Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby - E-Book

Gesetz des Menschlichen E-Book

Jakob Vedelsby

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ausgehend von einem Terroranschlag in Kopenhagen beleuchtet der Thriller "Gesetz des Menschlichen" die diplomatische Szenerie in Dänemark und Griechenland: Nach einem verwüstenden Terroranschlag mitten im Zentrum von Kopenhagen wird der dänische Diplomat Carl Bernstein nach Athen versetzt. Dort begibt sich Bernstein in den Sog komplexer und ineinander verflochtener Ereignisse, die ihn vor den Abgrund seiner eigenen Vergangenheit führen. – Eine tiefgründige und fesselnde Geschichte, die spirituelle Ansätze, detaillierte Skizzen der menschlichen Psyche, sowie gegenwartsrelevante Brennpunkte miteinander verbindet. Lesenswert!AUTORENPORTRÄTJakob Vedelsby ist ein dänischer Schriftsteller, der 1965 geboren wurde und in Kopenhagen lebt. Vedelsby studierte Film und Medien in Kopenhagen bevor er als Journalist und Dokumentarfilmer arbeitete und später Romane schrieb. Bislang hat er fünf Romane veröffentlicht und ist Vorsitzender der Belletristik-Gruppe der dänischen Schriftstellervereinigung. REZENSION"GESETZ DES MENSCHLICHEN ist gut geschrieben – die Sprache fließt und glitzert und macht großes Vergnügen. Der Roman gewinnt geradezu visionäre Züge, die man als brillant bezeichnen muss... fantastische Sprache, pure Lesefreude."Peter Grarup Westergaard , Kristeligt Dagblad-

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Seitenzahl: 428

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Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen

Roman

Aus dem Dänischen vonBernd Kretschmer

Saga

Die Luft ist so erstaunlich ätherisch, so sonderbar durchsichtig in diesen Tagen des Indian Summer, es ist, als kämen alle nahen Gegenstände näher und würden klarer – als könne man jedes Blatt unterscheiden, jeden Zweig dort drüben am anderen Flussufer, und es fast mit den Händen greifen.

Jacob A. Riis

1

„Das Gesetz des Menschlichen bedeutet, dass das Leben wie ein Labyrinth wirkt, mit Sackgassen und verschlossenen Türen. Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren....“ Das Radiosignal verschwindet mit einem Zischen, wie wenn ein Haar zu Asche verbrennt. „Verdammt“, murmelt der Chauffeur und klopft mit dem Finger gegen die blau leuchtende, in Mahagoni eingearbeitete Stereoanlage des Wagens.

„Nimm dich zusammen, wir müssen Carl Bernsteins Freundin hören, sie ist scheißunterhaltsam...“, sagt der Minister und lacht mit zuckenden Schultern.

„Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir zu lösen versuchen.“

„Ich bin’s nicht, mit dem etwas nicht stimmt“, sagt der Chauffeur fast unhörbar.

„Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir ...“

„Schalte ab, zum Teufel!“ ruft der Minister.

Ich begnüge mich damit zu lächeln. Ich werde dem Schafskopf nicht noch einmal erzählen, dass Kassandra eine Freundin aus alten Zeiten ist, nicht meine Geliebte. Sie ist lesbisch. Um Himmels Willen. Oder zumindest bi. Ich fasse die Tasche fester und registriere den Duft frisch gegerbten Leders, ein Geschenk von Kassandra, handgearbeitet, ein persönliches Mitbringsel aus Nepal. Man muss aufpassen, wenn der Minister seine gute Laune hat. Die Jovialität pflegt irgendwann zu verebben, und bevor man sich versieht, sitzt man in der Patsche und muss sich in einem der improvisierten Konflikte verteidigen, in die er seine Beamten bringt. Seine nächste Bemerkung könnte sehr gut lauten: ’Warum in aller Welt sollte ich Interesse daran haben, deine Freundin im Radio zu hören?’ – oder: ‚Machst du dich etwa über mich lustig?’. Aus seiner Sicht ist es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ein Emporkömmling wie ich sich nicht zu sicher im Sattel fühlt. Er muss es mir schwer machen und mir demonstrieren, dass der diplomatische Dienst seinen Preis hat, und dass dieser so teuflisch hoch ist, dass nur die Tüchtigsten, Widerstandsfähigsten und Gewissenlosesten durch das ultimative Nadelöhr dringen und den ersehnten Botschafterposten erhalten. Ich habe das Zeug dazu, aber das weiß der Psychopath neben mir nicht.

„Jetzt ist es völlig tot“, sagt der Chauffeur und drückt auf den Knöpfen des Radios herum. Er landet auf einem anderen Kanal, und rhythmisch hämmernde Popmusik trifft uns von allen Seiten, als wären wir Soldaten im Kreuzfeuer. Noch bevor er abschalten kann, ruft der Minister schon: „Das bist du auch, wenn du nicht gleich ausschaltest!“

„Sorry. Ankunft in 25 Sekunden“, sagt der Chauffeur nach unten gebeugt in das Mikro an seinem Handgelenk.

Einmal Soldat, immer Soldat, denke ich und mustere seinen Stiernacken mit den fünf Speckfalten.

„Es ist lebenswichtig, dass du dich diesmal an alles erinnerst, Legationsrat Bernstein. Wenn wir den Außenpolitischen Ausschuss heute verlassen, ist die Sache gestorben, hast du verstanden?“ sagt er in scharfem Ton, ohne mich dabei anzusehen.

Ich kenne ihn jetzt schon etliche Jahre, aber wir hatten noch nie Augenkontakt. Das wäre zu persönlich, eine Geste, die zweifellos seiner Familie vorbehalten ist – zur Zeit bestehend aus einer zweijährigen Tochter und Ehefrau Nummer drei. Gerüchten zufolge hat er sich mit den Vorgängerinnen überworfen und sieht seine älteren Kinder nicht. Er steht auf hübsche Frauen, Typ Model, die erheblich jünger sind als er. Auch an Kassandra hat er Interesse gezeigt. Sie ist vierzig, sieht aber aus wie dreißig. Man würde nicht darauf kommen, dass sie zuhause zwei achtzehnjährige Söhne hat. Der Minister hat sie einmal in einer Frauenzeitschrift gesehen, in der sie nackt zwischen Birken am Waldrand fotografiert war. Das lange Haar schwebte um ihre Brüste wie schwerelose Seide.

Ich habe den Minister studiert. Seine Augen hinter den randlosen Brillengläsern sind wässerig, und im Weißen des Augapfels haben sich gelbe Talgablagerungen angesammelt, miteinander verbunden durch dünne, rote Äderchen. Unter den Augen Tränensäcke, auf den Wangen wahre Landschaften aus kleinen, geplatzten Adern. Seine Zähne sind strahlendweiße Implantate, wie sie sie in Hollywood und Washington verwenden. Jetzt springt er aus dem Wagen und ist, mit zwei Sicherheitsbeamten auf den Fersen, schon auf halbem Weg die Treppe hoch, während ich mich noch abmühe, mit der Tasche und einem Stapel von Papieren aus dem Wagen zu kommen. Er öffnet die Tür zum Parlamentsgebäude, Schloss Christiansborg, und trommelt hart gegen die Holztäfelung. Ich beeile mich, ihn einzuholen.

„Was hat sie noch gleich gesagt, bevor der Idiot da am Radio gefummelt hat?“ Sein Blick streift den Chauffeur, der gerade auf seinem Handy telefoniert. „War das nicht irgend so ein idealistischer Blödsinn von Gemeinschaft, einem neuen Gesetz?“

„Ich habe es nicht gehört, er hat ja abgeschaltet“, murmele ich und schlüpfe hinein. Ich folge dem Minister, vorbei am Wachlokal, hin zur Treppe zum ersten Stock.

„Das Gesetz des Menschlichen“, das war es. „Was zum Teufel ist das?“ lacht er. „Ich muss sehen, dass ich das durch das Parlament bringe, dann werden wir alle richtige Menschen und gehen in Rente und lassen Dänemark auf dem großen Meer der Gemeinschaft vom Stapel laufen.“

Das Lachen des Ministers geht in einen kratzenden Raucherhusten über. Er schluckt Schleim, runzelt die Augenbrauen. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse in den wenigen Sekunden, die wir brauchen, die steile Treppe hochzusteigen. Nun schweigt er, ist außer Atem.

