Gestohlener Name - Julia Abel - E-Book

Gestohlener Name E-Book

Julia Abel

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Beschreibung

Entführt. Gequält. Aufgegeben Freunde werden zu Feinden Familie zu Fremden Herzen werden zerfetzt Seit sechs Tagen wird die sechzehnjährige Alyssa vermisst. Die Kommissare Silver und House sind restlos überfordert Zeitgleich wird ihr Privatleben auf eine harte Probe gestellt. Eine unerwartete Begegnung stellt alles auf den Kopf und verstrickt Silver in einen Kampf mit seinen Gefühlen. Eine furchtbare Tragödie ereilt die Kommissare. Währenddessen kämpft Alyssa qualvoll um ihr Überleben und wird mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert. Ein dunkles Geheimnis kommt ans Licht. Kann Alyssa aus ihren Qualen befreit werden oder hat ihr Herz inzwischen aufgehört zu schlagen?

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Für meine Eltern und meine Schwester

Danke, dass ihr immer für mich da seid. Ich liebe euch vom ganzen Herzen, auch wenn ich euch das viel zu selten sage

&

für meinen besten Paten

Thorsten

! Diese Triggerwarnung kann durchaus mit Spoilern verbunden sein!

Ein paar Worte der Warnung von Alyssa

Ihr möchtet meine Geschichte gerne lesen? Dann möchte ich euch vorher noch ein paar Worte der Warnung mit auf den Weg geben, bevor ihr das erste Kapitel meines Lebens aufschlagen werdet. Meine Geschichte kann für manche von euch sehr emotional sein und gegebenenfalls zu psychischen Belastungen führen. Deshalb möchte ich euch kurz ein paar Hinweise geben. Es könnte durchaus sein, dass Themen wie Gewalt, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Folter, Suizidversuch, Tod, Mord und ausfällige Sprache im Laufe meiner Lebenskapitel eine Rolle spielen werden.

Natürlich würde ich mich freuen, meine Erlebnisse mit euch teilen zu können, aber bitte seid euch der Warnung bewusst und überlegt euch genau, ob ihr diesen Weg einschlagen wollt. Falls ihr euch für diesen Weg entscheidet, wünsche ich euch alles Gute, Spaß und viel Kraft!

Das Fenster

Jeder Tag wie der andere,

kein Ausweg in Sicht.

Nur der Blick aus dem Fenster

versperrt sich nicht.

Siehst die Bäume, die Vögel,

das Morgenlicht,

doch hinaus in die Freiheit

kannst du nicht.

Alex C. Weiss

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Danksagung

KAPITEL 1

(Alyssa)

Mein Herz rast. Ich kann kaum klar sehen. Alles dreht sich in meinem Kopf und ich muss kurz stehen bleiben. Ich kann kaum fassen, dass es mir gelungen ist, zu fliehen. Einfach so!

Vollkommen außer Atem blicke ich nach oben. Die Sterne werfen ihr Licht auf den Boden, doch ihr sonst so helles Strahlen erreicht mich nicht.

Endlich bin ich wieder allein! Kalte Luft durchströmt meine Lungen. Langsam erholen sie sich wieder.

Was soll ich nun tun? Weiter rennen? Nein, dazu fehlt mir die Energie. Kann ich vielleicht noch etwas hier bleiben? Ängstlich blicke ich mich um, sehe jedoch niemanden.

Meine Glieder schmerzen vor Erschöpfung. Ich kann nicht weiter. Ich muss mich ausruhen, ob ich will oder nicht …

Der Wind weht durch meine Haare. Keine Geräusche sind zu hören. Keine Autos, keine Menschen. Nur das Zirpen der Grillen im Gras dringt an meine Ohren.

Ich sehe mich um. Meine Muskeln sind zum Zerreißen angespannt. Mehrere Male drehe ich mich um meine eigene Achse. Mein Blick schießt wild umher. Ist er auch hier? Irgendwo hier in meiner Nähe? Ich weiß es nicht …

Es macht mich krank, nicht zu wissen, ob er mir gefolgt ist. Aber ich kann nicht weiter, das würde mein Körper nicht mehr mitmachen. Dafür ist er viel zu nah am Ende seiner Kräfte. Tief atme ich ein, halte kurz den Atem an und lasse die komplette Luft aus meinen Lungen entweichen.

Langsam strömt Ruhe und Erschöpfung durch meinen Körper. Das Chaos in meinem Kopf kommt zum Stillstand. Meine Panik legt sich für den Moment.

Seit langem spüre ich wieder das weiche Gras unter meinen Füßen, als ich meine Schuhe ausziehe. Es ist angenehm. Ich genieße das Kitzeln der Grashalme an meinen empfindlichen Fußsohlen. Ich weiß, es ist gefährlich hier zu verweilen, aber ich muss dieses Gefühl wieder spüren, nachdem ich es so lange nicht konnte.

Schon früher als kleines Kind hat mich die leichteste Berührung an meinen Füßen zum Lachen gebracht. Selbst jetzt, wo ich vor Angst kaum klar denken kann, muss ich heimlich schmunzeln.

Ein Zittern überkommt mich. Ich spiele nervös mit den Fingern an meinen Schuhen herum und gehe ein paar Schritte vorwärts, in dem Versuch, mich von meinen trüben Gedanken abzulenken.

Plötzlich lässt mich ein Schatten im dämmrigen Licht des Mondes aufblicken und ich zucke zusammen.

Eine majestätische Eiche ragt vor mir in die Höhe. Durch die langen Äste, die in alle Seiten ragen, habe ich es für ihn gehalten. Ich stehe völlig neben mir und presse verärgert meine Kiefer aufeinander, als ich meinen Fehler erkenne. Der Schreck löst sich langsam wieder. Mein Puls nimmt wieder ein gesünderes Tempo an. Leichte Ehrfurcht packt mich. Doch ich will mich zusammenreißen, schließlich war es nicht er. Vor Anstrengung bricht mir der Schweiß aus. Vorsichtig gehe ich um die Eiche herum. Niemand ist hier …

Dann setze ich mich endlich hin und mein Körper kann sich entspannen. Mein Geist gibt sich größte Mühe, es ihm nachzutun. Es dauert eine ganze Weile, bis er es endlich schafft. So viele Gefühle toben in meinem Kopf. Angst vor ihm, Angst wieder zurückzumüssen. Wut über meine eigene Dummheit, dass ich ihm vertraut habe. Erschöpfung, Unsicherheit, Verzweiflung …

Es sind zu viele, als dass ich sie ablegen kann, um mich zu beruhigen. Müde blicke ich nach vorne.

Jetzt erst nehme ich die riesige Wiese vor mir wahr, die weit hinten dem Horizont die Hand gibt. Bald wird die Sonne aufgehen. Die erste Röte zeigt sich bereits und die Sterne werden langsam von der Morgendämmerung vertrieben.

Der Ort ist still und verlassen. Ich glaube wirklich, er hat meine Flucht nicht bemerkt und ist mir nicht gefolgt. Jedenfalls hoffe ich es …

Ich weiß nicht, was mir Angst macht. Er ist doch nicht hier. Ist es vielleicht die Ungewissheit?

Der Duft der Natur steigt mir in die Nase und betäubt meine Sinne. Schon lange bin ich nicht mehr draußen gewesen. Lange habe ich nicht mehr die kalte Nachtluft auf meiner Haut gefühlt, dieses wunderbare Prickeln der Kühle. Ich konnte schon lange nicht mehr so frei atmen.

Etwas gefaster schaue ich mich um und versuche herauszufinden, ob er doch hier irgendwo in den Schatten lauert und mich mit seinen düsteren Augen beobachtet. Ich kann dieses Gefühl einfach nicht ignorieren. Es hat sich zu stark in mein Gehirn gefressen.

Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich kann sie gerade noch zurückblinzeln.

Hilflosigkeit ergreift von mir Besitz und ich habe keinen Halt mehr, keine Kraft noch weiter zu machen. Ich schließe verzweifelt meine Augen. Mein Kopf fällt gegen die Eiche. Das bringt doch alles nichts! Es war viel zu einfach, ihm zu entkommen. Das kann es nicht gewesen sein. Ich weiß nicht einmal, wieso er mich verschleppt hat. Was will er von mir?

