Geteilte Hölle - Michael Räuber - E-Book

Geteilte Hölle E-Book

Michael Räuber

4,9

Beschreibung

Ein verdrängtes Trauma wirft Maria in die Vergangenheit zurück: In der DDR 1961 entgeht dem Stasi scheinbar nichts, er ist für alles zuständig, ahndet scheinbar jede Verfehlung. Doch das Doppelleben des Pastors in Neburg nimmt niemand zur Kenntnis. Maria, neu in Neburg, scheint geradezu prädestiniert, über die Fallstricke unmenschlichen Verhaltens zu stolpern. Eine große Liebe bestärkt sie, ihren geraden Weg aufrichtig zu gehen. Sie kann immer weniger schweigen. Als sie schließlich handeln muss, steht ihre Existenz auf dem Spiel…

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Kindisch ist nicht nur, wer zu lange Kind bleibt, sondern auch wer sich von der Kindheit trennt und meint, dass das, was er nicht sieht, nicht mehr existiere.

C.G. Jung, Traum und Traumdeutung

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Nur ein fahler Lichtstrahl drang durch die milchigen Fenster des Kirchleins. Er saß bewegungslos in der ersten Bankreihe, starrte ins flackernde Kerzenlicht, lauschte dem leisen Spiel der Orgel. Ein gutes Gefühl. Doch dann das Zischen, erst leise, dann von Mal zu Mal deutlicher, es ließ die alte Beklemmung wieder aufkommen. Was war es? Er sah zur Seite: Unmerklich hatte sich neben ihm eine gewaltige Rutsche aufgetan. Sie reichte von der Empore bis an die Altarstufen. ER lauschte … Da war es wieder, das Geräusch, jetzt deutlicher, es kam von der Rutsche. Er sah hinauf: Nackte, geschundene Kinderkörper sausten wie Puppen von der Empore herunter, lösten sich, indem sie vor dem Altar aufschlugen, ins Nichts auf – spurlos. Erschrocken sprang er auf. Nur nicht auf die Rutsche!, schoss es ihm durch den Sinn. Er rannte um sein Leben, schrie verzweifelt: „Die schlagen hier alle Kinder tot!“ Als er den Altar mit den goldenen Säulen erreichte, streckte er Hilfe suchend beide Arme aus. Das sonst goldglänzende, rettende Kreuz war von einem schwarzen Vorhang verhüllt. Als er den Vorhang berührte, zerriss dieser in zwei Teile und ein greller Blitz erhellte den ganzen Raum. Eine Sekunde lang sah er das grinsende, übermächtige Gesicht, das er kannte. Und wie ein Echo auf- und abschwellend dröhnte dieses höhnische Lachen in seinen Ohren. Er zitterte, wollte um Hilfe schreien. Doch bevor er einen Ton herausbringen konnte, traf ihn ein dumpfer Schlag mitten ins Gesicht, sodass er nicht mehr wusste, wo er war …

Auf dem unteren Rand des Zettels stand: „Peters Albtraum! M.“ Maria hielt inne, das gerade Gelesene rührte sie an, weckte alte Gefühle. Sie betrachtete die Schriftzüge. Der Albtraum war von Männerhand geschrieben worden, die Anmerkung darunter in einer zarten Frauenschrift. Langsam dämmerte ihr, um wen es ging: Monika und Peter. Maria faltete das Blatt sorgsam zusammen und steckte es ins Kuvert zurück. Eine Adresse in Neburg stand auf der Rückseite. Peter und Monika mit diesem Traum. Es war fast vierzig Jahre her, dass sie die beiden kennengelernt hatte, damals, bei ihrem Praktikum in Neburg. Beide waren noch Kinder gewesen. Sie überflog auch den Brief, der dabeilag, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Der Albtraum hatte ihr klargemacht, um welche Geschichte es ging. Und das wiederum bedeutete, dass sie den Brief nicht einfach beiseitelegen konnte. Dass sie ihn nicht beiseitelegen durfte. Doch bis zum Mittag ging ihr Dienst noch, die Pause war längst zu Ende, man rief schon nach ihr. Schweren Herzens steckte Maria den Umschlag in die Tasche ihres weißen Kittels zurück, wo er sich schwer anfühlte wie ein Stein.

Als sie am Mittag endlich zu Hause war, zog sie ihn sofort wieder hervor. Monika schrieb aus Sorge um ihren Bruder. Er sei unlängst von diesem Albtraum überrascht worden – nach so vielen Jahren. Dabei schienen alle die Ereignisse von 1961 längst vergessen zu haben. Doch Peter sei seit einigen Wochen verändert. Er, der sonst so freundlich sei, spreche kaum noch mit ihr. Er reagiere auf kleine Ärgernisse übertrieben aggressiv. Sie habe immer wieder versucht, ihn zu trösten. Er aber weise sie stets mit denselben Worten ab. Ihm könne niemand helfen. Denn niemand glaube ihm. Nachts höre sie, wie er in der Wohnung über ihr ruhelos umhergehe. Immer wieder lägen Schnapsflaschen in seinem Müll, aber sobald sie ihn darauf anspreche, weiche er aus. Inzwischen sehe er so traurig aus, dass es ihr das Herz breche. Woche um Woche werde es schlimmer. Sie befürchte, er könne sich in seiner Verzweiflung etwas antun. Als ihr der Zettel mit dem Albtraum in die Hände gefallen sei, habe sie versucht, mit ihm zu reden, ohne Erfolg. Da sei ihr die Idee gekommen, Maria zu schreiben. Als ihr Name fiel, habe Peter aufgemerkt, sei für kurze Zeit hellwach gewesen. Er habe nachgefragt, wo sie jetzt sei, ob sie ihn noch kenne, ob sie ihm vielleicht glauben würde. Doch dann sei er wieder resigniert in sich zusammengesunken. „Maria erinnert sich sicher nicht. Warum sollte sie auch?“ Das seien seine Worte gewesen, und deshalb habe sie ihr geschrieben. Maria sei doch damals in Neburg Peters Ärztin gewesen, als er sein Trauma erlebte. Sie müsse doch wissen, was passiert sei. Vielleicht könne sie Peter helfen.

Monikas Brief war so eindringlich, dass Maria sich nicht entziehen konnte. Und während sie wieder und wieder las, brachen auch in ihr die Dämme der Verdrängung. Nein, sie hatte sich nicht gewünscht, mit all dem, was vor fast vierzig Jahren passiert war, noch einmal konfrontiert zu werden. Ihre Gefühle fuhren mit ihr Achterbahn. Da waren die alten Verletzungen, die Ängste, aber zugleich auch die Zuneigung zu Peter und die langsam aufkommende Vorfreude auf ein Wiedersehen mit den Geschwistern.

Sie brauchte dringend selbst jemanden zum Reden. Deshalb besuchte sie am Abend ihre Freundin Marianne. Sie kannten sich seit Langem, vertrauten einander seit Jahrzehnten. Wen, wenn nicht sie, könnte Maria jetzt um Rat fragen? Bis Mitternacht redeten die Freundinnen miteinander, jedes denkbare Was-wäre-wenn besprachen sie. Marianne verstand, wie sehr Maria dieser Brief zusetzte, und versuchte, ihr die Reise nach Neburg auszureden. „Lass die alten Geschichten ruhen, sie tun dir nicht gut“, riet sie ihr. Maria wusste, wie sehr ihre Freundin recht hatte.

Doch als sie wieder zu Hause war, sah alles plötzlich wieder anders aus. Wer außer ihr könnte Peter in dieser Situation helfen? Sie musste mit Monika reden, um zu erfahren, ob es noch eine andere Hilfe gab. Leider war auf dem Brief keine Telefonnummer vermerkt, also durchsuchte Maria die Telefonverzeichnisse, rief alle möglichen Auskunftsdienste an, hatte aber keinen Erfolg. Nach einer unruhigen Nacht stand am Morgen ihre Entscheidung fest.