Der Minister verfügt über eine bemerkenswerte Fähigkeit, Dinge zu verdrängen. Er ist damit so zufrieden, dass er sie an seine Kinder weitergegeben hat. Es sei die beste Gabe, die er seinen Nachkommen hinterlassen habe, hat er in einem doppelseitigen Porträt in einer Sonntagszeitung erklärt. Es vergeht keine Woche, in der er nicht in den Medien ist. Die Journalisten lieben seinen brutalen Charme, und er ist klar und verständlich in seiner Sprache, dank effektiver Hilfe seiner Pressereferentin und Medienberaterin, deren Rolle er offiziell verachtet.

Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er gerade jetzt, aufgrund etlicher Minuten mangelnder Nikotinzufuhr, auf einer hauchdünnen Grenze zwischen echter Neugier und einem Ausbruch von Gereiztheit mit unvorhersehbaren Konsequenzen balanciert. Ich schweige, ich darf meine Konzentration nicht verlieren, nicht weitere Fehler begehen. Mein Schnitzer im Außenpolitischen Ausschuss kürzlich, als ich ihm eine falsche Information gab, was dazu führte, dass die Opposition ihn in den Medien als Lügner bezeichnete, haftet wie eine ansteckende Krankheit an mir. Die Kollegen im Außenministerium meiden mich. Ich würde das gleiche tun, denn Fehler sind das größte denkbare Tabu in einer Nullfehlerkultur. Seitdem bin ich unter verschärfter Aufsicht, im System hoch angesiedelte Schlüsselpersonen sind tief enttäuscht von mir, und alle wissen, dass der weitere Verlauf meiner künftigen Karriere bedeutend weniger klar vorgezeichnet ist. Wenn er denn in den Augen anderer überhaupt jemals klar vorgezeichnet gewesen war. Es gibt da ganz sicher immer einen Kollegen, der auf dem Sprung ist, den Platz von einem zu übernehmen. Noch ein Fehler, und ich ende meine Tage als Fachberater oder so etwas in der Richtung, wie die anderen bitteren Schicksale, die das System aussortiert. Es sei denn, man bewirbt sich an anderer Stelle, weg vom Außenministerium, und versucht sein Glück dort. Mit diesem Gedanken spiele ich allerdings nicht mehr. Ich bin inzwischen zweiundvierzig und nähere mich Schritt für Schritt dem Ziel, das, so predigen alle, so gut wie unerreichbar ist. Ich muss noch ein Jahr in Kopenhagen die Zähne zusammenbeißen, dann für drei bis vier Jahre in die Welt hinaus und wieder nach Hause auf einen Posten als ‚Stellvertretender Abteilungsleiter’. Wenn alles gut läuft, werde ich nach einem weiteren halben Jahr per Ernennung durch die Königin zum ‚Vortragenden Legationsrat Erster Klasse’ und damit zum Beamten ernannt, und dann ist der Weg frei zum heiligen Botschafterposten. Amen. Ich habe immer gesagt, dass ich das erreichen will, bevor ich 50 werde. Dann wird auf die dreißig Jahre Schufterei bis zur Bewusstlosigkeit in den nächsten zwanzig Jahren ein gut bezahlter Traumjob folgen. Dann werden die Früchte eines unmenschlichen beruflichen Einsatzes reichlich geerntet werden. Bei diesem Gedanken fühle ich mich, als würde ich schweben, aber nur für kurze Zeit. Ich wage nicht, ihn zu Ende zu denken.

Irgendetwas stimmt nicht. Die Leute um mich herum führen sich auf wie ferngesteuerte Roboter. Sie kommen aus ihren Büros, bewegen sich mechanisch auf dem Gang herum und halten Handys an die Ohren gedrückt. Sie ähneln verängstigten Hühnern, laufen gegen Wände und gegeneinander, gackern in die kleinen Apparate hinein.

„Teufel auch!“ brüllt der Minister, als die Leibwächter vom PET, dem Polizeilichen Nachrichtendienst, ihn unter die Achseln fassen und mit ihm davonlaufen. „Das ist eine Notsituation, beeilen Sie sich, aus dem Gebäude raus zu kommen!“ ruft mir einer der Beamten zu.

Ich bleibe mitten auf dem Gang stehen, und sehe sie die Treppe hinunter Richtung Notausgang verschwinden. Die Menschen um mich herum laufen in alle Richtungen. Da ist auch die Pressereferentin und Medienberaterin des Ministers, ihr strammer Hintern ist in einen eng sitzenden, kurzen Rock eingezwängt. Sie schlägt mit der flachen Hand auf ihr Handy.

„Das Hotel Danmark ist in die Luft gesprengt worden“, ruft sie im Vorbeilaufen, bleibt dann abrupt stehen und dreht sich um. „Oh Gott, Ihre Freundin!“ Ihr Mund öffnet und schließt sich, und sie tritt einen Schritt näher zu mir. „Ich hoffe nicht ... ich muss den Minister finden.“ Dann ist sie in der Menschenmenge verschwunden.

Ich sehe das Redemanuskript des Ministers, mit dem ich heute Morgen ganz früh fertig geworden bin. Es schwebt auf den Boden zu, bekommt wieder Auftrieb und erhebt sich wie ein kraftvoller Schwanenkörper, bevor es gegen die Wand prallt und jäh zu Boden fällt. Ich sinke auf einen hellblauen Rokokostuhl an der Wand, betrachte die Uhr über der Tür zum Sitzungsraum des Außenpolitischen Ausschusses. Es ist 12.54 Uhr.

Kassandras Radiosendung endet in sechs Minuten. Ich kann sie direkt vor mir sehen, wie sie vor den Panoramafenstern des Studios steht, die auf die Kopenhagener Seen hinaus gehen, sie hält ihren Mund dicht an das Mikrofon und lächelt dem Hörer zu, der in der Sendung telefonisch zu ihr durchgekommen ist. Das Studio befindet sich in einer Suite im zweiten Stock des neu gebauten Hotels. Sie beantwortet gerade seine Fragen. ‚Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren’, sagt sie, und dann dreht der Chauffeur am Autoradio, dann kommt die Information, dass ein technisches Problem aufgetaucht sei, dann Popmusik, dann Stille.

Ich gleite hinein in den Strom von Menschen und komme hinaus in die Ridebane-Anlage hinter Schloss Christiansborg, suche mein Handy, es ist nicht in meiner neuen Tasche, die ist mir abhanden gekommen... hier habe ich es ja. Ich weiß nicht, warum ich zu laufen beginne, ich laufe ansonsten überhaupt nicht mehr. Ich würde gern wieder mit dem Laufen anfangen, ich hätte die Laufschuhe kaufen sollen. Meine glänzenden schwarzen Schuhe klicken auf der Straße, Jackett und Krawatte wehen beim Laufen. Jetzt stolpere ich und stürze mit meinen hundert Kilo und knapp zwei Metern schwer hin, mein rechter Arm schrammt über den Asphalt. Ich rappele mich wieder auf und laufe weiter, stürze zu einem Taxi und werfe mich auf den Rücksitz.

„Hotel Danmark“, sage ich.

