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, denn neben ihr stand der Fischerjunge. Ein Junge? Eher ein Mann, der sie mit eindrucksvollen Silberaugen ansah. Diese Augenfarbe verlieh dem sonnengebräunten Gesicht einen außergewöhnlichen Glanz, doch es war seine Nähe, die sie atemlos machte. Bevor sie reagieren konnte, griff er nach ihrer Hirtentasche und streckte ihr die Rechte entgegen. Selbstbewusst umschloss er ihre Finger, ihr aber schoss das Blut schneller durch die Adern. Widerstandslos ging sie mit ihm, denn das vertraut wirkende Lächeln verdrängte ihre instinktive Verunsicherung vor dem Fremden.

»Ben Kenan«, stellte er sich vor und legte die Handfläche auf seine Brust. Insgeheim schickte sie Leyla einen Dank für den türkischen Wortschatz, auf den sie nun mutig zurückgriff. Lächelnd antwortete sie.

»Benim Jasmin.«

»Yasemin«, wiederholte er und verlieh ihrem Namen den weichen Klang seiner Heimat. »çok güzel, sehr schön.« In einem engen Bachbett hinter dem Schilfgürtel lag das Fischerboot. Er hielt sie fest, bis sie im Heck stand. Die Bohlen unter ihr schwankten und so setzte sie sich rasch auf die schmale Sitzbank. Beim Lachen entblößte der Fremde strahlendweiße Zähne. Er streckte Jasmin ihre Tasche entgegen, die sie neben aufgestapelte Netze zu ihren Füßen legte. Kenan löste die Verankerungstaue, dann sprang er ins Boot. Sie musste sich mit beiden Händen an die Bank klammern, um das Gleichgewicht zu halten. Er lachte, startete den lärmenden Motor und lenkte das Fischerboot den Flusslauf entlang. Ihr Herzschlag folgte dem Takt des Dieselmotors. Auf was lässt du dich da ein? Flüchtig mahnte sie ihr Gewissen, die Mahnung jedoch erlosch beim Blick in Kenans Augen. Der Traum vom Vortag erfüllte sich. Fasziniert sah sie ins Licht der Abendsonne. Der Fischer erledigte die Alltagsarbeit, doch zwischendurch warf er ihr einen Seitenblick zu. Kribbelnde Ameisenlegionen jagten dann über ihre Haut. Sie musterte ihn. Muskulöse Arme in ausgebleichten Hemdsärmeln warfen Netze ins Wasser, zuvor befestigte er geschnürte Styroporteile an den oberen Netzseilen. Er forderte Jasmin auf, ihm zu helfen. Wenn ihre Hände sich beim Versenken der Fangnetze berührten, knisterte es zwischen ihnen. Zeitgleich streute die Sonne in einem aufbäumenden, allerletzten Akt rubinrote Farbakzente auf die Wasseroberfläche. Das Boot schwankte, als der Fischer den Anker lichtete. Dann setzte er sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern.

***

Jasmin erschrickt, weil in diesem Moment die Reifen des Flugzeugs auf der Landebahn aufsetzen. Nach einem kurzen Ruck schiebt der Pilot den Hebel für den Umkehrschub vorwärts. Die Turbinen brüllen, die Landeklappen stemmen sich gegen den Fahrtwind und die Räder jagen über die Piste. Dann verlangsamt sich die Fahrt und sie rollen zur angewiesenen Position am Terminal.

Kapitel 3

Jasmins Zusammenzucken beim Aufsetzen des Flugzeugs kann Rebecca nicht nachvollziehen. Sie beobachtet ihre Sitznachbarin, die das einsetzende Gedränge auf den Gängen kalt lässt. Zudem reagiert sie weder auf das Öffnen der Gepäckfächer, noch auf die allgemeine Unruhe des Aussteigens, das die Passagiere an den Tag legen. Sie bleibt einfach auf ihrem Sitz kleben, eingesponnen in eine nur ihr zugängliche Welt. Nach einigen Minuten sieht die Chefstewardess auffordernd zu ihnen, doch Jasmin macht keinerlei Anstalten aufzustehen. Rebecca reißt der Geduldsfaden. Sie zerrt das Handgepäck aus der Klappe, dann schüttelt sie ihre Reisebegleiterin.