Zuerst meldete sie sich in ihrer Dienststelle krank. Dann schickte sie Monika ein Telegramm: „Komme mit dem Zug um 16 Uhr in Neburg an. Bitte melde dich“, und fügte ihre Mobilnummer hinzu. Das Notwendigste für ein paar Tage packte sie in einen Koffer und fuhr mit einem Taxi zum Münchner Hauptbahnhof, wo sie umgehend ein Bahnticket kaufte und in den nächsten Zug Richtung Neburg stieg.

Erst als der Zug losfuhr, bemerkte sie, dass sich das Wetter verschlechtert hatte. Regen und graue Wolken begleiteten ihre Fahrt. War das ein Omen? Obwohl sie einen bequemen Platz am Fenster hatte, kam sie über Stunden nicht zur Ruhe. Sie, die sonst gern mit der Bahn reiste, weil sie unterwegs Zeit hatte zu lesen und sich an der vorbeiziehenden Landschaft zu freuen, konnte diesmal die Fahrt nicht genießen. Immer wieder stand sie auf, streunte durch die Gänge und Abteile. Sobald sie sich hinsetzte, kamen die Fragen. Was würde sie in Neburg vorfinden? Würde ihr Besuch helfen oder vergebens sein? Sie war so überstürzt abgefahren, hatte sie zu Hause etwas vergessen? Sie telefonierte, dass jemand nach ihrer Wohnung sehen sollte, solange sie weg war. Nein, wann sie zurückkäme, wisse sie noch nicht. Sie fing eine belanglose Unterhaltung mit Abteilnachbarn an, doch auch das konnte sie nicht ablenken. Immer wieder starrte sie auf ihr Telefon – kein Anruf von Monika. Doch Maria ließ es nicht zu, dass sich schon jetzt Enttäuschung breitmachte. Sie würde Monika finden. Und wenn sie nicht anrief, dann würde Maria sich eben durch die ganze Stadt fragen.

Inzwischen war die letzte halbe Stunde ihrer Reise angebrochen. Maria beschloss, sich auf die Ankunft vorzubereiten, und ging auf die Zugtoilette. Dort gab es einen Spiegel. Sie betrachtete sich. Ihre blond gefärbten, kurzen, lockigen Haare waren zerdrückt. Sie lockerte sie mit der Bürste und zog die Konturen der Lippen nach. Wieder betrachte sie ihr Gesicht. Ihre strengen, kantigen Konturen waren etwas abgerundet und ein paar Falten unterstrichen ihr Lächeln. Ihr Gesicht war milder und freundlicher geworden mit den Jahren. Würde man sie in Neburg wiedererkennen? Sie lächelte sich im Spiegel noch einmal zu. Ja, der warme Glanz in ihren blauen Augen war noch da, trotz der langen Reise. Sie spürte, wie die alte Energie zurückkehrte. Jetzt noch einen starken Kaffee, sagte sie sich, dann war sie bereit. Zurück im Abteil genoss sie das heiße Getränk, wenn auch nur aus einem Pappbecher, und es tat ihr gut. Sie lehnte sich zurück, der Zug durchfuhr surrend eine Kurve und sie schaute aus dem Fenster. Der graue Regenhimmel, der sie die ganze Reise begleitet hatte, war endlich aufgerissen. Die eben noch in dunkle Schleier gehüllte Sommerlandschaft strahlte nun farbenfroh in der Nachmittagssonne. Sie genoss es zu beobachten, wie sich alles aufhellte und die Natur von einem zum anderen Moment die Stimmung wechselte. Würde auch sie durch ihr Kommen die Stimmung in Neburg aufhellen können? Der Dreiklanggong des Bordlautsprechers unterbrach ihre Gedanken. „Nächster Halt – Neburg – in zehn Minuten.“ So kurz vor dem Ziel mischte sich doch noch einmal Schwermut in ihre Hoffnung. Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden, sagte sie sich, das muss ich jetzt tun. Ein unerwartet schrilles, schräges Hupen der Lokomotive schreckte sie aus ihren Gedanken. Auch damals hatte es ein solch schrilles Hupen einer Lokomotive gegeben, und es hatte sie fast zu Tode erschreckt. Damals hatte sie Neburg bei Nacht und Nebel verlassen müssen. Alles war ganz anders gekommen, als sie es sich erträumt hatte. Langsam klappernd durchfuhr der Zug das vorstädtische Industriegebiet. Nochmals das schräge Hupen der Lok, dann erreichte der Zug den Bahnhof. Maria klaubte ihre Sachen zusammen und ging zur Tür. Die Bremsen quietschten, immer greller, fast schmerzhaft. Dann ein Ruck. Der Zug stand still. Während laut die Zugeinfahrt ausgerufen wurde, kletterte Maria die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Wie damals stand sie allein dort. Damals war sie begeistert gewesen, erwartungsvoll, vom Gefühl des Anfangs verzaubert. Heute wusste sie nicht, ob ihre Ankunft ein Anfang oder eher ein Ende war. Vor der Bahnhofshalle winkte sie einem Taxi und bat um eine Hotelempfehlung, irgendwo am Rand der Stadt. Der Fahrer fuhr ein ruhiges, elegantes Haus an, genau so, wie sie es sich gewünscht hatte. Dort angekommen zog sie sofort das Mobiltelefon hervor. Immer noch war kein Anruf eingegangen. Auf ihrem Zimmer wählte sie die Nummer des Zimmerservice, bat um ein Telefonbuch und eine Tasse Kaffee und machte es sich bequem. Doch so lange sie auch blätterte, sie fand keinen Eintrag der Geschwister. Endlich, sie war fast eingenickt, ein Anruf. Ja, es war Monika. Sie sprach leise und zögerlich, als sie versprach, noch am selben Abend zu kommen. Ob Peter sich überreden lassen würde mitzukommen, wusste sie nicht. Maria machte ihr Mut: „Du schaffst das, sag ihm einen lieben Gruß von mir und melde dich, wenn ihr kommt.“

In die Erleichterung darüber, dass Monika sich gemeldet hatte, mischte sich eine Zuversicht, die stärker war als alles Fragen zuvor. Erleichtert legte Maria das Telefon weg. Bis sie Peter und Monika sehen würde, hatte sie noch ein paar Stunden für sich. Sie wollte sich frisch machen, vielleicht noch etwas Schlaf nachholen. Endlich fand sie die Ruhe, die sie brauchte. Und als Maria die Augen schloss, kehrten die Bilder von 1961 Stück für Stück in ihr Gedächtnis zurück. Und mit den Bildern wurden die Erlebnisse von damals in Neburg in ihr wieder lebendig, eine Geschichte, die so vielversprechend begonnen hatte.