Als ich meine Augen wieder öffne und nach hinten gucke, in die Richtung, aus der ich gekommen bin, kann ich ihnen nicht trauen.

Da! Da hat sich doch gerade etwas bewegt? Ein Schatten eines Tieres vielleicht? Hoffnung keimt in mir auf. Allerdings verpufft sie schnell wieder, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Irgendetwas sagt mir, dass das kein Tier war …

Ein Monster! Ein Schatten eines Monsters! Das ist es gewesen. Oh ja! Ich kenne dieses Monster. Es schlägt bei jeder Gelegenheit zu. Egal, ob aus Lust oder weil es angeblich einen triftigen Grund hat. Wann immer es ihm danach ist, schlägt er zu, mit voller Kraft.

Ich schnappe vergeblich nach Luft. Es scheint, als würde mir eine unsichtbare Hand die Kehle zuschnüren. Unbeholfen ziehe ich mich wieder auf die Beine. Sie sind so weich, sie könnten jeden Moment unter mir nachgeben. Es verlangt mir Unmengen an Kraft ab, mein Gleichgewicht zu halten.

Mein Herz hämmert schmerzvoll gegen meine Brust. Kalte Furcht packt mich.

Mein Leben zieht wie ein Schnellzug an mir vorüber. Ich konzentriere mich nur noch auf diesen einen Punkt in der Finsternis. Doch jetzt bewegt sich nichts mehr. Alles ist still, zu still. Außer mein Kopf. Meine Augen saugen jeden noch so kleinen Fleck krampfhaft auf.

Er muss mir gefolgt sein! Es geht nicht anders. Oh nein! Verdammter Mist! Was soll ich tun? Ich will nicht zurück. Zurück zu ihm, sodass er wieder zuschlagen und mich grün und blau prügeln kann.

Erneut trüben Tränen meine Sicht. Dieses Mal kann ich sie nicht mehr zurückhalten. Meine Furcht ist zu gewaltig.

Meine Beine spielen verrückt. Ich weiß nicht, warum, aber anstatt mich von der Eiche zu entfernen und in Windeseile von hier zu verschwinden, gehe ich langsam um sie herum. Ich komme der Rinde so nahe, dass ich sie sogar riechen kann. Meine Angst wächst stetig, nichts kann ihr Einhalt gebieten.

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, bis ich Blut schmecke. Schnell schlüpfe ich wieder in meine Schuhe. Meine Finger lassen nicht voneinander und mein Atem beschleunigt sich Sekunde um Sekunde. Meine Brust hebt und senkt sich immer schneller.

Ich verliere die Kontrolle und mache genau das Falsche. Meine Beine verankern sich in der Erde und weigern sich, auch nur noch einen Schritt zu machen, obwohl ich sie in die Hände nehmen und mich aus dem Staub machen sollte. Ich kann einfach nicht klar denken. Ich bin viel zu aufgewühlt. Mist!

Mein Verstand dreht Loopings. Es ist, als würde die Dunkelheit über mir hereinbrechen. Die Ruhe ist fort. Alles kommt in Bewegung. Alles rast auf mich zu, überrollt mich. Mein ganzer Körper bebt. Meine Gedanken verirren sich in einem Labyrinth.

Mir wird speiübel. Galle steigt in meinem Rachen auf. Fast erreicht sie meinen Mund und strömt heraus. Doch im letzten Moment ertönt hinter mir ein Knacken. Ein Zweig bricht. Jemand ist draufgetreten.

Meine Reaktion tritt verzögert ein. Ich zucke erst einen Moment später zusammen. Jetzt ist es mir sonnenklar. Er ist mir tatsächlich gefolgt. Mein Bauchgefühl hat mich nicht im Stich gelassen. Wieso nur habe ich nicht darauf gehört? Wieso? Ich könnte vor Verzweiflung laut losbrüllen. Aber ich tue es nicht. Mein Mund bleibt verschlossen, wie zugeschweißt.

Er ist direkt hinter mir. Nur wenige Meter von mir entfernt.

Scheiße!, brüllt es laut durch meinen Kopf. Ein eiskalter Schauer läuft meinen Rücken hinab. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um. Ganz langsam. Stück für Stück. Dutzende Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie hat er mich gefunden? Wie konnte ich ihn nicht bemerken? Es war doch so still! Was passiert jetzt? Wird er mich umbringen?

Meine Finger zittern. Meine Lippe bebt.

Mein Kopf ist gesenkt. Auf einmal spüre ich seinen Atem an meinem Haar entlangstreichen. Schmerzlich warm und bekannt. Sein süßer Duft verstopft meine Nase und vertreibt alle anderen Gerüche. Wie kann ein Monster nur so gut riechen?

Er legt behutsam seine Hände auf meine Schultern. Ist er vielleicht gar nicht wütend auf mich? Habe ich doch Glück gehabt und er verzeiht mir meinen Fluchtversuch?

Nein, Dummkopf! Das würde er niemals tun. So ist er nicht. Das weißt du doch! Er hat dich schon so oft zusammengeschlagen und aufs Übelste verprügelt. Niemals würde er dich ungestraft davonkommen lassen!

Er ist ein herrischer und kontrollsüchtiger Arsch, der mich bloß benutzt und wie eine Marionette behandelt, die alles für ihn tun muss. Wenn es nicht genug ist, erhebt er eben seine Hand.

Plötzlich umfasst er meine Schultern mit einem starken Druck. Er wird immer stärker. Er bricht mir fast meine Knochen.

„Wieso hast du das getan?“ Sein warmer Atem fährt an meinem Ohr entlang, als er die Worte sanft wie der Wind flüstert.

„Es … es tut mir leid!“, stottere ich flehentlich. Die Luft bleibt mir weg und ich drohe gleich in Ohnmacht zu fallen. Mir wird ganz schwindelig.

„Ach ja? Wieso hast du es dann getan?“, wiederholt er. Ich antworte nicht.

„Du weißt, dass ich dich bestrafen muss?" Er hebt herausfordernd sein Kinn und sieht mich durchdringend an. Als würde er versuchen, mich mit seinem Blick wie mit einem Messer zu durchbohren. Ich nicke. „Gut. Dann komm jetzt mit! Und mach das nicht noch ein weiteres Mal! Sonst wirst du es bitter bereuen! Verstanden?“ Er lächelt verschmitzt und sein Ton lässt keinen Zweifel daran, dass er die Drohung ernst mein. Ich nicke erneut.

Er sieht mich mit liebevollen Augen an, die von langen schwarzen Wimpern geziert werden. Sein Gesicht wird von starken Wangenknochen geformt, über die sich seine nahezu makellose Haut zieht und im sanften Morgenlicht glänzt. Er hat einen muskulösen Körper und breite Schultern, die große Kraft ausstrahlen. Dieser Mann ist wahrhaft attraktiv. Doch das dient bloß als Fassade, die die Bestie in seinem Innern verbergen soll. Eine Bestie, die junge Teenager verprügelt, entführt und die sich sicherlich gerade die nächste Strafe für mich überlegt. Dieses Aussehen hat er bei weitem nicht verdient!

Langsam legt er seinen Arm um mich. Er führt mich, fest an sich gedrückt, zu seinem Lamborghini. Ich hasse dieses Ding! Damit hat er mich einfach meiner Welt entrissen und mir anschließend noch voller Stolz erzählt, dass er diese seltene Karre fährt. Ich wünschte, ich könnte dieses dämliche Ding zerkratzen und müsste nicht dort einsteigen.

Der Wagen steht weiter unten zwischen den ersten Baumreihen. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gesehen habe. Der Wald ist knapp vierhundert Meter von der Eiche auf dem kleinen Hügel entfernt und durch das dunkle Violett der Dämmerung nicht gut zu erkennen. Das Chaos in meinem Kopf hat mir auch nicht geholfen. Wie dumm bin ich eigentlich und bin nicht einfach nach einer kurzen Pause weitergelaufen?

