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Eine verdammt gute Story, mehr will Rose Blakey gar nicht. Doch es scheint, als müsste die junge Journalistin auf ewig in Colmstocks Polizistenkneipe jobben. Da tauchen Porzellanpuppen in der Stadt auf, die kleine Doppelgängerinnen der Mädchen sein könnten, vor deren Häusern sie gefunden werden. Wer ist der mysteriöse Puppenmacher? Rose wittert ihre Chance. Aber je mehr Aufmerksamkeit man ihren Artikeln schenkt, desto größer der Druck für Rose, neue Geschichten zu liefern. Ihre Artikel schüren eine Atmosphäre der Angst, die Colmstock für Fremde gefährlich macht. Ist Rose bereit, für ihre Karriere über Leichen zu gehen? »Ein kluger und fesselnder Psychothriller mit einer originellen Protagonistin. Ich konnte ihn nicht aus der Hand legen!« Graeme Simsion, Autor von »Das Rosie-Projekt«
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Seitenzahl: 419
HarperCollins®
Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
2017 by Anna Snoekstra Originaltitel: »Little Secrets« Erschienen bei: HQ, an imprint of HarperCollins Publishers, UK
Published by arrangement with HarperCollins Publishers Ltd., London
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: Ryan Jorgensen / Arcangel E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959677691
www.harpercollins.de
Für meine Schwester
Als die ersten Rauchfahnen in die Nacht aufstiegen, war der Brandstifter bereits auf und davon. Die Straßen waren leer. Von dem Gerichtsgebäude ging ein matter, orangefarbener Schein aus, noch nicht hell genug, um mit dem Mond oder der neongrellen Bierwerbung an der Kneipe auf der anderen Straßenseite zu konkurrieren.
Der Rauch wurde schnell dichter. Dicke, wütende Schwaden waberten empor, aber die ab und zu vorbeifahrenden Autos beschleunigten.
Bald wurde der Rauch von rötlichen Flammen abgelöst, die aus dem Dach wuchsen. Der Feuerschein war jetzt so grell, dass die zusammengezogenen Pupillen nicht länger zwischen dem dunklen Rauch und dem schwarzen Himmel unterscheiden konnten. Die Leute kamen gerade rechtzeitig, um die Fensterscheiben explodieren zu sehen, eine nach der anderen platzte mit einem trockenen Knall. Das Feuer streckte die Arme aus den Fenstern und winkte der wachsenden Menge wie verrückt zu.
Die Sirenen begannen zu heulen, aber niemand hörte sie. Das Feuer übertönte alles, das leichte, tiefe Fauchen erinnerte an eine Katze. Zwei junge Frauen kamen aus der Kneipe, Nachzüglerinnen. Eine rannte auf das Feuer zu und fragte, ob jemand dort drinnen sei, ob jemand etwas gesehen habe. Die andere blieb wie angewurzelt mit den Händen vor dem Mund stehen.
Als die Feuerwehr ankam, war die Straße taghell erleuchtet. Die Menschen wichen zurück, die Vordersten waren schweißgebadet. Die Augen tränten. Vielleicht war es die Asche in der Luft, vielleicht aber auch die Nachricht, die sich inzwischen herumgesprochen hatte.
Ja, es war jemand im Gebäude.
Übung macht den Meister.
(Sprichwort)
Laura beeilte sich, um mit Scott und Sophie Schritt zu halten, der Rucksack schlug ihr gegen den Rücken.
„Wartet auf mich!“, rief sie, aber sie wurden nicht langsamer.
An der Stelle vor dem ausgebrannten Gerichtsgebäude hielt sie kurz inne. Um ein großes Bild von Ben lagen viele Blumen und Kuscheltiere. Die Blumen waren alle braun und vertrocknet, aber die kleine Plüschkatze würde perfekt in ihre Hand passen. Ben brauchte sie nicht. Er war tot. Aber genau in dem Moment, als sie sich die Katze gerade nehmen wollte, betrachtete sie das Foto. Ben blickte sie mit seinen braunen Augen anklagend an. Sie ließ das Kuscheltier liegen. Die Zwillinge hatten nicht auf sie gewartet, und sie musste rennen, so schnell sie konnte, um sie wieder einzuholen.
Die blonden Haare der beiden reflektierten die Sonne, so dass Laura blinzeln musste. Sie trugen gerade einen Fechtkampf mit Stöcken aus. Dabei galoppierten sie auf und ab, kreuzten ihre Degen und schrien immer wieder: „En garde!“ Laura trug die gleiche weiß-grüne Schuluniform wie die Zwillinge, nur dass ihre Bluse nicht länger weiß war. Nach Hunderten von Waschgängen hatte sie einen blassen Alabasterton. Zuvor hatte sie Sophie gehört und davor ihrer älteren Schwester Rose, so wie die kurze Hose.
Aber auch wenn all ihre Besitztümer aus zweiter Hand stammten, war Laura doch etwas Besonderes. Sie wusste, dass sie das niedlichste Kind in ihrer Vorschulklasse war. Ihr Pony war gerade geschnitten und betonte die großen Augen mit den dunklen Wimpern. Sie hatte eine Stupsnase, und ihr Mund sah aus wie eine kleine rosa Tulpe. Sie genoss es, wenn sie Aufmerksamkeit bekam und man ihr über den Kopf strich.
„Beeil dich, Laura!“, rief Scott.
„Meine Beine sind nicht so lang wie deine!“, schrie sie zurück, während sie sich beeilte und ihre kleinen schwarzen Schulschuhe auf dem Gehweg klapperten.
Dann sah sie sie.
Eine Biene.
Sie kam schlitternd zum Stehen. Die Biene hatte die Form einer Geleebohne mit gefährlich aussehenden gelben und schwarzen Streifen. Sie summte vor ihrer Nase und schwebte um einen intensiv riechenden violetten Blumenstrauch herum und versperrte ihr den Weg. Laura wollte unbedingt wissen, wie sie sich anfühlte. Matschig, da war sie sich ziemlich sicher. Am liebsten würde sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen, um zu gucken, ob sie platzte. Laura war noch nie von einer Biene gestochen worden, aber Casey war das einmal in der Schule passiert, und er hatte vor allen angefangen zu weinen. Es musste sehr wehtun.
Ganz langsam bewegte Laura sich um die Biene herum und balancierte nah am Bordstein entlang, bis sie gut zwei Meter Abstand gewonnen hatte.
Als sie sich umdrehte, war die Straße leer. Sophie und Scott waren irgendwo abgebogen und außer Sicht. Wenn sie sich anstrengte, würde sie sich wahrscheinlich an den Nachhauseweg erinnern, aber gerade konnte sie nicht denken. Die Vorstadtstraße schien immer größer und größer zu werden, und Laura hatte das Gefühl, dass sie schrumpfte und immer kleiner und kleiner wurde. Langsam und schwer stieg ein Schluchzer in ihrer Kehle auf. Am liebsten hätte sie nach ihrer Mama gerufen.
„En garde!“
Laut und deutlich hörte Laura es von links. So schnell sie konnte, rannte sie den Stimmen nach.
Sophie und Scott hatten sich umgezogen und führten den Fechtkampf hinten im Garten weiter. Laura hatten sie nicht gefragt. Sie spielten nicht gerne „Babyspiele“, auch wenn Laura ihnen versichert hatte, dass sie jetzt, nachdem sie auch in die Schule ging, offiziell kein Baby mehr war. Sie setzte sich auf die Küchenbank, lauschte dem Geschrei und Gelächter draußen und betrachtete die drei Teller mit Kräckern, die Rose ihnen als Nachmittagssnack hingestellt hatte.