2. Kapitel

Der 20. Februar 1961 war kalt. Marias Bruder hatte sie zum Bahnhof von Heiligenstadt begleitet, um ihr beim Koffertragen zu helfen und sie zu verabschieden. „Neburg“ stand auf ihrer Fahrkarte, dort sollte sie ihre erste Stelle als Ärztin im Praktikum antreten. Die Neugier und die Spannung auf die neue Stelle hatten sie fast die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen. Dennoch spürte sie keine Müdigkeit. Immer wieder überlegte sie, ob sie etwas vergessen haben könnte. Sie kannte den Reiseplan und die Ankunftszeiten der Züge, wusste schon, wo sie in Neburg wohnen würde, wie sie vom Bahnhof aus dorthin kam und wo sie sich am nächsten Morgen zum Dienst melden sollte. Eigentlich brauchte sie nur in den Zug einzusteigen und loszufahren. Tatsächlich erwartete sie nichts sehnlicher als die Einfahrt des Zuges, doch der Lautsprecher vermeldete soeben eine Verspätung. Der Wintereinbruch mit tiefen Minustemperaturen hatte die Reichsbahn über Nacht ins Chaos gestürzt. Zwei Züge fielen wetterbedingt aus, der D-Zug Richtung Berlin komme eine Stunde später, hieß es. Und das, obwohl er bis hierher erst eine halbe Stunde Wegstrecke zurückzulegen hatte. Es musste also bereits vor der Abfahrt Probleme gegeben haben. Maria fröstelte. Fünfhundert Kilometer standen ihr bevor. Ob man sich darauf verlassen konnte, sicher ans Ziel zu kommen, wenn die Fahrt schon so unwägbar begann? Am liebsten wäre sie umgekehrt, um zu warten, bis die Lage sich entspannt hatte. So wie sie es als Studentin manchmal getan hatte, wenn mit der Bahn kein Fortkommen gewesen war. Aber heute kam das nicht infrage. Sie durfte auf keinen Fall ausgerechnet am ersten Tag durch Unpünktlichkeit in Erscheinung treten. Und wenn sie bis in die Nacht dauern würde, sie würde die Reise durchhalten. Immer mehr Menschen versammelten sich am Bahnsteig, auch die Passagiere der beiden ausfallenden Züge versuchten nun offenbar, mit dem Berliner D-Zug weiterzukommen. Trotz ihres Wintermantels und des dicken Schals fror Maria. Das kann ja heiter werden, Überfüllung von der ersten Sekunde an, dachte sie und vermutete, dass sie die klirrende Kälte beim Besteigen des Zuges in eine stickige Hitze eintauschen würde – wenn überhaupt all die vielen Menschen hineinpassten. Endlich wurde die Einfahrt des D-Zuges nach Berlin ausgerufen. Als die Lichter des Zuges in Sicht kamen, geriet der ganze Bahnsteig in Bewegung. „Vorsicht an der Bahnsteigkante!“, wurden die Reisenden gewarnt. Die Dampflokomotive rollte grollend über die Gleise. Rauchiger Dampf vernebelte den ganzen Bahnsteig. Die Bremsen quietschten, die Wagen ruckelten, endlich stand der Zug. Als die Dampfwolken verflogen waren, drängten sich bereits die Menschen an den Einstiegen und der Kampf um die besten Plätze im Zug begann. Erleichterung erfasste Maria, endlich ging es los.

Als sie nach ihrem Koffer greifen wollte, bemerkte sie, dass ihr kleiner Bruder noch immer neben ihr stand. Mein Gott, sie hatte die ganze Zeit über die Einfahrt des Zuges gegrübelt und ihn gar nicht mehr wahrgenommen. Lachend nahm sie ihn in den Arm. Ihm war die Kälte inzwischen deutlich anzusehen. Die Hand, mit der er ihren Koffer umklammert hielt, war steifgefroren, seine Lippen waren blass, das Gesicht gerötet, er versuchte zurückzulächeln. Mit seinen vierzehn Jahren war er fast so groß wie sie, er ging ihr bis an die Stirn, ein Meter sechzig. Sie nahm seine Hände. „Was bist du kalt“, sagte sie und lächelte ihn wie zur Entschuldigung an. „Wie konnte ich dich nur vergessen? Warum hast du nichts gesagt? Du könntest längst zurück im Warmen sein.“ Er lächelte verschmitzt. „Ich wollte dich doch abfahren sehen.“ Er hatte seine Strickmütze tief ins Gesicht gezogen und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Danke, dass du mitgekommen bist.“ Maria herzte ihn, drückte ihre Wange auf seine und flüsterte ihm ins Ohr: „Machs gut, mein Großer. Ostern bin ich doch wieder da – und grüß alle zu Haus von mir.“ Der Junge nickte erleichtert und rannte davon.

„Bitte Einsteigen und die Türen schließen“, hieß es aus den Lautsprechern. Jetzt war es auch für sie höchste Zeit, der Zug würde sicher nicht auf Nachzügler warten. Sie schleppte ihren Koffer zum nächsten Wagen und versuchte, ihn die Stufen hochzuwuchten, doch vergeblich. Einmal, zweimal, er war zu schwer. Hinter ihr wurden die Wartenden ungeduldig. „Sie hätten besser Ihren Hausrat zu Hause gelassen!“, rief einer. „Platz machen!“, schimpfte ein anderer. Hilfe suchend schaute sie um sich. Da hob ein Uniformierter ihren Koffer in den Zug und flachste: „Bevor wir hier alle erfrieren.“ Sie kletterte hinterher, wollte ihm danken, doch er wies sie an: „Nun gehen Sie doch bitte aus dem Weg, junge Frau, hier wollen noch mehr rein!“ Sie nickte dankbar und ging weiter, den Koffer hinter sich her ziehend. So schwer wie der Koffer und so voll wie der Zug war, würde sie ihren reservierten Sitzplatz wohl kaum finden. Doch auch ihre Suche, irgendeinen anderen Platz zu finden, war aussichtslos, man stand schon in den Gängen. Als sie jemanden höflich bat, man könne doch ein bisschen zusammenrücken, die Sitzbank sei doch für drei vorgesehen, bekam sie nur unfreundliche Blicke und ein mürrisches „Schon besetzt“ zu hören. Sie suchte weiter, bei jedem dritten Schritt blieb ihr Koffer an dem ausgetretenen welligen Fußbodenbelag hängen. Die Abteiltüren klapperten bei jedem Schwung in den Scharnieren, als würden sie gleich aus den Angeln fallen. Überall lag kalter Zigarettenrauch in der Luft. Endlich, in einem Gepäckabteil für Kinderwagen und große Gepäckstücke, gab es noch Platz und die Luft war deutlich besser. Die einzige Sitzbank war zwar besetzt, aber Stehplätze gab es immerhin. Besser als nichts, dachte sie und versuchte gerade, sich mit der Situation zu arrangieren, als ihr zwischen Abteiltür und Fenster ein Notsitz ins Auge fiel. Der an die Wand geschraubte Klappsitz war noch frei. Sie schob ihren Koffer dorthin, drückte den Sitz herunter und setzte sich: geschafft!

Inzwischen waren im Abteil weitere Reisende nachgerückt, Frauen mit Kinderwagen und Männer mit Kartons oder übergroßen Koffern. Die Heizung unter dem Fenster dümpelte nur lauwarm vor sich hin. Trotz der vielen Menschen war es erstaunlich kalt. Das Fensterglas war frostig matt und zur Hälfte mit Eisblumen zugefroren. Endlich, die Wagentüren wurden zugeschlagen, dann der eindringlich lange Pfiff. Der Zug setzte sich ächzend in Bewegung, rollte, erst ruckend, dann gleichmäßiger und immer schneller. Sie atmete auf und auch manchem Mitreisenden war die Erleichterung anzusehen, dass der Zug endlich fuhr. Ob sie sich in dieser Situation die Reisezeit mit einem Buch verkürzen könnte? Sie zog den bereitgelegten Roman aus der Tasche. Doch die spärliche Beleuchtung und die bedrängende Enge machten das Lesen unmöglich, dazu noch ihre kalten Finger. Sie steckte das Buch wieder ein. Das monotone Rattern der Räder auf den Gleisen und das Zischen der Dampfmaschine beherrschten die Stimmung. Ringsum schwiegen alle, schienen sich apathisch mit der Situation abzufinden. Einige dösten vor sich hin. Hier und da plapperte ein Kind, Eltern versuchten zu trösten oder reagierten genervt.