Am liebsten würde ich mir jetzt eine schallende Ohrfeige verpassen. Stumm schreie ich meinen Frust und meine tiefe Verzweiflung gen Himmel und hoffe, dass mein Hilfsgebet erhört wird. Ich bin einem Zusammenbruch nahe. Doch ich weiß, dass Wehren sinnlos ist. Dieser Mistkerl ist viel stärker als ich. Mein Mund bleibt verschlossen. Er sieht nicht, welches Gefühlschaos in mir herrscht und versucht, mich niederzureißen.

Er öffnet mir die Beifahrertür. Mechanisch steige ich ein. Er schnallt mich an und schließt die Tür. Daraufhin geht er zur Fahrerseite, steigt ebenfalls ein, schnallt sich an und startet den Motor. Dann fährt er los. Geradewegs durch den Wald. In dessen Mitte befindet sich unser Ziel, sein Ziel …

Leise schluchze ich vor mich hin, als mich schon wieder die Tränen überkommen und sie in einem leisen Fluss meine Wange entlanglaufen. Meine Lippe bebt und zitternd spiele ich an meiner Hose. Es ist mir egal, wenn er sieht, welche Angst ich habe. Doch er beachtet mich nicht, sieht stur geradeaus.

Zwischen den Baumreihen befindet sich immer wieder ein Stück Wiese, welches nun von hässlichen braunen Streifen durchzogen wird, die die Reifen mit Gewalt in die Erde pressen. Er wird sie sicherlich bald verschwinden lassen, damit ihm niemand auf die Schliche kommen kann.

Ich werde diese Welt vermutlich niemals wiedersehen.

Krampfhaft versuche ich mir den Anblick einzuprägen. Auf diese Weise kann ich wenigstens in meinen Träumen hierher zurückkommen. Ich sehne mich jetzt schon nach diesem Ort! Meine Brust hebt sich stockend unter meinen Schluchzern. Ich will nicht! Ich will nicht dorthin zurück! Zurück zu diesem Haus, das mein Ende sein wird …

KAPITEL 2

(Kevin)

Ich sitze gerade in meinem Büro des Polizeipräsidiums von Wallersheim, als im Flur plötzlich ein lautes Getrampel ertönt. Ich wappne mich schon, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, da kommt mein Kollege Peter House auch schon völlig aufgelöst in unser Büro gestürmt. Vor lauter Hast öffnet er die Tür mit einem gewaltigen Stoß, sodass sie mit einem heftigen Knall gegen die Wand donnert und beinahe aus den Angeln fliegt.

Seine dunklen Haare zeigen in sämtliche Himmelsrichtungen, einige kleben ihm verschwitzt am Kopf. Er muss wirklich in einem Affenzahn die Treppen zu unserem Büro hochgerannt sein. Was ihn wohl dazu angetrieben hat? Sicherlich ein neuer Fall.

Er hat breite Schultern und eine gute Statur. Dennoch merkt man an dem leichten Abheben seines Hemdes vom Bauch, dass er nicht der schlankeste Mann ist und seine bereits gegrauten Haare zeugen von seinen 41 Jahren. Peter trägt wie immer ein kariertes Hemd, dieses Mal in Grau- und Rottönen. Wenn ich so darüber nachdenke, hat er eigentlich überhaupt keinen amerikanischen Touch, obwohl Peter immer sehr mit seinem amerikanischen Nachnamen angibt und behauptet, er sei multikulturell. Er hat den Namen nur, weil sein Großvater Amerikaner gewesen ist und seine Eltern den Namen beibehalten haben.

Doch jetzt könnte er glatt einen guten Hollywood Filmstar abgeben, dem man die Rolle eines Polizisten aufgebrummt hat. Die Beine auseinandergestellt, Schultern gerade und eine gewaltige Ausstrahlung von Energie, während seine Waffe an seiner rechten Hüfte am Gürtel hängt. Er hält eine braune Aktenmappe in den Händen.

Gut, mein Name Silver ist auch nicht gerade typisch deutsch, aber ich habe keine Ahnung, warum meine Eltern so hießen und ich gebe auch nicht damit an.

Das breite Lächeln, das seine Lippen umspielt, lässt mich bereits erahnen, dass er tatsächlich wieder einen neuen Fall für uns in der Tasche hat. Wird langsam aber auch Zeit!

Wir hatten schon ewig keinen spannenden Fall mehr und ich sehne mich nach neuem Kopfzerbrechen. Ich liebe Aufregung und ich liebe es, Menschen zu helfen. Deswegen kam mir der Beruf Kommissar nach meinem Schulabschluss auch wie eine Erleuchtung vor. Wie sehr brennt mir doch der Wunsch nach einem neuen Fall unter den Fingernägeln!

Mein bester Freund sieht allerdings so aus, als ob der beste Fall aller Zeiten auf uns warten würde. Seine Wangen glühen rot vor Aufregung.

„Sag schon! Was für einen neuen Fall schleppst du uns an?“ begrüße ich ihn ohne Umschweife.

„Kennst mich ja wirklich verdammt gut, was?“ Er bleibt stehen und funkelt mich amüsiert an.

„Mag wohl daran liegen, dass wir uns bereits über dreißig Jahre kennen, wir auch schon ewig zusammenarbeiten und wir fast jeden Tag miteinander verbringen. Da lernt man sich automatisch besser kennen. Also, spuk es aus!“, fordere ich ihn auf. Ich setze mich in meinem Stuhl aufrecht hin und tippe nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Meine Neugier steht mir deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Das wirst du nie glauben! An sich ist es zwar kein außergewöhnlicher Fall, aber irgendetwas sagt mir, dass der Schein trügt und mehr dahinter steckt. Ich weiß zwar eigentlich kaum etwas über unseren neuen Fall, aber mein Bauchgefühl sagt es mir. Und wie du weißt, behält mein Bauchgefühl meistens auch Recht. Okay, manchmal irrt es sich zwar doch, aber …“ Er zuckt mit den Schultern und droht gehörig vom Thema abzuschweifen.

„Komm endlich zum Punkt, Peter! Was ist los?“ Der macht mich echt noch verrückt! Peter schafft es immer wieder, mich wie einen kleinen hilflosen Fisch am seidenen Faden zappeln zu lassen. Das kann oft ziemlich nerven! Wenn mich eines Tages jemand ins Grab bringt, dann ist es sicherlich er. Bei diesem Gedanken muss ich innerlich die Augen verdrehen und gleichzeitig ein Schmunzeln unterdrücken.

„Na schön. Unten im Empfang wartet ein Ehepaar, das Anzeige gegen Unbekannt erstatten möchte“, erklärt er mir schließlich.

„Und weswegen wollen sie Anzeige erstatten?“ Meine Neugier wacht langsam auf und reibt sich blinzelnd die Augen im Schein der frühmorgendlichen Sonne. Doch aus dem Bett will sie noch nicht.

„Das habe ich, um ehrlich zu sein, noch nicht so ganz begriffen. Die beiden, insbesondere die Frau, waren so aufgelöst, dass man kaum einen deutlichen Satz aus ihrem Gebrabbel filtern konnte. Ich habe nur verstanden, dass ihre Tochter angeblich entführt worden sei“, meint Peter und hebt schulterzuckend die Arme.

„Dann müssen wir uns mal dringend auf die Socken nach unten machen und herausfinden, was genau vorgefallen ist“, antworte ich, während ich mich schwerfällig aus meinem bequemen Stuhl erhebe.

„Das denke ich ebenfalls. Ich hoffe, es lohnt sich!“, zwinkert mein bester Freund. Uns beiden juckt es in den Fingern.

Zusammen machen wir uns auf den Weg ins Erdgeschoss. Bereits aus der Ferne höre ich eine aufgebrachte Frau bitter weinen. Das kann ja noch heiter werden. Hoffentlich werden wir wenigstens ein vernünftiges Wort aus ihr herausbekommen.

