Geschlecht, Familie, Sexualität - Barbara Umrath - E-Book

Geschlecht, Familie, Sexualität E-Book

Barbara Umrath

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Beschreibung

Der Band bietet die erste profunde Rekonstruktion der Entwicklung der Frankfurter Schule aus feministischer Perspektive und eröffnet damit neue Anschlussmöglichkeiten für die Gesellschafts- wie Geschlechtertheorie. Basierend auf Schriften von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm u.a. wird gezeigt, wie Geschlechterverhältnisse, Familie und Sexualität in der Kritischen Theorie reflektiert wurden. Dabei deckt die Studie nicht nur Schwächen auf, die durch feministische Theorie und Geschlechterforschung bearbeitet wurden. Sie skizziert auch, wie sich Desiderate feministischer Theorie mithilfe der Kritischen Theorie gesellschaftstheoretisch fassen lassen.

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Barbara Umrath

Geschlecht, Familie, Sexualität

Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung

Campus Verlag

Frankfurt / New York

Über das Buch

Der Band bietet die erste profunde Rekonstruktion der Entwicklung der Frankfurter Schule aus feministischer Perspektive und eröffnet damit neue Anschlussmöglichkeiten für die Gesellschafts- wie Geschlechtertheorie. Basierend auf Schriften von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Fromm u.a. wird gezeigt, wie Geschlechterverhältnisse, Familie und Sexualität in der Kritischen Theorie reflektiert wurden. Dabei deckt die Studie nicht nur Schwächen auf, die durch feministische Theorie und Geschlechterforschung bearbeitet wurden. Sie skizziert auch, wie sich Desiderate feministischer Theorie mithilfe der Kritischen Theorie gesellschaftstheoretisch fassen lassen.

Vita

Barbara Umrath hat Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie studiert und in Soziologie promoviert.

Inhalt

1.Einleitung

Aufbau des Buches

Hinweise für Leser*innen

2.Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie

Zur Darstellung des grundlegenden Ansatzes der Kritischen Theorie

Die Geschlechterthematik in der Einführungsliteratur und den Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie

Die Geschlechterthematik in der Rezeption Herbert Marcuses

Überblick über die geschlechterthematische Rezeption der Kritischen Theorie

(Homo-)Sexualität in der Rezeption der Kritischen Theorie

Schwerpunkte der feministischen Rezeption Kritischer Theorie

Perspektivverschiebungen in der feministischen Rezeption

Vorgehensweise und Material

3.Geschlecht, Geschlechterdifferenz und patriarchale Geschlechterordnung als Momente der bürgerlichen Gesellschaft

Die Debatten zu Mutterrecht und Männerbund als Bezugspunkte der Kritischen Theorie

Horkheimer zur Genese und Wirkmächtigkeit des Charakters

Fromm zur Historizität und Gesellschaftlichkeit der menschlichen ›Triebnatur‹

Das Mutterrecht und die Notwendigkeit einer historisch-materialistischen Situierung psychoanalytischer Überlegungen in der bürgerlich-vaterrechtlichen Gesellschaft

Die patriarchale Geschlechterordnung als konstitutives Moment bürgerlicher Gesellschaft und die affektive Abwehr der Mutterrechtstheorie

Fromms dialektisches Verständnis von Emanzipation

Psychische Veränderung als genuiner Bestandteil von Emanzipation

Gleichheit, Differenz und die Notwendigkeit eines alternativen Verständnisses von Geschlecht

Bedingungslose Mutterliebe und psychische Bisexualität

Zwischen Konkurrenz und ›Kolonialisierung‹: Löwenthal zum Verhältnis von Erwerbs- und Privatsphäre

Zum emanzipatorischen Potenzial der Liebe

Adornos These der Entwicklung spezifisch weiblicher bürgerlicher Züge

Odysseus oder: Die Konstitution des bürgerlichen Subjekts in herrschaftsförmigen Klassen-, Geschlechter- und Naturverhältnissen

Problematisierungen der ›Emanzipation der Frau‹ in der spätbürgerlichen Gesellschaft

Horkheimers Sorge um das Schwinden von Sorge

Marcuses Emanzipationsperspektive: Androgynität und feministischer Sozialismus

Adornos Analyse von Weiblichkeit und Männlichkeit als Produkt ›männlicher‹ Gewalt

Das Ringen um und mit (Geschlechter-)Differenz bei Adorno und Horkheimer

Zusammenfassung

4.Familie als Zugang einer kritischen Gesellschaftstheorie und das Problem des Autoritarismus

Gesellschaftstheorie als Zusammenhangsanalyse: Von den Arbeiter(-inne)n und Angestellten zur Familie

Die Konzeption eines gesellschaftstheoretisch orientierten Forschungsprojekts zur Familie

Die Umsetzung des Forschungsvorhabens als Projekt zu Autorität und Familie

Die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Zwang, Herrschaft und Autorität

Autorität in der bürgerlichen Gesellschaft

Exkurs: Reproduktion und Verschiebung eurozentrischer Perspektiven in Marxismus und Kritischer Theorie

Karl August Wittfogel: Geschlechtliche Arbeitsteilung und androzentrisch verengter Arbeitsbegriff

Veränderung von Geschlechter- und Generationenverhältnissen mit Entstehung des Privateigentums

Zur Klassenspezifik familiärer Autoritätsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft

Zur Bedeutung von Hausarbeit für die Gestaltung familiärer Autoritätsverhältnisse

Die Antizipation einer feministischen Rechtskritik bei Ernst Schachtel

Zur Bedeutung ökonomischer Faktoren und gesellschaftlicher Anschauungen für die rechtliche Regulierung patriarchaler Geschlechterverhältnisse

Intermezzo: Horkheimers und Fromms Beiträge zu Autorität und Familie in der feministischen Rezeption

Horkheimers dialektische Betrachtung von Familie in der bürgerlichen Gesellschaft

Fromms Konzeption des sado-masochistischen Charakters zwischen Situierung und androzentrischer De-Thematisierung

Die Bedeutung patriarchaler Geschlechterverhältnisse für die Entwicklung autoritärer Charakterstrukturen

Von den Studien der 1930er-Jahre zu Arbeiten aus späteren Jahrzehnten

The Authoritarian Personality: Zur Bedeutung von Familie und Geschlecht für die Entwicklung (nicht-)autoritärer Charakterstrukturen

Horkheimers Thesen zur Entwicklung von Familie in der spätbürgerlichen Gesellschaft

Adornos Auseinandersetzung mit der (Familien-)Soziologie der Nachkriegsgesellschaft

Keine Emanzipation der Familie ohne die Emanzipation des Ganzen

Zur Genese autoritärer Charakterstrukturen in der spätbürgerlichen Gesellschaft

Zusammenfassung

5.Sexualität und Sexualmoral als Schlüssel zur Gesellschaft

Von der (früh-)sozialistischen Kritik der monogamen Sexualmoral zum Freudomarxismus

Fromm zur Sexualmoral des bürgerlich-kapitalistischen ›Geistes‹

Veränderung und Persistenz der bürgerlichen Sexualmoral zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Franz Borkenaus Analyse der bürgerlichen Jugendbewegung: Rebellion statt emanzipatorischer Überwindung der tradierten Sexualmoral

Einschränkung, Entwertung und Instrumentalisierung von Glück und Genuss

Die herrschaftsstabilisierende Bedeutung einer restriktiven Sexualmoral

Fromm zu den (unbewussten) Grenzen einer Reform der bürgerlichen Sexualmoral

Horkheimers dialektische Betrachtung von Moral

Von der freudomarxistischen Aufklärung der 1930er-Jahre zur Reflexion der Dialektik der Aufklärung in späteren Schriften

Odysseus und Juliette: Aufklärung als Internalisierung des Opfers und Entmythologisierung von Moral, Sexualtabus und Liebe

Eros and Civilization: Historisierung der Freudschen Kulturtheorie und des patriarchalen, repressiven Realitätsprinzips

Problematisierung des Körpers als Instrument fortpflanzungszentrierter Sexualität und entfremdeter Arbeit

Die Emanzipationsperspektive einer Transformation von Sexualität in Eros und von entfremdeter in libidinöse Arbeit

One-Dimensional Man: Liberalisierung der Sexualmoral als ›repressive Entsublimierung‹

Adorno zur Liberalisierung der Sexualmoral in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft und ihren Grenzen

Zusammenfassung

6.Schlussbetrachtung

Grenzen der Rekonstruktion und weiterführende Forschungsfragen

Die Auseinandersetzungen mit Geschlecht, Familie und Sexualität als integraler Bestandteil der Kritischen Theorie

Zur Produktivität Kritischer Theorie für heutige Geschlechterforschung

Danksagung

Anhang

Primärtexte

Siglenverzeichnis

Literatur

Weitere Literatur

1.Einleitung

Die sogenannte Frankfurter Schule, auch bekannt als Kritische Theorie, kann als eine der einflussreichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts gelten.1 In zeitgenössischer Geschlechterforschung wird auf diese allerdings eher selten zurückgegriffen. Jene auf den ersten Blick irritierende Diskrepanz wird verständlich, wenn man die bis dato vorliegende Sekundärliteratur genauer betrachtet. Insgesamt dominiert dort eine Darstellung, derzufolge sich die Kritische Theorie mit der Geschlechterthematik allenfalls am Rande auseinandergesetzt hat. Die dezidiert feministische Rezeption kritisierte die analytischen ›Werkzeuge‹ der Frankfurter Schule als unzureichend für ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen.2

Die vorliegende Studie entwickelt demgegenüber eine andere Möglichkeit der Rezeption. So wird in den Kapiteln 3 bis 5 eine Geschichte der Frankfurter Schule entfaltet, in der Auseinandersetzungen mit der Geschlechterthematik als integraler Bestandteil der Entwicklung Kritischer Theorie erkennbar werden. Gezeigt wird, dass die Kritischen Theoretiker(-innen) sich über all die Jahrzehnte ihres Schaffens mit Geschlechterverhältnissen befasst haben, wie diese kritische Auseinandersetzung genau aussah, an welche Theorien und Denker(-innen) dafür angeknüpft wurde und zu welchen Einsichten die Kritische Theorie gelangte.3

Gegenüber dem Gros der bisherigen feministischen Rezeption verfolgt die vorliegende Arbeit damit ein anderes Anliegen. Wie in Kapitel 2 noch genauer dargestellt wird, war die feministische Rezeption, die im Zuge der Entwicklung von Frauen- und Geschlechterforschung ab den frühen 1970er-Jahren einsetzte, über weite Strecken von einer kritischen Abarbeitung geprägt. Dabei ging es stets auch um das Verhältnis von feministischer und Kritischer Theorie: Wie eng kann feministische Theorie sich an die Kritische Theorie anlehnen? Wie viel Abgrenzung tut not? Prägnant zum Ausdruck kommt dieses Ringen im Titel eines Aufsatzes von Gudrun-Axeli Knapp aus dem Jahr 1996, der da lautet »Traditionen – Brüche: Kritische Theorie in der feministischen Rezeption«. Insgesamt waren die feministischen Zugriffsweisen von einer Mischung aus kritischer Abarbeitung und dem Bestreben nach Weiterentwicklung und Aktualisierung geprägt. Die vorliegende Studie ist hingegen in erster Linie rekonstruktiv angelegt. In ihrem Vordergrund steht nicht die feministische Weiterentwicklung und Aktualisierung der älteren Kritischen Theorie. Vielmehr sollen deren Auseinandersetzungen mit der Geschlechterthematik vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterforschung detailliert rekonstruiert werden. Dabei wird deutlich werden, dass letztere nicht nur in mancherlei Hinsicht über die ältere Kritische Theorie hinausgeht, sondern diese auch umgekehrt Impulse für eine stärker gesellschaftstheoretische Ausrichtung von Geschlechterforschung zu geben vermag.