Maria versuchte abzuschalten, doch die Gedanken wirbelten nur so in ihrem Kopf herum. In den letzten Wochen hatten sich die Ereignisse überschlagen. In letzter Minute war sie an diese Stelle in Neburg gekommen. Durch Losentscheid. Das klang wie ein Witz. Sie hatte sie dennoch angenommen. Und bis der Zug losgefahren war, war sie sich ihrer Sache auch sicher gewesen. Nun begann der Zweifel, an ihr zu nagen. War es richtig gewesen, diese Stelle anzunehmen, die ihr nach dem Prinzip „Friss Vogel oder stirb“ zugewiesen worden war? Fest stand, dass in Neburg jede helfende Hand in der Klinik gebraucht wurde. Und sie wollte als Ärztin gefordert werden, wollte viel lernen, praktische Erfahrungen sammeln. Aber ob sie auch ihre Facharztausbildung machen konnte, wo doch dort Fachärzte so knapp waren? Würde sie überhaupt jemanden finden, der die Zeit hätte, sie fachlich zu betreuen? Ihr Vater war strikt gegen diese Stelle gewesen. Sie mit ihrem guten Abschluss müsse doch in einer renommierten Klinik an der Universität weitermachen, eine Doktorarbeit schreiben und so weiter, aus ihr solle doch etwas werden, hatte er sich ereifert. Sie hatte ihm darauf nicht geantwortet. Ein Platz an der Uniklinik war eben nicht nur eine Frage guter Noten. Man brauchte dazu auch einen Aufnahmeantrag in die SED. Und Maria war Christin, der Eintritt in die kommunistische Partei hätte sich für sie wie Verrat angefühlt. Ja, und eine Empfehlung ihres Chefarztes an der Uni, ihres Professors, die hätte sie außerdem gebraucht. Aber der hatte ihr statt einer Empfehlung etwas ganz anderes angeboten – unter vier Augen. Sie sei doch eine so hübsche Person, die er sich gut an seiner Seite vorstellen könne, über ihre Karriere müsse sie sich dann auch keine Gedanken mehr machen. Solch eine Gelegenheit erhielte man nur einmal im Leben, sie solle gut überlegen. Maria hatte eine Nacht darüber geschlafen und ihm dann persönlich eine Absage erteilt. Mit dem Eintritt in die SED die eigenen Überzeugungen über Bord zu werfen und danach ein Leben lang abhängig von ihrem Gönner zu sein, das kam für sie nicht infrage. Sie wollte unabhängig bleiben und ihren eigenen Weg aus eigener Kraft gehen. Nun saß sie also im Zug und reiste nach Neburg, dem gefühlten Nirgendwo. Ihre Kommilitonen waren empört, als sie hörten, dass Maria die Karriere an der Uni abgesagt hatte. Sie habe doch etwas Besseres als dieses Dorfkrankenhaus verdient, sie gehöre nicht in die „Taiga der DDR“, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Maria hatte alle Sticheleien charmant weggelächelt, aber in ihrem Inneren hatte der Zweifel zu wachsen begonnen. Würde sie überhaupt weiterkommen, wenn sie dort keinen fachlichen Betreuer fand? Als ihre Unruhe zu groß wurde, war sie zur Post gegangen, um zu telefonieren. Sie versuchte es mehrfach. Den Chefarzt der Kinderabteilung konnte sie zwar nicht selbst sprechen, aber seine Sekretärin war am Telefon. Sie solle ihr einen herzlichen Gruß von Doktor Müller ausrichten, sagte diese. Er freue sich außerordentlich, dass sie sich für Neburg entschieden habe. Er erwarte sie dringend. Und er werde alles dafür tun, dass sie bei ihm fachlich gut betreut würde und in Neburg ihren Abschluss machen könne. Die Hauptsache wäre, sie bliebe bei ihrer Zusage und komme, und zwar so bald wie möglich. Damals hatte diese Aussage sie beruhigt. Nun ahnte sie, dass ihr Leben kein Spaziergang sein würde, wenn man sie derart dringend erwartete. Aber gleichzeitig wollte sie sich und allen jetzt erst recht beweisen, dass sie ihre Ausbildung auch unter diesen Umständen schaffen würde. Die Kälte kroch ihre Beine hoch, obwohl die Heizung langsam wärmer wurde. Wieder stand sie auf, bewegte die Füße, trank einige Schlucke heißen Tee aus der Thermoskanne.

Am nächsten Bahnhof stiegen neben neuen Reisenden auch zwei Volkspolizisten zu. Mürrisch musterten sie die dicht gedrängten Fahrgäste. Die Polizei müsse Präsenz zeigen, wegen der Sicherheit, hieß es offiziell. Jeder wusste, dass es weniger um die Sicherheit als vielmehr um die Überwachung ging. Der Staat befand sich in einer Krise, wollte nichts unkontrolliert lassen. Die beiden VoPos, ein großer Schlaksiger und ein stämmig Beleibter, durchstreiften trotz der Enge, fast auf Tuchfühlung mit den Reisenden, immer wieder wortlos die Abteile, musterten auffällig diesen oder jenen. Die Beobachteten wandten sich, peinlich betroffen, allesamt schweigend ab. Bis plötzlich ein wohl vier- oder fünfjähriger Junge die Stille durchbrach. Mit seiner hellen Kinderstimme rief er: „Papa, guck mal, ein ganz fetter Polizist! Der kann doch gar nicht schnell laufen, wenn er einen Verbrecher jagen muss!“

Die Komik der Situation schlug Wellen. Manche grinsten offen, andere verdeckten ihr verschämtes Lachen mit den Händen, um nicht aufzufallen. Maria drehte sich zum Fenster und lachte schadenfroh in sich hinein. Der so gescholtene Polizist lief im Gesicht rot an, als wäre er ertappt worden. Eilig verließen beide das Abteil. Jetzt lachten alle ungeniert. Und als wären sie durch diese Begebenheit aufgewacht, wurden die Gesichter ringsherum freundlicher. Man begann zu reden, lächelte hier und da, tuschelte sich diesen oder jenen Witz zu. Auch Maria kam mit der neben ihr stehenden jungen Frau ins Gespräch. Maria erzählte fast gekränkt, ihr sei vom Wohnungsamt ein möbliertes Schlafzimmer in der Wohnung einer älteren, verwitweten Dame zugewiesen worden, Küche und Bad zur Mitbenutzung. Das sei, wie man ihr am Telefon gesagt habe, schon ein Glücksfall für sie. Die fremde junge Frau nickte verständnisvoll. Auch sie hatte eine Odyssee mit der Wohnungssuche hinter sich. Seit zwei Jahren lebte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer alten Einzimmerwohnung mit Küche, das WC befinde sich im Treppenhaus. Das mache sie bitter. Alles werde, wenn das so bliebe, den Bach runtergehen. Ihre Ehe stehe inzwischen auf dem Spiel, weil man so dicht aufeinander hocke und bei jedem Wort auf die Kinder Rücksicht nehmen müsse, klagte sie. Und als sie endlich eine private Dreizimmerwohnung gefunden hätte und von der Wohnungsverwaltung eine Zuweisung dafür verlangt habe, hieß es, sie sei noch nicht dran. Die Wohnung bekam ein Parteifunktionär. Maria versuchte, die junge Frau zu trösten, und fühlte sich nur hilfloser dabei.

Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand, blätterte darin herum. Das eben Gehörte hatte sie getroffen. Sie wollte sich ablenken, zählte die regulären Halts an Bahnhöfen zusammen, um sich zu orientieren, wie weit der Zug schon gekommen war. Ein Blick zur Uhr. Inzwischen waren über zwei Stunden Verspätung zusammengekommen. Doch bis zum Abend würde der Zug in Neburg ankommen, zuvor würden sicher in Berlin viele Passagiere aussteigen, sodass die Reise erträglicher werden würde. Heimlich sprach sie ein Stoßgebet, dass unterwegs nicht noch mehr dazwischenkäme. Inzwischen waren die Fenster etwas aufgetaut. Eine leicht verschneite Landschaft zog an ihr vorbei. Wie würde es mit dem Krankenhausdienst werden?, kam es ihr wieder in den Sinn. Eigentlich freute sie sich auf die praktische Arbeit, auf die Kinderaugen ihrer Patienten, die ihr vertrauten. Doch immer wieder schlichen sich Ängste in ihre Freude. Das Personal sei überaltert, ebenso wie die Medizintechnik, hieß es über Neburg. Helfende Hände würden dort vor allem für die unliebsamen Aufgaben und die Dauerschichten gebraucht.