Als wir um die Ecke biegen, sehe ich ein älteres Paar. Der Mann hält seine Frau fest an sich gedrückt im Arm und versucht sie zu trösten, indem er ihr sachte übers Haar streicht, wobei er selbst kaum die Tränen zurückhalten kann. Sie hat ihre schwarzen Haare zu einem lockeren Dutt nach hinten gebunden, aus dem sich bereits die ersten Strähnen lösen und ihr ins Gesicht fallen. Sie trägt eine Jeans und eine blaue Regenjacke, genau wie ihr Mann, dessen Haare allerdings schon grau sind. Ich schätze ihn auf etwa Anfang bis Mitte fünfzig, während sie eher wie Mitte vierzig aussieht.

Peter und ich wechseln vielsagende Blicke. Er holt tief Luft, bevor er zu dem Paar sagt: „Guten Morgen! Das ist mein Partner Kevin Silver. Kommen Sie doch bitte mit in unser Büro, dann können Sie uns alles in Ruhe erzählen, in Ordnung?“ Ich schenke den beiden ein warmes Lächeln und versuche, sie somit etwas aufzumuntern. Das Paar erhebt sich wortlos und schlurft zusammengesunken mit uns ins Büro.

In der Mitte des Raumes befinden sich zwei direkt aneinander geschobene Schreibtische mit jeweils einem schwarzen Drehstuhl. Links an der Wand steht ein kleiner Holzschrank, auf dem unsere Kaffeemaschine und saubere Tassen stehen. Direkt daneben ragt ein gigantisches Regal mit Unmengen an Ordnern und Akten in die Höhe. Ich hasse diesen ganzen Papierkram!

Unser Büro ist eher in Grautönen gehalten. Peter und ich geben nicht viel auf Dekoration und das einzige, was ein wenig Farbe und Leben hier reinbringt, sind die beiden Elefantenfüße auf unseren Tischen. Meine Frau Lucy hat diese Pflanzen Peter und mir vor einigen Jahren geschenkt, weil sie unser Büro als zu trist empfand. Es ist recht klein, reicht aber für uns beide vollkommen aus.

Über unseren Schreibtischen hängt an der Wand eine Uhr, deren Ticken mich manchmal echt zum Fluchen bringt, wenn ich mich konzentrieren muss. Doch Peter hat sie mal von seiner Mutter geschenkt bekommen, weshalb ich nicht mal Andeutungen machen darf, dass Ding zu beseitigen. Alles von seiner Mutter ist ihm heilig.

„Setzen Sie sich doch bitte.“ Ich weise auf zwei freie Stühle und die beiden lassen sich erschöpft auf die Besuchersitze fallen. Ob das so einfach werden wird, bezweifle ich langsam. Besorgte und niedergeschlagene Eltern sind nicht immer leicht zu befragen.

„Fangen wir doch erstmal ganz von vorne an. Wie heißen Sie beide?“

„Mein … mein Name ist Heinz Philipps und das ist meine Frau Elisabeth.“

„In Ordnung, Frau und Herr Phillipps, weshalb genau wollen Sie denn bei uns Anzeige gegen Unbekannt erstatten?“, fragt Peter ohne lange um den heißen Brei zu reden.

„Unsere Tochter ist seit sechs Tagen spurlos verschwunden und wir können sie einfach nicht erreichen“, erklärt Herr Philipps. Seine Frau schluchzt laut in ihr Taschentuch und putzt sich die Nase.

„Seit sechs Tagen und Sie kommen jetzt erst her?“ Fassungslos sehe ich zu Peter. Wenn mein Kind verschwunden wäre, würde ich eindeutig eher zur Polizei gehen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Vielleicht sind sie nicht so besorgt, wie sie den Anschein machen, überlege ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Ja, sie ist bereits sechzehn und manchmal bleibt sie ein paar Tage von zuhause weg und versucht zur Ruhe zu kommen. Wissen Sie, unsere Tochter Alyssa hatte es nicht gerade leicht in ihrem jungen Leben. Ihre leiblichen Eltern, Tom und Narzissa Engel, sind vor neun Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danach haben wir Alyssa adoptiert. Sie vermisst ihre Eltern sehr, auch wenn sie sich nicht mehr so gut erinnern kann. Manchmal braucht sie eben Zeit für sich. Das ist ihre Art mit dem schrecklichen Ereignis umzugehen“, erklärt Alyssas Vater mit nassen Augen und unterdrückt dabei einen Schluchzer, während er sich mit dem Finger über die Nase reibt.

„Aber sie bleibt nicht länger als sechs Tage von zuhause weg, vermute ich mal, wenn Sie jetzt zu uns kommen“; erwidere ich.

„Zwei bis drei Tage, höchstens“, meint der Vater aufgebracht.

„Ihr ist sicher etwas ganz, ganz Schlimmes passiert. Sie muss entführt worden sein. Vielleicht ist sie aber auch schon tot. Alyssa ist tot … tot, ganz sicher …“, schluchzt Frau Philipps mit weit aufgerissenen Augen und starrt ins Leere.

„Sie dürfen nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen, Frau Philipps“, versuche ich sie zu beruhigen und hebe beschwichtigend meine Hände. Tränen fließen unablässig ihre Wangen hinunter und ihre Stimme bricht. Sie muss völlig fertig mit den Nerven sein. Ihre Augen sind schon ganz rot und geschwollen.

„Und wenn doch etwas Schlimmes passiert ist?“ Ich habe Mühe sie durch das Taschentuch zu verstehen. Ihre Schluchzer, die sie immer wieder heimsuchen, machen es mir nicht gerade leichter.

„Dann werden wir das herausfinden und Ihrer Tochter so schnell, wie es geht, helfen. Aber dafür müssen Sie uns erst noch mehr erzählen.“

„Sie ist entführt worden!“, schreit die Mutter fast schon.

„Frau Philipps, bitte. Gibt es denn irgendwelche Anhaltspunkte, die auf eine Entführung rückschließen lassen?“, hakt Peter nach und beugt sich leicht über seinen Schreibtisch zu ihr hin. Die Augen fest auf sie gerichtet.

„Ja, sie meldet sich nicht mehr. Das haben wir doch schon gesagt!“

„Ja, das haben Sie, aber das könnte viele Gründe haben. Vielleicht braucht sie dieses Mal etwas länger Zeit. Haben sie denn weitere Anhaltspunkte wie ein Drohbrief, eine Lösegeldforderung oder ähnliches?“

„Nein, sowas haben wir nicht bekommen“, antwortet ihr Mann kopfschüttelnd und unsere Blicke richten sich nun auf ihn.

„Wirklich nicht? Auch nichts Ähnliches?“

„Sonst nichts. Aber das reicht doch auch. Wenn ich als Alyssas Mutter Ihnen sage, dass sie entführt wurde, dann reicht das“, entgegnet Elisabeth und macht dabei ein Gesicht, als würde sie uns für unsere Fragerei am liebsten die Augen auskratzen. Langsam nervt es mich. Ich kann als Vater gut nachvollziehen, wenn man sich Sorgen um sein Kind macht. Ich könnte auch verstehen, wenn Alyssas Eltern eine Vermisstenanzeige aufgeben und ja, ich kann auch nachvollziehen, wenn sie eine Straftat vermuten, doch als Polizist gehen mir manchmal besorgte Eltern, die keinerlei Hinweise vorzeigen können, die auf eine Straftat deuten, mächtig auf die Nerven. Wenn sie nicht von dem Gedanken abzubringen sind, dann behindern sie unsere Arbeit eher, als dass sie uns und ihrem Kind helfen. Peter presst neben mir die Kiefer zusammen und versucht sich zusammenzureißen. Ihn kann man sehr leicht auf die Spitze treiben und reizen. Ich kann das etwas besser überspielen. Dennoch erhöhe ich den Druck, mit dem ich meine Computermaus umfasse.