»Komm endlich. Es ist höchste Zeit auszusteigen. Die Crew will Feierabend.« Erstaunt starrt die Freundin auf die leeren Stuhlreihen.

»Sei bloß froh, dass dein Kopf nicht lose auf dem Hals sitzt. Den ließest du heute garantiert liegen.« Hinter dem spöttischen Lästern verbirgt sie ihre Verärgerung. Energisch bugsiert sie Jasmin zum Ausgang, bis diese bei der Passkontrolle aufmerksam jeden einzelnen Zollbeamten mustert. Rebecca fragt sich irritiert, nach was sie Ausschau hält. Der Zöllner schaut finster drein, als er den Einreisevermerk in ihre Pässe stempelt. Unbeeindruckt sieht er an ihrem Lächeln vorbei. Achselzuckend packt sie die Ausweispapiere in die Tasche und schiebt Frau ’Neben-der-Kappe’ zum Kofferrondell. Zwei einsame Gepäckstücke kreisen übers ansonsten leere Band. Sie fischt die Koffer herunter und drückt ihrer Begleiterin ungeduldig den hochgezogenen Griff zwischen die Finger. Dann drängt sie Jasmin zum längst wartenden Transferbus. Sie ignoriert das kritische Taxieren der anderen Gäste und lotst die Freundin zu den letzten freien Plätzen. Besorgt wirft sie einen Blick in ihr kreidebleiches Gesicht. Geistesabwesend starrt sie vor sich hin und nur in ihren jadegrünen Augen leuchtet eine winzige Spur Lebendigkeit. Was verdammt beschäftigt sie? Diese Frage stellt sie sich heute nicht zum ersten Mal. Ihr uniformierter Busbegleiter begrüßt die Spätankömmlinge herzlich.

»Mein Name ist Mehmet. Ich bin ihr Reisebegleiter. Jetzt sind wir vollzählig. Ich heiße sie willkommen. Hoşgeldiniz.« Der Omnibus verlässt das Flughafengelände und der Chauffeur steuert in südlicher Richtung durch die Metropole an der türkischen Riviera.

»Du liebe Zeit. Wo ist das Meer geblieben, wo die freien Strände?« Rebecca zieht ihre Augenbrauen hoch, doch Jasmin deutet nur entsetzt auf die massive Bebauung.

»Während meiner Studienreise hielten Frank, Achim und ich uns einige Tage hier in der Nähe auf«, rutscht es ihr heraus.

»Ich mag diese Riesenklötze nicht!«, schimpft sie, dann verstummt sie erneut. Rebecca schnaubt genervt, denn die rätselhaften Ausbrüche sind äußerst lästig. Sie betrachtet das bunte Treiben vor den Fensterscheiben. In den frühen Abendstunden zeichnet die Stadt das quecksilbrige Bild einer modernen Großstadt. Einheimische, die an Bushaltestellen warten. Querstraßen werden von Beeten mit mehrfarbigem Oleander umrandet und die Randsteine sind beängstigend hoch. Am erstaunlichsten jedoch findet sie den dauerhupenden Feierabendverkehr und wundert sich, wie ein Autofahrer trotz des Gewimmels erahnt, wer anfährt oder wer stehen bleibt. Der Reisebus zwängt sich durch die unterhaltsame Hektik, bis die Fahrspuren sich verengen und der Verkehr beschaulicher dahinplätschert. Ihr Reiseleiter plappert wie am Fließband und zaubert Geschichten aus dem Berufsfundus hervor. Er erzählt von Bräuchen, von der Kultur des Landes und natürlich von Orten, die einen Tagesausflug wert sind.

»In Myra können Sie Ihrem heiligen Nikolaus einen Besuch abstatten«, schmunzelt er und sieht in erstaunte Gesichter. »Sie verstehen mich richtig, ihr christlicher Schutzheiliger stammt aus der Türkei.« Da huscht das Ortsschild Belek an ihnen vorbei. Im selben Augenblick schreckt Jasmin aus ihrer weltabgekehrten Haltung auf. Wie verrückt schüttelt sie ihre Begleiterin.