Der Zug begann wieder zu bremsen. Wieder ein Halt? Noch mehr Fahrgäste? Sie sah aus dem Fenster, konnte aber keinen Bahnhof erkennen. Es war der obligatorische Halt in Genshagen, die sogenannte Kontrollstelle der Volkspolizei vor Berlin. Sie kannte dieses Prozedere schon von vielen Semesterfahrten nach Berlin. Volkspolizisten kontrollierten jeden einzelnen Reisenden, verlangten seinen Personalausweis, fragten nach dem Woher und Wohin der Reise und durchsuchten willkürlich jeden, der keinen Ausweis vorweisen konnte oder den Grund seiner Reise nicht erklären wollte. Alle standen unter Verdacht, möglicherweise Republikflüchtlinge zu sein. Nach Westberlin waren es noch fünfzehn Kilometer. Warum gab es hier schon Kontrollen? In Ostberlin musste man mancherorts nur die Straßenseite wechseln oder mit der U-Bahn ein paar Stationen fahren, um in die Westsektoren zu kommen. Berlin war nach dem Viermächteabkommen eine offene Stadt, Grenzen und Kontrollen durfte es offiziell nicht geben. Dort gab es nur Schilder, die auf den Wechsel von Ost nach West oder umgekehrt hinwiesen. So versuchte die DDR, mit Kontrollen und Repressalien im Vorfeld von Berlin die Flucht eigener Bürger nach dem Westen einzudämmen. Man wollte nicht wahrhaben, warum die Menschen in Scharen ihre Heimat verließen. Doch es war offensichtlich. Die sich ständig verschlechternde wirtschaftliche Situation machte das Leben im Osten immer schwieriger. Täglich ging es um die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, Butter und Fleisch. Der Mangel bestimmte die Wirtschaft, und seit Jahren war trotz vieler Versprechen keine Besserung in Aussicht. Dazu der ideologische Druck, der die Menschen an den sozialistischen Staat binden sollte, das belastete viele. Westliche Medien seien schuld, dass Menschen die DDR verließen, hieß es. Verbote westlicher Radio- und Fernsehsender und Strafandrohungen, wenn jemand aus dem Westen Zeitungen mitbrachte, sollten die Meinungsbildung zugunsten der DDR beeinflussen. Als all das jedoch nicht half, richtete man strenge Polizeikontrollen am Rande von Berlin ein und verhängte drakonische Strafen für Republikflucht. Man müsse die Menschen notfalls zu ihrem Glück zwingen, und dieses liege eben im Sozialismus, rechtfertigte die SED-Propaganda das schonungslose Vorgehen.

Der Zug fuhr im Schritttempo. Alle wussten, was gleich kommen würde, im Abteil herrschte eisige Stille. Mancher versuchte noch schnell, seinen Koffer unter die Sitzbänke zu schieben, oder versteckte seine Handtasche unter dem Mantel. Maria hatte sich all die Jahre nie mit diesen Kontrollen abfinden können. Wie oft kam es dabei zu menschenverachtenden Szenarien, wenn Reisende von Volkspolizisten zum Aussteigen gezwungen und wie Verbrecher abgeführt wurden. Allein wegen des Verdachtes, die DDR auf Dauer verlassen zu wollen. Aus dem Verdacht wurde nur allzu schnell der Straftatbestand einer „versuchten Republikflucht“, für die sie ins Gefängnis kamen. Sie schaute nochmals durch das frostige Fenster. Grüne Uniformen und Polizeimützen zogen dicht an ihr vorbei. So viel Grenzpolizei hatte sie hier noch nie gesehen. Was war hier los? „Wenn die alle durch den Zug wollen, kann das ja Stunden dauern“, murmelte sie vor sich hin. Die Leute ringsherum starrten aus den Fenstern. Einige nickten betreten, anderen stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Bremsen quietschten. Aus blechernen Lautsprechern dröhnten Kommandos. „Ausweiskontrolle!“, und immer wieder: „Bürger, halten Sie Ihre Ausweise und Reisepapiere zur Kontrolle bereit!“ Die Wagentüren wurden aufgerissen und VoPos stampften drohend durch die Abteile. Die Reisenden machten ihnen ängstlich Platz oder wurden zur Seite gedrängt. Die meisten hielten ihren Personalausweis in der Hand. Jeder wurde einzeln gemustert, sein Gesicht mit dem Passbild im Ausweis verglichen. Bissig wurde nach dem Reiseziel oder dem Wohnort gefragt. Ausweise wurden nach Sperreinträgen durchblättert. Die Kontrollierten schauten hilflos zur Seite. Wer widersprach, wurde eingeschüchtert, man würde ihn der „großen Kontrolle zuführen“, hieß es. Davor fürchteten sich alle. Dann nämlich musste man den Zug verlassen, in der Baracke der Volkspolizei seine Sachen auspacken und sich meist einer erniedrigenden Leibesvisitation unterziehen. Ganz offensichtlich hatte man die Kontrollen intensiviert. Für Maria war es der Beweis, dass die vom RIAS verbreiteten hohen Flüchtlingszahlen offenbar stimmen mussten.

Sie war noch halb in Gedanken, als sie spürte, wie ein stämmiger VoPo-Offizier auf sie zukam. Er war nun fast auf Tuchfühlung mit ihr. Sein unrasiertes Männergesicht kam ihr so nahe, dass sie seinen rauchigen Atem spürte. Er säuselte grinsend: „Schönheit schützt vor Torheit nicht. Na, was haben wir denn vor, junge Frau? Wohin soll die Reise gehen?“ Maria war so überrascht, dass sie zu stammeln begann. Sofort wurde der VoPo ungehalten: „Ihren Personalausweis bitte!“ Sie hielt ihm ihren Ausweis hin und versuchte zu lächeln. Das brachte den VoPo noch mehr auf: „Und Ihr Gepäck? Ist das Ihr Koffer in der Ecke?“ Sie nickte stumm. „Mit so vielen Sachen so kurz vor Berlin?“, er grinste. „Nun, das werden wir uns näher ansehen müssen!“ Schon hatte er sie am Arm gepackt. Maria stammelte etwas, rang nach Fassung und nahm allen Mut zusammen: „Das sind meine persönlichen Sachen und meine Fachbücher. Ich bin auf Dienstreise, als Ärztin. Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus nach Neburg.“ Sie hielt ihm den auseinandergefalteten Brief der Charité, ihre Delegierung zur Facharztausbildung, hin. Der VoPo stutzte, las den Briefkopf, dann fiel sein Blick auf den Stempel der Charité. Offenbar beeindruckt ruderte er zurück: „Schon gut, Frau Doktor“, meinte er nun sichtlich freundlicher. Er gab ihr die Papiere zurück und tippte kurz mit der Rechten an den Mützenrand. „Und gute Reise.“ Schon hatte er sich dem nächsten Opfer zugewandt. Maria holte tief Luft. Sie setzte sich und spürte, dass sie am ganzen Leib zitterte.