Scott schrie so laut, dass Laura es durch die Scheibe hörte. „Du bist tot!“
Sie sah zu, wie Sophie einen gewaltsamen und dramatischen Tod starb. Es war ein blödes Spiel. Sie hätte ohnehin nicht mitspielen wollen. Während die beiden abgelenkt waren, streckte Laura die Hand aus und nahm sich von den Tellern der Zwillinge schnell je zwei Kräcker und stopfte sie sich in den Mund.
Sie kaute fröhlich vor sich hin, baumelte mit den Beinen und trat dabei gegen die Bank. Das Knallen war im ganzen Haus zu hören. Sie wusste, dass sie sich ungezogen benahm. Wäre ihre Mutter zu Hause, würde es Ärger geben. So aber machte sie weiter und versuchte ein paar kleine braune Schrammen zu hinterlassen, die sie später Sophie oder Scott in die Schuhe schieben würde. Wem von beiden, wusste sie noch nicht.
Die Tür von Roses Zimmer wurde geöffnet, und Laura hörte auf, gegen die Bank zu treten. Ihre ältere Schwester kam über den Flur. Manchmal hatte Rose Lust, Lauras Haar zu flechten oder sie zu schminken und ihr zu sagen, wie hübsch sie war. Wie eine kleine Puppe, sagte sie dann. Laura hoffte, dass heute so ein Tag war, aber die wütenden Schritte ließen ahnen, dass sie kein Glück hatte.
„Wie war’s in der Schule?“ Rose öffnete die Kühlschranktür und steckte den Kopf hinein, als ob sie die Kälte aufsaugen wollte.
„Gut. Nina hat gesagt, sie könnte auf den großen Baum klettern, aber sie hat es nicht geschafft und ist runtergefallen und hat gepupst.“
Rose drehte sich mit einer Dose Cola in der Hand um und sah Laura an. Ihre Mundwinkel zuckten, als ob sie gleich anfangen würde zu lachen.
„Echt?“
„Ja!“ Laura fing an zu kichern, und dann lachte auch Rose. Laura mochte es, wenn sie Rose zum Lachen brachte. Rose war das schönste Mädchen, das Laura kannte, auch wenn sie – die meiste Zeit – ein böses Gesicht machte. Wenn sie lachte, sah sie aus wie eine Prinzessin.
„Die Arme“, sagte Rose. Sie hörte auf zu lachen und drückte die Coladose gegen die Stirn.
Laura sagte nichts. Nina war gar nicht aus dem Baum gefallen. In Wirklichkeit hatte sie es bis ganz oben geschafft und dann den ganzen Nachmittag damit angegeben.
„Was war das denn eben für ein Krach?“
„Keine Ahnung. Kannst du meine Haare flechten, Posi?“
„Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst.“
„Tschuldigung“, sagte sie. Manchmal kam es bei Rose gut an, wenn sie so tat, als ob sie noch ein Kleinkind sei, aber heute würdigte sie sie keines Blickes. Stattdessen öffnete sie die Dose und trank einen Schluck. Laura betrachtete die Bilder auf Roses Arm. Sie reichten vom Ellenbogen bis zur Schulter und sahen wie aufgemalt aus, aber sie waren für immer da. Laura gefielen sie sehr. Rose sah auf die Uhr und fluchte.
„Ich bin spät dran. Verfickte Scheiße.“ Sie knallte die Dose auf die Bank, und kleine braune Tropfen spritzten heraus.
Laura schnappte nach Luft. Sie wusste nicht, was das bedeutete, aber sie wusste, dass man das nicht sagen durfte.
„Das sagt man nicht!“
Rose war das völlig egal. Sie ging zurück in ihr Zimmer, um sich fertig zu machen. Lauras Haare würden heute nicht geflochten werden.
Laura sprang von der Bank. „Ich laufe weg. Du kannst mich nicht aufhalten!“
Sie lief zur Haustür, öffnete sie und knallte sie wieder zu. Dann schlich sie sich auf Zehenspitzen zurück, so dass Rose denken sollte, dass sie das Haus verlassen hätte.
Laura beschloss, sich unter dem Bett zu verstecken. Sie krabbelte darunter und zog die Kiste mit den Winterklamotten vor sich. Wenn sie lange genug da blieb, würde jemand bemerken, dass sie verschwunden war. Dann würden sie sie suchen, aber nicht finden. Immerhin konnte man sich gut verstecken, wenn man klein war.
Nach einer Weile begann sie sich zu langweilen. Unter dem Bett roch es komisch, so wie die Sportsocken, die sie die ganze Woche im Sportunterricht trug. Sie kroch wieder hervor. Sie hatte genug von dem Spiel. Sie setzte sich im Schneidersitz mitten ins Zimmer und überlegte, ob sie mit der ausgestopften Schildkröte oder lieber mit dem Plüschhund spielen sollte. Dann sah sie einen Schatten am Fenster vorbeigehen. Jemand ging zur Haustür. Vielleicht kam ihre Mutter früher nach Hause!
Sie flitzte durch den Flur und öffnete die Tür, aber es war niemand da. Eine Welle der Enttäuschung erfasste sie. Dann sah sie es. Jemand hatte ihr ein Geschenk gebracht! Sie bückte sich, um es sich anzusehen, und überlegte, ob es ein Geschenk von Bens Geist sein konnte. Als Dank dafür, dass sie die kleine Katze nicht mitgenommen hatte.
Die Jeansshorts und das Top, die Rose zur Arbeit trug, lagen zusammengeknüllt in einer Ecke des Zimmers. Die Sachen mussten dringend in die Wäsche, aber sie hatte sich heute nicht darum gekümmert. Als sie in die knittrigen Klamotten schlüpfte, stieg ihr der Geruch nach Schweiß und Bier in die Nase, der im Stoff hing. Am Ende der Schicht würde sie fürchterlich stinken.
Rose schob ihr Handy in die hintere Hosentasche. Sie konnte es kaum aus der Hand legen. Den ganzen Tag hatte sie immer und immer wieder ihre E-Mails abgerufen. Geduld fiel ihr schwer.
Sie holte ihre Schuhe unter dem Bett hervor. Ganz neue – nachdem die Sohlen ihrer alten Schuhe komplett eingerissen gewesen waren. Ein paar Fäden hatten sie noch zusammengehalten, aber dann war sie an einem Bierfass hängen geblieben, und die Sohlen waren wie Münder aufgerissen, so dass ihre Füße in der Mitte wie Zungen herausgeguckt hatten. Die neuen Schuhe waren billige weiße Stoffdinger, die bereits jetzt schmutzig aussahen. Gestern hatte sie sich darin die Fersen wund gelaufen. Sie zuckte zusammen, als sie sie anzog. Der Stoff würde hoffentlich bald weich werden, oder die Füße würden Hornhaut bekommen.
Rose ging den Flur entlang und band sich mit schnellen, geübten Bewegungen die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Im ersten Moment bemerkte sie Laura gar nicht, die mit dem Rücken zu ihr auf dem Fußboden saß. Dass sie so ruhig war, passte nicht zu ihr. Eigentlich passierte das nur, wenn sie sich unter dem Bett versteckte.
Sie wusste, dass sie spät dran war, aber sie blieb trotzdem stehen. Wenn sie still war, sah Laura so winzig aus. Sie hatte die Beine im Schneidersitz überkreuzt und beugte sich mit ihren schmalen Schultern darüber. Als Rose näher kam, bemerkte sie, dass sie ganz leise mit einer seltsamen, hohen Stimme sprach.