Dominierte in der bisherigen feministischen Rezeption ein kritisch-aktualisierender Zugriff, soll es in der vorliegenden Arbeit darum gehen, die Texte der Kritischen Theorie selbst stärker zum Sprechen zu bringen und ihnen Gehör zu schenken. Dies bedeutet nicht, dass nun endlich einmal dargelegt würde, wie die Kritische Theorie ›tatsächlich‹ über Geschlechterverhältnisse nachgedacht hat, was ihre verschiedenen Vertreter(-innen) ›wirklich‹ gemeint haben. In der Formulierung des Zum-Sprechen-Bringens und Gehörschenkens ist bereits das dialogische Moment der Rekonstruktion angedeutet. Wie jeder Rekonstruktion wohnt somit auch der folgenden ein konstruktives Element inne.4 Ohne dieses würden sich Rekonstruktionen erübrigen, wären sie doch Wiederkäuen des immer Gleichen, nicht eine mögliche Quelle neuer Erkenntnisse. Das bedeutet zugleich, dass keine Rekonstruktion voraussetzungslos ist. So stehen im Hintergrund der vorliegenden Rekonstruktion Begriffe, Analysen und Fragestellungen heutiger Geschlechterforschung. Sie prägen das Erkenntnisinteresse an der Kritischen Theorie und machen auf diese Weise das konstruktive Moment des Rekonstruktionsprozesses aus. Anders formuliert ist es die grundlegende These dieser Arbeit, dass sich erst mit den Begriffen und Erkenntnissen heutiger Geschlechterforschung rekonstruieren lässt, wie genau die Kritische Theorie sich mit Geschlechterverhältnissen auseinandergesetzt hat. Es bedarf einer entsprechend informierten Perspektive, um (a) über einschlägige Überlegungen und Einsichten nicht hinweg zu lesen sowie (b) deren Produktivität und Grenzen näher zu bestimmen.

Ausgegangen wird in der vorliegenden Arbeit damit erstens von einer grundlegenden Einsicht neuerer Geschlechterforschung: Der Erkenntnis, dass Zweigeschlechtlichkeit ein zentrales Strukturelement moderner Gesellschaften darstellt. Wenn die bisher vorliegenden Darstellungen der Kritischen Theorie – wie in Kapitel 2 anhand von Einführungsliteratur und Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie gezeigt wird – darauf hinauslaufen, die Geschlechterthematik sei nicht bzw. kaum Gegenstand Kritischer Theorie gewesen, kann dies aus Perspektive heutiger Geschlechterforschung nicht einfach als Aussage über die Behandlung entsprechender Fragen durch die Kritische Theorie genommen werden. Vielmehr ist ein Zusammenhang zwischen jenem Befund zu vermuten und dem, was im Zentrum der Aufmerksamkeit der jeweiligen Rezipient*innen steht und was nicht in den Blick kommt bzw. stillschweigend vorausgesetzt wird. Denn dass eine Theorie der modernen Gesellschaft nicht umhin kommt, sich mit der (historisch-gesellschaftlich zu verstehenden) ›Tatsache‹ der Zweigeschlechtlichkeit auseinanderzusetzen, liegt aus Perspektive der Geschlechterforschung auf der Hand. Im Folgenden wird daher näher zu fragen sein, wie, auf welche Weise und in welcher Form dies in der Kritischen Theorie geschah – implizit oder explizit, unwillkürlich oder reflektiert, affirmativ oder kritisch.

Die Kritische Theorie vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterforschung zu rekonstruieren, bedeutet zweitens einen Unterschied zu bisherigen feministischen Lesarten. Wie in Kapitel 2 noch ausführlich dargestellt wird, wurde die Kritische Theorie weniger aus der Perspektive der Geschlechterforschung betrachtet, die erst um 1990 deutlichere Konturen annimmt, denn aus einer frauenforschenden Perspektive.5 Damit lag der Schwerpunkt der Betrachtung weniger auf der wechselseitigen Konstituierung von Männlichkeit und Weiblichkeit oder gar der Konstitution von Geschlecht(lichkeit) überhaupt, sondern auf der Frage nach der Darstellung von Frauen und deren Erfahrungen. Demgegenüber fragt die vorliegende Arbeit danach, wie die Kritische Theorie die Kategorie Geschlecht und Geschlechterdifferenz verstanden hat, da sich erst auf dieser Basis klären lässt, wie die Darstellungen von Frauen bzw. Weiblichkeit zu verstehen sind.

Sich der Kritischen Theorie aus der Perspektive heutiger Geschlechterforschung zuzuwenden, heißt drittens, den Fokus nicht isoliert auf Geschlechterverhältnisse zu legen, sondern diese in ihrer Verflechtung mit anderen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen zu betrachten – eine Einsicht, die sich im Zuge der ab Anfang der 2000er-Jahre auch in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung intensiv geführten Debatten um ›Intersektionalität‹ zunehmend durchgesetzt hat und heute als zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses von Geschlechterforschung gelten kann.6 Greift eine isolierte Betrachtung von Geschlechterverhältnissen somit zu kurz, ist im ›intersektionalen‹ Selbstverständnis insbesondere für sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung die Herausforderung angelegt, sich zu einer kritischen Gesellschaftstheorie weiterzuentwickeln, deren Gegenstand komplexe, ineinander verflochtene Mechanismen von Herrschaft, Macht und Ungleichheit sind.7 Es geht um die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, die etwa Klasse und Geschlecht nicht nur als ›Kategorien‹ versteht, die in ihrer Interdependenz Identitäten und Gruppen konstituieren, nicht nur als Bestandteile eines interaktiven ›doing difference‹ (West & Fenstermaker 1995), sondern entsprechenden Verflechtungen zugleich auf der Ebene gesellschaftlicher Verhältnisse, in diesem Fall: von Produktionsweise und Geschlechterordnung, nachgeht. Wie diese anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen ist, kann bislang als eine weitgehend offene Frage gelten. In der vorliegenden Arbeit soll daher besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, welche Perspektiven auf die konstitutive Verflechtung verschiedener Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse sowie die damit einhergehenden Subjektivierungsweisen die ältere Kritische Theorie entwickelt hat.

Viertens wird in aktueller Geschlechterforschung seit einigen Jahren rege diskutiert, wie die Entwicklungen gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse einzuschätzen sind. Jüngste Anlässe hierfür bieten das Erstarken des Rechtspopulismus und ein breiterer öffentlicher Diskurs, in dem die positive Bezugnahme auf einzelne Aspekte feministischer und sexueller Emanzipationsbewegungen nicht selten einhergeht mit Prozessen der ›Veranderung‹ und der Artikulation rassistischer Forderungen.8 Grundlegende Einigkeit besteht dahingehend, dass Fragen, Positionen und Forderungen, die von feministischen Bewegungen ab Ende der 1960er-Jahre artikuliert wurden, Eingang in das Selbstverständnis breiterer Bevölkerungskreise, in Organisationsentwicklung, politische Entscheidungsprozesse und öffentliche Diskussionen gefunden haben. Umstritten ist hingegen, was die zu beobachtende Integration feministischer Positionen in den gesellschaftlichen und politischen Mainstream bedeutet und wie weitgehend sich die Geschlechterverhältnisse in diesem Zuge verändert haben.9 Zugespitzt formuliert: Haben wir es vor allem mit einem Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht, einer ›Vereinnahmung‹ feministischer Kritik oder einer ›Illusion der Emanzipation‹ zu tun? Vor diesem Hintergrund soll danach gefragt werden, wie die Kritische Theorie die Geschlechterverhältnisse ihrer Gegenwart beschreibt, welche Veränderungen sie beobachtet und wie sie diese deutet. Insbesondere wird der Blick darauf gerichtet, welches Verständnis von Emanzipation sich in den Arbeiten der Kritischen Theorie findet.

Letzteres legte nahe, aus dem umfangreichen Werk der Frankfurter Schule für die Rekonstruktion solche Arbeiten auszuwählen, die es erlauben, die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen durch die Kritische Theorie zu verfolgen. Dies führte dazu, Schriften zu Familie (Kapitel 4) bzw. zu Sexualität und Sexualmoral (Kapitel 5) besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da beide Themenkomplexe von der Kritischen Theorie über den Verlauf mehrerer Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen werden. Eine solche thematische Fokussierung stand zu Beginn der Studie keineswegs fest, sondern ist selbst bereits Resultat des Forschungsprozesses. Für die Schwerpunktsetzung auf Familie sprachen zudem zwei weitere Gründe: Zum einen sind einzelne Aufsätze zur Familie von feministischer Seite sehr intensiv rezipiert worden. Die einschlägigen Arbeiten der Kritischen Theorie zu rekonstruieren – und das deutlich umfassender, als bisher geschehen –, erlaubt damit, Unterschiede zwischen einer frauen- bzw. geschlechterforschenden Lektüre hervortreten zu lassen. Zum anderen steht Familie seit vielen Jahrzehnten im Zentrum einer eigenen Bindestrich-Soziologie, während ihr in kritischer Gesellschaftstheorie bis heute vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zukommt. Angesichts dieser Diskrepanz schien es fruchtbar, die Arbeiten der Kritischen Theorie genauer in den Blick zu nehmen, betrachtete diese Familie doch bereits in den 1930er-Jahren als einen geeigneten ›Zugang‹ zu einer kritischen Gesellschaftstheorie.10 Eine etwas anders gelagerte Diskrepanz sprach für den Fokus auf Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Sexualität und Sexualmoral. Hier war es die Beobachtung, dass Sexualität zwar in zeitgenössischer Geschlechterforschung eine zentrale Rolle spielt, anders als Familie aber bis dato vergleichsweise selten als Gegenstand der Soziologie behandelt wird. Für die Kritische Theorie hingegen stellten Sexualität und Sexualmoral nichts weniger als einen ›Schlüssel‹ zum Verständnis von Gesellschaft dar.11 Die Auseinandersetzung mit den einschlägigen Arbeiten der Kritischen Theorie vermag insofern dazu beizutragen, diese Themen selbstverständlicher als bislang üblich als genuine Gegenstände der Soziologie zu erkennen.