Plötzlich waren barsche Töne im Abteil zu hören. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gepäckabteils hatte sich ein VoPo vor einem jungen Ehepaar mit Kleinkind im Kinderwagen aufgebaut und verlangte, immer lauter werdend, ihren Ausweis. „Haben Sie ihn nun oder nicht?“, fuhr er die Frau an. Die durchsuchte vergeblich ihre Taschen, förderte aber nichts zutage, murmelte etwas von ihrem kranken Kind und einer Überweisung. Das Kind müsse zur Untersuchung in die Kinderklinik, nach Berlin. Der VoPo glaubte ihr nicht. Er ließ sie alle Manteltaschen umkehren. Und als er dort nichts fand, bückte er sich, griff in den Kinderwagen, schob erst das Kind beiseite, dann suchte er unter der Matratze. Triumphierend richtete er sich einen Moment später auf. In der Hand hielt er eine unscheinbare, graue Mappe. „Ich wusste es doch!“ Er grinste sichtlich selbstzufrieden. Für alle gut sichtbar blätterte er darin. „Sieh einer an, Diplomzeugnisse. Und die brauchen Sie für die Kinderklinik?“ Die Umstehenden zuckten zusammen. Der Ehemann stand totenblass mit offenem Mund neben seiner Frau, hielt sie am Arm fest, brachte kein Wort heraus. Der Polizist polterte lauthals: „Von wegen auf dem Weg zur Kinderklinik. Das ist geplante Republikflucht!“ Sofort sprangen zwei weitere VoPos hinzu, der Mann wurde in Handschellen gelegt, die Frau klammerte sich an den Kinderwagen und weinte laut los. Es half ihr nichts. Der Offizier nahm das schreiende Kind aus dem Wagen, es war vielleicht zwei oder drei Jahre alt, noch bevor die Mutter es auf den Arm nehmen konnte, und hielt es ihr böse grinsend vors Gesicht. „Damit Sie den Weg aus dem Zug schneller finden, bringen wir das Kind schon mal raus.“ Er reichte das Kind durchs Fenster. Auf dem Bahnsteig wurde es von einem VoPo in Empfang genommen und in eine Decke gewickelt. Die Frau war fassungslos, schrie, schluchzte. Ein zweiter VoPo nahm sie am Arm und zerrte sie, samt Gepäck und Kinderwagen, durch den Waggon zum Ausstieg. Die Situation war unerträglich angespannt, alle schwiegen. Maria war fassungslos, sie konnte so viel Herzlosigkeit nicht ertragen. Das Schweigen der Umstehenden und ihre eigene Ohnmacht brachten sie zur Weißglut. Von einer Sekunde auf die andere entlud sich ihre Wut. Ohne nachzudenken, schrie sie: „Ist das hier ein Viehtransport?“

Die umherstehenden Reisenden horchten auf und senkten sofort die Blicke. Der Offizier fuhr herum. Seine tiefe Stimme klang bedrohlich und laut: „Will da noch jemand mit?“ Maria blickte starr aus dem Fenster, konnte ihren Zorn kaum unterdrücken. Sie wusste, wie sehr sie sich schadete, wenn sie jetzt weitermachte, aber sie konnte doch nicht einfach hinnehmen, dass … Der VoPo konnte sie in der Menge nicht gleich ausmachen. Im selben Moment schrie die Mutter verzweifelt nach ihrem Kind. Der Offizier war einen Moment abgelenkt. Plötzlich lag eine starke Hand auf ihrer Schulter. Das war´s, schrak sie zusammen, jetzt bin ich dran. Doch an ihrem Ohr hörte sie eine weiche, tiefe Männerstimme: „Komm hierher, Mädchen, bevor die dich auch noch mitnehmen.“ Zugleich wurde sie von hinten mit festem Griff ins Nachbarabteil gezogen. „Dorthin!“ Er zeigte auf die hintere Bank. Maria drehte sich kurz um, sah ihn, sein vom Frost gerötetes, kantiges Männergesicht, von einer Pelzmütze umrahmt. Er bedeutete ihr mit dem Finger auf dem Mund zu schweigen, dann schob er sie sanft in die zweite Reihe. Trotz der Enge rückten nun zwei ältere Frauen bereitwillig auseinander und nahmen sie zwischen sich. Der Fremde stellte sich sofort breit in die Tür, sodass sie nicht mehr zu sehen war. Der VoPo war fuchsteufelswild, schaute suchend in die eine, dann in die andere Richtung. „Ja wer war denn eben noch so vorlaut? Jetzt auf einmal so feige?“ Aufgebracht lief er in die falsche Richtung, sein Schimpfen entfernte sich. Nach einigen Minuten ertönte die Lautsprecherdurchsage: „Kontrollkompanie abrücken, D-Zug aus Leinefelde fertigmachen zur Weiterfahrt nach Berlin Ostbahnhof!“ Die Personenkontrolle war beendet. „Dich kriegen wir auch noch!“, hörte man den Offizier wütend rufen, als er mit den übrigen VoPos ausstieg. Die Trillerpfeife des Schaffners gab die Fahrt frei. Maria atmete auf, als der Zug stampfend anfuhr. Endlich!

„Das war aber knapp“, flüsterte die alte Frau rechts neben ihr. Maria nickte ihr erleichtert zu, lächelte über sich selbst. Doch im nächsten Moment dachte sie: Welcher Teufel hat mich denn nur geritten, das Schicksal dermaßen herauszufordern? Gott sei Dank, die haben mich nicht gekriegt. Sie spürte zunehmend, wie die Spannung von ihr abfiel, als der Zug Fahrt aufnahm. Doch wo war ihr Retter? Sie trat in den Gang, schaute links und rechts die Abteile entlang. Schließlich sah sie ihn am anderen Ende. Er war im Begriff, in ein Abteil hineinzugehen. Sie fixierte ihn mit den Augen, wagte nicht zu rufen. Als hätte er ihren Blick gespürt, wandte er sich um und ihre Blicke trafen sich. Er hob lachend die Hand mit den zum V gespreizten Fingern. „Danke!“, rief sie ihm mit gedämpfter Stimme zu, nahm die rechte Hand an die Kinnspitze und schwang sie lächelnd nach vorn, die Gebärde für Danke. Er lächelte zurück und verschwand. Hatte er verstanden? Benommen ging sie zu ihrem Platz zurück. Draußen waren die ersten Häuser von Berlin zu sehen. Jetzt kam Unruhe ins Abteil. Gepäckstücke wurden hervorgezogen, in den Gang gestellt. Das Gedränge verlagerte sich, man wollte beim kurzen Aufenthalt so schnell wie möglich aus dem Zug kommen. Als der Zug in den Ostbahnhof einfuhr, hatte sie bereits einen Platz im Nebenabteil direkt am Gang gefunden. Dort konnte sie die vorbeiziehenden Menschen beobachten. Vielleicht konnte sie ihn abpassen, wenn er hier ausstieg. Vielleicht noch einmal kurz mit ihm sprechen. Sie holte einen Zettel und einen Bleistift hervor, schrieb ihren Namen und ihre Adresse darauf, faltete ihn und tat ihn in die Manteltasche. Den würde sie ihm zustecken, wenn sie ihn sah. Wenn er nicht ausstieg, würde sie ihn im Zug suchen. Vielleicht hätte sie dann Zeit, ihn kennenzulernen, wenn … Wieder mahnte der Bahnhofslautsprecher zur Eile. Der Gang hatte sich geleert, aber ihn hatte sie nicht gesehen. Die Türen klappten zu. Maria lehnte sich zurück. Er musste also noch im Zug sein. Aber was, wenn er in der Gegenrichtung am anderen Ende des Wagens ausgestiegen wäre? Schnell erhob sie sich, ging eilig durch den Gang, öffnete das Fenster und steckte den Kopf zum Bahnsteig hinaus. Nichts. Hatte sie ihn verpasst oder war er doch noch im Zug? Noch während sie sich aus dem Fenster lehnte, spürte sie einen sanften Händedruck auf ihrer Schulter und wieder diese tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr: „Na, jetzt finden Sie wenigstens einen freien Platz für die Weiterfahrt, viel Glück!“ Sie zog den Kopf ein. Da war er schon mit seinem Seesack auf der Schulter an ihr vorbei. An der Wagentür winkte er ihr noch einmal kurz zu. „Ich muss mich beeilen, damit ich hier noch rauskomme.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, öffnete er die Tür. Er tippte lässig lachend mit zwei Fingern an den Mützenrand. „Bye-bye, Baby!“, glaubte sie zu verstehen. Der Zug ruckte, rollte bereits langsam, als er auf den Bahnsteig sprang. Was für ein Chaot, dachte Maria. Er stand ihr noch genau vor Augen: groß, sportlich, blaue, lebendige Augen, seine hohe Stirn, sein Dreitagebart, seine kraftvolle tiefe Stimme und das sympathische Lachen. In der Manteltasche fühlte sie den vergessenen Zettel. Ob er auch in den Westen ging? Die Besten gehen in den Westen, den Spruch hatte sie schon zu oft gehört. Schade um die vertane Chance. Er war fort und ihm tat das offenbar auch nicht leid. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie um ihre Adresse bitten können, er hätte wenigstens eine Minute gefunden, um noch einmal mit ihr zu reden. Stattdessen hatte er sich bis zum letzten Moment in seinem Abteil versteckt. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, was unterstellte sie hier eigentlich? War sie so naiv, dass sie glaubte, aus dieser Begegnung könnte mehr entstehen? Und dennoch, dieser Mann wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. In der Hoffnung, sich abzulenken, nahm sie ihr Buch heraus und begann zu lesen. Dann legte sie das Buch wieder weg, sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die Familie mit dem Kinderwagen fiel ihr wieder ein. Mein Gott, wie mochte es den dreien nun gehen? Sie waren sicher bei der Vernehmung, vielleicht hatte man ihnen das Kind weggenommen. Dann ihr unüberlegter Zwischenruf, und wieder dachte sie an ihren Retter. Ohne ihn hätte sie ihre Facharztausbildung jetzt vergessen können. Irgendwie musste sie sich doch bei ihm bedanken können, ihn wiedersehen.