„Nein, ich möchte bitte Schokolade. Danke. Mmh, mmh, mmh.“
„Was machst du da?“
Laura blickte auf. „Das geht dich nichts an!“
Rose ging neben ihr in die Hocke, um zu sehen, was sie in der Hand hielt. Es war eine altmodische Puppe mit Gesicht und Händen aus Porzellan und einem Körper aus Stoff. Kein Vergleich zu Lauras anderen Spielsachen. Sonderbarerweise sah die Puppe genau wie Laura aus, große braune Augen, brauner Bubikopf, die Haare am Kinn ganz gerade abgeschnitten.
„Warum hast du ihr die Haare geschnitten?“, fragte sie. „Du hast sie verhunzt.“
„Habe ich gar nicht.“
„Hast du wohl.“
„Habe ich nicht!“
„Hast du doch. Du hast ihr die Haare geschnitten, damit sie dir ähnlich sieht.“
„Habe ich überhaupt nicht! Das war die Person, die sie mir gegeben hat. Sie lag draußen vor der Haustür. Es ist ein Geschenk für mich.“
Rose berührte die weiche Haut unter Lauras Kinn, damit sie aufblickte.
„Schwindelst du? Ich schimpfe auch nicht.“
Laura hielt die Puppe vor sich und sprach wieder mit hoher, verstellter Stimme. „Posi ist nur eifersüchtig. Du gehörst nur mir!“
Rose bekam auf einmal ein komisches Gefühl, als ob etwas nicht stimmte. Sie überlegte, ob sie Laura die Puppe wegnehmen sollte, aber sie sah so glücklich mit ihrem kleinen Zwilling aus. Es war albern, beschloss sie, natürlich hatte niemand die Puppe extra für Laura hingelegt. Sie musste sie von einem Mädchen in der Schule ausgeliehen haben.
Rose ließ Laura weiterspielen und verließ das Haus. Sie zog die Fliegengittertür hinter sich zu und steckte einen Finger durch das kaputte Netz, um das Schloss einschnappen zu lassen. Das war völlig zwecklos. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter und sie die Tür vor Jahren aus Sicherheitsgründen eingebaut hatten. Heutzutage würde sich ein Eindringling nicht im Traum davon aufhalten lassen. Mit Mühe und Not hielt sie die Schmeißfliegen ab.
Die Tür war genau wie alles andere in ihrem Leben, in dieser Stadt. Nachdem die Fabrik geschlossen worden war, hatte Colmstock schnell den Lebenssinn verloren. Früher war es sympathisch gewesen. Die größte Stadt der Gegend direkt am Melton Highway galt einmal als netter Ort, wo man auf dem Weg in die Großstadt gut eine Nacht verbringen konnte. Klein genug für eine feste Gemeinschaft, aber groß genug, um nicht jeden zu kennen, den man auf der Straße traf.
Inzwischen war alles in Colmstock kaputt und hässlich. Die Leute waren nicht mehr so nett. Zu viele Einwohner hatten ihr gelegentliches Gläschen am Abend gegen Crystal Meth eingetauscht. Die Kriminalitätsrate war in die Höhe geschnellt, es gab keine Arbeit, aber die Einwohnerzahl blieb gleich. Es war, als ob die Leute eine große Loyalität zu dem Ort verspürten. Auf Rose traf das aber absolut nicht zu. Sie würde hier abhauen. Beim bloßen Gedanken daran musste sie lächeln. Bei der Vorstellung, dass sie nicht mehr hier wohnen, sondern ein völlig anderes Leben führen würde. Sie merkte, dass ihre Schritte sich verlangsamten, und zwang sich, mit dem Tagträumen aufzuhören. Bald schon würde ihr neues Leben beginnen, aber jetzt war sie zu spät für die Arbeit.
Rose lief in Richtung Union Street und wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht herum, um die Fliegen zu verscheuchen. Auch am helllichten Tag hatte sie kein gutes Gefühl dabei, alleine unterwegs zu sein. Es gab eine Abkürzung, aber das hieße, dass sie an den Schatzsuchern vorbeimüsste. Und das würde sie zu keiner Tages- oder Nachtzeit freiwillig tun, also musste sie den Umweg in Kauf nehmen. Sie zog das Handy aus der Hosentasche und rief erneut die E-Mails ab. Nichts. Ihre Hoffnung schwand. Sie hatten gesagt, dass sie sich heute bei ihr melden würden. Noch länger zu warten, hielt sie nicht aus. Noch nie hatte sie eine Sache so sehr gewollt.
Seit ihrer Kindheit hatte sie Journalistin werden wollen. Es hatte viele Rückschläge gegeben – der schlimmste war, als die Lokalzeitung, The Colmstock Echo, zugemacht hatte. Neulich hatte sie eine E-Mail bekommen, dass sie in der Auswahl für ein Volontariat bei der Sage Review sei, einer überregionalen Zeitung. Eine Woche später hieß es, dass sie in die engere Wahl käme. Aber auch da hatte sie sich noch nicht erlaubt, sich zu früh zu freuen. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein, so was passierte ihr nicht. Vor einer Woche hatte sie dann die Nachricht erhalten, dass sie es in die Endauswahl geschafft hatte. Übrig waren nur sie und ein anderer hoffnungsfroher Mensch, der wahrscheinlich auch den ganzen Tag seine E-Mails abrief.
Ihre Freundin Mia glaubte fest, dass es klappen würde. Rose hatte gelacht und im Scherz gefragt, ob sie das in ihrer Kristallkugel gesehen hätte, aber in Wirklichkeit glaubte sie ihr. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie das Volontariat bekommen würde, einfach, weil niemand es so sehr wollen konnte wie sie. Das war einfach nicht möglich.
Sie ging eilig am See vorbei, der von trockenem, kniehohem Gras umgeben war, in dem Schlangen und Mücken lebten. Es stank nach abgestandenem Wasser. Daneben stand ein kahles Gerüst, an dem früher zwei Schaukeln gehangen hatten, das von wild wucherndem, blühendem Unkraut überwachsen war. Vor ein paar Jahren hatte jemand die Schaukeln abgeschnitten, und es war nur das Gerüstgerippe stehen geblieben. Sie fragte sich, ob die Schaukeln im Garten hinter einem der nah gelegenen Häuser wieder aufgehängt worden waren oder ob ein paar Kinder sie einfach nur zum Spaß zerstört hatten.
Rose wandte sich ab und beschleunigte ihre Schritte, die Gummisohlen ihrer neuen Schuhe klatschten auf den klebrigen Asphalt. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie sie vor langer Zeit, als das Wasser noch blau gewesen war, mit ihrer Mutter am See gepicknickt hatte. Dieselbe Mutter, die schweigend neben ihrem neuen Mann Rob James gesessen hatte, als er Rose erklärte, dass es für sie an der Zeit sei, auszuziehen. Es war egal, weil das Volontariat in der Stadt war und die Unterkunft gestellt wurde, aber wehgetan hatte es trotzdem.
Sie überquerte die Straße in Richtung Union Street und vermied es dabei, auf die Riesenkröte zu treten, die platt auf der Straße klebte. Die Leute lenkten sogar auf die Gegenfahrbahn, nur um eine Kröte zu überfahren. Sie blieben dann auf der Straße, flach wie Pfannkuchen, voller Ameisen, bis sie in der glühenden Hitze steif und hart wie trockenes Leder wurden.
Die Hauptstraße von Colmstock erstreckte sich entlang von drei Häuserblöcken. Es gab nur eine Ampel und weiter hinten einen Fußgängerüberweg vor der gedrungenen Backsteinkirche. Nicht weit von ihr stand eine Kneipe. Durch eines der dreckigen Fenster, das im Laufe des Abends oft Blutflecke von den Schlägereien bekam, konnte sie auf den Bildschirmen Hunderennen sehen. Zwischen das indische Restaurant und den Antikladen, die beide vor Jahren zugemacht hatten, schmiegte sich ein chinesischer Schnellimbiss mit grellrotem, leuchtendem Schild.