Insgesamt bewegt sich die vorliegende Studie im Spannungsfeld von disziplinären, in diesem Fall: soziologischen, Fragestellungen und interdisziplinären Zugangsweisen, wie sie sowohl für die Kritische Theorie als auch für Frauen- und Geschlechterforschung charakteristisch sind. In terminologischer Hinsicht kennzeichnend ist eine ständige ›Übersetzungsarbeit‹ zwischen dem begrifflich-analytischen Instrumentarium der älteren Kritischen Theorie und dem einer jüngeren Frauen- und Geschlechterforschung. Auf diese Weise verfolgt die Arbeit nicht zuletzt das Anliegen, an der Kritischen Theorie interessierte und mit dieser vertraute Leser*innen an Fragestellungen und Perspektiven der Geschlechterforschung heranzuführen sowie umgekehrt Leser*innen aus dem Feld der Geschlechterforschung, die bisher wenig mit der Kritischen Theorie in Berührung kamen, einen Zugang zu dieser zu eröffnen.

Aufbau des Buches

Das auf die Einleitung folgende Kapitel 2 beginnt mit einer ausführlichen Betrachtung der Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie. Besonderes Augenmerk gilt dabei der feministischen Rezeption. Insgesamt wird deutlich werden, dass eine Studie dazu, wie die Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie verhandelt wurde, bis dato aussteht. Diese Forschungslücke schließt die vorliegende Arbeit. Deren methodische Vorgehensweise, die in enger Auseinandersetzung mit der bisherigen Rezeption entwickelt wurde, sowie das ihr zugrunde liegende Material werden zu Abschluss des zweiten Kapitels näher beschrieben.

Die Kapitel 3 bis 5 bilden den Hauptteil des Buches. In ihnen werden die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik vor dem Hintergrund heutiger Geschlechterforschung detailliert rekonstruiert und diskutiert. Als erstes Kapitel des Hauptteils kommt Kapitel 3 zugleich die Funktion zu, grundlegend in das Denken der Kritischen Theorie einzuführen. Inhaltlich geht es dabei zum einen um die Frage, wie die Kritische Theorie Geschlecht und Geschlechterdifferenz verstanden hat. Herausgearbeitet wird deren dezidiert historisch-materialistischer Zugang – aber auch dessen Grenzen. Zum anderen wird gezeigt, dass die Kritische Theorie die patriarchale Geschlechterordnung als ein konstitutives Moment der bürgerlichen Gesellschaft verstanden hat. Die Frage der Emanzipation wird in Kapitel 3 mit besonderem Fokus auf die ›Emanzipation der Frau‹ aufgenommen, um in den beiden folgenden Kapiteln weiter vertieft zu werden. Kapitel 4 befasst sich mit den Arbeiten der Kritischen Theorie zu Familie. Hier wird erstens dargestellt, wie ausführlich man sich am Institut für Sozialforschung gerade in den 1930er-Jahren mit patriarchalen Geschlechter- und Generationenverhältnissen in der Familie und Gesellschaft beschäftigt hat. Zweitens wird dem Problemzusammenhang, den die Kritische Theorie zwischen (patriarchalen) Familien- und Geschlechterverhältnissen auf der einen, autoritären Tendenzen auf der anderen Seite sieht, genauer nachgegangen. Gegenstand von Kapitel 5 sind schließlich die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Sexualität und Sexualmoral. Herausgearbeitet wird, dass diese der bürgerlichen Gesellschaft ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zu Sexualität, Sinnlichkeit, Lust, Glück und Genuss bescheinigt. Zugleich diagnostiziert die Kritische Theorie eine zunehmende Liberalisierung der Sexualmoral im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die jedoch von Emanzipation in einem emphatischen Sinne unterschieden wird. Insgesamt wird im Hauptteil deutlich werden, dass die Analyse von Geschlecht, Familie, Sexualität und Sexualmoral von der Kritischen Theorie als eine genuine Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie verstanden wurde. Aus Sicht heutiger Geschlechterforschung werden jedoch auch Grenzen im spezifischen Zugriff der Kritischen Theorie erkennbar. Eine Grenze, die sich dabei durchgängig zeigen wird, ist die einer eher episodischen statt systematischen Berücksichtigung von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Geschlechterverhältnissen.

Die einzelnen Kapitel des Hauptteils folgen einem ähnlichen Aufbau. Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen Überblick über zentrale Gedanken und Thesen, die im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen stehen, sowie einer knappen Beschreibung des Materials, anhand dessen diese rekonstruiert werden. Dem folgt eine kurze Skizze der ›diskursiven Traditionsstränge‹ (Opitz 2006), vor deren Hintergrund die Texte der Kritischen Theorie zu verstehen sind. Daran schließt sich die detaillierte Rekonstruktion an. Diese verfolgt in loser Chronologie, stets beginnend mit Arbeiten aus den 1930er-Jahren und von dort fortschreitend zu Schriften aus späteren Jahrzehnten, die Entwicklung bestimmter thematischer Motive bei verschiedenen Autor(-inn)en aus dem Kreis der Kritischen Theorie. Deren Überlegungen werden weder systematisch verglichen noch synthetisiert, sondern nebeneinander gelesen. Auf diese Weise entsteht ein spannungsvoller Dialog, der erst als Gesamtes ein Bild davon ergibt, wie die Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie verhandelt wurde. Am Ende eines jeden Kapitels werden wesentliche Überlegungen noch einmal zusammengefasst, Querverweise zu anderen Kapiteln hergestellt sowie Einsichten und Grenzen aus der Perspektive heutiger Geschlechterforschung festgehalten.

Im abschließenden Kapitel 6 werden zentrale Ergebnisse der Arbeit knapp rekapituliert. Besonderes Augenmerk wird dabei zum einen der Frage gelten, welche anderen Akzentuierungen und Neu-Bewertungen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zur Kritischen Theorie angebracht scheinen. Zum anderen wird skizziert, wie der Dialog zwischen feministischer und Kritischer Theorie über die vorliegende Studie hinaus fortzusetzen wäre.

Hinweise für Leser*innen

Im Zuge der Zweiten Frauenbewegung und der sich mit ihr entwickelnden Frauen- und Geschlechterforschung wurde die Verwendung des generischen Maskulinums nachdrücklich problematisiert.12 Seitdem hat sich ein zunehmendes gesellschaftliches Bewusstsein für die Notwendigkeit entwickelt, nicht nur das männliche Geschlecht sprachlich sichtbar zu machen. Neben den bereits seit Längerem existierenden Varianten, Frauen durch die Verwendung von Schrägstrich oder großem Binnen-I ausdrücklich zu benennen, stellen der sogenannte Gender-Gap oder das Gender-Sternchen neuere Vorschläge einer geschlechtergerechten bzw. geschlechterinklusiven Sprache dar. Letztere sollen auch Menschen einschließen, die sich als transsexuell, transgender oder intersexuell verstehen bzw. Selbstbezeichnungen wie ›agender‹, ›queer‹ oder ›genderfluid‹ bevorzugen. Die ausdrückliche Artikulation einer solchen über die Binarität der Zweigeschlechtlichkeit hinausgehenden Vielfalt an Geschlechtsidentitäten ist damit ein jüngeres Phänomen; Identität selbst ein Konzept, das mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft wenn nicht entsteht, so doch entscheidend an Bedeutung gewinnt. Insofern wäre es ahistorisch zu behaupten, die sich in letzter Zeit artikulierenden ›geschlechtlichen Existenzweisen‹ (Andrea Maihofer) hätte es als Identitäten schon immer gegeben. Zudem ist eine künftige Gesellschaft vorstellbar, in der Identität keine oder eine weniger zentrale Rolle spielen würde und/oder nicht mehr derart eng an Geschlecht gekoppelt wäre, wie dies heute der Fall ist. Da es sich bei Sprache um eine gesellschaftliche Praxis handelt, derer wir uns tagtäglich – in Alltagssituationen ebenso wie in wissenschaftlichen Kontexten, im Denken für uns allein ebenso wie in der mündlichen und schriftlichen Kommunikation mit Anderen – bedienen, kommt der Verwendung einer geschlechterinklusiven Sprache eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der emanzipatorischen Veränderung patriarchaler, binärer, heteronormativer Geschlechterverhältnisse zu, ohne dass sich allein darüber diese Verhältnisse nachhaltig verändern ließen.

Aus diesem Grund wurde sich in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich für die Verwendung des Gendersternchens entschieden. Da es sich bei der Kritischen Theorie um einen Kreis überwiegend männlich sozialisierter Denker handelte, schien die Verwendung des Gendersternchens hier allerdings nicht angemessen.13 Von ›den zentralen Protagonisten‹ der Kritischen Theorie wird – den faktischen Geschlechterverhältnissen in der Frankfurter Schule entsprechend – ausschließlich in der männlichen Form die Rede sein. Um die damaligen Geschlechterverhältnisse sichtbar zu machen, ohne darüber die Beiträge von Frauen zur Kritischen Theorie gänzlich zum Verschwinden zu bringen, wird in anderen Fällen von ›kritischen Theoretiker(-innen)‹ bzw. ›Mitarbeiter(-innen) des Instituts für Sozialforschung‹ gesprochen. Analog wird beispielsweise mit der ›Arbeiter(-innen)bewegung‹ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfahren, um auch hier männliche Dominanz und damalige Selbstverständlichkeiten sichtbar zu machen, ohne die aktive Beteiligung von Frauen sprachlich komplett auszublenden. Sofern es sich nicht um Zitate handelt, die stets unverändert übernommen wurden, wird in allen anderen Fällen das Gendersternchen verwendet.