„Das geht nicht. Haben Sie nicht von der Explosion gehört?“

„Ich zahle den doppelten Preis.“

Ganz tief in meinem Innern, wo immer das auch sein mag, weiß ich, dass ihr nichts passiert ist. Vielleicht ist es mein Unterbewusstsein, was diese Frage, die in meinem Kopf herumkreist, mit einem ‚Sie ist okay, ganz ruhig’ beantwortet. Jetzt biegt das Taxi auf die Busspur ein, und die lange Schlange von Autos verschmilzt zu einem einzigen zusammenhängenden Fahrzeug, das gegen den potenten deutschen Diesel keine Chance hat. ‚Sie ist ein Überlebenstyp, Carl’. Ich schaue auf meine Hände. Ich habe sie gefaltet. Wer verdammt noch mal ist das, der mir fortgesetzt sagt, Kassandra sei tot? Ist es meine Vernunft? Kassandra pflegt zu sagen, Vernunft ist eine Zwangsjacke, die jemand erfunden hat, um Kreativität und Schaffensfreude zu unterdrücken. ‚Stell dir vor, alle Menschen würden nach dem Sublimen streben?’ Kassandras Stimme ist in meinem Kopf, sie setzt mir zu, um mit meinen Träumen einen Kompromiss zu schließen, um Vernunft über Gefühl zu setzen, und wenn ich sage, dass mein Traum faktisch ein Job als Botschafter sei, glaubt sie mir nicht, denn ich sei zu etwas Größerem geschaffen. ‚Größeres?’ sage ich und sehe in die braunen Augen, die vor Erregung fast schwarz sind. ‚In meiner kleinen Welt wird es nicht größer als ein Botschafterposten’, sage ich, und sie lacht mich aus, meint, es mangle mir sowohl an persönlichem Ehrgeiz als auch an Ehrgeiz, etwas für die Welt zu tun, und sie fragt, ob es für mich noch etwas anderes gäbe, als nur materiellen Wohlstand anzuhäufen. Doch, ich möchte schon gern etwas leisten, was über die Eindrücke hinausgeht, die ich bei den Menschen hinterlasse, mit denen ich zu tun habe, aber ich weiß nicht, wie.

„Ich hab’s doch gesagt“, murmelt der Fahrer und zeigt auf die Polizeiabsperrung. „Jetzt sitzen wir fest.“

Ein durchdringender Gestank nach Chemie hängt in der Luft, und ich sehe die Ruine und den Rauch, die ein gespenstisches, zum Himmel gerichtetes Bauwerk bilden. Jetzt begreife ich, dass sie weg ist, verschwunden wie ein Haar, das zu Asche verbrennt.

Ohne Kassandra bin ich nur ein halber, frei schwebender Mensch, ich taumele durch die Gänge, die Straßen, die Felder, die Wolken, fürchte den Hass und Groll der ganzen Welt, Messer und Kugeln, die Stürme von der blendenden Sonne, die Herden von Opfern in tristen Räumen ohne Notausgänge und alle kranken Schicksale, die freigiebig Hoffnungslosigkeit und Leid austeilen. Ohne Kassandra falle ich zu Boden. Jetzt falle ich.

Als ich weggehe, sitzt sie am Frühstückstisch in ihrem weißen Bademantel und redet mit Robert und Albert. Ich schwenke meine neue Ledermappe und werfe ihr drei Kusshände zu. Heute ist mein Geburtstag. Sie haben mich mit Gesang und frisch gebackenen Milchbrötchen, Ei, Schinkenspeck und Mangosaft geweckt. Wir sehen uns an, während sie langsam ihre Hand zum Mund führt. Jetzt zischt eine Kusshand heran, wie eine Feuerfliege in der Nacht, und ihr Blick verschwindet in den Himmel über Kopenhagen.

Ich begegnete Kassandra während des Jurastudiums. Anfangs glaubte ich, aus uns beiden sollte etwas Festes werden, aber sie hatte andere Pläne. Kassandra war alles, was man sich wünschen konnte. Schnell, lustig, liebevoll, warm, großherzig, originell, hübsch. Ihresgleichen gab es nur eine. Ich glaubte schon, dass sie Interesse an mir zeigte, und erhielt dafür die Bestätigung, als ein Kommilitone ein Fest in der Prachtvilla seiner Eltern am Øresund gab. Spät am Abend folgte ich ihr ins Haus auf eine der Toiletten, was sie ungeheuer lustig fand. Plötzlich waren wir nackt und umarmten uns, ich setzte mich auf das Toilettenbecken, und sie glitt auf mich. Die Füße fest auf den Boden gestemmt, bewegte sie sich auf und ab, und als sie kam, biss sie mich in die Schulter. Dann sank sie auf meine Oberschenkel und schmiegte ihre Wange an meine Brust. ‚Ich weiß gerade, wie es ist, ein Baby im Bauch der Mutter zu sein’, sagte sie. ‚Und wie ein Vogel im Wind, ein Gepard in der Ebene, ein Bär mit einem zappelnden Lachs zwischen den Zähnen. Wenn ich gut zuhöre, habe ich Zugang zu Antworten auf alle Fragen, weil ich aus all dem geschaffen bin, was jemals existiert hat.’ Ich küsste sie auf den Rand ihrer Oberlippe und dachte, ich hätte die Liebe meines Lebens gefunden.

Einige Wochen später, nachdem ich täglich versucht hatte, sie telefonisch zu erreichen, hörte ich, dass sie das Jurastudium aufgegeben habe und mit einem Typen namens Martin Fisch nach Indien gereist sei. Ich reagierte nicht wie sonst üblich, wenn man mit mir Schluss gemacht hatte, und ich dann in einen Zustand des Unglücklichseins mit momentanen Selbstmordgedanken und psychosomatisch bedingten Atembeschwerden versank. Stattdessen wurde mein Organismus von einer nicht vehement dominierenden existentiellen Unruhe ergriffen, begleitet von einem fortdauernden Gefühl der Unwirklichkeit. Ich war nicht imstande, im Jetzt zu sein, meine Gedanken bewegten sich ständig hin und her. Ich stellte mir vor, wo ich sein würde, und wie mein Leben morgen zur gleichen Zeit oder in genau einem Jahr aussehen würde. Ob ich Herzrhythmusstörungen bekommen würde, wenn ich das Licht ausmachte um einzuschlafen. Ob ich im Bett liegen, mir den Puls messen und mir selbst versichern würde, dass das Herz schon seine Arbeit tun wird. Aber keine abgrundtiefen Löcher, keine depressionsähnlichen Sümpfe, kein schreiendes Opfer der Umstände und eines schlimmen Schicksals. Offiziell waren wir kein Paar, nicht einmal inoffiziell, und als ich drei Monate später von ihr eine Postkarte bekam mit dem Text ‚Ich liebe Dich, Carl Bernstein’, wurde mir klar, dass unsere Liebe von jeglicher Beschränkung frei war und Bestand haben würde, ungeachtet, mit wem wir zusammen wären und was wir tun würden.

Deshalb konnte es nicht verwundern, dass sie Jahre später anrief und mich aufforderte, in das freie Zimmer in der Wohnung einzuziehen, in der sie seit ihrer Scheidung mit ihren drei Jahre alten Zwillingen wohnte. Sie fühlte sich auch von Frauen angezogen, und ihr Ex-Mann Martin Fisch war längst zurück nach Jütland zu seiner Jugendliebe gezogen, war in eine rechte Partei eingetreten und hatte eine Blitzkarriere in der Kommunalpolitik und im Parlament gestartet. Das würde ich selber mit größtem Vergnügen....

”Was jetzt?” fragt der Taxifahrer.

„Zurück nach Christiansborg.“

Er fährt durch eine schmale Straße zwischen hohen, braunen Mehrfamilienhäusern und biegt nach links in die Amagerbrogade ein. Das Mobiltelefonnetz ist zusammengebrochen, und ich kann zu den Zwillingen nicht durchkommen. Ich runde den Preis auf und bezahle, steige vor Schloss Christiansborg aus und zeige einem Polizisten in Kampfuniform meinen Ausweis. Er weiß von nichts. Er willigt ein, mir in den ersten Stock zu folgen, aber die Tasche ist nicht da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Der Polizist zeigt mir den Weg zu einem Raum im Keller, wo sie in der Ecke liegt, zusammen mit anderen vergessenen Gegenständen. Auch das Rennrad des Ministers steht dort. Neugierige Finger haben sich an meiner Tasche zu schaffen gemacht, und meine Papiere befinden sich nicht in der üblichen Ordnung. Auf meinen diesbezüglichen Kommentar erhalte ich keine Antwort. Dann gehe ich hinaus zu meinem Fahrrad, lege die Tasche auf das Lenkrad und fahre heimwärts, passiere die Brücke über den Kanal und registriere aus dem Augenwinkel die Menschenmassen in Nyhavn. Die Temperaturen liegen heute bei 20 Grad. Ich radle in den Hof in der Amaliegade und laufe über die Küchentreppe hoch. Albert und Robert sitzen vor dem Fernseher und weinen. Ich setze mich zwischen sie auf das Sofa.