Dahinter lagen die Grundschule und das Rathaus von Colmstock. Von dort, wo Rose stand und darauf wartete, dass die Ampel umsprang, damit sie die Straße überqueren konnte, konnte man das niedergebrannte Gerichtsgebäude sehen. Es stand zwischen der Bücherei, die dem Feuer entgangen war, und dem Lebensmittelgeschäft, das ebenfalls ausgebrannt war. Vor den Eingangsstufen erinnerte eine Stelle an das Kind, das in den Flammen gestorben war: Ben Riley. Bens Foto verblasste langsam, ausgeblichen von der starken Sonneneinstrahlung. Das Gebäude war mit Warnband abgesperrt. Eigentlich hätte es bereits verbarrikadiert sein sollen, aber dazu war es noch nicht gekommen.
Rose starrte die verkohlten Überreste an. Würden die Verfahren wie geplant stattfinden, jetzt, nachdem die Akten im Gerichtsgebäude zu Asche geworden und die Computer zu Klumpen aus Plastik und Draht geschmolzen waren? Bedeutete das, dass Verbrecher nicht länger Verbrecher waren? Würde das Recht auf Eis gelegt werden, bis das Gebäude wieder aufgebaut war? Sie konnte es sogar von hier riechen. Verbranntes Holz, Steine und Plastik, die in der Sonne brieten. Nach drei Wochen hatte sich der Geruch immer noch nicht verzogen. Vielleicht würde Colmstock jetzt immer so riechen.
In ihrer Hosentasche brummte es. Sie unterdrückte ein Zittern und zog das Handy heraus. Sie erwartete fast eine blödsinnige SMS von Mia oder eine Spam-E-Mail. Aber sie hatte sich getäuscht. Sie öffnete die E-Mail der Sage Review, ihre Mundwinkel zuckten schon, bereit für ein breites Grinsen, für einen Schrei der Begeisterung.
Sehr geehrte Frau Blakey,
vielen Dank für Ihre Bewerbung um das Volontariat der Sage Review. Leider …
Rose las nicht weiter. Sie brachte es nicht über sich.
Ihr Mund war noch nicht ganz hinterhergekommen. Mit einem seltsam hohlen Lächeln überquerte sie die Straße und ging aufs Eamon’s zu, eine Kneipe mit Motel.
So wie viele der Läden an der Union Street war das Haus, in dem sich die Kneipe befand, früher einmal eines der prächtigsten Häuser von Colmstock gewesen. Es war größer als die anderen und wirkte mit der breiten Eingangstreppe und der zweiflügligen Tür sehr imposant. Aber die Pracht, die das Haus vielleicht einmal verstrahlt hatte, war lange verblasst. Es hätte schon vor zwanzig Jahren einen neuen Anstrich gebraucht. Jetzt bröckelte die Fassade und strotzte vor Dreck. In den Fenstern hingen Neonreklamen für Bier: Foster’s. Victoria Bitter. XXXX Gold.
Drinnen lief Bruce Springsteen in Endlosschleife. Es roch moschusartig nach abgestandener Luft und Bier. Das Licht war stets gedämpft, wahrscheinlich ein Versuch, den Verfall zu verbergen. Aber auch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles ein bisschen klebte. Wie an so einem Ort zu erwarten, gab es hinten ein paar Motelzimmer, in denen aber nie jemand übernachtete, wenn er nicht sternhagelvoll war. Händler und Polizisten, die schwerfällig auf dunklen Holzstühlen saßen und ihre Gehaltsschecks vertranken, füllten den Raum zur Hälfte. Die Kneipe war bei der Polizei beliebt. Das Polizeirevier um die Ecke war zwar für ganz Colmstock und die kleineren Städte in der Umgebung zuständig, aber die Jungs tranken am liebsten nicht weiter als einen Katzensprung vom Revier entfernt. Bei dem, was sie manchmal mit ansehen mussten, fühlten sich selbst die zehn Meter bis zu Eamon’s zu weit an. Wer in die andere Kneipe am Ende der Straße ging, machte deutlich, dass er auf die Gesellschaft von Polizisten keinen Wert legte. Allerdings waren die, die immer noch in der Öffentlichkeit tranken, anstatt es sich zu Hause mit einem Tütchen Crystal Meth und einer Glaspfeife gemütlich zu machen, auf der Sonnenseite – egal, wo sie Bier tranken. Über dem L-förmigen Tresen, an dem Rose sich mit Mia unterhielt, hing ein verblichenes schwarz-weißes Foto der Familie Eamon, der das Haus ursprünglich gehört hatte. Mia und Rose arbeiteten seit Jahren zusammen in der Kneipe und hatten endlose Stunden damit zugebracht, genau das zu tun, was sie jetzt machten: am Tresen lehnen, Cola trinken und Quatsch labern.
Laura war nicht die Einzige, die fand, dass Rose aussah wie eine Prinzessin. Senior Sergeant Frank Ghirardello zum Beispiel, der sie aus dem Augenwinkel beobachtete, während er sein Bier trank. Selbst das Tattoo auf ihrem Oberarm änderte nichts daran, dass sie so rein und perfekt wie ein Filmstar aussah. Der erste Schluck kaltes Bier, von Rose eigenhändig gezapft, kam seiner Vorstellung von Glückseligkeit ziemlich nahe. Frank stand auf sie, seitdem sie ihre erste Schicht in der Kneipe gearbeitet hatte. Sie hatte ihm ein Bier serviert, auf dem eine fünfzehn Zentimeter hohe Schaumkrone waberte. Bei ihrem Blick hatte er in dem Moment gewusst, dass sie die Richtige war. Er hatte das Bier genommen, ihr Trinkgeld gegeben und versucht, das Glas irgendwie leer zu bekommen, auch wenn sein Gesicht bei jedem Schluck komplett in Schaum getaucht wurde. Eigentlich war Alkohol nie Franks Ding gewesen, aber in den letzten Jahren hatte er ein kleines Alkoholproblem entwickelt, nur weil er in Roses Nähe sein wollte.
Um ihn herum diskutierten seine Kollegen Theorien über den allerneusten Fall, der Ben Riley bereits aus den Köpfen verdrängt hatte. Aber nicht bei Frank. Irgendein beschissener Feuerteufel machte das ganze Jahr schon Ärger. Erst waren es kleine Feuer gewesen, ein rauchender und schwelender Busch oder Briefkasten. Sie hätten gerne geglaubt, dass es gelangweilte Teenager waren, obwohl das eigentlich nie sehr wahrscheinlich gewesen war.
Die Highschool hatte dieses Jahr aufgrund sinkender Schülerzahlen dichtgemacht, pro Klasse waren es im Vergleich zu früher nur noch weniger als ein Viertel gewesen. Die meisten Teenager arbeiteten in der Geflügelfabrik oder hatten sich Vollzeit ihrer Pfeife verschrieben. Die, die auf Meth waren, begingen auch Verbrechen, vor allem Körperverletzung und Raub, aber keiner von ihnen hätte die Geduld, ein Feuer zu entfachen, nur um sich am Brand zu erfreuen.
Dann war das Ganze im letzten Monat plötzlich eskaliert. Der Psycho war auf einmal feuerdurstig geworden und hatte einen halben Block an der Union Street niedergebrannt. Ben war erst dreizehn und „besonders“ gewesen. „Hirngeschädigt“ war der richtige Ausdruck. Der Junge benahm sich wie ein Kleinkind und nicht wie ein Teenager, aber er war der Sonnenschein der Colmstocker. Jedem schenkte er ein Lächeln. Seinen Eltern gehörte der Lebensmittelladen, und manchmal spielte er nebenan im Vorratsschuppen hinter dem Gerichtsgebäude. Dort hatte er sich eine kleine Höhle gebaut. Der arme Kerl wusste nicht, dass man bei Rauch sofort wegrennen musste.