„Sie werden der Sache doch nachgehen, oder?“, fragt der Vater vorsichtig. Sein Kinn bebt und er beißt sich auf die Lippen, als sich wieder Tränen in seinen Augen sammeln und er schnell den Kopf abwendet, um sie vor uns zu verbergen. Jedoch ohne Erfolg, ich sehe ihm die Angst um seine Tochter an, fast spüre ich sie am eigenen Leib. Die letzten beiden Worte hat er nur mühevoll herausbringen können. Seine Frau spielt nervös an ihrem Taschentuch herum und wippt mit dem Bein, während sie sich an die Schulter von Herrn Philipps presst. Sie zittert am ganzen Körper und verkrallt sich mit den Fingern im Oberschenkel. Die Sorge um ihre Tochter ist fast greifbar und raubt einem fast die Luft zum Atmen.

„Das Einzige, was wir derzeit machen können, ist eine Vermisstenanzeige rauszugeben“, antworte ich möglichst sanft, um sie nicht noch mehr aufzubringen.

„Und was ist mit der Anzeige?“ Ihr Blick huscht hektisch zwischen mir und Peter hin und her. Sie ist anscheinend kaum noch bei sich, um zu begreifen, dass wir hinsichtlich dieser Anzeige nichts unternehmen können, solange es keine handfesten Beweise gibt.

„Tut mir wirklich leid, aber dafür gibt es leider einfach keine richtigen Hinweise, die auf eine Entführung und somit auf ein Verbrechen und einen Täter deuten könnten, die uns Anlass zu einer Anzeige geben würden.“

„Sie wollen unserer Tochter also nicht helfen?“ Mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen sieht Elisabeth Philipps uns an. Ihr Blick lässt fast mein Blut in den Adern gefrieren.

„Ich bitte Sie, natürlich wollen wir Ihrer Tochter helfen. Wir sind uns nur noch nicht sicher, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Entführung handelt oder ob wir es hier einfach nur mit einem ausgerissenen Teenager zu tun haben.“ Der Vater öffnet bereits den Mund und seine funkelnden Augen zeigen, dass er zu einer hitzigen Erwiderung ansetzen möchte, doch um einen Wutausbruch, der sich bereits andeutet, zu vermeiden, fahre ich hastig fort: „Aber selbstverständlich werden wir uns der Sache annehmen.“ Ich atme tief durch und hoffe, dass ich so die Philipps beruhigen konnte. Mir tut das Ehepaar schrecklich leid und beim Anblick ihrer leichenblassen Gesichter und eingefallen Augen zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Doch ehe ich weiter diesem Gedanken nachhängen kann, springt Alyssas Mutter auf und wirft sich mir in einer überschwänglichen Umarmung um den Hals.

„Sie sind mit Abstand der Beste! Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken? Sie sind mein Lebensretter!“, ruft sie laut aus und presst mir sämtliche Luft aus meinen Lungenflügeln.

„Vielleicht könnten Sie meinen Freund wieder loslassen. Er wird schon ganz blau im Gesicht“, rettet mich Peter, kann sich jedoch ein spöttisches Grinsen in meine Richtung nicht verkneifen. Dabei wäre ich beinahe erstickt. Und sowas nennt sich dann bester Freund, dieser Mistkerl!

Ich hole tief Luft, damit meine Lungen wieder vernünftig atmen können, während Herr Philipps seine Frau an den Schultern wieder sanft auf den Stuhl neben sich zieht und an sich drückt.

„Entschuldigen Sie bitte. Sie machen mich nur gerade so unfassbar glücklich, Herr Silver!“

„Schon gut. Ich freue mich, wenn ich Ihnen und Ihrer Tochter helfen kann“, erwidere ich aufmunternd, was ihr ein kleines Lächeln entlockt.

„Aber um nun wirklich mit der Suche nach Ihrer Tochter zu beginnen, brauchen wir natürlich noch einige wichtige Informationen von Ihnen“, beginnt Peter nun und lenkt die Unterhaltung wieder mehr in Richtung einer Befragung.

„Natürlich. Was wollen Sie wissen? Wir beantworten Ihnen jede Frage so genau, wie wir nur können.“ Endlich zeigen sich die Eltern etwas vernünftiger. Trotzdem kann ich ihnen ihre schreckliche Angst um Alyssa ohne Probleme ansehen. Der Vater tippelt mit dem Fuß ungeduldig auf dem Boden, während seine Frau wieder ihr Taschentuch mit den Fingern drangsaliert.

„Ihre Tochter heißt Alyssa Philipps und ist …“

„Nein, stopp! Sie heißt Alyssa Engel“, wird Peter von Frau Philipps unterbrochen, „Wir haben sie zwar adoptiert, ja. Aber sie wollte den Nachnamen ihrer leiblichen Eltern behalten. Diesen Wunsch haben wir ihr natürlich sofort erfüllt. Sie war damals sieben, hat ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und musste auch noch dabei zusehen. Da wollten wir sie nicht auch noch dazu zwingen, ihren Namen zu ändern, wenn sie es nicht wollte. So konnten wir auch eine gute, erste Vertrauensbasis aufbauen, indem wir ihr zeigen, dass wir uns gut um sie kümmern wollen und sie und ihre Wünsche respektieren, verstehen Sie?“ Sie redet wie ein Wasserfall und ich komme kaum hinterher. Sie braucht offenbar ein Ventil, um ihrer Sorge Luft zu lassen.

„Natürlich. Ich hätte vermutlich genauso gehandelt.“ Sie müssen gute Eltern sein. Sie sehen vor Blässe richtig krank aus, was nur dafür spricht, dass sie Alyssa vom ganzen Herzen lieben.

„Okay, dann heißt sie Alyssa Engel, sechzehn Jahre alt und lebt hier mit Ihnen in Wallersheim.“

„Ja, das ist korrekt.“ Heinz Philipps streichelt seiner Frau, die inzwischen wieder in ihr durchnässtes Taschentuch weint, über die Haare und drückt ihr einen leichten Kuss auf den Scheitel. Er schließt für einen kurzen Moment gequält die Augen.

„Ist denn sonst noch jemandem aufgefallen, dass sie seit sechs Tagen verschwunden ist oder könnte sie sich irgendwo ohne Ihr Wissen gemeldet haben?“

„Das wissen wir nicht so genau. Wir haben in der Schule angerufen und mit einer ihrer Klassenlehrerinnen, Frau Strang, gesprochen. Aber sie war auch nicht in der Schule.“

„Was machen Sie eigentlich, wenn Ihre Tochter für zwei, drei Tage verschwindet? Melden Sie sie in der Schule krank oder wie genau dürfen wir uns das Ganze vorstellen?“, fragt Peter auf seine forsche Art und folgt ganz seiner grenzenlose Neugierde.

„Nein, das ist überhaupt nicht nötig. Alyssa ist ein sehr fleißiges Mädchen.“ Herr Philipps schmunzelt leicht bei diesen Worten, spricht aber dann schnell weiter: „Auch wenn sie nicht nach Hause kommt, geht sie dennoch immer zur Schule und lernt teilweise für Tests oder dergleichen bis tief in die Nacht hinein. Diesbezüglich müssen wir uns bei ihr nie Sorgen machen. Es ist vermutlich eine weitere Art, mit ihrem Verlust und ihrer Vergangenheit zurechtzukommen. Als wir allerdings nichts von ihr hörten, haben wir, wie gesagt, in der Schule angerufen. Doch als sie uns sagten, dass sie auch nicht in der Schule war, hat das unsere Sorge um Alyssa nur noch mehr verschlimmert. Zudem durften wir uns dann auch noch über die Schule ärgern, dass sie uns nicht früher Bescheid gegeben hat und ihrer Pflicht nicht nachgekommen ist.“

„Und wie steht es mit Freunden von Ihrer Tochter? Haben Sie auch ein paar von ihnen gefragt, ob Alyssa bei ihnen ist?“

„Unsere Tochter hat leider nicht viele Freunde. Sie lebt sehr distanziert von allen und hält sich eher im Hintergrund. Aber wir haben mit ihrer besten Freundin Emma gesprochen, die aber auch seit Tagen nichts mehr von Alyssa gehört hat. Das letzte Mal hat sie mit ihr an dem Tag gesprochen, als auch wir sie das letzte Mal gesehen haben“, erklärt Herr Philipps und reibt sich immer wieder über seine nassen Augen.