»Wohin bringst du mich? Rebecca, wohin um Gottes willen bringt uns dieser Bus?«

»Jetzt reicht es aber. Du sprichst in Rätseln, dann schweigst du, bis du das nächste Mal wie von einer Tarantel gestochen aufspringst. Es langt mir, hörst du. Aber bitteschön, das Bahçede-Resort liegt am Rand von Kumköy und wenn es dich beruhigt, es ist ein kleines Familienhotel. Lass mir die Freude auf Liegestuhl, Strand und Wellness. Für meinen Urlaub fehlt mir allerdings eine Urlaubsfreundin, mit der ich auch etwas anfangen kann«. Jasmin starrt sie an.

»Kumköy?« Rebecca nickt, da knickt die Sitznachbarin in sich zusammen und murmelt heiser.

»Hilf mir, lieber Himmel, hilf mir doch.«

»Ich bin zwar nicht der Himmel, aber helfen will ich dir trotzdem. Ich verstehe dich nur nicht. Erst flippst du bei Antalya aus, jetzt scheint es bei Kumköy der Fall zu sein. Rede endlich mit mir. Vernünftig, wenn das geht,« murrt sie. Erneut bleibt Jasmin ihr eine Antwort schuldig. Da wendet sich Rebecca wieder dem Reiseleiter zu, der eine Geschichte vom Baumwollanbau erzählt. Zwischendurch sieht sie zu ihrer Reisebegleitung, die zusammengekrümmt in ihrem Sitz kauert.

»Magenschmerzen«, lautet ihre einsilbige Auskunft auf wiederholtes Nachbohren. Die Besorgnis nimmt mit jedem Kilometer zu. Sie greift nach ihrer schweißnassen Hand. Auch ihr aschfahles Gesicht ist von einem feuchten Film überzogen. Einen Reim auf ihren desolaten Zustand kann sie sich nicht machen und hofft, dass keine ernsthafte Erkrankung vorliegt. Endlich biegt der Reisebus zum Hotel ab. Auf ihren Arm gestützt, wankt Jasmin aus dem Bus und ein Träger bringt ihre Gepäckstücke ins Foyer. Sie schiebt die angeschlagene Freundin kurzerhand in einen weinroten Klubsessel, geht zur Rezeption und legt die Pässe für den Check-in auf den Tresen. Sie bittet um den Besuch eines Arztes, dann folgen sie dem Kofferboy in den zweiten Stock. Die Vorhänge sind noch zugezogen, um die Hitze des Nachmittages fernzuhalten. Sie schiebt die Stoffbahnen beiseite und hebelt die Balkontür auf, um frische Luft hereinzulassen.

»Der Blick verschlägt dir die Sprache«. Jasmin reagiert nicht, denn sie liegt zusammengerollt auf dem Bett. Unter sich vergräbt sie die Bougainvillea-Blüten, welche zuvor in Herzform gedrehte Handtücher auf dem Doppelbett schmückten. Da klopft es energisch an der Tür.

»Dr. Levent Özkol. Iyi akşamlar. Guten Abend«, entbietet der Arzt den Abendgruß und reicht ihr die Hand. Sie zeigt auf ihre Reisebegleiterin, die den Fragen des Arztes nur mit dumpfem Stöhnen antwortet.

»Sie ist extrem durcheinander. Seit Kurzem klagt sie über Magenschmerzen und jetzt über Krämpfe,« erklärt Rebecca und setzt ergänzend hinzu: »Ich vermute, auch wenn es eigenartig klingt, dass ein Zusammenhang mit dem Tod ihres Ehemanns besteht. Er verunglückte vor einigen Monaten. Doktor Özkol, ich mache mir Vorwürfe, weil ich sie zu dieser Reise drängte. Sie steht immer noch unter Schock.« Zumindest glaubte ich das bisher, berichtigt sie sich still.

»Sie leidet an Schwermütigkeit. Ich dachte, dass ein paar Tage in der Sonne ihr nicht schaden könnten. Außerdem belastet sie eine alte Leidensgeschichte, aus der sie allerdings ein Geheimnis macht«, beschreibt sie ihrem faszinierenden Gegenüber die kümmerlichen Erkenntnisse. Der Arzt sieht sie aus tiefschwarzen Augen an, dann lächelt er.