Eine Entscheidung zu treffen war auch dahingehend, wie mit Texten der Kritischen Theorie umgegangen werden sollte, die ursprünglich in englischer Sprache veröffentlicht und erst später ins Deutsche übersetzt worden waren. Dies betraf vor allem Arbeiten Herbert Marcuses. Da auch die sorgfältigste Übersetzung stets eine gewisse Modifikation bedeutet, wurden die Primärtexte stets in der Sprache herangezogen, in der sie erstmals erschienen waren. Um einer deutschsprachigen Leser*innenschaft die Orientierung zu erleichtern, beziehen sich die Seitenangaben im Fließtext aber auf die jeweilige deutschsprachige Ausgabe. Wo Interpretationen sich dem Rückgriff auf die englischen Originale verdanken oder dieser eine Modifikation von Zitaten der deutschen Ausgabe geboten erscheinen ließ, wird dies in Fußnoten erläutert bzw., sofern es sich um geringfügige Änderungen handelt, durch eckige Klammern gekennzeichnet. Beibehalten wurde der englische Originaltitel der zwei wohl bekanntesten Bücher Marcuses: Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud (1955) und die neun Jahre später erschienene Studie One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society (1964). Was Eros and Civilization betrifft, war dafür ausschlaggebend, dass die deutsche Erstausgabe von 1957 den Titel zwar noch als Eros und Kultur übersetzte, dieser seit der Neuauflage von 1965 jedoch Triebstruktur und Gesellschaft lautet. Zum Verschwinden gebracht wurde damit der Begriff des Eros, der für die vorliegende Arbeit jedoch keine zu vernachlässigende Nebensache darstellt. Für das Festhalten am englischen Titel One-Dimensional Man sprachen hingegen andere Gründe. Hier ging es darum, den im englischen Original zum Ausdruck kommenden Androzentrismus – ›man‹ als Synonym für ›den Menschen‹, während ›woman‹ stets nur für sich steht und nicht ›das Allgemeine‹ repräsentieren kann – nicht unsichtbar zu machen.

Wo sich in den Texten der Kritischen Theorie Begriffe fanden, die eine eurozentrische Perspektive verraten, wurde ähnlich verfahren. Zitate wurden auch in diesem Fall unverändert übernommen. Gleichzeitig werden entsprechende Formulierungen und die darin sich ausdrückende Blickrichtung kritisch kommentiert. Auf diese Weise soll präsent gehalten werden, dass die Entwicklung einer geschlechterinklusiven und nicht-diskriminierenden Sprache einer zeitlich später einsetzenden kritischen Reflexionsbewegung entstammt.

Da es in der vorliegenden Studie darum geht, Entwicklungen des kritischen Nachdenkens über Geschlechterverhältnisse und Gesellschaft nachzuzeichnen, wurde sich dafür entschieden, bei Literaturbelegen stets das Jahr der Erstveröffentlichung anzugeben.14 So wird beispielsweise die Dialektik der Aufklärung, die zunächst 1944 in kleiner Auflage als hektographiertes Typoskript erschien und schließlich 1947, mit gewissen Modifikationen, als gedrucktes Buch, im Weiteren als ›Adorno & Horkheimer 1944/1947‹ zitiert.15 Im Literaturverzeichnis wird das Jahr der Erstveröffentlichung in eckigen, das Jahr derjenigen Ausgabe, aus der zitiert wurde, in runden Klammern ausgewiesen.

2.Die Geschlechterthematik in der Rezeption der Kritischen Theorie

Die sogenannte Frankfurter Schule kann als eine der einflussreichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts gelten. Entsprechend umfangreich und weiterhin wachsend ist die zwischenzeitlich vorliegende Sekundärliteratur, die vollständig zu überblicken ein Ding der Unmöglichkeit ist. Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche Rolle die Geschlechterthematik in der bisherigen Rezeption der Kritischen Theorie spielt. Angesichts der Fülle an Literatur kann es dabei um nicht mehr – aber eben auch nicht weniger – gehen als darum, zentrale Rezeptionslinien herauszuarbeiten.

In einem ersten Schritt werden hierfür zum einen Arbeiten betrachtet, die in das Denken der Kritischen Theorie bzw. einzelner zentraler Vertreter einführen, zum anderen material- und umfangreiche Studien zu Geschichte und Entwicklung der Frankfurter Schule bzw. dem Werk bestimmter Protagonisten. Dabei wird sich zeigen, dass die Geschlechterthematik, wenn überhaupt, zumeist am Rande Erwähnung findet. Bei Leser*innen muss so der Eindruck entstehen, die Kritische Theorie habe sich mit entsprechenden Fragen nicht weiter befasst. Eine gewisse Ausnahme stellt lediglich die Darstellung der Arbeiten Herbert Marcuses dar, auf die daher gesondert eingegangen wird.

In einem zweiten Schritt wird sich Sekundärliteratur zugewandt, in der die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik größere Aufmerksamkeit erfahren. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Arbeiten von Autor*innen liegen, die sich selbst als feministisch bezeichnen und/oder einen Arbeitsschwerpunkt in der Frauen- und Geschlechterforschung haben.16 Da im Zuge der Recherchen für die vorliegende Studie allein rund 80 Aufsätze ausfindig gemacht werden konnten, die sich mit der Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie beschäftigen, können auch hier nur zentrale Rezeptionslinien herausgearbeitet werden. Um jene Texte interessierten Leser*innen für eigene Lektüren zugänglich zu machen, werden diese jedoch ausführlich in Fußnoten ausgewiesen. Die Betrachtung dieser zweiten Art von Arbeiten wird deutlich machen, dass die Geschlechterthematik – anders als die Lektüre der im ersten Schritt behandelten Einführungen und Studien vermuten lassen würde – für die Kritische Theorie durchaus Gegenstand war. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass ungeachtet der Vielzahl an Beiträgen eine detaillierte Studie zur Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie weiterhin als Forschungslücke gelten muss. Mit der vorliegenden Arbeit wird diese geschlossen. Deren Vorgehensweise, die in enger Auseinandersetzung mit dem bisherigen Forschungstand entwickelt wurde, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels genauer dargestellt.

Berücksichtigt werden im Folgenden Beiträge, die in deutscher und/oder englischer Sprache erschienen sind. Untersucht werden diese zum einen darauf, was man als Leser*in über die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik erfährt: Inwiefern findet diese in der Sekundärliteratur Erwähnung? Welche Texte und Autor*innen werden in diesem Zusammenhang betrachtet? Äußern sich die Rezipient*innen ausdrücklich zur Frage, welche Bedeutung die Kritische Theorie der Geschlechterthematik beimaß und wenn ja, wie schätzen sie deren Stellenwert ein? Nehmen die Rezipient*innen eine Bewertung von deren Behandlung durch die Kritische Theorie vor und zu welchen Schlüssen gelangen sie, wo dies der Fall ist? Zum anderen wird danach gefragt, inwiefern sich in der Sekundärliteratur über die direkten Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik hinaus Einschätzungen zu deren Potenzial für ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen finden: Gehen die Rezipient*innen darauf ein, welche erkenntnistheoretischen und methodologischen Möglichkeiten die Kritische Theorie hierfür bietet? Was wird gegebenenfalls als produktiv, was als unzureichend, hinderlich oder der Weiterentwicklung bedürftig betrachtet?

Zur Darstellung des grundlegenden Ansatzes der Kritischen Theorie

Da Einführungen in die Kritische Theorie bzw. das Denken einzelner zentraler Vertreter in vielen Fällen nicht nur der erste, sondern auch der letzte Kontakt von Leser*innen mit dieser Theorietradition sein dürften, gebührt ihnen besondere Aufmerksamkeit. Einführungen in die Kritische Theorie liegen in deutscher Sprache von Helmut Dubiel (1988), Christoph Türcke und Gerhard Bolte (1994) sowie von Michael Schwandt (2009) vor.17 In der Einführungs-Reihe des Junius-Verlags erschienen zudem kompakte Bände, die an das Denken zentraler Protagonisten der Kritischen Theorie heranführen: Gerhard Schweppenhäuser (1996) beschäftigt sich mit Theodor W. Adorno, Sven Kramer (2003) mit Walter Benjamin, Rolf Wiggershaus (1998) mit Max Horkheimer, Hauke Brunkhorst und Getrud Koch (1987) mit Herbert Marcuse. Besondere Bedeutung für die Rezeption der Kritischen Theorie kommt zudem den Studien von Martin Jay (1973), Rolf Wiggershaus (1986) und Alex Demirovic (1999) zu, die deren Geschichte und Entwicklung breit rekonstruieren und sich dabei auf umfangreiches Material stützen. Wer sich auch nur etwas näher mit der Kritischen Theorie befasst, wird früher oder später auf diese Arbeiten stoßen, die nicht zu Unrecht den Ruf von ›Standardwerken‹ beanspruchen können. Insofern werden auch diese im Folgenden näher zu betrachten sein. Ergänzend werden zudem ausgewählte Monografien herangezogen, die sich genauer mit einzelnen Vertretern der Kritischen Theorie beschäftigen – im Fall von Max Horkheimer die Arbeiten von Olaf Asbach (1997) und John Abromeit (2011), zu Herbert Marcuse die Studie von Douglas Kellner (1984), für Theodor W. Adorno die als intellektuelle Biografie zu bezeichnende Arbeit von Detlev Claussen (2003).

Allein Adornos Gesammelte Schriften umfassen 20 Bände, nachgelassene Arbeiten noch nicht eingerechnet. Einen Überblick über das Werk der Kritischen Theorie oder auch nur das eines ihrer zentralen Vertreter zu geben, stellt damit zweifelsohne eine Herausforderung dar, die nur selektiv gelöst werden kann – zumal dann, wenn ein solcher Überblick sich wie die Einführungsliteratur an Leser*innen wendet, die mit der Kritischen Theorie noch nicht vertraut sind und die Darstellung den Umfang eines Taschenbuches mit 100 bis 250 Seiten nicht überschreiten soll. Zu entscheiden ist, welche Fragestellungen und Analysen, welche Begriffe und Thesen als unverzichtbar und charakteristisch für die Kritische Theorie gelten müssen, was vielleicht interessant sein mag, aber doch vernachlässigbar erscheint. In den oben genannten Arbeiten fallen die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik größtenteils unter Letzteres.