Sie hatte die Situation wieder deutlich vor Augen. Als sie den Satz mit dem Viehtransport rief, hatten sich alle im Abteil geduckt, nur er nicht. Irgendwie musste ihn die Situation doch auch berührt haben, dass er so prompt reagiert und ihr aus der Patsche geholfen hatte. Er musste mit ihr auf gleicher Wellenlänge liegen. Dann konnte sie ihm doch nicht ganz gleichgültig sein. Marias Gedanken und Spekulationen drehten sich im Kreis. Schließlich gestand sie sich ein, dass sie nichts über ihn wusste. Rein gar nichts. Wieder nahm sie ihr Buch zur Hand, um sich abzulenken, und wieder wurde nichts daraus. Sie stand auf, ging zur Zugtoilette, kehrte von dort wieder zurück. In dieses Abteil war er hineingegangen. Vielleicht wusste jemand von den Fahrgästen dort etwas über ihn. Vielleicht gab es jemanden, mit dem er zusammen gereist war, der ihn kannte, der ihr sagen könnte, wie er hieß, wo er wohnte. Sie ging langsam an dem Abteil vorbei, schaute durch die Glastür. Zwei junge Frauen saßen nebeneinander ins Gespräch vertieft. Sie gestikulierten, lachten. Ob eine von ihnen ihren Retter kannte? Vielleicht war er sogar mit einer von ihnen liiert? Sie ging ein paar Schritte weiter, stellte sich ans nächste Fenster, sodass sie die beiden aus dem Augenwinkel beobachten konnte. Welche von den beiden könnte zu ihm passen? Die Blonde? Oder die mit den dunklen, langen Haaren? Sollte sie die beiden nach ihm fragen? Nein, das kam ihr dumm vor. Sie ging wieder zurück zu ihrem Abteil. Doch statt hineinzugehen, drehte sie sich um und ging nochmals zurück, diesmal schnurstracks zu den beiden Frauen. Sie fragte geradewegs: „Hallo! Können Sie mir bitte sagen, wer der Herr vorhin in Ihrem Abteil war? Der mit dem Seesack und der Pelzmütze? Er ist in Berlin ausgestiegen. Er hat, als er ausstieg, etwas Wichtiges verloren. Ich würde ihm das gern nachschicken. Haben Sie eine Ahnung, wie ich ihn erreichen könnte? Eine Adresse?“ Die beiden lachten laut los. „Der? Nein, der hat die ganze Zeit nur rumgeulkt. Als die Ausweiskontrolle kam, war er weg. Wer weiß, was der vorhatte. Nein, da können wir nicht helfen.“ Maria verabschiedete sich. Einen Versuch war es wert gewesen, dachte sie ernüchtert und kehrte in ihr Abteil zurück.

Inzwischen saß dort ein älterer Herr, offenbar etwas Besseres. Er trug einen grauen Anzug mit Weste und Schlips, sein Mantel hing aufgeknöpft auf seinen Schultern. Er war bestimmt doppelt so alt wie sie. Maria setzte sich mit einem kurzen Gruß ihm gegenüber auf ihren Platz. Sie begann wieder zu lesen. Ihr Abteilnachbar schien sich zu langweilen. Er trommelte mit seinen Fingern leise auf die Armlehne und beobachtete sie. Nach zehn Minuten fand sie es äußerst unpassend, so angestarrt zu werden. Sie sah ihn auffordernd an, doch er reagierte nicht. Schließlich zog er eine Zigarettenschachtel aus dem Mantel, fingerte eine Zigarette heraus, zündete sie an und begann genüsslich zu rauchen. Nun war es mit ihrer Gutmütigkeit vorbei. „Bitte, Herr ..., wir sind hier im Nichtraucherabteil“, sprach sie ihn an. Der Mann grinste unverhohlen zurück. „Haben Sie jetzt keine anderen Sorgen, junge Frau, als mich zu kritisieren?“ „Nein, Nichtraucher ist Nichtraucher, deshalb bin ich hier eingestiegen. Ich bitte Sie, die Zigarette auszumachen.“ Er drehte sich zur Seite und musterte sie nun von oben bis unten. „Na ja, eigentlich dürften Sie mit Ihrem vorlauten Mundwerk längst nicht mehr hier in diesem Zug sitzen. Hat doch jeder gehört, was Sie sich gegenüber den Grenzpolizisten geleistet haben.“ In Marias Kopf drehte sich alles. Sie hätte ahnen müssen, dass das mit ihrem Zwischenruf in diesem Überwachungsstaat nicht gut gehen konnte. Sie war noch lange nicht davongekommen, mitnichten. So zu tun, als wäre nichts gewesen, war aussichtslos. Sie musste sich beherrschen, dass sie die Fassung nicht verlor. Was, wenn der auf dem nächsten Bahnhof die Polizei holte? Sollte sie dann einfach weglaufen? Den Koffer einfach stehen lassen? Maria zitterte. Der Fremde legte seine Zigarette beiseite, dann klatschte er symbolisch in die Hände. „Bravo, junge Frau, Sie haben im richtigen Moment aufgemuckt. Eine Schande, dass so viele wieder mal wortlos zugesehen haben, wie die Herren Volkspolizisten sich danebenbenommen haben. So etwas darf man mit Frauen, zumal wenn sie Kinder bei sich haben, nicht machen.“ Sie konnte es nicht glauben, was sie da hörte. Auf wessen Seite stand der Fremde? Er nickte. „Ja, ich bin auch einer von denen, die nichts gesagt haben“, fuhr er fort. „Das war eine reine Schikane von den VoPos, so zu verfahren.“ Er machte eine Pause. Dann redete er weiter: „Wir schweigen alle viel zu oft.“ Er sah ihr Erstaunen. „Jetzt wollen Sie sicher wissen, wer ich bin.“ Sie war wie erstarrt. Er schüttelte den Kopf. „Das werde ich Ihnen nicht sagen. Anonym im Zug, unter vier Augen, kann man in diesem Land hin und wieder mal ´ne Lippe riskieren.“ Sie konnte kaum an sich halten, irgendetwas zu erwidern. Er hielt den Zeigefinger auf den Mund: „Pssst! Nichts sagen, auch nicht, wer Sie sind, dann sind wir quitt. Andernfalls müsste ich unser Gespräch sofort beenden.“ Maria starrte ihn ungläubig an. Sie wusste nicht, ob sie ihn fürchten oder ihm für seine Worte dankbar sein sollte. Er fuhr fort: „Wohin sind Sie denn nach Ihrem Schrei so schnell verschwunden, dass die Sie nicht finden konnten? Verraten Sie mir das?“ Sie schüttelte stumm den Kopf. Der Mann war ihr unheimlich. Er stand auf, nahm seine Aktentasche. „Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich, ich steige jetzt aus, und ich werde Ihnen die Polizei nicht auf den Hals schicken. Kommen Sie gut nach Hause, Fräulein.“ Er ging tatsächlich, freundlich lächelnd. Sie war wieder allein im Abteil. Ihr gruselte bei dem Gedanken, dass sie doch so genau beobachtet worden war. Und wenn der Fremde gelogen hatte und doch die Polizei schickte?