»Keine unnötigen Sorgen, Madam. Oft verursachen verschiedene Faktoren gleichzeitig einen Zusammenbruch, wie er bei ihrer Reisebegleiterin vorliegt. Ich verabreiche ihr ein leichtes Beruhigungsmittel, das vorrangig die Verkrampfungen auflöst. Sie wird bald tief schlafen.« Er entnimmt der Arztasche eine Ampulle, reinigt Jasmins Armbeuge und setzt die Injektion. Das Timbre in seiner Stimme verfehlt die Wirkung auf Rebecca nicht. Er erhebt sich von der Bettkante und schließt die Arzttasche.

»Morgen früh sehe ich nach ihr. Gegen 9.00 Uhr, wenn es recht ist. Allen Umständen zum Trotz ist es mir ein Vergnügen, da ich dann auch Sie wiedersehe.« Galant fasst er ihre Hand, haucht einen Handkuss auf die Innenseite der Handfläche und verabschiedet sich mit einem leisen »Iyi akşamlar«. Seine charmante Aufmerksamkeit bringt die meist routinierte Hotelmanagerin kurzfristig aus dem Gleichgewicht und so starrt sie hinter ihm her. Feuer lodert in ihren stahlblauen Augen und ihre Zungenspitze gleitet über das Lipgloss. Welch ein blendend aussehender Mann. In diesem Alter eindeutig verheiratet, diagnostiziert sie. Schade, analysiert sie weiter und öffnet Jasmins Koffer. Sie entnimmt daraus Nachtwäsche und den Waschbeutel, dann bugsiert sie die Apathische ins Bad. Sie hilft ihr beim Umziehen, drückt ihr die Zahnbürste in die Hand und bringt sie letztendlich wieder ins Bett. Mit einem leisen »Schlaf dich gesund!«, umarmt sie die Freundin und zieht ihr die leichte Sommerdecke zurecht. Sie aber packt beide Reisekoffer aus, bevor sie sich mit ihrer Urlaubslektüre unter dem Arm auf den Balkon setzt. Das Buch bleibt jedoch in ihrem Schoß liegen, ohne dass sie auch nur eine einzige Zeile liest. Stattdessen versucht sie, das Rätsel zu entwirren. Das gelingt ihr genauso wenig, wie die Ursache für das Chaos zu finden. Das Geheimnis, das ihre Freundin mit sich herum trägt, beschäftigt Rebecca in der Tat. Sie schaut ins Schlafzimmer, wo ihre Gefährtin inzwischen völlig entspannt ruht. Erneut zupft sie ihr die Bettdecke zurecht, bevor sie auf den Balkon zurückgeht. Um den Neuanfang zu beginnen, muss diese Heimlichtuerei aufhören, überlegt sie. Allerdings darf sie die Schlafende nicht drängen, sondern muss abwarten, auch wenn ihr das schwerfällt. Ihre Grübelei führt sie bald zur einstigen Studienreise, denn inzwischen ist ihr in den Sinn gekommen, dass die Freundin vor ihrer Ehe an einer Exkursion teilnahm. Damals besuchten sie auch Antalya, wie Jasmin vorhin verlauten ließ. Ratlos zuckt sie die Schulter. Es erschließt sich trotzdem kein Grund für ihre panische Reaktion. Im Flugzeug faselte sie etwas von Wurzeln in der Erde. So ein Quatsch. Im Bus brachte sie dann der Urlaubsort durcheinander. Gemeinsam drückten sie die Schulbank und teilten im Laufe ihrer Freundschaft manche Heimlichkeit. Warum nicht diese? Plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Jasmin verbrachte im Jahr nach der Exkursion ein Auslandsemester auf einer griechischen Insel. Es könnte durchaus möglich sein, dass sie damals noch einmal nach Kumköy fuhr. Aber warum? Es bleibt ein Rätsel, was zu Jasmins Aussetzern führte und weshalb Achim ihr vor der Ehe ein Schweigeversprechen abnahm. Ihre gemeinsamen Urlaubstage sollen den Schmerz ihrer Freundin unter der Spätsommersonne verblassen lassen. Zwischenzeitlich ist ihr allerdings klar, dass kaum mehr nur Achims Tod für den Zusammenbruch verantwortlich zeichnet. Hartnäckig versucht sie, aus den kargen Informationen Vernünftiges abzuleiten, bis sie ergebnislos aufgibt.