Das Weinen entsteht in der Tiefe meiner Lungen, braust durch den Hals herauf und aus dem Mund heraus, und in dem Moment beginnen die Zwillinge zu schreien. Wir halten uns umfasst, und sie reißen und zerren an meiner Kleidung, meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, ich hole Luft, bekomme aber keinen Sauerstoff. Sie rufen nach ihrer Mutter, sie soll nach Hause kommen, heulen ihre Jungvogelmünder in aufgelösten Gesichtern mit brennenden Augen, die nichts sehen. Ich schnappe nach Luft und halte sie mit aller Kraft fest.

2

Ich befreie mich aus dem beengenden Anzug und ziehe mir stattdessen Jeans und ein kurzärmeliges Hemd an, entferne kleine Steinchen und Erde von der Hautabschürfung an meinem Arm, betupfe die Wunde mit lauwarmem Wasser und lasse sie an der Luft trocknen. Es gibt Überlebende, sagen sie im Fernsehen, aber nicht in dem Teil des Hotels, in dem Kassandra gearbeitet hat. Alle Fernsehkanäle zeigen die gleichen, vom Helikopter aufgenommen Bilder des siebzig Meter hohen intakten Gebäudes, das verschont geblieben ist, da anscheinend mehrere Sprengladungen nicht wie geplant gezündet haben, und zoomen die Stelle heran, wo das flachere Nebengebäude mit Konferenzräumen, Büros und Rundfunkstudios gestanden hatte. Es hat sich in einen Berg aus verbogenem Stahl und rauchenden Mauerbrocken verwandelt.

Ein Sprecher erzählt mit schriller Stimme die Geschichte vom Terror in Dänemark, der seinen Anfang nahm, als eine Tageszeitung Karikaturen des Propheten der Muslime veröffentlicht hatte. Dadurch hatte sich Dänemark in der muslimischen Welt unbeliebt gemacht und war für militante Muslims zum Ziel des Terrors geworden. Seitdem haben die dänischen Geheimdienste eine der Öffentlichkeit nicht bekannte Zahl von Terrorangriffen abgewehrt, aber heute war es schief gegangen. Ein Universitätsprofessor stellt fest, dass das Hotel Danmark vermutlich deshalb zum Ziel gewählt wurde, weil die Sicherheitsmaßnahmen begrenzt gewesen waren, und die Terroristen viele Menschen auf einmal treffen konnten. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es sich um eine Selbstmordaktion handelt, sondern dass die Sprengung mit Hilfe eines Handys ferngesteuert wurde. Ich schalte um auf CNN, wo man ebenfalls live vom Ort des Geschehens berichtet.

„Dänemark – Hans Christian Andersens idyllisches Märchenland in Skandinavien – wurde heute morgen kurz vor neun Uhr Ortszeit von dem schlimmsten Terroranschlag gegen ein westliches Land seit Nine Eleven getroffen. Ein für alle Mal hat menschliche Brutalität den rosafarbenen Firnis und die romantische Unschuld von diesem kleinen Königreich abgeschlagen, das wie die anderen skandinavischen Länder bisher im großen und ganzen von den Grausamkeiten verschont geblieben war, die den Alltag der übrigen Welt schon lange prägen.“

Ich drehe den Ton leiser, als das Telefon läutet. Es ist Donald, mein direkter Vorgesetzter im Außenministerium, der fragt, wo ich bleibe. Es sei Krisensitzung in der Antiterroreinheit.

„Das Land befindet sich in der ernstesten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg, und du machst frei. Ich erwarte, dich in einer halben Stunde zu sehen.“ Der Hörer wird aufgelegt.

Ich habe ihm kürzlich erzählt, dass Kassandra nach einer Reihe von Jahren als Produktionsleiterin schließlich ihre eigene Rundfunksendung bekommen hat, und dass diese von den Studios im Hotel Danmark aus gesendet wird, aber er kann natürlich nicht wissen, ob sie im Moment der Sprengung an ihrem Arbeitsplatz war. Donald ist kein Typ für Small Talk. Er hat es durch das Nadelöhr geschafft und kann sich ‚Vortragender Legationsrat Erster Klasse’ nennen; er kann seinen Botschafterposten bereits riechen, und nichts soll dazwischenkommen.

Aber ich gehe nicht zur Arbeit, ich fahre mit den Zwillingen zum Rigshospital, dem Zentralkrankenhaus. Dort hat man im Erdgeschoss ein Krisenzentrum eingerichtet, mit kleinen, durch Vorhänge abgeschirmten Boxen, mit jeweils einem Schreibtisch und zwei Stühlen, und wir bekommen einen Krisenpsychologen zugeteilt. Ich sage nichts, jetzt geht es erst um die mentale Wiederherstellung der beiden Jungen, und ich lausche ihren tränenerstickten Fragen und Gefühlsentladungen und den wohlgemeinten Ratschlägen des Psychologen, und das Ganze verschmilzt zu brummenden, gellenden, flüsternden, zischenden, schreienden Stimmen, bis mir plötzlich klar ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, dass Kassandra tot ist, und dass sie die Konsequenzen nicht überschauen können. Ich kann es auch nicht. Aber jetzt bin ich an der Reihe.

„Sie werden früher oder später in einen Zustand geraten, in dem Sie Zorn verspüren, wenn Sie an die Verstorbene denken. Das ist ganz natürlich, und es ist wichtig, dass Sie Ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Jegliche Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die weinen, schreien, schimpfen und über die Dinge sprechen, am besten durch die Krise kommen“, sagt der bärtige Mann, und ich versuche, seinen Blick hinter den verschmierten Brillengläsern aufzufangen. Ich bin dankbar, dass es Menschen wie ihn gibt, die Energie investieren, um anderen zu helfen. Er hätte ja auch Immobilienhai werden können, Börsenspekulant oder ein böswilliger Banker, den Blick starr auf nichts anderes als den jährlichen Bonus gerichtet, ein roher und rücksichtsloser Kapitalist. Der Blick des Psychologen flackert, die Situation zeigt Wirkung bei ihm, auch er hat Gefühle, selbst wenn er gelernt hat, sie zu kontrollieren, aber so viele Leben, die zu gleicher Zeit über dem Dunkel des Abgrunds hängen, bilden eine gewaltige Kraft, die selbst die solidesten Fundamente zum Bersten bringen können. Ich nicke schnell, will ihm sagen, dass mein Organismus von einer erdrückenden Zwangsjacke der Sinnlosigkeit umschlossen wird, aber die Worte verdorren in meinem Mund. Dann will ich ihm sagen, dass ich am meisten an Albert und Robert denke, die mitten im Abitur stehen und morgen ihre schriftliche Dänisch-Prüfung haben. Ich weiß nicht, ob sie das schaffen, oder ob ich veranlassen kann, dass ihre Prüfungen verschoben werden. Ihr Vater, Martin Fisch, muss wohl auch einbezogen werden. Ja, das ist der von der Dänemark-Partei, sie sehen ihn selten, und für die Jungen bin ich wohl mehr ihr Vater als er, aber trotzdem. Der Psychologe sieht mich fragend an. Martin Fisch wird viel zu tun bekommen. Egal wer hinter der Terroraktion steckt, sie wird noch stärkeren Hass gegen das Unbekannte hervorrufen, seine Sache wird explosionsartig Zuspruch erfahren, und Dänemark wird fremdenfeindlicher werden. Für Martin Fisch eine traumhafte Situation. Jetzt beuge ich mich über den Tisch.

„Muss ich ihre Leiche identifizieren?“

„Nach meinen Informationen befand sie sich unmittelbar über einer der Sprengladungen“, sagt der Psychologe so leise, dass ich mich anstrengen muss, ihn zu verstehen.

„Bedeutet das, dass es nichts zu identifizieren gibt?“

Er nickt schwach, nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen.

Vor dem Fernsehbildschirm an der Wand im Foyer ist eine Menschenmenge zusammengeströmt. Die Hände der Jungen halten meine Unterarme fest umklammert. Einem Krankenträger gelingt es, den Ton lauter zu stellen, und wir bleiben stehen und hören dem Sprecher zu. Er berichtet, dass eine bislang unbekannte Terrorgruppe namens ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ auf einem Video, das den Nachrichtenagenturen zugespielt wurde, die Verantwortung für die Bombensprengung in Kopenhagen übernommen hat. Auf dem Bildschirm taucht ein Mann auf, das Gesicht mit einem Halstuch maskiert, und trägt seine Botschaft in perfektem Englisch vor.