Durchgehend hervorgehoben wird in der einschlägigen Rezeption, dass die Kritische Theorie Anfang der 1930er-Jahre reflexiv an die Marxsche Theorie anknüpft.18 Marxistische Erwartungen von der alsbald bevorstehenden Revolution haben sich offensichtlich nicht erfüllt. Die Entfesselung der Produktivkräfte hat nicht zur Sprengung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse geführt; die bürgerliche Gesellschaft hat nicht nolens volens einer kommunistischen Gesellschaft den Weg bereitet – zumindest nicht, wenn darunter mehr als der real existierende ›Sozialismus in einem Land‹ gemeint ist, stalinistischer Terror inklusive. Konfrontiert sieht sich die Kritische Theorie vielmehr mit dem Erstarken faschistischer Bewegungen in ganz Europa und dem Siegeszug des Nationalsozialismus in Deutschland – der die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung als Marxist*innen mit größtenteils jüdischem Hintergrund ins Exil zwingt. Als deren Verdienst betont die einschlägige Sekundärliteratur, erkannt zu haben, dass ein zu starren Formeln, Lehrsätzen und Bekenntnissen geronnener Marxismus, wie er in großen Teilen der damaligen Arbeiter(-innen)bewegung und ihren Parteien vorherrscht, diese Entwicklungen nicht zu verstehen vermag. Prägnant auf den Punkt gebracht wird das Verhältnis der Kritischen Theorie zu Marx bei Türcke und Bolte: »Abwendung von der Marxschen Zukunftsprognose – durch Anwendung der Marxschen Krisentheorie« (Türcke & Bolte 1994, 13).

Die Kritik der politischen Ökonomie ist aus Sicht der Mitglieder des Instituts für Sozialforschung damit unverzichtbar. Um die Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzer zu verstehen, ist die Marxsche Theorie jedoch weiter zu entwickeln zu einer kritischen Gesellschaftstheorie. Dazu gehört insbesondere, den im Marxismus bis dato vernachlässigten kulturellen und psychischen Dimensionen mittels interdisziplinärer empirischer Sozialforschung und Einbeziehung der Freudschen Psychoanalyse stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In diesem Sinne wird der grundlegende Ansatz der Kritischen Theorie in der einschlägigen Sekundärliteratur wie folgt charakterisiert: Als »Kritik des Ökonomismus« (Asbach 1997, 98), »rejection of economist or deterministic interpretations of Marx« (Abromeit 2011, 177), »eine gewisse Wendung zur Subjektivität: […] von der Ökonomiekritik zur Kulturkritik« (Türcke & Bolte 1994, 19) bzw. Überwindung eines schematischen Modells von ›ökonomischer Basis‹ und einem als bloß abgeleitet geltenden ›kulturellen Überbau‹ zugunsten der Frage nach Vermittlungen zwischen Ökonomie, Kultur und Psyche (vgl. Dubiel 1988, 20 u. 25–29).

Ähnlich werden die Arbeiten einzelner zentraler Protagonisten beschrieben. So sieht Asbach im maßgeblich von Horkheimer geprägten Programm der 1930er-Jahre ausdrücklich eine Erweiterung des Politischen über den im Marxismus zentral gesetzten Klassenkampf hinaus (vgl. Asbach 1997, 136f.). In eine ähnliche Richtung gehend betont Schwandt mit Blick auf Marcuses Reflexionen zu den Protestbewegungen der 1960er-Jahre dessen breites Verständnis notwendiger Veränderung: Anders als im klassischen Marxismus verlange Befreiung für Marcuse »nicht mehr nur die Eroberung der politischen Macht zur Erlangung der ökonomischen, sondern die Umwälzung aller gesellschaftlichen Bereiche« (Schwandt 2009, 156). Potenzielles Subjekt einer solchen Veränderung sei nicht länger »eine spezifische Klasse« aufgrund ihrer besonderen »Verankerung im Produktionsprozess«, sondern diejenigen, welche »die Sperre der Eindimensionalität«, die Marcuses späten Arbeiten zufolge in erster Linie »in der Einbindung in ein spezifisches Lebens- und Konsummodell besteht« (Schwandt 2009, 156), durchbrechen.19 Abromeit weist darauf hin, dass der Fokus gesellschaftskritischer Analysen schon in Horkheimers früher Aphorismensammlung Dämmerung (1934) auf »all aspects of individuals’ lives« (Abromeit 2011, 156) ausgedehnt wird – »from education […] to the quality of one’s marriage, to one’s health, to one’s erotic life« (Abromeit 2011, 175). All diese scheinbar ›nur‹ individuellen und belanglosen Aspekte des Lebens, so Abromeit, werden von Horkheimer als durch und durch gesellschaftlich vermittelt analysiert (vgl. Abromeit 2011, 175f.).

Festhalten lässt sich damit, dass Einführungsliteratur ebenso wie detaillierte Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie bzw. einzelnen zentralen Protagonisten einen aus feministischer Perspektive höchst interessanten Aspekt nachdrücklich als Charakteristikum Kritischer Theorie betonen: Die Erweiterung des marxistischen Blicks über die Ökonomie hinaus auf Kultur und Psyche, womit auch das, was in der bürgerlichen Gesellschaft als ›Privates‹ gilt, zum Gegenstand kritischer Gesellschaftstheorie wird. Welche Möglichkeiten sich damit für ein Verständnis dessen ergeben, was seit dem späten 19. Jahrhundert die ›Frauenfrage‹20 genannt wird, ist allerdings nicht Gegenstand der Diskussion. Angesichts dessen, dass ›Frauenfragen‹ – oder, wie wir heute sagen würden, Fragen der Geschlechterverhältnisse – im Marxismus zum Teil noch heute als ›Nebenwiderspruch‹ gelten, wäre aus feministischer Perspektive jedoch gerade interessant zu erfahren, inwiefern das reflexive Anknüpfen der Kritischen Theorie an Marx dafür genutzt wurde, über ein Denken in ›Haupt-‹ und ›Nebenwidersprüchen‹ hinauszugehen. Anders formuliert: Aus feministischer Perspektive lassen sich in den besagten Arbeiten zwar Hinweise auf das Potenzial der Kritischen Theorie für ein Verständnis von Geschlechterverhältnissen erkennen; ausdrücklich diskutiert wird dieses von den jeweiligen Autor*innen jedoch nicht.21 Wie aber steht es um die direkten Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik? Inwiefern bzw. wie werden diese behandelt?

Die Geschlechterthematik in der Einführungsliteratur und den Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie

Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Diskussion der knapp 1.000 Seiten umfassenden Studien über Autorität und Familie von 1936, schließlich stellen diese neben der periodisch erscheinenden Zeitschrift für Sozialforschung die zentrale Veröffentlichung des Instituts aus den 1930er-Jahren dar. An diesem ersten großen Forschungsprojekt des Instituts für Sozialforschung waren, abgesehen von Adorno, alle zentralen Protagonisten der Kritischen Theorie beteiligt sowie darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Mitarbeiter(-innen).

In der Einführung von Schwandt ebenso wie bei Türcke und Bolte werden die Studien über Autorität und Familie nur knapp erwähnt. Mit dem Verweis auf die Bedeutung, welche die Psychoanalyse frühkindlichen Erfahrungen zuspricht, gilt die Hinwendung der Kritischen Theorie zur Familie als ausreichend erklärt (vgl. Schwandt 2009, 74; Türcke & Bolte 1994, 24).22 Ging es Schwandt zufolge darum, »die Familie als die primäre Sozialisationsinstanz für die empirisch festgestellten Autoritätsverhältnisse genauer zu verstehen« (Schwandt 2009, 74), tritt Familie in der Charakterisierung des Forschungsvorhabens durch Türcke und Bolte noch weiter in den Hintergrund. »Die am Institut durchgeführten empirischen Untersuchungen«, heißt es dort, »konzentrierten sich auf den autoritätsgebundenen Charaktertypus, der die Formierung faschistischer Kollektive und autoritärer Staaten begünstigt« (Türcke & Bolte 1994, 24). Eine ähnliche Akzentuierung kommt bei Jay und Dubiel in der Benennung der Abschnitte zum Ausdruck, in denen die Studien über Autorität und Familie diskutiert werden. So lautet das entsprechende Unterkapitel in der Einführung von Dubiel »Der autoritäre Sozialcharakter«, das Kapitel in Jays einflussreicher Studie »The Institut’s First Studies on Authority«. Indem Familie aus dem Titel verschwindet und der Begriff der Autorität ins Zentrum tritt, wird zugleich die Verbindungslinie zur späteren Studie The Authoritarian Personality (1950) hervorgehoben.23 So entsteht der Eindruck, bei den Studien über Autorität und Familie habe es sich vor allem um erste Gehversuche des Instituts bei der Erforschung von Autorität gehandelt, auf welche die bekanntere spätere Studie zur autoritären Persönlichkeit mit ihrem raffinierteren Forschungsinstrumentarium aufbauen konnte.24

Der Aufbau der knapp 1.000 Seiten umfassenden Studien über Autorität und Familie – eine erste Abteilung mit theoretischen Aufsätzen von Horkheimer, Fromm und Marcuse, gefolgt von einer zweiten mit Berichten über die empirischen Forschungsarbeiten und einer dritten mit Einzelstudien – wird in der Einführungsliteratur allenfalls kurz vorgestellt. Näheres über die Inhalte der zweiten und dritten Abteilung erfährt man kaum und auch was die theoretischen Beiträge betrifft, fallen die Ausführungen knapp aus (vgl. Schwandt 2009, 74f.; Türcke & Bolte 1994, 24ff.).25 Schwandt verknüpft dies mit dem Hinweis, die Studien über Autorität und Familie seien »glücklicherweise als Reprint wieder zugänglich, sodass jeder durch eigene Lektüre sehr einfach nachvollziehen kann, welche Produktivität Horkheimers Konzept einer philosophiegeleiteten Empirie bzw. einer empirisch gestützten Philosophie entfalten konnte« (Schwandt 2009, 75).

Ans Herz gelegt wird den Leser*innen die Lektüre damit nicht, um etwas über die Untersuchung von Familie durch die Kritische Theorie zu erfahren, sondern um sich ein Bild von der Produktivität des Horkheimerschen Forschungsprogramms zu machen. Türcke und Bolte nennen immerhin einige Titel der dritten Abteilung, wodurch erkennbar wird, dass bei aller Konzentration auf den autoritären Charakter Familie offensichtlich eingehender betrachtet wurde – unter anderem in Zusammenhang mit ökonomischen und konjunkturellen Entwicklungen sowie rechtlichen und sozialpolitischen Regulierungen (vgl. Türcke & Bolte 1994, 25). Gewertet als »Daten- und Materialsammlung«, von der zwar eingeräumt wird, es handele sich um durchaus »reichhaltige Materialien« (Türcke & Bolte 1994, 25), erübrigt sich eine nähere Diskussion der zweiten und dritten Abteilung jedoch offensichtlich auch für Türcke und Bolte.