Jasmins Trauer um Achim konnte sie immer nachvollziehen. Denn ihr ist bisher niemand begegnet, der seine Ehefrau so auf Händen trug wie er. Seine Fürsorglichkeit durfte fehlen. Zu Beginn ihrer Ehe beneidete sie die Freundin um ihr Glück. Der einstige Herzensbrecher interessierte sich ausschließlich für die ihm Angetraute. Er stellte sie auf den Sockel seiner Bewunderung. Trotz ihrer Freundschaft mit Jasmin verdrehte der verheiratete Charmeur ihr anfangs regelmäßig den Kopf und es fiel ihr nicht leicht, die eigene Gefühlsduselei unter Verschluss zu halten. Wo kommen die seltsamen Reflexionen nur her, wundert sie sich. Im Moment führen ihre Grübeleien zu absurden Fantasien. Vermutlich treibt ihr Hunger diese skurrilen Blüten und so schleicht sie sich aus dem Zimmer, um den Versorgungsengpass mit Kalorien aufzufüllen. Im Speisesaal findet sie reichlichen Nachschub für einen ausgedehnten Gaumenkitzel. Beim Rückweg schlendert sie an der Bar in der Empfangshalle entlang und entscheidet sich für einen Absacker. Schwungvoll nimmt sie auf einem Barhocker Platz. Sie betrachtet ihr Gesicht zwischen einer Flaschenansammlung, die auf Glasregalen präsentiert wird. Der Barmann reicht ihr die Karte und ihre erste Idee gilt einem Raki zur Verdauung nach der üppigen Mahlzeit. Auf der Getränkekarte sticht ihr jedoch der Cocktail ’Sexon-the-beach’ ins Auge. Prompt unterliegt sie der Versuchung und ordert diesen bunten Alkohol-Saft-Shake. Der Barkeeper serviert das Getränk mit Glitzerkram, Orangenherzchen und Zuckerrand. Rebeccas Fantasie vermischt sich mit reizvollen Hintergedanken und einem Hauch Erotik. Sie nippt an ihrem Trinkhalm und schon sieht sie die dunklen Samtaugen des attraktiven Arztes vor sich. Sie umkreist ihn gedanklich, wie eine Katze die Milchschüssel. Welch ein verlockender Charismatiker. Ihre Zungenspitze leckt über ihre zuckerverwöhnte Unterlippe, während ihr der eigene verführerische Blick bei der Fantasievorstellung im Spiegelbild entgegen leuchtet.

Kapitel 4

Es klopft. Rebecca öffnet Dr. Levent Özkol am nächsten Morgen die Zimmertür. Er tritt ein und mustert sie, da schießt eine feine Röte in ihr Gesicht. Er sieht darüber hinweg und richtet den Blick stattdessen auf die Patientin, die seinen Morgengruß mit »Günaydın« erwidert.

Sie beantwortet die Frage nach ihrem Befinden und bedankt sich für seine Mühe am gestrigen Abend. Routiniert überprüft er, ob ihr angespanntes Zittern abgeklungen ist, ob sie normal reagiert. Noch wirkt sie beunruhigt. Keineswegs ist sie inzwischen auf einen sorglosen Urlaub eingestimmt. Er kennt diesen inneren Aufruhr aus eigener Erfahrung, denn nach dem Tod seiner Ehefrau dauerte es mehrere Monate, bis er ihr Fehlen nur annähernd verarbeitet hatte. In solchen Fällen galt es sich in Geduld zu üben, um den ungewohnten Rhythmus in einem neu strukturierten Leben zu akzeptieren. Er schüttelt die persönlichen Gedanken ab und misst ihren Blutdruck, der niedrig, aber unbedenklich ist. Da lächelt er sie und Rebecca fragend an.

»Willkommen in ihrem Urlaubsdomizil. Im Hotel benötigt mich momentan niemand und in der Praxis habe ich heute Ruhetag. Darf ich die Damen zum Frühstück begleiten?« Er lädt sie zwar gemeinsam ein, dennoch schaut er in erster Linie zu ihrer Urlaubsgefährtin, stellt Jasmin fest.