Wir sind die von der Menschheit ausgesandten Krieger. Wir sind eure Brüder und Schwestern, wir leben unter euch, wir sprechen eure Sprache und arbeiten zusammen mit euch. Wir sind Menschen wie ihr, die sich über Grenzen der Religion und Politik hinweg zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus zusammengefunden haben, der unsere gemeinsame Erde unbewohnbar macht und einen wirtschaftlichen Morast geschaffen hat, der Millionen von Menschen aus Haus und Heim vertreibt. Die Aktion in Kopenhagen ist nur die erste von weiteren, die der globalen Krankheit ein Ende bereiten sollen, deren Symptome Egoismus und Materialismus auf Kosten der Gemeinschaft sind. Die Aktion in Kopenhagen hat zwölf einflussreiche Wirtschaftsbosse ausgelöscht, die im Hotel Danmark versammelt waren, um Pläne für die zukünftige Ausbeutung der armen Bevölkerungen in der Welt zu schmieden. Wir bedauern zutiefst die unschuldigen Opfer und trösten uns damit, dass sie in einem notwendigen Krieg gefallen sind.

Wir schieben die Fahrräder, als wir den Peblinge-See entlang gehen, und setzen uns dann auf eine Bank unter einem blühenden Kastanienbaum. Ich sitze zwischen den beiden und suche nach Worten. Normalerweise ist es Kassandra, die das Richtige sagt, und ich bin es dann, der es bestätigt. Ich wende mich Albert zu. Er ist eine identische Ausgabe von Robert, aber trotzdem ist er der Kleine, zehn Minuten später geboren.

„Ich zittere“, sagt er.

„Ich auch“, sagt Robert.

„Ich ebenfalls“, murmele ich.

Aber es sind nicht nur wir, die im Innern zittern, die Erde vibriert, und ich halte die Jungen fest an den Schultern gepackt, die Fahrräder fallen um, und am Weg nimmt eine junge Frau ihr Baby aus dem Kinderwagen, setzt sich auf den Boden und beugt sich über das Kind, während die Zweige des Kastanienbaumes über ihr schaukeln, und die Blüten sich lösen und wie Schnee herabfallen, und hinter uns schreit eine ältere Frau auf, als ihr der Rollator aus den Händen gleitet und sie auf die Knie fällt. Bevor ich reagieren kann, ist das Erdbeben vorbei.

Wir beeilen uns, nach Hause zu kommen, und schalten den Fernseher ein. Das bislang stärkste Erdbeben, das jemals in der Geschichte Dänemarks registriert wurde, hatte sein Epizentrum im Zentrum von Kopenhagen, nahe dem Hotel Danmark. Der Fernsehsender spricht mit einem Geologen, dessen Ansicht nach es einen Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und der Terrorbombe geben kann.

„Eine so starke Explosion kann die seismischen Kräfte in der Erdkruste beeinflussen und Erdbeben auslösen. Das hat man 1971 in der Wüste von Nevada gesehen, als ein atomarer Test dazu führte, dass sich auf einer Strecke von 1300 Metern eine Verwerfungszone öffnete. Die Wahrscheinlichkeit wächst mit der Sprengkraft der Bombe und der Tiefe, in der sie platziert ist. So weit ich weiß, war mindestens eine der Ladungen in Kopenhagen im Abwassersystem unter dem Hotel angebracht. Glücklicherweise sind die seismischen Aktivitäten in Dänemark gering. Hätte die Explosion am San Andreas-Graben in Kalifornien stattgefunden oder entlang der Küste Chiles, wage ich nicht an die Folgen zu denken“, sagt der Forscher und rückt seine Krawatte zurecht.

Die Moderatorin im Studio blickt mit einem verwirrten Gesichtsausdruck in die Kamera.

„Ich würde gern hören, zu welchem Beitrag wir jetzt kommen?“ sagt sie, streckt ihren Arm aus dem Bild und bekommt ein Stück Papier in die Hand gedrückt. „Wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass sich innerhalb weniger Minuten Terroraktionen in Amsterdam, Berlin, Madrid, Brüssel, Stockholm und Rom ereignet haben. Überall hatten die Terroristen es auf Firmensitze, Hotels und andere Gebäude abgesehen, wo viele Wirtschaftsleute versammelt sind und wo als Folge mit hohen Verlusten an Menschenleben zu rechnen ist. Laut unbestätigten Quellen hat die Terrororganisation ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Nach einer kurzen Pause sind wir gleich wieder zurück mit weiteren Nachrichten.“

„Was passiert da mit der Welt?“ Alberts Stimme zittert. Die Zwillinge sitzen wie zu Salzsäulen erstarrt auf dem Boden und starren mit ihren dunkelbraunen Augen auf den Bildschirm. „Bricht sie auseinander?“

„Hat er das nicht vorausgesehen, der Grieche Alexandros, der bei uns gewohnt hat?“ murmelt Robert.

„Natürlich bricht die Welt nicht auseinander. Denk doch, wie groß und solide sie ist. Das kann nicht passieren.“ Ich denke an Alexandros, der genau das Gegenteil gesagt hatte. Er meinte, die Auslöschung des Lebens, wie wir es kennen, sei eine Voraussetzung dafür, dass die Welt als Aufenthaltsort für Menschen fortbestehen könnte. Er hatte gesagt, dass Raumschiffe auf dem Weg hierher unterwegs wären, und dass diese Schiffe die Auserwählten mitnehmen würden, kurz bevor die Erde durch Naturkatastrophen und Kriege untergehen würde. Dann würde reiner Tisch gemacht, und die Auserwählten könnten von neuem beginnen und eine neue Welt aufbauen, mit anderen Werten als jenen, die heutzutage gelten. Er hatte so viel gesagt.

Ich betrachte die Zwillinge, die sich durch das Zimmer bewegen, jeder zieht seine Matratze hinter sich her, sie fragen, ob sie bei mir im Zimmer schlafen dürfen, und bevor ich antworten kann, haben sie die Matratzen neben mein Bett gelegt. Irgendwann schlafen sie ein. Und dann irgendwann später wachen wir auf und entdecken, dass wir nichts zu essen im Hause haben. Also nehmen wir das Auto und fahren zu einem Restaurant in Hellerup, essen dort Rührei mit Schinken und fahren danach über den Strandvej nach Bellevue. Wir parken dort, wo wir in alten Zeiten immer gehalten haben, und schauen auf die Schaum sprühenden Wellen, sprechen über den Vergnügungspark Dyrehavsbakken, wo wir nicht mehr gewesen sind, seit sie Kinder waren, und dass sie immer einen Hot Dog und ein Sprudelwasser bekommen haben. Wir stellen uns vor, wir gingen zweimal rund um den See drinnen im Dyrehavsbakken, unseren See. Wir sind fast dran, eine dritte Runde zu unternehmen, aber es bedarf der Einstimmigkeit, und Albert ist dagegen. Vom Restaurant aus hat man Aussicht auf den See, da sind wir seit der Konfirmation der Zwillinge nicht mehr gewesen. Wir bestellen eine Platte Smørrebrød, und die Kellnerin kann sich noch genau an das Fest erinnern, unser Fest. „Ausgezeichneter Redner, und Ihre Frau trug das wunderbarste Kleid“, sagt sie, und als sie sich in die Küche zurückgezogen hat, treffen sich unsere Blicke über den Tisch hinweg, und keiner kann sich überwinden, ‚Prost’ zu sagen, und dann fangen wir an zu weinen; es ist erst das zweite Mal, dass die Jungen Tränen in meinen Augen sehen, und sie studieren eingehend mein Gesicht, vergessen alles und weinen selbst weiter, und ich bin erleichtert, als wir wieder im Auto sind.