„Also vor sechs Tagen?“, hakt Peter nach.

„Ja“, bestätigt der Vater.

„Könnte denn sonst noch jemand sie gesehen haben? Beispielsweise ihre Großeltern oder andere Verwandte?“

„Wir haben keine große Familie, es gibt bloß uns drei. Obwohl, wer weiß … Vielleicht sind wir inzwischen auch nur noch zwei …“ Frau Philipps wird erneut von Tränen heimgesucht und vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen.

„So dürfen Sie doch keinesfalls denken! Ihrer Tochter geht es vielleicht sogar gut. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Es hilft weder Ihnen, noch Ihrer Tochter, wenn Sie sich verrückt machen. Wir werden nach Ihrer Tochter suchen, versprochen! Aber dafür brauchen wir noch ein paar weitere Infos, die uns wichtige Hinweise liefern könnten. Dann können Sie sie womöglich wieder schneller in Ihre Arme schließen, als Sie annehmen“, versuche ich beschwichtigend auf das Ehepaar einzureden. Wenn ich mir vorstellen würde, dass mein Sohn verschwunden wäre, würde mir das Herz bluten und ich würde durch tausend und drei Höllen wandern.

„Gibt es irgendwelche Lieblingsorte Ihrer Tochter? Vielleicht kennen Sie die Orte, an denen sich Alyssa immer aufhält, wenn sie für ein paar Tage Zeit für sich braucht.“ Peter kann zwar sehr emotional sein, aber er ist dennoch nicht gerade der einfühlsamste Mensch und versucht dies mit professionellem Auftreten zu verstecken.

Frau Philipps räuspert sich, dennoch klingt ihre Stimme zunehmend belegter: „Meistens übernachtet sie dann in unserem Wohnwagen, den wir am Rande von Wallersheim auf dem kleinen Campingplatz stehen haben. Dort ist mehr Platz als auf unserem Grundstück, um ihn dort bis zum nächsten Urlaub stehen zu lassen. Aber dort ist Alyssa auch nicht. Wir haben bereits nachgesehen.“

„Gibt es denn sonst noch einen Ort?“

„Ich weiß nicht genau … Sie geht sehr gerne und auch ziemlich oft in die Bücherei.“

„Meinen Sie die große Bücherei Flowers?“

„Ja, genau die meine ich“, nickt Frau Philipps.

Sie sieht mit leerem Blick an uns vorbei, als würde sie in weiter Ferne etwas erkennen, was unseren Blicken verborgen bleibt. Ich kann ihren Schmerz förmlich greifen. Bei ihrem Anblick wird mir ganz kalt und eine prickelnde Gänsehaut überzieht meine Arme.

„Haben Sie bereits nachgefragt, ob Ihre Tochter in den vergangenen sechs Tagen dort war?“ Peter und ich warten auf eine Antwort, doch die beiden sehen sich nur kurz an und richten ihre Blicke dann schuldbewusst auf den Boden.

„Nein, das haben wir nicht. Die Bücherei hatten wir völlig vergessen. Wir sind überall gewesen, haben die Leute gefragt, ob sie sie gesehen haben und dabei ist uns das Offensichtliche entgangen. Wie dämlich konnten wir bloß sein. Womöglich hätten wir sie ja dann gefunden und wären jetzt völlig umsonst hier und stehlen Ihre Zeit. Das tut uns furchtbar leid!“ Heinz Philipps schlägt sich die Hand vor den Mund und kneift die Augen zusammen. Er kämpft wieder mit den Tränen, während seine Frau diese einfach laufen lässt.

„Sie müssen sich doch keine Vorwürfe deshalb machen und Sie stehlen definitiv nicht unsere Zeit.“ Ich lasse jetzt mal weg, dass wir eh nichts zu tun gehabt hätten, wäre das Ehepaar nicht zu uns auf das Präsidium gekommen.

„Außerdem hätten wir doch jetzt einen guten Anhaltspunkt, um mit der Suche nach Alyssa zu starten“, wirft Peter ein und die Gesichtszüge des Vaters verlieren etwas an Schmerz.

„Das können wir aber auch übernehmen. Sie müssen das nicht extra machen, wenn wir unsere Tochter vermutlich dort finden.“

„Wir bitten Sie, Herr Philipps. Mein Kollege und ich werden zur Bücherei fahren und uns dort nach Alyssa erkundigen. Um ehrlich zu sein, sehen Sie beide sehr mitgenommen aus und ich denke, dass Sie eine ordentliche Dosis Schlaf gut gebrauchen könnten. Fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Es bringt niemandem etwas, wenn sie vor Erschöpfung umfallen. Wir werden das selbstverständlich übernehmen und in der Zwischenzeit nach Alyssa suchen.“

Die beiden zögern. Sie werden vermutlich kein Auge zu machen können, solange ihre Tochter als vermisst gilt. Das würde ich an ihrer Stelle auch nicht können, wenn mein Sohn verschwunden wäre.

„Wie hieß denn nochmal die beste Freundin Ihrer Tochter? Vielleicht können wir sie auch nochmal befragen, sollten wir bei der Bücherei nichts herausfinden.“ Frau Philipps zieht scharf die Luft ein und ich werfe Peter einen finsteren Blick zu. Er macht einen verwirrten Gesichtsausdruck.

„Wir werden bestimmt etwas herausfinden, früher oder später ist Ihre Tochter wieder zuhause.“ Die letzten Worte gehen eher in Richtung Peter, um ihm zu verdeutlichen, dass er mehr Mut machen als Hoffnungslosigkeit sähen sollte. Die beiden sind eh schon vollkommen neben der Spur, das müssen wir nicht auch noch steigern.

„Alyssas Freundin heißt Emma Schäfer“, kommt Herr Philipps schließlich wieder auf Peters Frage zurück. Dieser macht inzwischen ein geknicktes Gesicht und hat seinen Fehler wohl erkannt. Schnell notiere ich mir den Namen, damit ich auch nicht Gefahr laufe, ihn zu vergessen. In meinem Alter passiert das hin und wieder mal.

„Da Sie am Anfang stark von einer Entführung ausgegangen sind, gibt es denn auch jemanden, den Sie im Verdacht hätten, Ihre Tochter entführt zu haben?“

„Ich … äh … nein, nicht wirklich. Wir haben uns wohl sehr von unserer Sorge blenden lassen und uns zu sehr versteift, als erstmal ruhig zu bleiben.“

„Eltern neigen eben nun mal zu solchen Kurzschlussreaktionen, wenn es um die eigenen Kinder geht. Das ist nur mehr als verständlich.“

„Das kann gut sein“, seufzt Heinz Philipps. Seine Frau nickt nur stumm.

„Dann bräuchten wir jetzt nur noch Ihre Telefonnummer und Ihre Adresse, damit wir Sie verständigen können, wenn wir etwas herausgefunden haben.“

„Natürlich.“

Peter notiert sich alles fleißig und am Ende haben wir für den Anfang alles, was wir brauchen.

„Ich hätte aber jetzt noch eine Bitte an Sie beide“, meint Peter. „Melden Sie sich bitte umgehend bei uns, sollte Ihnen noch etwas einfallen. Vielleicht doch einen Verdächtigen, einen weiteren Ort, an dem Alyssa gegebenenfalls sein könnte oder wenn Alyssa sich sogar bei Ihnen meldet. Einfach wenn Sie irgendwelche neuen Informationen für uns haben, in Ordnung?“

„Ja, natürlich. Das werden wir sofort machen“, bestätigt Elisabeth Philipps und rutscht dabei auf ihrem Stuhl herum.

„Das Handy Ihrer Tochter ist vermutlich ausgeschaltet, wenn Sie sie nicht erreicht haben, oder?“ Die Mutter stimmt mit einem Kopfnicken zu.