Was die theoretischen Aufsätze der ersten Abteilung betrifft, wird sich sowohl in der Einführungsliteratur wie in den umfangreicheren Studien vor allem auf Horkheimers einleitenden und Fromms sozialpsychologischen Beitrag konzentriert, während derjenige Marcuses allenfalls beiläufig Erwähnung findet. Eine Gewichtung der Bedeutung wird insofern nicht nur im Verhältnis erster zu zweiter bzw. dritter Abteilung, sondern auch innerhalb der theoretischen Abhandlungen vorgenommen. Hervorgehoben wird, dass die Kritische Theorie einen Form- und Funktionswandel der Familie im Übergang von der liberalen zur spätkapitalistischen Phase bürgerlicher Gesellschaft diagnostiziert. In diesem Zuge zerfalle die patriarchale Autorität des pater familias, die sich vor allem aus dessen Rolle als Ernährer speiste, bzw. erweise sich als zunehmend hohl (vgl. Abromeit 2011, 292f.; Jay 1973, 157f.; Dubiel 1988, 47f.; Wiggershaus 1986, 176f.). Da der »Niedergang der patriarchalischen väterlichen Autorität« jedoch mit einem zunehmend unvermittelten »Zugriff einer autoritär gewordenen Gesellschaft nach ihren nachwachsenden Mitgliedern« (Wiggershaus 1986, 176) einhergehe, sei deren Resultat aus Sicht der Kritischen Theorie eher problematisch denn befreiend. Der sado-masochistische bzw. autoritäre Sozialcharakter, den Fromm in seinem Beitrag so glänzend beschreibe, werde von den Institutsmitgliedern als Produkt dessen verstanden, was in der »sozialpsychologische(n) Diskussion der Nachkriegszeit« auf den »Begriff der ›vaterlosen Gesellschaft‹« (Dubiel 1988, 47) gebracht wurde.26

Den hier untersuchten Arbeiten ist damit zu entnehmen, dass der autoritäre Charakter von der Kritischen Theorie ausdrücklich mit der Veränderung von Geschlechterverhältnissen in Zusammenhang gebracht wird, genauer: mit dem Niedergang patriarchaler Autorität in der Familie – eine These, die aus feministischer Perspektive nähere Betrachtung verdient. Dies geschieht in den genannten Arbeiten jedoch nur ansatzweise. Dubiel ist in diesem Zusammenhang der einzige, der in seiner Einführung auf die Kritik an der These einer ›vaterlosen Gesellschaft‹ hinweist, wie sie von Feministinnen wie Jessica Benjamin ab den 1970er-Jahren formuliert werden sollte (vgl. Dubiel 1988, 61f.).27 Bei Jay erfährt man, dass Horkheimer in seinem Beitrag Geschlechterverhältnisse insofern thematisiert, als er auf »die subtile Wandlung der Rolle der Frau im modernen Leben« eingehe, in deren Folge »sich die Emanzipation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft bei weitem nicht als die einstmals [von sozialistischer Seite] erhoffte Befreiung erweise« (Jay 1973, 158). Abromeit sieht von Horkheimer »the continuity of the domination of women in bourgeois society from the belief in ›witches‹ […] right up through the subordination and exploitation of women in the modern bourgeois family« (Abromeit 2011, 293) problematisiert. Der Auffassung, Horkheimer sei von jeher ein unkritischer Verteidiger der patriarchalen Familie gewesen, wie eine beiläufige Bemerkung von Wiggershaus es nahelegt (vgl. Wiggershaus 1986, 177), widerspricht Abromeit vor diesem Hintergrund. Er sieht Horkheimer erst in Aufzeichnungen aus der Nachkriegszeit eine konservativere Position beziehen (vgl. Abromeit 2011, 293).

Abromeit weist damit darauf hin, dass sich auch nach den 1930er-Jahren in den Arbeiten der Kritischen Theorie, bzw. zumindest in denen Max Horkheimers, Reflexionen zur Familie finden lassen. Genannt werden von ihm in einer Fußnote die Titel von drei kurzen Texten, die in Band 6 bzw. 14 der Gesammelten Schriften erschienen sind. Näher eingegangen wird auf diese jedoch nicht. Lässt sich dies im Fall von Abromeit damit erklären, dass der Fokus seiner Studie, ebenso wie der von Asbach, auf Horkheimers Arbeiten vor der Dialektik der Aufklärung liegt, nimmt das Gros der hier betrachteten Einführungsliteratur und detaillierten Studien hingegen keine solche zeitliche Einschränkung vor. Dennoch erfährt man lediglich bei Demirovic und Claussen etwas mehr über die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Familie aus den Nachkriegsjahren. So findet sich bei Ersterem der Hinweis auf ein Treffen von Adorno, Horkheimer sowie den beiden Institutsmitarbeitern Walter Dirks und Ludwig von Friedeburg auf der einen Seite mit Helmut Schelsky, Gerhard Wurzbacher, Ludwig Neundörfer und René König auf der anderen, bei dem die beiden Fraktionen kontrovers über die Frage diskutierten, inwieweit die Familie als unverbrüchlicher Garant gesellschaftlicher Stabilität und Integration gelten kann (vgl. Demirovic 1999, 351f.). Claussen, dem es in seiner intellektuellen Biografie insgesamt darum geht, »Adornos Texte […] hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten zu lassen« (Claussen 2003, 11), bringt neben einer Fülle an anderen Texten bisweilen auch dessen Reflexionen zu Familie aus den Nachkriegsjahren zum Sprechen (vgl. Claussen 2003, 25, 51ff., 61f. u. 66).

Festhalten lässt sich damit, dass in der hier betrachteten Einführungsliteratur ebenso wie in den detaillierteren Studien die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Familie durchaus Erwähnung finden. Näher dargestellt und diskutiert werden diese jedoch kaum. Mehr oder weniger ausdrücklich findet sich in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, die Kritische Theorie habe Geschlechterverhältnisse als patriarchale analysiert. Gleichzeitig, so der Tenor, habe die Kritische Theorie die Entwicklung von Familien- und Geschlechterverhältnissen im 20. Jahrhundert jedoch als Ende des Patriarchats beschrieben. Deutlich wurde nicht zuletzt eine Diskrepanz zwischen dem Umfang der Studien über Autorität und Familie und deren relativ knapper Behandlung in der Sekundärliteratur, die sich zudem vorwiegend auf die Beiträge Fromms und Horkheimers konzentriert. Insgesamt muss so der Eindruck entstehen, die Kritische Theorie habe sich zwar mit Familie als einem Aspekt der Geschlechterthematik beschäftigt – allerdings eher am Rande. Ihre Leistungen, die besondere Hervorhebung verdienen, scheinen hingegen auf anderen Gebieten zu liegen.

Was im Vorangegangenen ausführlich für die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Familie gezeigt wurde, lässt sich verallgemeinern. Generell findet in der Einführungsliteratur und den hier betrachteten detaillierten Studien zur Kritischen Theorie die Geschlechterthematik, wenn überhaupt, zumeist beiläufig Erwähnung. So ist bei Wiggershaus von »eine[r] Sachverständigenenquete über Sexualmoral« (Wiggershaus 1986, 145) die Rede, die 1932 unternommen wurde. Vorgestellt wird diese als »ergänzende[r] Bestandteil des Arbeiter- und Angestellten-Projektes« (Wiggershaus 1986, 145). Ihr Anliegen, nämlich »Aufschluß über eventuelle Veränderungen der Sexualmoral« (Wiggershaus 1986, 146) zu geben, wird nur knapp erwähnt. Von Schweppenhäuser erfährt man, dass Adorno in den 1960er-Jahren »zu einem der wichtigsten kritischen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik« avancierte, der in Rundfunk wie Presse »als pointiert formulierender Aufklärer präsent« war und in diesem Zusammenhang »zum Beispiel vehement für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts eintrat« (Schweppenhäuser 1996, 14). Sexualmoral und Sexualstrafrecht waren offensichtlich Themen, mit denen sich die Kritische Theorie durchaus auseinandergesetzt hat. Was sie daran interessierte, zu welchen Thesen und Einschätzungen sie gelangte – darüber erfährt man als Leser*in jedoch kaum Näheres.

Ähnliches gilt für die Darstellungen der Dialektik der Aufklärung. In den Einführungen von Schweppenhäuser sowie von Türcke und Bolte finden sich keinerlei Hinweise, dass die Geschlechterthematik für Adornos und Horkheimers Analyse aufklärerischer Rationalität und moderner bürgerlicher Subjektivität eine Rolle gespielt haben könnte (vgl. Schweppenhäuser 1996, 37–47; Türcke & Bolte 1994, 59–68). Schwandt und Dubiel hingegen deuten einen solchen Zusammenhang zumindest an, wenn sie erwähnen, das autonome Subjekt, dessen Geschichte Adorno und Horkheimer am Beispiel des Odysseus rekonstruieren, müsse sich »Lust und Genuss versagen« (Schwandt 2009, 93) bzw. bedeute »Beherrschung der inneren Natur des Individuums, das heißt seiner Körperregungen, seiner Affekte, seiner Sexualität« (Dubiel 1988, 89). Wiggershaus weist darauf hin, dass Adorno und Horkheimer Beschränkung und Verpönung von Lust als konstitutiv verbunden mit einem auf Naturbeherrschung zielenden Denken verstehen (vgl. Wiggershaus 1986, 374). Jay sieht in Adornos und Horkheimers Analyse der Odyssee ein bereits in früheren Arbeiten angelegtes Motiv der Kritischen Theorie wiederkehren: die »Kritik des Asketizismus in all seinen Ausprägungen« (Jay 1973, 308). Indem Jay hier zumindest kurz auf Kontinuitäten verweist, deutet er an, dass der Kritik an einer Beschränkung, Beherrschung bzw. Verpönung von Lust, Genuss und Sexualität für das Denken der Kritischen Theorie größerer Stellenwert zukommt, als es die beiläufigen Erwähnungen anderer Autor*innen vermuten lassen würden. Zudem sieht Jay im Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung eine Kritik an der »grausamen Unterjochung der Frau« (Jay 1973, 310) formuliert. »[T]rotz aller äußeren Unterstützung der Emanzipationsbestrebungen« (Jay 1973, 310) von Frauen durch die Aufklärung, so Jay, würden Frauen Adorno und Horkheimer zufolge durch diese letztlich »völlig auf ihre biologische Funktion reduziert« und »jeder Subjektivität beraubt« (Jay 1973, 310). Damit erkennt Jay in der Dialektik der Aufklärung ein patriarchatskritisches Motiv, das in der übrigen hier untersuchten Literatur nicht ausdrücklich zur Sprache kommt.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass kritische Auseinandersetzungen mit der Geschlechterthematik in der Einführungsliteratur und den Studien zu Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie zumeist am Rande Erwähnung finden. So wird etwa das Motiv einer Kritik an Beschränkung, Beherrschung und Verpönung von Lust und Sexualität angesprochen, ohne dass darin ein zentrales Moment Kritischer Theorie gesehen würde.28 Insgesamt scheint die Analyse von Geschlechterverhältnissen, folgt man der bis dato untersuchten Sekundärliteratur, für die Kritische Theorie keine größere Rolle gespielt zu haben.