Anfangs war Frank überzeugt gewesen, dass es Mr. Riley gewesen war, Bens Vater. Der hatte ein Heidengeld von der Versicherung bekommen, und Frank unterstellte ihm, dass er für die Summen, um die es ging, auch seinen eigenen Sohn angezündet hätte. Aber er hatte ein wasserdichtes Alibi. Frank hatte es überprüft, und es war hieb- und stichfest.
Um ihn herum machten die anderen Männer Witze. Jetzt reichte es. Es war nicht die Zeit für Gelächter. Er schaltete sich in das Gespräch ein.
„Irgendwas Neues?“ Er blickte Steve Cunningham an, den Vorsitzenden des Gemeinderats. Er kannte die Antwort bereits, stellte die Frage aber trotzdem jedes Mal, wenn er Steve sah. Sie sollten die Trümmer des Gerichtsgebäudes einreißen. Es war jetzt schon einen Monat her. Die anderen verstummten und sahen Steve an.
„Noch nicht“, sagte Steve, und sogar bei dem gedämpften Licht konnte Frank sehen, wie seine glänzende Glatze rot wurde. „Wir sind immer noch dabei, das Geld zusammenzukratzen. Das kommt noch.“
„Klar“, antwortete Frank.
„Die nächste Runde geht auf mich“, sagte Steve und stand auf.
„Frank?“
„Ich setze aus, Kumpel.“ Er wusste, dass es nicht an Steve lag, aber er gab immer gerne jemandem die Schuld. Die verkohlte Ruine kränkte ihn persönlich. Es war ein Symbol, das sein Versagen laut in die Stadt hinausposaunte.
Frank hatte schon viele schlimme Dinge gesehen. Das war klar. Aber Mrs. Riley gegenüberzutreten und ihr sagen zu müssen, dass das Feuer bereits zu mächtig war und er nicht hineingehen konnte, dass er ihren Sohn nicht retten konnte … Ihr Gesichtsausdruck, als sie untätig mit ansehen musste, wie ihr Kind verbrannte. Das würde er nie vergessen.
Er ignorierte seine Kollegen erneut und sah Rose dabei zu, wie sie Steves Runde zapfte und dann wieder zu ihrer Zeitung zurückkehrte. Sie unterhielt sich leise mit Mia Rezek, deren Vater Elias Polizist gewesen war, bevor er vor gut fünf Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte. Die beiden benahmen sich, als ob sie zu Hause rumhingen und nicht bei der Arbeit wären. Rose strich die Haare zurück. Die Bewegung war so einfach, so beiläufig, und doch zog sich sein Hals zusammen. Oh Gott, wie sehr er sie begehrte. Es war fast unerträglich.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. In der Kneipe war es ruhig genug, um zu hören, was sie sagte.
„Wenn Saturn im Wassermann steht, ist nichts unmöglich“, las Rose vor. „Etwas Unerwartetes wird Sie heute überraschen.“ Sie lachte auf. „Single-Frauen, aufgepasst.“
„Das steht da nicht“, hörte er Mia sagen. Dann wurden die Stimmen leiser.
Als er aufblickte, sah Frank, dass sie zu seinem Tisch herübersahen. Schnell stürzte er den Rest Bier hinunter und ging zu ihnen hinüber.
„Na, meine Damen, warum starrt ihr uns denn so an? Was dabei, was euch gefällt?“
Er ließ die Muskeln spielen, aber Rose sah noch nicht mal in seine Richtung. Sie war schon mit dem Zapfen seines Biers beschäftigt. Mia hatte es allerdings gesehen und lächelte. Er sah das Mitleid in ihren Augen und hatte es satt.
„Spar dir die Mühe, Franky“, sagte sie und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Theke. „Rose macht sich davon.“
„Ein paar Wochen hab ich doch aber noch, oder?“, fragte er. Er hoffte, dass Rose oder Mia ihm erzählen würden, ob es Neuigkeiten von dem Programm gab, für das Rose sich beworben hatte. Sie hatten darüber gesprochen, als ob es schon beschlossene Sache wäre, aber das nahm er ihnen nicht ganz ab. Oder zumindest hoffte er, dass es nicht stimmte. Ohne sie wäre sein Leben so leer.
Als er Rose ansah, bemerkte er, dass ihre Hand ganz leicht zitterte, so dass sie einen Tropfen Bier auf ihr Handgelenk verschüttete. Sie wischte die Hand an ihren Shorts ab und reichte ihm das Bier.
„So was in der Art“, sagte sie. Er wollte weiter nachfragen, gründlich nachhaken, wie er das mit einem Täter im Vernehmungsraum machen würde, aber Mia unterbrach ihn.
„Na, dann lass uns mal gucken.“ Sie griff nach dem leeren Glas und starrte angestrengt in den Schaum.
„Verrät dir das was über mein Liebesleben?“, fragte er und sah Rose erneut an. Sie lächelte gezwungen zurück. Eigentlich wusste er, dass er es gut sein lassen sollte. Er sollte sie ganz offiziell um ein Date bitten und keine platten und durchsichtigen Witze machen. Er war über dreißig und benahm sich wie ein notgeiler Teenager. Es war peinlich.
„Also“, setzte Mia an, während sie das Glas drehte, „ich sehe hier viel Positives. Es sagt mir, dass nichts unmöglich ist. Etwas Unerwartetes wird passieren. Etwas, das dich überraschen wird.“
Sie sahen sich an, wussten aber nicht, dass er den Witz auch verstand. Egal, er ergriff die Gelegenheit beim Schopf.
„Ist das eine Einladung für ein Date zu viert? Ich denke, ich könnte Bazza dazu überreden.“
Franks Partner Bazza, ein frischgebackener Sergeant, war ein gut aussehender Typ. Er war groß, muskulös und – ein paar Jahre nach Frank – einer der besten Australian-Football-Spieler gewesen. Frank liebte ihn wie einen Bruder, aber er wusste auch, dass Bazza mehr einem Labrador als einem echten Mann ähnelte. Seine Augen begannen jedes Mal zu glänzen, wenn Frank das Mittagessen erwähnte, Fremde beäugte er misstrauisch, und er war so loyal wie dumm. Frank war sich ziemlich sicher, dass Bazza, ohne nachzudenken, Sitz machen würde, wenn er ihn dazu aufforderte.
Sie drehten sich um und sahen in Bazzas Richtung, gerade als dieser rülpste und dann insgeheim kicherte.
„Wir sagen euch Bescheid“, sagte Rose, und Frank grinste, als ob es nur ein Witz gewesen wäre, und drehte sich um, bevor sie die Enttäuschung in seinem Gesicht sehen konnten. Er musste endlich den Arsch zusammenkneifen und das Mädchen richtig um ein Date bitten. Sonst würde sie die Stadt verlassen, und dann wäre die Chance vertan.
Hinter sich hörte er Mia sagen: „Weißt du, ich finde, Baz ist ziemlich sexy.“
Seine Schultern verkrampften sich, und er hoffte inständig, dass Rose ihr nicht zustimmen würde.
Zum Glück hörte er sie sagen: „Er ist ein Volltrottel.“
„Ja, total.“
Sie kicherten leise, und er setzte sich wieder hin, dankbar, dass sie nicht über ihn lachten, und trank einen Schluck von seinem Bier. Er konnte es sich bildlich vorstellen: Bazza mit Mia und er mit Rose, an freien Tagen würden sie zusammen grillen, Bazza am Grill, Mia Salat schwenkend, Rose würde ihm ein Bier bringen und auf seinem Knie sitzen, während er es trank.