„Wieso wollen Sie das wissen?“

„Wäre das Handy Ihrer Tochter nicht ausgeschaltet und es würde einfach nur das Freizeichen kommen, dann hätten unsere IT-Techniker versuchen können, das Handy von Alyssa zu orten. Hat sie einen Computer?“

„Ja, aber der steht zuhause. Darüber können Sie sie also auch nicht orten.“

„Das stimmt, aber wir könnten ihn uns trotzdem mal ansehen. Womöglich finden wir etwas, was uns bei der Suche behilflich sein könnte. Beispielsweise einen Emailverlauf, der darauf schließen lässt, bei wem sie ist oder wohin sie gegangen sein könnte. Oder andere Notizen wie ein Tagebuch“, erklärt Peter den beiden. Er tippt unaufhörlich mit dem Kugelschreiber auf der Schreibfläche. Ich weiß genau, wie ungeduldig er immer bei Befragungen wird, wenn er eigentlich auch schon längst lossprinten und ermitteln könnte. Zeugenbefragungen liegen ihm nicht sonderlich. Er hasst diesen ganzen Papierkram, er ist mehr für Action, was ich ihm nicht verdenken kann. Dennoch muss ich auch nicht die ganze Zeit mein Leben aufs Spiel setzen. Da befrage ich auch gerne mal in aller Ruhe den ein oder anderen.

„Wir lesen doch nicht die Sachen unserer Tochter, schon gar nicht ihr Tagebuch! Da würden wir deutlich ihre Privatsphäre verletzten. Alyssa würde das sicherlich nicht gefallen!“, entfährt es der Mutter gereizt. Eine tiefe Falte bildet sich zwischen ihren Brauen, als sie uns finster ansieht.

„Da haben Sie vermutlich recht. Aber ist es Ihnen nicht lieber, Ihre Tochter zu finden und in ihre Privatsphäre einzugreifen, als sie nicht zu finden und nicht in ihre Privatsphäre einzugreifen?“, frage ich mit hochgezogenen Brauen.

„Natürlich wollen wir sie finden“, erwidert sie kleinlaut. Ich sehe schon, wie ihre Aufgebrachtheit langsam wieder verschwindet und der endlosen Sorge um ihre Tochter wieder Platz macht.

„Dann müssen Sie diese Grenze wohl überschreiten, wenn sich in der Bibliothek nichts ergeben sollte.“ Ich versuche, dem Ehepaar ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Sie werfen sich einen unsicheren Blick zu, bis Frau Philipps schließlich stockend nickt.

„Vielleicht finden Sie tatsächlich auf Alyssas Laptop die entscheidende Spur, die eine weitere Suche sinnlos macht. Sie können sich ihn ansehen, während wir in die Bibliothek fahren. Damit würden Sie uns einen großen Gefallen erweisen.“ Peter weiß genau, wie er die zwei überzeugen kann, denn sie stimmen eilig zu. Sie fühlen sich wohler, wenn sie auch etwas tun können, anstatt zuhause rumzusitzen und auf unsere Ergebnisse zu warten.

„Super! Hier haben Sie noch unsere Karte, damit Sie uns erreichen können, sollten Sie etwas finden.“ Peter reicht ihnen ein kleines weißes Kärtchen mit unseren Namen, der Telefonnummer unseres Büros und der Nummern unserer Diensttelefone.

„Dankeschön. Werden Sie jetzt sofort losfahren? Also zur Bücherei meine ich.“ Elisabeth Philipps sieht uns hoffnungsvoll an. Wir stimmen natürlich zu, schließlich wird eine Sechzehnjährige vermisst und da wir nicht wissen, wo sie sich aufhält und in welchem Zustand sie sich befindet, ist Eile geboten. Allerdings sagen wir das nicht den Eltern. Sie sind sowieso gerade in der Hölle, da müssen wir das Feuer nicht noch unnötig anstacheln.

„Nur noch eine letzte Frage an Sie: Ihre Tochter geht doch mit Sicherheit auf das St. Branden-Gymnasium, oder?“, hakt Peter nach.

„Ja, das tut sie. Wieso?“

„Ach, nur damit wir Bescheid wissen. Wir können uns dort auch nochmal umhören und mit den Lehrern und Schülern sprechen. Vielleicht kommt doch noch etwas Sinnvolles bei raus.“

„Wir danken Ihnen, wirklich! Was würden wir bloß ohne Sie tun?!“, ruft Frau Philipps und strahlt. Jedoch erreicht ihr Lächeln ihre Augen nicht.

„Nichts zu danken. Wir haben Alyssa noch gar nicht gefunden“, entgegnet Peter, grinst aber leicht. Er genießt es immer sehr, wenn ihm jemand dankbar ist oder verehrt. Er schwebt dann fast auf Wolke sieben. Ich werde mir gleich vermutlich wieder sein Prahlen anhören dürfen. Auch wenn der Dank eigentlich an uns beide gerichtet ist, wird er meinen Anteil geflissentlich in die Ecke kehren. Ich bin da unwichtig. Ihm wurde schließlich gedankt, das ist das Wichtigste. Aber gut, nach zwanzig Jahren Zusammenarbeit bin ich das bereits gewöhnt. So ist mein bester Freund und Kollege nun mal.

„Okay, ich denke, das war es fürs erste. Wir melden uns natürlich sofort bei Ihnen, sollten wir etwas herausfinden.“

„Tausend Dank! Das werden wir natürlich auch machen. Wir sind Ihnen so überaus dankbar!“, wiederholt Frau Philipps. Wir stehen auf, schütteln uns die Hände und begleiten das Ehepaar nach draußen.

„Und machen Sie sich bitte nicht zu viele Sorgen. Wir werden Ihre Tochter schon finden“, verabschiede ich mich und versuche, den beiden noch ein letztes Mal Mut zuzusprechen.

„Das hoffen wir wirklich sehr! Auf Wiedersehen!“, erwidert der Mann und winkt uns zu, als er auf der Fahrerseite einsteigt.

„Auf Wiedersehen!“

Wir beobachten noch, wie das Auto der Familie Philipps langsam vom Parkplatz rollt und gehen dann zurück in unser Büro. Wir schnappen uns unsere Jacken und fahren mit dem Fahrstuhl wieder nach unten.

„Wir hätten auch gleich unsere Jacken mitnehmen und zur Bücherei fahren können. Dann hätten wir uns den Weg sparen können“, jammert Peter.

„Stell dich nicht so an! Die paar Schritte mehr tun dir auch nicht weh!“

„Woher willst du das denn wissen? Kannst du etwa auf telekinetische Weise meinen Gedanken nachspüren?“

„Du meinst wohl eher auf telepathische Weise, oder?“, verbessere ich ihn.

„Gibt’s da einen Unterschied?“ Peter rollt genervt mit den Augen und saugt tief die Luft ein. Er hasst es, wenn ich ihn immer auf seine Fehler aufmerksam mache.

„Ja, natürlich gibt es da einen Unterschied. Telepathie bedeutet, die Gedanken oder Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen. Der Begriff Telekinese definiert eine Ortsveränderung von Gegenständen durch geistige Kräfte bestimmter Personen.“

„Und woher weißt du das bitteschön?“ Herausfordernd verschränkt er die Arme vor der Brust.

„Keine Ahnung. Vielleicht Allgemeinwissen?“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und sehe ihn vielsagend an. Eigentlich sollte er den Unterschied der beiden Begriffe auch kennen.

„Haha, wie überaus witzig von dir, Kevin! Dann eben auf telepathische Weise. Beantworte jetzt endlich meine Frage!“

„Nein, Peter. Ich kann deine Gefühle nicht auf telepathische Weise wahrnehmen.“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen und schüttle bloß mit dem Kopf. Peter und seine Sturheit!

„Und woher glaubst du dann, zu wissen, dass mir die paar Schritte mehr nicht wehtun?“, fragt er herausfordernd.

„Weil du erwachsen bist und dich nicht so anstellen sollst.“ In dem Moment öffnet sich die Tür des Fahrstuhls und ich marschiere geradewegs zu meinem Auto und beachte Peter nicht weiter, der mir genervt hinterherläuft.

KAPITEL 3

(Kevin)

Gemeinsam fahren wir in meinem grauen Mercedes zur Bücherei. Peter und ich fahren nie mit unseren Dienstfahrzeugen. Wir benutzen immer unsere eigenen Autos. Die Sonne steht strahlend hell am Himmel, der vereinzelnd von weißen Wolken bedeckt wird.