„Ich verstehe nicht, dass Mama nicht hier ist“, sagt Robert und sieht mich an. „Sie hätte da auf dem Sitz neben dir sitzen müssen.“

Wäre ich es, der nicht hier war, und wären die Jungen mit Kassandra zusammen und würden das Gleiche zu ihr sagen – sie würde genau wissen, mit welchen lindernden Worten sie die beiden trösten müsste. Das, was ich weiß, ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, und dass ich meinen besten Freund verloren habe, und keiner von uns weiß, ob wir ohne sie weiterleben können.

Robert sieht mich immer noch an.

„Überlegst du, was Mama sagen würde, wenn sie in deiner Lage wäre? – Sie würde sagen, du bist in einer parallelen Dimension und wirst immer bei uns sein, ganz gleich, ob wir dich sehen oder nicht.“

3

Wir werden gleichzeitig um fünf Uhr wach, bleiben im Bett liegen und lauschen dem Regen. Während der Fahrt mit dem Auto zur Friedhofskapelle dringt die Sonne durch einige Wolkenlücken, und wir fahren unter einem Regenbogen hindurch. Jetzt ist es ein klarer Tag. Die Jungen sitzen eng nebeneinander auf dem Rücksitz. Sie haben die schriftlichen Prüfungen überstanden und können sich an nichts erinnern, weil ihnen alles wie im Nebel vorgekommen ist; bald kommt die Mündliche, und in Kürze sind sie Abiturienten, dann müssen sie in die Welt hinaus. Die Erde dreht sich weiter. Ich kurbele das Fenster herunter, und der Wind erfasst mein Haar. Ich hole Luft, so wie es Kassandra mir beigebracht hat, wenn sich die Unruhe schleichend nähert. Ruhig durch die Nase einatmen, bis tief hinunter in den Magen, dann durch den Mund ausatmen. Ich gab mich dem Alltag mit Kassandra und den Zwillingen hin. Ich habe einmal Tennis gespielt. Ich hatte eine Geliebte, ich hatte zwei gleichzeitig. Ich hatte Freunde und ging aus. Ich hatte einen durchtrainierten Körper, war muskulös und wirkte selbstverständlich auf hübsche Frauen anziehend. Ich war einmal ein attraktiver Mann. Seitdem ist mein Körper zu einer Transporteinheit und einem Nahrungskanal für das Gehirn verkümmert, und ich begann zu welken. Aber es gab nichts, was ich mehr schätzte als nach einem langen Tag im Ministerium nach Hause zu kommen und mich an den Küchentisch zu setzen, mich mit Kassandra zu unterhalten, mit ihren Freundinnen, den Zwillingen, deren Freunden. Die Freude und Geborgenheit wogen reichhaltig die Bedürfnisse und Träume auf, die ich nicht länger identifizieren konnte.

Ich lasse die rote Rose los und folge mit meinen Augen ihrem ungleichmäßigen Hinunterschweben, bis sie auf den weißen Sarg tief unten im Grab auftrifft. Mein Blick begegnet dem von Martin Fisch. Er hat den Zwillingen angeboten, bei ihm einzuziehen, aber sie haben abgelehnt. Ich kann den Duft der Rosen in ihren Händen riechen.

In der Nähe weint ein Baby. Ob es weh tut, das erste Mal zu atmen, und das letzte Mal? Ich denke an Kassandras weißes, zartes Gesicht, ihre hohe, gerundete Stirn, die nach kosmetischen Behandlungen glatten Wangen, ihre schwarzen Wimpern, Engelshaar, das halb den Rücken herunter reicht. Sie schwebt dahin zwischen ihren viel größeren, fast erwachsenen Söhnen mit den breiten Schultern. Ich umfasse diese Schultern.

Ich kann die Geduld meines Chefs nicht viel länger strapazieren. Bald wird es wieder die alten Arbeitszeiten geben, es sei denn, ich bewerbe mich um einen humaneren Job. Der Sarg ist von Rosen bedeckt. Es ist gut, dass er leer ist. Der Gedanke, dass ihr Körper dort eingesperrt wäre, ist unerträglich. Wir alle können Kassandra vor uns sehen, ihre Eltern können sie sehen, die Kollegen, die verflossenen Liebhaber, die Freunde und die mir Unbekannten. Wie der dunkelhäutige Mann am Rande des Trauerzuges. Etwas kommt mir jetzt an ihm bekannt vor. Ja doch, das ist der Grieche Alexandros. Er trägt einen Vollbart, den er damals nicht hatte, als er bei uns wohnte. In dem Moment wendet er seinen Blick zum Himmel, mit von Tränen geröteten Augen, und ich werde in der Zeit zurückgewirbelt, hebe den Telefonhörer ab und sage:

„Hier ist Carl.“

„Carl Bernstein? Der Verfasser eines Artikels über Nahtod-Erfahrungen?“ fragt eine dünne Frauenstimme.

Ich kann meinen Namen nicht verleugnen, ebenso wenig, dass ich vor zwei Jahrzehnten, vor dem Jurastudium, ein paar Monate lang Anthropologie belegt hatte und in dem Fach ein Referat zu dem Thema geschrieben hatte. Anscheinend hatte es jemand ins Internet gestellt. Ich schalte den Mithörlautsprecher des Telefons ein.

„Ja, das bin ich.“

„Ich heiße Vicky, du ahnst nicht, wie froh ich bin, deine Stimme zu hören. Ich rufe im Namen eines jungen Mannes an, er heißt Alexandros. Er ist den ganzen Weg von Griechenland hierher gereist, um einen Dänen namens Paul Weis aufzusuchen. Kennst du ihn?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Störe ich?“

„Nein.“ Meine Antwort kommt sicher etwas zögerlich.

„Alexandros hatte ein Nahtod-Erlebnis, verstehst du, und als er wieder zu sich kam, war es in dem Bewusstsein, dass ihm als Mensch ein höheres Ziel bestimmt war, das über seine jetzige Lebensführung hinausging. Er konnte es nicht näher definieren, nur, dass er nicht länger Häuser für reiche Touristen bauen wollte. Kurz darauf fand er alle Antworten auf seine Fragen in einer griechischen Übersetzung von Paul Weis’ Buch ‚Stimmen des Himmels’. Nach der Lektüre des Buches machte er sich von allen materiellen Bedürfnissen frei. Er verkaufte seine Wohnung und sein Auto und verschenkte sein Geld. Seine Frau und sein Kind zogen in eine billige Mietwohnung, und er selbst begann herumzureisen und von seinen Plänen zu erzählen. Er schrieb darüber auch im Internet, und inzwischen hat er mehrere Tausend Anhänger. Vor einem Monat reiste er dann nach Dänemark, um Paul Weis zu suchen.“

„Ach so.“

„Die einzige Spur, die er verfolgen konnte, war die Adresse der Organisation ‚Universal Link’, die Paul Weis’ Buch herausgegeben hat. Die hat ein Postfach bei einem Postamt hier in der Stadt. Aber Alexandros konnte Paul Weis nicht finden. Er streifte durch das ganze Viertel und klopfte schließlich bei unserer Wohngemeinschaft an die Tür und bat um Hilfe. Seitdem wohnt er bei uns.“

„Und was sollte ich tun können?“ Über den Küchentisch hinweg fange ich Kassandras Blick auf.

„Möglicherweise ist es nur ein Schuss ins Blaue, aber ich stellte mir vor, dass, wenn Alexandros’ Reise ursprünglich einem Nahtod-Erlebnis entsprang, ich bei einer Suche danach im Internet vielleicht jemanden finden konnte, mit dem er anstelle von Weis sprechen könnte.“

„Und so kam ich ins Spiel. Aber worüber soll ich deiner Meinung nach mit ihm sprechen?“ sage ich und kann Kassandras Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Vielleicht kannst du ihm etwas sagen, was ihn auf seiner Suche weiterbringt. Dazu kommt, dass er nicht mehr viel länger bei uns wohnen bleiben kann. Ich dachte, dass er eventuell ein paar Tage bei dir übernachten könnte?“

„Wir haben relativ wenig Platz“, sage ich. Kassandras Kopf bewegt sich auf und ab. „Aber andererseits könnte es wohl gehen.“

Ein paar Tage später steht Vicky in der Tür ihrer Wohngemeinschaft und begrüßt Kassandra und mich mit einem Lächeln. Sie ist älter als ich mir vorgestellt hatte. Ihre blonden, seit langem dauergewellten Locken sind zu einem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden, das Gesicht ist wettergebräunt und ungeschminkt. Sie breitet die Arme aus, und ihr Blick verschwindet irgendwo zwischen unseren Köpfen.