Rose kippte das Fass zur Seite. Verflixt schwer, es zog in den Armbeugen, und die Muskeln in ihrem Nacken spannten sich an. Sie ließ es die letzten Zentimeter fallen, nur um das gewaltige Krachen zu genießen, mit dem es auf den Betonboden knallte. Der fensterlose Vorratsraum im hinteren Teil der Kneipe roch feucht. In dem kleinen Raum standen Bierfässer, eine große Gefriertruhe randvoll mit gefrorenem Fleisch und Pommes sowie ein paar Kisten mit staubigen Biergläsern.
Sie beugte sich nach vorne, den Hintern streckte sie dabei steil in die Höhe und schubste das Fass mit Minischritten an der engen Stelle vorbei in den Gang. Sie sah total lächerlich aus. Wenn Frank sie so sähe, würde er wahrscheinlich aufhören, sie anzusehen, als ob er sie megascharf fände. Vielleicht würde es ihn aber auch antörnen. Bei dem Gedanken richtete sie sich auf. Sie mochte es nicht, wenn Männer sie anglotzten. Als ob ihr Körper ihr nicht mehr gehörte. Als ob sie sich ihn zu eigen machten, indem sie sie von oben bis unten musterten. Wäre es nicht so fürchterlich schwül, würde sie lange Hosen und Rollkragenpullover tragen und sich nie die Beine rasieren.
Langsam bekam sie Blasen. Der harte Stoff der Schuhe scheuerte bei jedem Schritt und rieb sich an den Fersen durch eine weitere Hautschicht. Sie zuckte immer wieder zusammen, als sie das Fass vorsichtig den Gang hinunterrollte. Sie kam an einem Fleck auf dem Teppich vorbei, wo Mark Jones sein Bier ausgekotzt hatte, und dem Riss in der Wand, der jeden Tag ein bisschen größer zu werden schien.
Sie versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie diesen Job manchmal auch mochte. Es war nett, an ruhigen Abenden mit Mia herumzualbern. Aber momentan war es zum Haareraufen. Jeden Abend, Jahr um Jahr, immer das Gleiche, eine Schicht glich der anderen. Das Einzige, was sich änderte, war das Alter der Gäste.
Die Benommenheit, die sie vorhin gespürt hatte, war abgeebbt. In ihrem Magen rumorten Scham und Enttäuschung über die E-Mail der Sage Review. Mia hatte sie es noch nicht erzählt, das hatte sie nicht fertiggebracht. Sobald sie das tat, würde es Realität werden. Mia würde sie fragen, was sie stattdessen vorhatte, wo sie leben wollte, und darauf wusste sie keine Antwort. Stattdessen blieb sie in Bewegung und versuchte zu atmen. Rose hatte über alles geschrieben, was ihr in den Kopf gekommen war. Sie hatte über die Finanzkrise und die Auswirkungen auf die Stadt geschrieben. Sie hatte über die Suche nach dem Brandstifter geschrieben, der den armen Ben Riley getötet und das Gerichtsgebäude niedergebrannt hatte. Sie hatte Filmrezensionen und Promiklatsch verfasst und – irre peinlich – sich auf Youtube an einer missglückten Video-Reihe versucht.
Egal, welches Thema, die Ablehnungen waren immer die gleichen. „Vielen Dank für Ihren Vorschlag …“, stand am Anfang, und dann wusste sie schon, was kam. Es hieß immer, dass man selbst die einzige Person sei, die dem eigenen Erfolg im Weg stünde. Das verstand sie, wirklich. Rose brauchte eine gute Geschichte, etwas wirklich Besonderes. Wenn sie eine richtig gute Story fand, dann würde man sie nicht mehr abwimmeln können.
Das Volontariat war wie für sie gemacht. Sie hatte die Anforderungen zu hundert Prozent erfüllt. Es war so perfekt gewesen, genau richtig.
Die Kante des Fasses rammte die Wand, so dass ein gerahmtes Bild auf den Boden fiel.
„Scheiße.“ Sie hatte nicht aufgepasst. Sie kam damit nicht klar. Jetzt zog sich ein großer Sprung quer durch das Foto der Eamon-Familie: ein Mann mit Medaillen, eine Frau mit angestrengtem Lächeln, ein kleines Mädchen mit lockigem Haar und einer Lockenkopfpuppe und ein Junge im Rüschenhemd. Rose hängte das Bild wieder an die Wand.
In ihrem Magen machte sich Schmerz breit, und sie versuchte ihn runterzuschlucken. Die Magensäure stieg in ihrem Inneren wie eine giftige Flut auf und drängte den Hals hinauf.
Sie steckte den Kopf in die Küche. „Ist es okay, wenn ich jetzt Pause mache?“
„Klar“, antwortete Jean, die Chefin, während sie, ohne sich umzudrehen, weiter einen Berg blasser Tomaten schnitt.
Manchmal verbrachte sie ihre Pause an der Theke und versuchte etwas von dem runterzuwürgen, was Jean gekocht hatte, oder sie plauderte weiter mit Mia oder wer dort sonst gerade saß. Aber wenn sie den heutigen Abend überstehen wollte, musste sie ein paar Minuten alleine sein. Sie schnappte sich die Erste-Hilfe-Kiste vom Regal und ging zurück durch den Flur. Sie öffnete die Tür zu einem der Motelräume und setzte sich auf das Bettende. Vorsichtig zog sie die Schuhe aus und begutachtete ihre eine Ferse. Die Haut war knallrot. Die Blase wuchs, ein weiches weißes Kissen, das anschwoll, um die verletzte Haut zu schützen. Vorsichtig strich sie mit dem Finger darüber und zuckte zusammen, als sie die empfindliche neue Haut berührte.
Sie ließ die Erste-Hilfe-Kiste aufschnappen und kramte zwischen den abgelaufenen Desinfektionsmitteln und eingeschweißten Mullbinden herum, bis sie ganz unten die Packung mit Pflaster fand. Sie nahm eins heraus und klebte es über die Blase. Pflaster aufkleben erinnerte sie an ihre Kindheit. Ein Gefühl, dass sich jemand kümmerte, dass jemand dafür sorgte, dass alles in Ordnung war. Ihre Kehle zog sich zusammen, und es überkam sie einfach. Sie begann zu weinen und vergrub ihr Gesicht in den Händen, um das Geräusch zu dämpfen. Schreckliche, gequälte Schluchzer stiegen in ihr auf.
Sie schloss die Augen und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, aber es gelang ihr nicht. Sie war so müde, so unendlich müde. Ihre Augen wurden heiß, Tränen quollen hervor und rannen ihr brennend die Wangen hinunter. Es war leichter, es herauszulassen, als damit aufzuhören.
Sie stand auf, um die Tür zu schließen, damit niemand an der Theke sie hörte. Durch den Tränenschleier sah sie eine Gestalt. Ein Mann stand im Flur und starrte sie an. Sie versuchte sich zusammenzureißen und wischte sich mit den Händen über die Wangen.
„Es tut mir leid“, sagte er, und komischerweise sah er so aus, als ob er auch gleich anfangen würde zu weinen. Sie blieb stehen, die Hand immer noch an der Türklinke, und blickte ihn an, sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und war sich der Furchen auf ihrer Stirn und der Träne, die ihr langsam über die feuchte Wange lief, bewusst. Er wandte den Blick ab, und ihr Gesicht brannte vor Scham.