»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gerne ein wenig von der Umgebung.« Rebecca versinkt in der samtenen Schwärze seiner Augen, denn Dr. Özkols Aufmerksamkeit versetzt die sonst eher selbstsichere Geschäftsfrau in Euphorie. Ohne ihre Freundin zu fragen, stimmt sie mit einem Strahlen im Gesicht zu. Diese genießt ihre Beobachterrolle und analysiert das Turteln der beiden. Selbstbewusst hängt Rebecca sich an den Arm des Arztes. Es ist ungeheuerlich, mit welch einer Selbstverständlichkeit sie ihn in ihr Netz zu ziehen versucht. Abgelenkt von ihrer eigenen Planlosigkeit, fesselt sie die aufgekratzte Begleiterin, wie auch die offenkundige Zuwendung des Mannes. Er ist hoch gewachsen und überragt die keineswegs kleine Frau an seiner Seite trotz ihrer hohen Absätze. Ihr perlendes Flirtlachen übertönt obendrein das Klicken ihrer Stöckelschuhe auf dem Marmorboden. Ihr Zielobjekt gibt im fliederfarbenen Hemd zur schlichten schwarzen Hose ein stattliches Erscheinungsbild ab. Jasmin schlendert hinter den beiden her und dabei entgeht ihr nicht, wie der scheinbar so Souveräne rückseitig unruhig mit Daumen und Zeigefinger hantiert. Mit einem Mal dreht er sich um und hält auch ihr auffordernd eine freie Armbeuge hin. Er begleitet sie zu einem Tisch im Außenbereich. Jasmin schnuppert die salzhaltige Luft, die sich mit einem Blütenbouquet vermengt. Neben mediterranen Palmen blühen Rosen in unterschiedlichsten Farbschattierungen. Ein Kellner serviert Kaffee für Rebecca und ay, türkischen Tee für Dr. Özkol und sie selbst. Obwohl die Auswahl am Büfett appetitlich aussieht, fällt ihre Entscheidung auf einen Sesamkringel, den man simit nennt. Sie bestreicht ihn mit Butter und Rosenmarmelade. Hunger verspürt sie nicht, doch zumindest ihr Magengrummeln will besänftigt werden. Sie nimmt ihr heißes Teeglas vorsichtig zwischen die Finger und lehnt sich zurück, um den Fokus erneut auf Beobachtung zu stellen. Inzwischen ist ihr klar, weshalb Frau ’Supermodell’ in den frühen Morgenstunden bereits vor dem Kleiderschrank herum experimentierte. Jasmin schmunzelt, wie die stets Hungrige mit der Riesenauswahl kämpft und gleichzeitig kokett flirtet. Ihre eng anliegende Jeans betont jede Kurve an ihr. Das knallenge T-Shirt mit tiefem Ausschnitt wirkt hier unangebracht. Ich muss ihr erklären, dass sie in der Türkei nicht so aufreizend wie zu Hause herumspazieren darf. Dabei ist die Sprache ihrer erotischen Anbandelei überdeutlich. Noch bevor Jasmin in eigene Träume zurücksinkt, schallt Rebeccas glockenhelles Lachen herüber. Es lenkt ihre Konzentration erneut auf das Gespann, das endlich fündig geworden zu sein scheint. Dr. Özkol trägt Brot und Käse. Auf dem Teller der Freundin veranstalten diverse Leckereien ein turmhohes Farbenspiel. Ein Jungkellner folgt ihnen mit einem Obstteller. Aufmerksam füllt er Jasmins leeres Teeglas nach, bevor er ans Büfett zurückkehrt. Die beiden ermuntern sie zuzugreifen, doch sie wehrt ab. Selbst der Sesamkringel liegt kaum berührt vor ihr. Kurz lauscht sie den Plaudereien am Tisch, da steht sie unvermittelt auf. Sofort erhebt sich auch Dr. Özkol.

»Lasst euch bitte nicht stören. Ich möchte ans Meer. Ich muss allein mit mir ins Reine kommen.« Fragend zieht er die Augenbrauen hoch.

»Das Plaudertäschchen neben Ihnen konnte den Schnabel noch nie halten. Sie dürften inzwischen bestens informiert sein«, antwortet sie ihm mit einem Seitenblick auf Rebecca. »Teşekkür ederim, Dr. Levent bey, für ihr Verständnis wie auch für den erholsamen Schlaf heute Nacht,« dankt sie ihm noch einmal in der Landessprache, bevor sie sich ihrer Begleiterin zuwendet.