Die Geschlechterthematik in der Rezeption Herbert Marcuses

Ein etwas anderes Bild ergibt die Darstellung der Arbeiten Marcuses in der Sekundärliteratur. Zwar findet sich auch hier eine Rezeptionsweise, die von der Geschlechterthematik in dessen Werk weitgehend absieht; im Großen und Ganzen ist diese in der Sekundärliteratur zu Marcuse jedoch ausdrücklicher und ausführlicher Gegenstand.29 Betont wird dabei zum einen die Rolle, die Sexualität und die Kritik am Asketizismus im Denken Marcuses spielen. Zum anderen wird Marcuses Auseinandersetzung mit der Neuen Frauenbewegung in den 1970er-Jahren hervorgehoben.

So sieht Jay im Protest »gegen die asketischen Tendenzen des Idealismus« (Jay 1973, 135) ein zentrales Motiv Marcuses, das sich bereits in den Aufsätzen der 1930er-Jahre findet und später mit Eros and Civilization (1955) bekräftigt wird. Ähnlich heben Brunkhorst und Koch das schon früh vorhandene Motiv einer Befreiung vom »Zwang zur Askese« (Brunkhorst & Koch 1987, 48) hervor, das Marcuse in den 1950er-Jahren schließlich auf den utopischen Begriff einer ›nicht-repressiven Sublimierung‹ bringt. Wie die beiden ausführen, entwickelt Marcuse damit nichts weniger als »die Möglichkeit einer nicht-repressiven Aufhebung des antagonistischen Verhältnisses von Sinnlichkeit und Intellekt, Begehren und Erkennen, Natur und Vernunft« (Brunkhorst & Koch 1987, 76). In dieselbe Richtung gehen Kellner und Schwandt, wenn sie betonen, Marcuse stelle der »ascetic tradition« (Kellner 1984, 196), welche die westliche Philosophiegeschichte von Plato über Kant bis Freud dominiert und ihren Ausdruck in einer Charakterisierung von Lust, Sexualität und erotischen Energien als gefährlich und kulturfeindlich gefunden habe, die Vision einer Gesellschaft entgegen, in der die »materielle Reproduktion durchaus im Einklang mit den Triebbedürfnissen« der Individuen organisiert werden und »weit stärker dem Lustprinzip folgen« (Schwandt 2009) könnte als in der bisherigen Geschichte. Bei Marcuse, sind sich die Rezipient*innen einig, werden Arbeit und Sexualität in engem Zusammenhang gedacht: Dessen »Kritik an der Ausbeutung schloß generell die der sexuellen Repression mit ein, wodurch sie politische Bedeutung über die rein psychologische Dimension [die bei Freud im Fokus steht] hinaus gewann« (Jay 1973, 135f.). In Marcuses Utopie könnten »[v]erwandelte Arbeit und befreite Sexualität […] koexistieren« (Schwandt 2009, 113).30 Nicht zuletzt erfährt man bei Kellner, Marcuse habe sich bei aller Parteinahme für sexuelle Befreiung zugleich kritisch mit sexueller Liberalisierung im Rahmen der kapitalistischen Konsumgesellschaft auseinander gesetzt und diese auf den Begriff einer ›repressiven Entsublimierung‹ gebracht (vgl. Kellner 1984, 257f.).

Was Marcuses Auseinandersetzungen mit der Neuen Frauenbewegung betrifft, findet vor allem dessen Beitrag »Marxism and Feminism« (1974) Erwähnung, der auf einem Vortrag im selben Jahr am Center for Research on Women der Stanford University beruht.31 Sowohl Brunkhorst und Koch als auch Kellner betonen, dass die dort entwickelten Gedanken keine gänzlich neuen sind, sondern Begriffe und Überlegungen aufgreifen, die spätestens seit Eros and Civilization zentral für Marcuses Denken sind (vgl. Brunkhorst & Koch 1987, 100; Kellner 1984, 299). Die Kritik des herrschenden Leistungsprinzips und das Plädoyer für ein verändertes, ›nicht-repressives Realitätsprinzip‹ werde nun aber ausdrücklich mit dem Geschlechterverhältnis in Zusammenhang gebracht: Aggression, Konkurrenz und Unterdrückung als diejenigen Werte, die das Leistungsprinzip prägen, werden explizit als ›männlich‹ bestimmt; die Entwicklung eines ›nicht-repressiven Realitätsprinzips‹ bedeute eine Verschiebung hin zu Werten wie Rezeptivität, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit – Qualitäten, die Marcuse jetzt ausdrücklich als ›weiblich‹ bezeichnet (vgl. Brunkhorst & Koch 1987, 100f.; Kellner 1984, 340f.). Bei Kellner ebenso wie bei Brunkhorst und Koch erfährt man jedoch nicht nur, dass sich Marcuse in bereits vorgerücktem Alter ausdrücklich mit der Neuen Frauenbewegung beschäftigt und die Diskussion mit deren Vertreter*innen gesucht hat. Explizit angesprochen werden zudem Friktionen und Konflikte im Dialog zwischen Kritischer Theorie und Feminismus, der damals seinen Anfang nehmen sollte. So weisen Brunkhorst und Koch auf die »[k]onfliktuösen Debatten« hin, die sich in der Neuen Frauenbewegung rund um die Frage entzündeten, »ob die Zuschreibung ›weiblicher‹ Eigenschaften […] nicht wiederum die Frauen auf die historisch festgeschriebenen Muster der Weiblichkeit fixiere« (Brunkhorst & Koch 1987, 101), während es doch aus feministischer Perspektive darum gehen müsste, deren gesellschaftliche Entstehungsbedingungen zum Gegenstand der Analyse zu machen. Kellner würdigt zwar Marcuses Bemühen, »to bring feminism into his theory and to discuss the liberation of women« (Kellner 1984, 345). Zugleich weist er aber auf Grenzen der Marcuseschen Analysen hin, die in den feministischen Auseinandersetzungen mit dessen Positionen immer wieder betont wurden – so etwa das Fehlen einer näheren Betrachtung der spezifischen Unterdrückung von Frauen und einer Diskussion der Frage, welche Rolle die geschlechtliche Arbeitsteilung in der gegenwärtigen Gesellschaft spielt bzw. in einer künftigen spielen soll (vgl. Kellner 1984, 191f. u. 345).

Festhalten lässt sich damit, dass sich die Darstellung von Marcuses Arbeiten in der hier untersuchten Literatur von derjenigen anderer zentraler Vertreter bzw. der Kritischen Theorie als Ganzer unterscheidet. Auseinandersetzungen mit Sexualität und Sinnlichkeit, das Motiv einer Kritik am Asketizismus und die Frage der Frauenbefreiung werden im Zusammenhang mit Marcuse vergleichsweise ausführlich und ausdrücklich behandelt. Insgesamt wird so der Eindruck befördert, mit der Geschlechterthematik habe sich am ehesten noch der in den USA verbliebene und die Protestbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre unterstützende Marcuse auseinandergesetzt – im Unterschied zu seinen ehemaligen Institutskollegen Adorno und Horkheimer, deren Namen im deutschsprachigen Raum wohl am engsten mit dem der Kritischen Theorie verbunden sind. Marcuses Arbeiten sind es auch, die es erforderlich erscheinen lassen, im Rahmen von Einführungsliteratur wie detaillierten Studien zumindest kurz ausdrücklich auf das Verhältnis von Feminismus und Kritischer Theorie einzugehen bzw. darauf, inwiefern dessen Perspektive Geschlechterverhältnisse angemessen in den Blick zu nehmen vermag.

Überblick über die geschlechterthematische Rezeption der Kritischen Theorie

Wendet man sich statt Einführungsliteratur und Studien zur Geschichte und Entwicklung der Kritischen Theorie bzw. zum Werk zentraler Vertreter den unzähligen Sammelbänden zu, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte erschienen sind, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Neben Anthologien zu Marcuse enthalten auch solche, die anderen Protagonisten oder der Kritischen Theorie insgesamt gewidmet sind, regelmäßig mindestens einen Beitrag, der dezidiert Auseinandersetzungen mit der Geschlechterthematik in den Blick nimmt. So finden sich in den Sammelbänden Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse: Ein Materialienbuch zur Einführung in sein politisches Denken (1981), Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zu Herbert Marcuse (1990), Kritik und Utopie im Werk Herbert Marcuses (1992) und Marcuse. From the New Left to the Next Left (1994) entsprechende Aufsätze von Xenia Rajewsky (1981) und Susanne Kill (1990), von Jessica Benjamin und Barbara Brick (1992) sowie von Paul Breines, Gad Horowitz und Trudy Steuernagel (1994). In Die Gesellschaftstheorie Adornos. Themen und Grundbegriffe (1998), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Adorno (2004), Theodor W. Adorno – Philosoph des beschädigten Lebens (2004), Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos (2006) und Negativity and Revolution. Adorno and Political Activism (2009) gehen Doris Kolesch (1998), Regina Becker-Schmidt (2004a; 2004b), Mechthild Rumpf (2006) und Marcel Stoetzler (2009) den Auseinandersetzungen Adornos mit der Geschlechterthematik nach. Weitere Sammelbände enthalten Beiträge von Mechthild Rumpf (1993) und Barbara Umrath (2014), in denen die Geschlechterthematik bei Horkheimer verfolgt wird. Douglas Kellner geht dieser bei Erich Fromm nach, Karin Stögner (2014) bei Walter Benjamin. Die Geschlechterthematik in der Dialektik der Aufklärung nehmen u. a. die Sammelband-Beiträge von Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen (1987), Christine Kulke (1989) und Regina Becker-Schmidt (1991) in den Blick.