Sie schloss die Tür und setzte sich wieder auf das Bett. Sie richtete den Blick auf die Tür und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Es hatte sie so überrascht, ihn zu sehen, dass sie aufgehört hatte zu heulen, aber jetzt pochte das Herz laut in der Brust. Sie strich sich mit den Händen durch das Gesicht und überlegte, wer der Typ gewesen sein mochte. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Das passierte in Colmstock nicht oft. Und nicht nur das. Er sah nicht so aus wie die anderen Männer in der Stadt. Sein Gesicht war ungewöhnlich, sie wusste nicht genau, zu welcher Ethnie er gehörte, und er trug ein T-Shirt mit einem Band-Logo und enge blaue Jeans, die nagelneu aussahen. Das war nicht die Einheitsuniform, die die Männer hier in der Gegend sonst trugen. Sie schlich zurück zur Tür, öffnete sie ein paar Zentimeter, spähte hinaus, überzeugt, dass er immer noch dort stehen würde. Aber das tat er nicht. Sie bemerkte allerdings das „Bitte-nicht-stören“-Schild, das am Türknauf des anderen Motelraums hing. Natürlich, sie hatten ja einen Gast.
Sie ging ins Badezimmer, um sich ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie hatte früher auch schon Absagen bekommen, inzwischen müsste sie eigentlich wissen, wie man damit umging. Wenn sie es irgendwie bis zum Ende der Schicht schaffte, würde sie sich über alles andere morgen den Kopf zerbrechen. Das war das Einzige, worüber sie sich jetzt Gedanken machen musste: irgendwie ihre Schicht zu Ende bringen. Sie hielt inne und konzentrierte sich auf das Gefühl der nackten Füße auf dem Teppich. Dann klebte sie rasch und sorgfältig ein Pflaster auf die andere Ferse und zog sich mit zusammengebissenen Zähnen die Schuhe wieder an.
In der Küche wendete Jean einen Burger auf dem Grill. Es brutzelte und rauchte. Rose stieg der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch in die Nase, aber sie sagte nichts. Nie würde sie es wagen, Jean Ratschläge zu geben, und nicht nur, weil sie ihre Chefin war. Niemand würde sich je beschweren, selbst wenn das Fleisch wie so oft schwarz und gummiartig war. Wenn Jean einen nicht mochte, würde man das zu spüren bekommen.
Rose erinnerte sich noch gut an das erste und einzige Mal, als es jemand gewagt hatte, sich über Jeans Steaks zu beschweren. Ein Vollidiot, der mit Steve Cunningham befreundet war, verlangte sein Geld zurück. Er sagte zu Jean, dass sie wieder an ihr Lagerfeuer zurückgehen solle, wenn sie Buschessen kochen wolle. Der Typ sah sein Geld nicht wieder und durfte keinen Fuß mehr in die Kneipe setzen. Dafür hätte Rose im Zweifelsfall aber auch selbst gesorgt, wenn sie gekonnt hätte, auch wenn Jean gut alleine klarkam. Beim bloßen Gedanken an den Kerl war Rose wieder auf hundertachtzig. Steve hatte Glück gehabt. Er hatte sich mehrmals bei Jean für den Vorfall entschuldigt, und Rose wusste, dass er es ernst meinte, und so hatte er letztendlich wieder kommen dürfen.
„Haben wir einen Gast?“, fragte Rose und beugte sich vor, um das Fass anzuschließen, das sie geholt hatte.
„Ja. William Rai.“ Man hörte, dass Jean täglich eine Schachtel Zigaretten rauchte.
„Was ist das für einer?“, wollte Mia hinter dem Tresen wissen.
„Ziemlich ruhig.“
Rose wischte die nassen Hände an den Shorts ab und ging zur Theke. Sie stellte einen Krug unter den Bierhahn und zapfte den Schaum ab, froh darüber, dem Gestank nach verkohltem Fleisch entkommen zu sein.
„Hast du ihn schon gesehen?“, fragte Mia leise.
„Ja“, antwortete Rose. Seine Augen hatten stark geglänzt, aber das war bestimmt nur das Licht gewesen.
„Und?“
„Was, und? Denkst du, er könnte dein Traummann sein?“, witzelte sie.
Mia zuckte die Schultern. „Das weiß man nie.“
Rose lächelte, lehnte sich zurück und sah zu, wie der weiße, cremige Schaum über den Rand des Kruges quoll und langsam zu Bier wurde.
„Ich nehme an, du hast noch nichts von Sage gehört?“, fragte Mia und sah sie aufmerksam an.
Rose schloss den Zapfhahn. „Nein.“
„Mach dir keine Sorgen. Ein Tag mehr oder weniger macht keinen Unterschied.“
Rose sah Mia an und brachte ein schwaches Lächeln zustande. Sie wollte es ihr erzählen, das wollte sie wirklich, aber sie hatte Angst, dass sie vor allen Gästen anfangen würde zu weinen. Sie wollte gerade ansetzen, um zu fragen, ob sie nicht später darüber sprechen könnten, als es auf einmal schlagartig leise wurde. Plötzlich war eine völlig unnatürliche laute Stille eingetreten. Mia und Rose sahen sich um.
Es war der Gast. Will. Er war auf der Schwelle stehen geblieben, alle blickten ihn an. Rose hatte recht, er kam nicht aus Colmstock. Der Mann registrierte die Blicke, die ihn aber anscheinend weder verunsicherten noch unangenehm berührten, und setzte sich an einen Tisch hinten in der Ecke. Die Polizisten wandten sich wieder ihrem Bier zu und nahmen die Gespräche wieder auf.
„Wow. Er sieht nicht schlecht aus“, bemerkte Mia leise.
„Du kannst ihn gerne haben.“ Rose spürte, wie die Scham zurückkam. Er musste sie für einen Freak halten, wie sie da gesessen und mit offener Tür geweint hatte. Hoffentlich blieb er nicht lange.
Rose beobachtete, wie Mia eine eingeschweißte Speisekarte vom Stapel pellte. Sie ging zügig zu Wills Tisch und legte die Karte vor ihm hin. Mia stemmte die Hand in die Hüfte, und ohne dass sie ihr Gesicht sah, wusste Rose, dass sie flirtete. Es war auch nicht gerade subtil. Will lächelte sie an, höflich nur, wie Rose bemerkte, und zeigte auf die Karte. Er wusste noch nicht, dass man Jeans Essen besser nicht bestellte. Sein Blick wanderte weiter, und er sah Rose direkt an, ganz kurz hielt sie die Luft an. Dann drehte sie sich weg und begann, Gläser zu spülen.
Als das Essen fertig war, machte Mia gerade Pause. Sie saß an der Theke und aß, was sie immer aß: ein Burgerbrötchen, innen dick mit Tomatensauce bestrichen, und sonst nichts.
„Bestellung ist fertig“, rief Jean.
Mia zuckte die Achseln und nuschelte mit vollem Mund in Roses Richtung: „Ich glaubnich, daf erauf mich steht.“
Rose drehte sich um und überlegte fieberhaft, wie sie eine zweite Begegnung vermeiden konnte. Vielleicht könnte sie Jean bitten? Aber sie wusste, dass die beiden dann fragen würden, warum, und ihnen das zu erzählen, wäre das größere Übel.
Sie schnappte sich den Teller, Finger unten, Daumen oben, und ging zu ihm hinüber. Ein Blick auf den Teller verriet ihr, dass er anscheinend einen Burger ohne Fleisch, nur mit schlabbrigem Salat, blassen Tomaten und Käse auf dem weißen Brötchen bestellt hatte. Er saß zurückgelehnt auf dem Stuhl und las ein Buch, den Titel konnte sie nicht erkennen. Als sie die Lampe verdunkelte, sah er zu ihr auf.
„Bitte schön“, sagte sie.
Er beugte sich vor. „Danke.“ Er hielt inne. „Ich wollte fragen … ob alles in Ordnung ist. Vorhin, ich …“
„Alles bestens“, antwortete sie bissig. „Was sollte sein?“
Sie sah ihm mit festem Blick herausfordernd in die Augen – ob er es wagen würde, zu erwähnen, was er gesehen hatte? Das tat er nicht.