„Willkommen auf dem Lande“, ruft sie.

Wir betrachten die flache Landschaft. Nicht weit entfernt kriechen Hochspannungsmasten über die Felder wie Insekten in einem Science-Fiction-Film.

„Es ist schön hier“, sagt Kassandra.

„Kommt jetzt und begrüßt Alexandros. Er ist 28 Jahre alt, wie Jesus, als er in die Wüste hinauswanderte. Wisst ihr, warum er nach Dänemark gekommen ist?“

„Jesus?“

„Nein, nein“, lacht sie. „Oder vielleicht trotzdem, denn nachdem er Paul Weis’ Buch gelesen hatte, wurde Alexandros klar, wer er in Wirklichkeit ist. Sie wendet sich Kassandra zu. „Ich habe nie an Wunderheilung und so was geglaubt, bis ich Alexandros begegnet bin. Das erste Mal, als er mich berührte, sprengte sich mein Herz durch die Schichten von Trauer, die es bedrückten, und ich wurde von einem wunderbaren Gefühl von Freiheit erfüllt.“

Kassandra lacht und drückt Vicky.

„Aber die anderen in der Wohngemeinschaft sagen, er sei ein Schwindler auf der Durchreise. Alte Kommunisten haben für etwas, was sie nicht verstehen, nur Verachtung übrig“, lacht Vicky. „Die Männer hier im Haus haben Angst vor Veränderungen und wollen nicht mit ihm sprechen. Sie sehen in ihm eine Bedrohung ihrer Stellung und bezeichnen ihn als Stein im Schuh des Kollektivs.“

„Wie lange bleibt er im Land?“ frage ich.

„Er sagt, dass sich innerhalb von 40 Tagen nach seiner Abreise aus Griechenland alles verändert haben wird, und erst heute morgen haben wir darüber gesprochen, dass 33 Tage vorüber sind. Ich werde ihn vermissen.“

Wir ziehen Mäntel und Schuhe aus. In der Küche begegnen wir einem Mann mit graumelierten Haaren in löchrigen Jeans und mit einer Brille auf der Nase, er beeilt sich wegzukommen, ohne die fremden Elemente zu begrüßen. Vicky kocht Tee und ich bringe die Trinkbecher zum Kamin. Wir setzen uns in die mit verschlissenem Samt bezogenen Sessel und reiben uns die Hände. Ich lege meine Füße auf den Rand des Kamins nahe am Feuer. In dem Moment steht Alexandros vor uns, und wir springen auf und drücken ihm die Hand. Die Augen des Griechen sind dunkel und blicken in die Ferne. Er geht mir bis zur Schulter und ist unter seinem T-Shirt wie ein Ringer gebaut. Vicky stellt uns vor und gießt uns Tee in die braunen Trinkbecher ein. Die Stille erfüllt den Raum, und Wärme umfängt uns. Alexandros hat ein Buch auf dem Schoß liegen.

„Danke, dass ihr gekommen seid“, sagt er schließlich mit tiefer, weicher Stimme. Mit seinen schwieligen Händen öffnet er das Tabakspäckchen und holt ein Stück Zigarettenpapier heraus. Er füllt es mit Tabak, rollt es zusammen und leckt daran, um es zu versiegeln. „Paul Weis ist der Schlüssel. Er ist der Verfasser dieses Buches – es heißt ‚Stimmen des Himmels’“.

Er zündet die Zigarette an, bläst Rauch in die Flammen des Kaminfeuers und sieht mich mit unbeweglichen Augen an. Die Zigarette balanciert zwischen den schmalen Lippen, und jetzt leuchtet die Glut wiederum auf. Er wendet sein Gesicht Kassandra zu.

„Es ist in viele Sprachen übersetzt worden und in spirituellen Kreisen weltweit bekannt. Paul Weis gründete die Organisation Universal Link, welche die ursprüngliche Ausgabe herausgab. Universal Link hatte ihren Hauptsitz hier in der Stadt, existiert aber nicht mehr, und niemand hier weiß, was aus Mr. Weis geworden ist.“

„Erzähl ihnen, was deiner Meinung nach mit der Welt geschehen wird“, unterbricht Vicky.

„Universal Link ist mehr als ein Verlag“, fährt Alexandros langsam fort, ohne Notiz von ihr zu nehmen. „Es ist der Name für eine Operation, die die Menschheit vor dem Untergang retten soll, wenn die alles umfassende Zerstörung einsetzt. Vielleicht ist euch bereits klar, dass wir uns am Rand des Abgrunds befinden? Die Erdbevölkerung wächst explosiv, und alle Menschen sollen sich jeden Tag satt essen und sollen Autos, Fernsehen, Kühlschränke und all das übrige Materielle haben, was wir für selbstverständlich halten. Es wird ein Kampf jeder gegen jeden, und keiner kann gewinnen. Nicht lange, und es wird ein neuer Weltkrieg ausbrechen, und Atomexplosionen werden Vulkanausbrüche und Erdbeben auslösen, die jegliches Leben auf der Erde auslöschen. Aber Sekunden bevor der Erdball in Flammen und Schreien ertrinkt, werden Raumschiffe unter Führung von Commander Ashtar aus der Andromeda-Galaxis hierher kommen und die Auserwählten mit sich nehmen.“

Er saugt den Rest aus seiner Zigarette und schnipst sie in den Kamin.

„Wenn wieder Ruhe auf der Erde eingekehrt ist, werden die Auserwählten zurückkommen und zusammen mit dem wiedergekehrten Christus eine neue Lebensform schaffen. Das habe ich in einer Offenbarung jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod gesehen. Und später las ich das gleiche in diesem Buch, und ich begriff, dass ich in all dem, was geschehen wird, eine Rolle zu spielen habe. Und das habt ihr auch.“

Ich suche Kassandras Blick, aber ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Alexandros. Der Grieche hebt den Blick:

„Ihr bekommt keine Probleme mit mir. Ich faste und brauche nur ein wenig Wasser und einen Platz, wo ich schlafen und während der Wartezeit meditieren kann, und ein bisschen Tabak, das ist alles.“

Kassandra nickt unmerklich. Ich vertraue blind auf ihre Urteilskraft und erkläre, er sei uns willkommen. Etwa eine Woche oder so. Darüber sprechen wir noch.

„Von Staub bist du genommen. Zu Staub sollst du wieder werden. Vom Staub wirst du auferstehen.“ Der Wind erfasst eine Wolke aus Staub und wirbelt sie in die Luft.

Jetzt rückt die Menschenmenge näher an das Grab heran, und die Rosen färben den Sarg noch roter. Alexandros ist verschwunden. Vielleicht ist er gar nicht hier gewesen, vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Wäre er denn sonst nicht geblieben und hätte uns begrüßt? Jetzt kommen sie und sprechen ihr Beileid aus, mit Tränen in den Augen liefern sie Mitgefühl und Umarmungen ab, wie man es halt so tut, aber anstatt etwas zu geben, dringen sie in meinen letzten Freiraum ein, pumpen Tränen hinein, bis kein Sauerstoff mehr übrig bleibt.

Dann ist es überstanden, und die Zwillinge und ich fahren im Auto mit heruntergelassenen Fenstern weg, wie immer in Richtung Norden, den Øresund entlang. Ich fahre auf den üblichen Parkplatz, und wir steigen aus und gehen eine Zeitlang schweigend am Wasser entlang.

„Wir haben uns noch“, sagt Albert und sieht Robert und danach mich an. Wir stehen nebeneinander, die Gesichter dem Øresund zugewendet. Nicht weit von der Küste findet eine Segelregatta für Optimisten-Jollen statt.

„Ich wünschte, Mama wäre hier“, murmelt Robert.

„Wir drei haben uns noch, wir müssen weiterleben“, sagt Albert.

„Das weiß ich ja, aber ich vermisse sie!“

Mein Blick folgt einer der kleinen Jollen.

„Ich glaube, ich habe Alexandros bei der Beerdigung gesehen.“

Robert wendet sich mir zu.