Wie bereits die bloße Aufzählung deutlich macht, finden sich offensichtlich nicht nur bei Marcuse, sondern auch bei anderen zentralen Vertretern der Kritischen Theorie einschlägige Auseinandersetzungen. Entsprechend lässt sich die weitgehende Aussparung der Geschlechterthematik in der Einführungsliteratur und den zuvor betrachteten Monografien nicht allein damit erklären, es gäbe hierzu kein oder kaum Material in den Primärtexten. Vielmehr schlägt sich darin auch ein spezifisches Erkenntnisinteresse der jeweiligen Rezipient*innen nieder, dem die Geschlechterthematik – wohl kaum bewusst intendiert und reflektiert – als sekundär erscheint. Zugleich zeigt die Existenz zahlreicher Sammelbände, die den Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik mindestens einen Aufsatz widmen, dass nicht wenige Autor*innen und Herausgeber*innen das Thema für durchaus bedeutsam halten.32

Beiträge zur Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie finden sich jedoch nicht nur in Form vereinzelter Aufsätze. Vielmehr existiert zudem eine – wenngleich überschaubare – Anzahl an Sammelbänden, in deren Zentrum die Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie und insbesondere die Frage nach feministischen Anschlussmöglichkeiten an diese steht. Zu nennen sind hier Rationalität und sinnliche Vernunft. Frauen in der patriarchalen Realität (1985) von Christine Kulke, der von Kulke gemeinsam mit Elvira Scheich herausgegebene Band Zwielicht der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung aus der Sicht von Frauen (1992), Adorno, Culture and Feminism (1999) von Maggie O’Neill sowie aus der Reihe »Re-Reading the Canon« die von Renée Heberle edierten Feminist Interpretations of Adorno (2006). Des weiteren hat die Zeitschrift differences. A Journal of Feminist Cultural Studies eine von Wendy Brown herausgegebene Sondernummer ganz dem Thema »Feminist Theory and the Frankfurt School« gewidmet.

Darüberhinaus findet sich eine Reihe an Monografien, in denen die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik mehr oder weniger stark im Zentrum stehen und/oder bestimmte Begriffe der Kritischen Theorie für eine Analyse von Geschlechterverhältnissen fruchtbar gemacht werden. Hierunter fallen etwa Marleen Stoessels Aura: Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin (1983), Patricia Jagentowicz Mills Woman, Nature, and Psyche (1987), Mechthild Rumpfs Spuren des Mütterlichen – Die widersprüchliche Bedeutung der Mutterrolle für die männliche Identitätsbildung in Kritischer Theorie und feministischer Wissenschaft (1989), Andrea Maihofers Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz (1995), Marsha Aileen Hewitts Critical Theory of Religion. A Feminist Analysis (1995), Andrew Hewitts Political Inversions: Homosexuality, Fascism, and the Modernist Imaginary (1996), Carmen Gransees Grenz-Bestimmungen. Zum Problem identitätslogischer Konstruktionen von ›Natur‹ und ›Geschlecht‹ (1999), Roswitha Scholz’ Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats (2000), Andrea Trumanns Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus (2002), Ljiljana Radonics Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus (2004) sowie Lisa Yun Lees Dialectics of the Body. Corporeality in the Philosophy of Theodor W. Adorno (2005). Dezidiert auf Marcuse rekurriert eine stattliche Anzahl weiterer Arbeiten, so Reimut Reiches Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung (1968), Paul Robinsons The Freudian Left: Wilhelm Reich, Geza Roheim, Herbert Marcuse (1969), Dennis Altmans Homosexual: Oppression and Liberation (1971), Haunani-Kay Tasks Eros and Power. The Promise of Feminist Theory (1986), Michael Bronskis The Pleasure Principle. Sex, Backlash and the Struggle for Gay Freedom (1998), Kevin Floyds The Reification of Desire. Toward a Queer Marxism (2009), Nina Powers One-Dimensional Woman (2009) sowie unlängst Drucilla Cornells und Stephen D. Seelys The Spirit of Revolution. Beyond the Dead Ends of Man (2016).33

So unterschiedlich wie diese Titel, so heterogen ist das, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Rezeption der Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie bezeichnet wird. Unterschiede finden sich erstens in den inhaltlich-thematischen Schwerpunktsetzungen: Geht es bei Mechthild Rumpf um Mütterlichkeit und die Mutterrolle, interessieren sich Dennis Altman, Andrew Hewitt und Michael Bronski hingegen für die Diskussion (männlicher) Homosexualität in der Kritischen Theorie. Ein zweiter Unterschied betrifft die Ausführlichkeit, mit der einschlägige Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie behandelt werden. Viele Beiträge greifen eher spezifische Konzepte und Gedanken auf, um diese für ein Verständnis von (zeitgenössischen) Geschlechterverhältnissen fruchtbar zu machen, wohingegen sich nur wenige Arbeiten finden, die relativ detailliert rekonstruieren, wie die Kritischen Theoretiker(-innen) über bestimmte Aspekte der Geschlechterthematik nachgedacht haben. Den einen Pol dieses Spektrums markiert Nina Powers Essay One-Dimensional Woman (2009), das den von Marcuse geprägten Begriff der Eindimensionalität heranzieht, um mit dessen Hilfe zeitgenössische Diskurse um und Entwicklungen des Feminismus kritisch zu analysieren. Am anderen Ende des Spektrums wäre Lisa Yun Lees Studie Dialectics of the Body. Corporeality in the Philosophy of Theodor W. Adorno (2005) anzusiedeln, die Adornos Verständnis des Körpers eingehend rekonstruiert und aus feministischer Perspektive diskutiert. Drittens schließlich wird auf unterschiedliche Texte und Vertreter(-innen) der Kritischen Theorie zurückgegriffen. So bildet die Dialektik der Aufklärung den zentralen Bezugspunkt der Sammelbände von Christine Kulke (1985) bzw. Kulke und Elvira Scheich (1992), während eine ganze Reihe weiterer, vor allem englischsprachiger Arbeiten auf unterschiedliche Aspekte des Marcuseschen Werks rekurriert.

Von einer einheitlichen geschlechterthematischen Rezeption kann insofern keine Rede sein. Die Gemeinsamkeit der in den folgenden Abschnitten diskutierten Texte besteht in erster Linie darin, der Geschlechterthematik in der Kritischen Theorie stärkeres Augenmerk zu schenken als die Einführungsliteratur und die bisher betrachteten Studien zu Geschichte und Entwicklung der Frankfurter Schule. Für die nähere Betrachtung dessen, was hier ›geschlechterthematische Rezeption‹ genannt wird, bietet es sich an, zwischen Arbeiten von Autor*innen zu unterscheiden, die ihren eigenen Zugriff explizit als feministisch bezeichnen und solchen, bei denen dies nicht zutrifft. Im folgenden Abschnitt wird sich zunächst Letzteren zugewandt. Dabei wird sich zeigen, dass der Fokus der nicht dezidiert feministischen geschlechterthematischen Rezeption auf den Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit (Homo-)Sexualität lag – ein Thema, das in der feministischen Rezeption hingegen eher am Rande Erwähnung fand. Die beiden anschließenden Abschnitte beschäftigen sich sodann mit der deutlich umfangreicheren feministischen Rezeption. Herausgearbeitet werden deren thematische, werk- und autor(-innen)bezogene Schwerpunktsetzungen und nicht zuletzt eine bedeutsame Perspektivverschiebung: die von einer eher frauenforschenden zu einer geschlechterforschenden Lesart Kritischer Theorie.

(Homo-)Sexualität in der Rezeption der Kritischen Theorie

Die Suche nach Sekundärliteratur zur Kritischen Theorie fördert eine Anzahl an Beiträgen zutage, in denen Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der Geschlechterthematik im Fokus stehen, ohne dass deren Verfasser*innen ihren Zugriff als feministisch bezeichnen würden.34 Zu nennen sind hier zum einen die Monografien von Reimut Reiche (1968), Paul Robinson (1969), Dennis Altman (1971), Andrew Hewitt (1996), Michael Bronski (1998) und Kevin Floyd (2009), zum anderen die Aufsätze von Randall Halle (1995), Kevin Floyd (2001), Heribert Schiedel und Ljiljana Radonic (2002), Marcel Stoetzler (2009) und Jeffrey Renaud (2013). Auffällig ist der allen diesen Arbeiten gemeinsame thematische Fokus: Sämtliche Autor*innen konzentrieren sich auf die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit Sexualität – häufig mit besonderem Augenmerk darauf, wie (männliche) Homosexualität in der Kritischen Theorie betrachtet wurde bzw. sich im Anschluss an diese verstehen lässt.

Rekurriert wird dafür vor allem auf Marcuse. Ein erster Fokus liegt auf dessen Problematisierung einer genitalen, fortpflanzungszentrierten Sexualität in Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud (1955), die Marcuse mit einer Rehabilitierung der sogenannten Perversionen und dem Plädoyer für eine umfassende ›Erotisierung‹ des Selbst- und Weltverhältnisses verknüpft (vgl. Robinson 1969; Altman 1971; Bronski 1998; Schiedel & Radonic 2002). In diesem Zusammenhang betont Kevin Floyd, der in seinem Aufsatz nicht nur an Überlegungen Marcuses anschließt, sondern auch auf dessen Rezeption zurückblickt, dass Eros and Civilization Wege eines Nachdenkens über (Homo-)Sexualität eröffnete, die für die Prä-Stonewall-Ära alles andere als selbstverständlich waren. Autoren wie Robinson und Altman, so Floyd, griffen dieses Potenzial im Zuge einer sich ab Ende der 1960er-Jahre formierenden Schwulenbefreiungsbewegung (gay liberation movement) auf, um ausdrücklicher noch als Marcuse selbst damit Unterdrückung und Befreiung von Homosexuellen zu theoretisieren (vgl. Floyd 2001, 106ff.).35 Auffällig ist hier der Unterschied zur feministischen Rezeption von Eros and Civilization, in der das Motiv einer Problematisierung genitaler, fortpflanzungsbezogener Sexualität bislang kaum aufgegriffen wurde.36 Stark rezipiert werden in der geschlechterthematischen Marcuse-Rezeption zweitens dessen Konzepte der ›repressiven Toleranz‹ und ›repressiven Entsublimierung‹, mit deren Hilfe die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Prozesse sexueller Liberalisierung auf ihre Grenzen wie ihre Funktionalität für Herrschaft hin analysiert werden (vgl. Reiche 1968; Altman 1971; Bronski 1998; Schiedel & Radonic 2002).

Nimmt die geschlechterthematische Rezeption, die sich auf die Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit (Homo-)Sexualität konzentriert, überwiegend Marcuse in den Blick, finden sich bisweilen auch Diskussionen anderer zentraler Vertreter. So knüpfen Schiedel und Radonic (2002) ebenso wie Stoetzler (2009) an Überlegungen Adornos an, insbesondere an dessen Aufsatz zu »Sexualtabus und Recht heute« (1963). Randall Halle wiederum geht in seinem Aufsatz »Between Marxism and Psychoanalysis: Antifascism and Antihomosexuality in the Frankfurt School« (1995) auf Erich Fromms Überlegungen zu einer psychoanalytischen Sozialpsychologie, das Kapitel »Elemente des Antisemitismus« aus der von Adorno und Horkheimer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung (1944/1947) sowie die von Adorno zusammen mit Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford verfasste Studie The Authoritarian Personality