„Wollte nur sichergehen“, sagte er und lächelte schief, wobei kleine Fältchen um seine dunklen Augen sichtbar wurden.
Nachdem sie dichtgemacht hatten, alle Stühle auf den Tischen standen und der Boden nach dem Wischen trocknete, Springsteen über Träume und Geheimnisse und Dunkelheit am Rande der Stadt sang, saßen Mia und Rose auf dem Tresen und tranken Bier. Ihre schmerzenden Füße dankten es ihnen, nicht mehr auf dem harten Beton stehen zu müssen. Jean stand hinter ihnen und zählte das Geld in der Kasse.
„Wie lange bleibt unser Gast denn?“, fragte Rose und bemühte sich, die Frage beiläufig klingen zu lassen.
„Er hat das Zimmer für ne Woche gemietet“, brummte Jean, während sie Zahlen in einen Bestellschein eintrug.
„Gefällt er dir?“, fragte Mia.
„Nee, im Gegenteil. Scheint ein Arsch zu sein. Total von oben herab.“
Ein Klopfen am Fenster unterbrach sie. Frank winkte gute Nacht, seine hoffnungsvollen braunen Augen ließen ihn eher wie eine kleine, schmuddelige Promenadenmischung wirken, die um etwas zu fressen bettelte, und nicht wie ein Polizeibeamter Mitte dreißig. Sie winkten zurück.
„Der Typ sollte wirklich mal nen Gang runterschalten“, bemerkte Jean mit leichter Missbilligung.
Rose reagierte nicht.
„Er ist ein netter Kerl“, sagte Mia.
„Darum geht es nicht“, antwortete Rose. „Es hat einfach keinen Sinn. Ich werde hier nicht versauern.“ Sie nahm einen Schluck. Mia blickte sie aufmerksam an.
„Du hast Nachricht von Sage, oder?“
Rose sah sie nicht an, sie schaffte es nicht.
„Ich war so sicher, dass es diesmal klappen würde“, sagte Mia.
Rose spürte die Wärme einer Berührung und blickte nach unten. Jean hatte ihre wettergegerbte Hand auf Roses Finger gelegt.
„Du bist eine Kämpferin – du wirst es schaffen. Vielleicht dauert es ein bisschen, aber es wird klappen.“
Zum ersten Mal an diesem Abend ließ der Druck in Roses Kehle etwas nach.
Jean nahm die Hand weg und legte zwei Briefumschläge auf den Tresen.
„Arsch oder nicht, unser Gast gibt gutes Trinkgeld.“
Die Luft war kühl, als Mia und Rose durch den Eingangsbereich nach draußen gingen. Die Zikaden zirpten laut. Rose beschlich trotz allem ein Triumphgefühl. Sie hatte es geschafft. Sie hatte die Schicht überstanden, und jetzt konnte sie nach Hause gehen und trauern, solange sie noch ein Zuhause hatte. Als sie zu Mias Auto gingen, blickte sie zur Kneipe zurück und dachte wieder an den Gast, Will. Er musste hier Verwandtschaft haben, irgendeine Familienangelegenheit. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum jemand für eine ganze Woche in dieser Stadt bleiben sollte.
„Oh.“ Mia blieb stehen.
„Was ist los?“
Mia lief zu ihrem schrottigen alten Auster und zog einen Strafzettel hinter dem Scheibenwischer hervor. Sie sah auf die Uhr.
„Nur drei Minuten zu spät!“
„Sie müssen darauf gewartet haben, dass der Parkschein abläuft.“
Sie sahen sich um. Die Straße war leer. Mia stieg ein und hielt den Strafzettel unter das Licht.
„Das ist mehr, als ich bei meiner Schicht verdient habe.“
Rose nahm ihren Briefumschlag aus der Tasche und legte ihn auf das Armaturenbrett.
„Das brauchst du nicht“, sagte Mia, aber Rose konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören.
„Das weiß ich.“
Sie schwiegen, während Mia fuhr. Im Radio lief ein fürchterlicher neuer Popsong, den Rose schon zu oft gehört hatte, aber sie fummelte lieber nicht an der Anlage in Mias Auto herum. Sie sah aus dem Fenster und freute sich auf einen gnädigen Schlaf. Sie schlüpfte aus den Schuhen. Morgen, beschloss sie, würde sie gar keine Schuhe tragen. Die Kneipe hatte dienstags geschlossen, vielleicht würde sie einfach gar nicht aufstehen.
Sie kamen an den Schatzsuchern vorbei. Anfangs waren es nur ein paar Zelte gewesen, die in und um ein altes Haus standen, das dort schon ewig zerfiel. Inzwischen war es eine richtige Gemeinschaft. Einige Leute lebten in Wagen, es waren ein paar Behausungen entstanden. Andere schliefen unter freiem Himmel. Es war warm genug. Sie blieben unter sich, daher ließ die Polizei sie in Ruhe, auch wenn ihnen alle Zähne fehlten und ihre Meth-Abhängigkeit zum Himmel stank. Rose hatte nie gewusst, warum man sie Schatzsucher nannte, vor ein paar Jahren hatte sie dann herausgefunden, dass sie Opale suchten und sie auf dem Schwarzmarkt verkauften. Damit schlugen sie sich durch. Ihr Magen zog sich vor Angst zusammen, und sie betrachtete ihre Hände. Dort würde sie niemals landen.
„Ich habe heute großartigen Tratsch gehört.“ Mia hielt Stille nicht lange aus. Egal, wie schlecht es ihr ging, Mia ging es anscheinend immer besser, wenn sie redete. „Vielleicht könntest du deinen nächsten Artikel darüber schreiben? Für irgendwas muss es ja gut sein, wenn man in einer Bullenkneipe arbeitet.“
Anders als Mia sehnte sich Rose oft nach dem Alleinsein. Aber sie brauchte nicht zu antworten. Mia war meist völlig zufrieden, wenn sie sich selbst beim Reden zuhören konnte.
„Anscheinend hat jemand Porzellanpuppen vor Häuser gelegt, und die Puppen sehen aus wie die kleinen Mädchen, die da wohnen. Wie abgefahren ist das, oder?“
Rose drehte sich ruckartig um.
„Die Bullen machen sich Sorgen, dass es was zu bedeuten hat. Vielleicht ein Pädophiler, der seine Opfer markiert.“
Rose starrte sie an.
„Was ist?“, fragte Mia.
Rose wühlte in der Tasche und suchte ihr Handy, vor ihrem inneren Auge sah sie Laura, wie sie Wange an Wange neben dem kleinen Porzellanzwilling schlief.
„Hilfe! Lass das!“, heulte das Kind.
Frank hatte es erst auf die nette Tour probierte, aber dann wand er die Puppe aus den Händen des kleinen Mädchens. Als er Polizist wurde, hätte er es sich nicht träumen lassen, dass es einmal zu seinen Aufgaben gehören würde, mit kleinen Kindern um ihr Spielzeug zu kämpfen.
„Die gehört mir“, schrie Laura, als Frank die Puppe ihrem eisernen Griff mit einem kräftigen Ruck entzog.
Laura blickte zu ihm hoch – eher wütend als traurig – und trat ihm mit voller Kraft gegen das Schienbein.
„Laura!“, schrie Rose der kleinen Kratzbürste nach, die aus dem Zimmer rannte und die Tür zuknallte.
Frank rieb sich das Schienbein. Sie hatte genau den Knochen getroffen. Es tat höllisch weh.
„Tut mir leid“, sagte Rose und sah ihn von oben bis unten an. Er ließ das Schienbein los und grinste.