Die Bücherei Flowers ist etwa drei Kilometer vom Polizeipräsidium entfernt, somit dauert die Fahrt nur wenige Minuten. Als wir dort ankommen, muss ich erstmal fünf Minuten lang die Straße rauf und wieder runter fahren, um einen freien Parkplatz zu erwischen. Die Bücherei muss offenbar sehr beliebt sein, wenn sich so viele Leute hier herumtreiben. Ich hingegen bin selten hier, eigentlich nur, wenn ich für einen Fall recherchieren muss, obwohl ich das inzwischen auch nur noch mit dem Internet mache. Ansonsten interessiere ich mich allerdings weniger für Literatur. Als ich schließlich einen Parkplatz finde, ist Peter bereits wieder mächtig genervt.

Gemeinsam gehen wir die Marmorstufen zum Eingang hoch. Die Bücherei Flowers ist ein riesengroßes Gebäude. Das Vorderdach wird von zwei großen Säulen gestützt, die mit gleichmäßigen Wellenlinien verziert sind. Über der gewaltigen Bronzetür steht der Name in goldenen Lettern geschrieben. Darunter steht das Erbauungsdatum: 1834 – 1866.

Ich hätte nicht gedacht, dass das Gebäude so alt ist, aber gut, ein wenig kann man es schon erkennen. Überall sind Risse im Gestein zu sehen, doch es verstärkt nur den atemberaubenden Anblick der Bibliothek.

Die Eingangstür ist von allerlei verschiedenen Blumenmustern geschmückt, alles wirkt so gewaltig und majestätisch. Beeindruckt gehe ich durch die geöffnete Tür und erblicke im Inneren ein ebenso phänomenales Erscheinungsbild. Ich bin lange nicht mehr hier gewesen, bei dem Anblick eigentlich ein Jammer. Daran kann man sich sicher nicht sattsehen, egal, wie oft man herkommt.

Hochragende, mit unzähligen Büchern vollgestellte Regale aus schön geschnittenem, schwarzem Holz füllen den Raum. Mein Blick wandert hoch zur Decke, die mindestens sechs Meter über dem Fliesenboden errichtet wurde. Gut zwanzig überdimensionale Kronleuchter erhellen den Raum. Ihre Arme reichen in sämtliche Richtungen, mal übereinander, mal nebeneinander. Sie sind von oben bis unten vergoldet und haben rankenähnliche Muster.

Die Decke ist bemalt mit einem imposanten Gemälde von Putten, die rosarote Rosen in ihren zarten Händen halten. Mittlerweile erahne ich, weshalb diese Bücherei ausgerechnet den Namen Flowers trägt. Überall stehen Blumentöpfe mit den buntesten Pflanzen und an den gesamten Wänden räkeln sich Blumenmuster entlang. Am rechten Ende des großen Saals stehen dutzende, ebenfalls aus schwarzem Holz gefertigte Tische zum Lesen und Schreiben. Auf jedem der Tische steht eine kleine violette Vase mit einer einzelnen Blume. Über die Hälfte dieser Tische sind bereits besetzt. Ein einziges Treiben herrscht auch in den Gängen zwischen den Regalen.

Ob alt oder jung, Leute jeglichen Alters sind anzutreffen. Heute ist doch erst Dienstag und kein Wochenende … Müssen die nicht alle zur Schule oder arbeiten? Keine Ahnung, spielt jetzt aber auch keine Rolle. Wir müssen erst einmal zur Rezeption und fragen, ob jemand uns Genaueres über Alyssa sagen kann.

„Gott, Kevin! Da drüben ist die Rezeption. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, irgendwann will ich auch mal Feierabend machen und zwar um Punkt 18 Uhr!“, ruft Peter mir genervt zu und macht ein missmutiges Gesicht.

„Ist ja schon gut! Bin unterwegs. Du musst mich nicht so hetzen. Ich habe immerhin auch nicht vor, den ganzen Tag hier zu verbringen“, zische ich und komme nach einigen großen Schritten neben Peter vor einer hübschen jungen Frau hinter der Rezeption zum Stehen. Sie lächelt uns freundlich an und begrüßt uns mit einem etwas zu hohen: „Guten Morgen! Was kann ich für Sie tun?“ Vermutlich ist sie neu hier und hat noch nicht viel Erfahrung in Bedienung mit Leuten. Das macht sie mir irgendwie sympathisch. Zudem schwingt ein leichter ausländischer Akzent in ihrer Stimme. Ich kann ihn jedoch keiner Sprache richtig zuordnen. Ihre Haare sind zu einem kurzen Bob geschnitten. Ihre blauen Augen strahlen uns herzlich an, während sie mit den Fingern an ihrer Goldkette rumfummelt. Sie hat offenbar den gleichen Tick wie meine Frau und muss den Verschluss der Kette immer hinten im Nacken haben. Ihr gelbes Oberteil betont ihre Kurven und bringt sie gut zur Geltung.

„Guten Tag! Mein Name ist Peter House und das ist mein Kollege Kevin Silver. Wir beide sind Kriminalkommissare und hätten da ein paar Fragen an Sie.“

„Ich … oh! Und was … was möchten Sie? Habe ich etwa irgendwas verbrochen oder falschgemacht?“ Ihre Lider beginnen zu flattern, während sie stotternd die Worte hervorpresst. Sie weicht ein paar Schritte zurück, ihre Panik ist unverkennbar.

„Soweit wir wissen, nicht“, lacht Peter. Jedoch hat das nicht gerade den erwünschten Effekt zur Folge. Die junge Dame sieht ziemlich verängstigt aus.

„Machen Sie sich keine Sorgen! Wir sind nicht Ihretwegen hier.“ Ich verpasse Peter heimlich einen kleinen Tritt. Er war mal wieder nicht besonders taktvoll.

„Hey!“, beschwert er sich und ich kassiere einen zornigen Blick. Ich reagiere nicht darauf, sondern rede gelassen mit der Mitarbeiterin der Bibliothek.

„Wir sind hier, weil wir fragen wollten, ob Sie zufällig Alyssa Engel kennen. Sie soll wohl oft hier sein.“

„Alyssa Engel?“ Ich nicke. „Tut mir leid, der Name sagt mir nichts. Aber ich kann in unserer Datenbank nachsehen, ob sie bei uns registriert ist.“

„Das wäre super, danke!“ Wir warten einen kurzen Moment, während sie mit ziemlich langen Nägeln, wobei ich mich frage, wie man damit überhaupt den Tag überleben soll, auf ihrer Tastatur irgendetwas eintippt. Auf einmal hebt sie den Kopf und ihre Augen leuchten vor Neugier. Sie durchbohrt uns fast mit ihrem Blick, als könne sie bis in unsere Seele sehen und unsere tiefsten Geheimnisse erkennen. Ich hoffe insgeheim sehr, dass das niemand kann!

Von ihrer Nervosität von vorhin ist jedenfalls keine Spur mehr zu sehen.

„Ich möchte ja nicht forsch erscheinen, aber wenn Sie Kriminalkommissare sind, geht es dann etwa um einen Mord? Ist diese Alyssa Engel etwa tot? Oder hat sie jemanden umgebracht und Sie suchen sie nun? Oder ist sie verschwunden? Wurde sie entführt? Oder ist es vielleicht doch nur eine kleine Lappalie? Aber warum sind Sie dann hier und keine Streifenpolizisten? Warum …“ Bevor Sie auch nur eine weitere Frage vollenden kann, unterbricht Peter sie stürmisch: „Stopp, Stopp, Stopp! Jetzt sind Sie eindeutig zu forsch, Frau …“

„Frau Häutgen“, flüstert sie und senkt beschämt den Kopf. Hätten Alyssas Eltern diesen Ausbruch von Fragen miterlebt, wäre Frau Philipps vermutlich in Ohnmacht gefallen, bei der Vorstellung, ihre Tochter sei ermordet worden. Frau Häutgen hingegen schien diese Vorstellung äußert aufregend zu finden.