„Er war da. Ich habe ihn auch gesehen.“

4

Ich habe das Gefühl, als hätte das Telefon schon etliche Male geläutet, als ich aufwache und den Hörer ans Ohr lege. Es ist Donald vom Ministerium. Die Übergangenen und Verbitterten nennen ihn Donald Dick. Ich sehe an mir selbst herunter, ich habe immer noch meine Kleidung und meine Schuhe an, konnte gestern Abend keine Ruhe finden.

„Kommst du heute rein, Carl?“ Er mobilisiert die ganze Freundlichkeit, die er in besonders peinlichen Situationen in Reserve hat.

Der Fernseher läuft, und aus dem Text der Laufschrift Breaking News geht hervor, der Ministerpräsident zöge in Erwägung, den Ausnahmezustand über Dänemark zu verhängen. In den vom Terror betroffenen europäischen Städten wandern Menschen wie Zombiefiguren in den Straßen herum, getrieben von Massenangst. Sobald sie auf ein Hindernis stoßen, wechseln sie die Richtung. Sie haben vergessen, was sie zurückgelassen haben, und wissen nicht, wonach sie suchen.

„Ich habe eine, wie soll ich sagen, ziemlich anspruchsvolle Sache übertragen bekommen. Ich hoffe, du kannst mir dabei helfen, die zu erledigen.“

In Kopenhagen patrouillieren die gepanzerten Mannschaftswagen des Militärs, und die Politiker in Christiansborg halten Krisensitzungen. Sie haben bereits neue Sondergesetze verabschiedet, die den Geheimdiensten freie Hand lassen. Die Beamten in der Zentralverwaltung haben sich in ihren Büros niedergelassen, von denen aus sie den Politikern mit Gesetzesentwürfen assistieren. Donald gilt als harter Knochen, aber das sind alle, die auf der gleichen Hierarchie-Ebene stehen wie er, sonst würde man auch nicht soweit kommen. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, sich dafür zu entschuldigen, dass er an einem Samstagabend oder Sonntagnachmittag wegen einer Aufgabe anruft, die es sofort zu erledigen gilt. Oft informiert er einen kaum, das meiste muss man sich selbst zusammenreimen und dazu noch beten, dass man die Aufgabe nicht missversteht, wie zum Beispiel die Ausarbeitung eines Redemanuskripts für den Minister in einer Angelegenheit, die man nicht kennt und in die man sich deshalb erst einmal gründlich einarbeiten muss. Vielleicht ist die Opposition in Besitz von Informationen gekommen, dass die Regierung vorschriftswidrig oder kritikwürdig gehandelt hat. Dann ist es an mir, die Informationen zu dementieren, ungeachtet wie korrekt sie auch sein mögen. Ich erinnere mich an eine Vielzahl von Fällen, insbesondere in Bezug auf die Teilnahme Dänemarks an den Kriegen im Irak, in Afghanistan und in Libyen, in denen ich mit Hilfe von Argumentationen, basierend auf Hinweisen auf anonyme Quellen und die Rücksicht auf die Staatssicherheit, mehr als einen Minister davor gerettet habe, von der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt zu werden. In seltenen, schwachen Momenten suchen mich die Lügen heim. Normalerweise empfinde ich einen gewissen Stolz darüber, dass ich über die notwendige intellektuelle Kapazität verfüge und mich in einer Position befinde, in der meine Überlegungen entscheidend sind, gesellschaftliche Destabilisierung zu verhindern. Die Misskreditierung der Motive, die die politischen Führer eines Landes leiten, wirkt zerstörerisch auf die Demokratie. Es gibt Situationen, und wird sie immer geben, die nach alternativen Versionen der Wahrheit rufen, und ich bin und bleibe ein Meister auf diesem Gebiet. Bisweilen träume ich sogar in der Behördensprache.

„Nur eine Stunde. Es geht nicht direkt um den Terroranschlag, und trotzdem. Es ist ein ziemlich gutes Angebot für dich. Komm um 13 Uhr.“

Im Hörer ertönt ein Klick. Donald ist ein eminent tüchtiger Schauspieler. Nur die besten dieser Art erreichen die Spitze im Außenministerium. Ich habe bemerkt, dass auf meiner Hierarchie-Ebene alle das gleiche Pokerface aufsetzen und gute Miene zum bösen Spiel machen können, wenn es sein muss. Alles ist Technik, wir können alles mögliche auswendig lernen, und wir können unsere Gefühle abkoppeln und Eiseskälte gegenüber denen praktizieren, die versagen und die geopfert werden müssen, damit wir selbst schneller vorwärts kommen. Auf meiner Stufe der Hierarchie muss man mit dem Dolch umgehen können. Man muss wissen, was erforderlich ist, um seinen Gegner für kürzere Zeit oder auf Dauer mattzusetzen.

Ich koche Hafergrütze für die Zwillinge. Sie müssen zur mündlichen Prüfung. Der eine Arm Roberts liegt auf der Bettdecke, Albert befindet sich darunter.

„Warum hast du uns nicht geweckt?“ ruft Albert, als er bemerkt, wie spät es ist.

Robert springt auf und läuft hinaus zur Dusche.

„Da ist Hafergrütze“, sage ich.

„Gibt es keine Brötchen?“ murmelt Albert.

„Ich habe verschlafen. Soll ich euch fahren?“

„Ja, danke“, sagt Robert auf dem Weg durch die Küche, ein Handtuch um den Körper gewickelt. „Die Formeln warten nicht.“

Albert schließt die Tür zum Badezimmer und kommt einen Moment später wieder heraus. Dann laufen wir die Treppe hinunter. Ich verstehe nicht, wie sie das hier so durchziehen können. Mein Herz klopft heftig in der Brust, es schreit nach Kassandra, wie ein Rauschgiftsüchtiger nach seinem Stoff.

Ich sitze auf dem Fahrrad und versuche, meine üblichen mentalen Überschüsse zu mobilisieren. Das ist notwendig, will man die Spiele und Machtkämpfe im Ministerium durchstehen, die vor allem daher rühren, dass das System des Außenministeriums keine anderen Ziele kennt als einen Posten als Botschafter. Die mehr als neunzig Prozent der Mitarbeiter, die das Ziel nicht erreichen, werden deshalb im voraus zu Verlierern erklärt. Sie müssen mit dem nach unten gestreckten Daumen und dem daraus folgenden Zustand der Niederlage leben. Sie haben es nicht geschafft, waren nicht tüchtig genug, nicht skrupellos genug, nicht intelligent genug, sie hatten nicht das, was dazu erforderlich ist. Sie ertrugen nicht die Leichen im Keller, das Gewissen plagte sie, sie schafften es nicht, sich vorzudrängen, um im Rampenlicht zu stehen und Anerkennung auf Kosten anderer zu ernten. Ihre ekelhaft falsche Bescheidenheit hinderte sie daran, die richtigen Karten auszuspielen. Über neunzig Prozent der Mitarbeiter sind misslungene Beamte, Hilfsarbeiter, die das Ministerium mehr oder weniger gezwungenermaßen bis zum Rentenalter durchfüttern muss. Die wenigen erfolgreichen Kollegen kehren den Verlierern den Rücken zu, sprechen nicht mehr mit ihnen, beantworten nicht ihre Anfragen, und betrachten sie nur, wenn diese es nicht sehen, und sie tuscheln untereinander, dass da einer geht, der nicht aus dem richtigen Stoff gemacht ist und deshalb vom System nichts erwarten kann, einer, der völlig fertig ist.

„Wie viele Male bist du schon ins Ausland entsandt gewesen?“ fragt Donald und sieht mich über den Rand seiner Brillengläser an. Natürlich kennt er die Antwort bereits.

„Zwei Mal – bei den Vereinten Nationen in New York und an der Botschaft in London. Ich rechne eigentlich damit, dass man mich in einem Jahr wieder rausschicken wird.“

„Ich werde deine nächste Entsendung gerne beschleunigen. Wir haben ein Problem in Athen, muss ich dir sagen, und ich brauche da unten einen soliden Mann. Ich schwanke zwischen einigen Mitarbeitern, du weißt schon, welchen, aber ich tendiere am ehesten zu dir.“

„Was für ein Problem gibt es in Athen?“