Sie musste dringend raus aus diesem Abteil, möglichst weit weg von hier. Sie nahm ihren Koffer, lief los und fand einige Wagen weiter einen neuen Platz. Im Abteil saßen drei junge Leute, wie sich herausstellte, waren es Studenten. Man tauschte sich über das Woher und Wohin aus, dann ließ man sich in Ruhe. Maria war nach so viel Aufregung froh, nicht allein im Abteil zu sein. Sie sah auf die Uhr. In ein bis zwei Stunden, je nachdem wie frei die Strecke wäre, müsste sie in Neburg ankommen. Das Gedränge war vorbei, die Heizung funktionierte immerhin leidlich. Nun war es an der Zeit, sich auf die neue Heimat einzustellen. Sie hatte aus Zeitschriften und Statistiken Informationen über Neburg gesammelt und zu einer Mappe zusammengestellt. Neburg sei eine vom Krieg zerstörte, aber bislang nur zu zwei Dritteln wiederaufgebaute Kreisstadt. Doch die Stadt hatte auch eine schöne Seite: eine mittelalterliche Wallanlage mit mächtigen Eichen rings um den Stadtkern. Eine Wehranlage mit tiefen Gräben, eine Stadtmauer mit eingebauten Wieck-Häusern und die berühmten, mächtigen gotischen Backsteintore. Die mecklenburgische Umgebung mit riesigen Wäldern und einem kilometerlangen See, darauf freute sie sich. Neburg war protestantisch geprägt, hatte sie erfahren, wie ganz Mecklenburg. Von den 25.000 Einwohnern war die Mehrheit protestantisch. Sie als Eichsfelder Katholikin würde eine von den etwa 3.000 Katholiken sein, der Großteil waren Vertriebene aus den Weltkriegen, arme Leute. Vielversprechend und zugleich beunruhigend erschien ihr in diesem Moment der Eintrag im DDR-Lexikon, der besagte, Neburg sei „eine aufstrebende sozialistische Kreisstadt.“

3. Kapitel

Als der Zug sich Neburg näherte, war es wie erwartet bereits dunkel geworden. In der Ferne leuchteten die ersten Lichter der Stadt. Schließlich waren Straßenlaternen zu erkennen, dann die Straßenzüge und Häuser. Das Holpern der Räder auf den Schienenstößen verlangsamte sich, die Bremsen quietschten, endlich stand der Zug. Der Bahnhof erschien Maria gespenstisch, trübes Licht, kaum Menschen. Sie balancierte den schweren Koffer vorsichtig aus dem Zug. Das war also Neburg, sie war am Ziel. Sie hatte sich ihre Ankunft romantisch und spannend vorgestellt. Nun war sie einfach nur froh, die Reise geschafft zu haben. Die Erlebnisse auf der Fahrt würde sie sicher nicht so schnell vergessen. Sie folgte den vor ihr ausgestiegenen Reisenden und kam über Treppen und einen Tunnel in die Bahnhofshalle. Dort war die Beleuchtung besser, immerhin. Maria setzte ihren Koffer ab, um zu verschnaufen, und schaute zur Seite. Sofort erstarrte sie. Genau neben ihr, im Schatten der Hallentür, standen zwei grün uniformierte Männer und schauten in ihre Richtung, als hätten sie nur auf sie gewartet. „Dich kriegen wir auch noch!“, hallte es in ihr nach. Die beiden VoPos mussten ihr den Schreck angesehen haben und kamen auf sie zu. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte der eine freundlich. Maria kam zur Besinnung, schüttelte wortlos den Kopf. Nur nichts anmerken lassen, dachte sie, nahm alle Kräfte zusammen und ging mit ihrem Koffer, ohne noch einmal nach hinten zu sehen, in Richtung Ausgang, an ungepflegten Wänden vorbei, die grau und frostfeucht glitzerten. Die Mitropa-Gaststätte war geschlossen. Ein Bockwurststand, von Reisenden umringt, verbreitete den Geruch von Wurstsuppe und Grog aus billigem Schnaps, vermischt mit kaltem Zigarettenrauch. Als sie im Freien war, atmete sie trotz der Kälte erleichtert auf. Kleine Wollweberstraße 13, das war ihr Ziel. Doch die Straßennamen waren in der Dunkelheit nicht lesbar. Wie dankbar war sie, als ihr ein älterer Mann mit Hund an der Leine weiterhalf: „Immer geradeaus, an der großen Kirchenruine vorbei und dahinter die dritte Straße rechts, da ist es schon.“

Sie dankte ihm und ging seiner Wegbeschreibung folgend eine Viertelstunde lang durch die Stadt. Die schwache Straßenbeleuchtung, der schwere Koffer und die Kälte ließen sie kaum vorankommen. Holpriges Kopfsteinpflaster, schmale Bürgersteige mit losen Platten oder nur grob geschotterten Löchern taten das Ihre. Endlich war sie am Ziel. Es war ein Eckhaus, das schon bessere Zeiten gesehen haben musste. Auf Verdacht drückte sie einen Klingelknopf am Gartenzaun. Es dauerte eine Weile, bis innen das Licht anging und eine ältere Frau, in eine Decke gehüllt, vor die Haustür trat. Sie knipste eine winzige Lampe über dem Eingang an, stellte sich darunter und sah sich vorsichtig um. Maria fühlte sich wie Gretel vor dem Hexenhaus. Sie versuchte, Guten Abend zu sagen, bekam aber keinen Ton heraus. Da krächzte die Alte: „Frau Erler? Sind Sie es?“ „Ja.“ Die alte Frau winkte ihr zu. „Ja, kommen Sie doch rein, Mädchen, die Gartentür ist offen, Sie holen sich ja den Tod, wenn Sie dort stehen bleiben.“ Maria ging durch den schmalen Vorgarten, schleppte den Koffer ins Haus und die Alte schloss hinter ihr die Tür.

Im Flurlicht konnten sich die beiden Frauen richtig sehen. Frau Kußmann war klein und unscheinbar, die Haare waren zu einem Knoten zusammengefasst und mit einem Kopftuch bedeckt. Ihr faltiges Gesicht war freundlich. Sie musterte Maria besorgt: „Kommen Sie rein.“ Maria nickte, gleichermaßen erleichtert wie dankbar. Frau Kußmann ging ihr in die Erdgeschosswohnung voran. „Das hier ist mein Reich“, sagte sie, indem sie auf die Wohnzimmer- und die Küchentür wies. Dann ging sie mit ihr nach hinten und sperrte die Schlafzimmertür weit auf. „Hier können Sie sich breitmachen. Ich hoffe, wir werden uns beide gut vertragen“, sagte sie und reichte Maria zur Begrüßung beide Hände. Maria erwiderte den Händedruck und Frau Kußmann zog ihre sofort erschrocken zurück. „Sie fühlen sich an wie ein Eisklotz! Sie müssen sich sofort aufwärmen, sonst sind Sie mir morgen früh krank. Ich werde gleich mal eine große Kanne Tee aufsetzen.“ Damit verschwand sie in die Küche. Maria lächelte und stellte erst einmal den Koffer beiseite. Ihr Zimmer war ungeheizt, aber nicht kalt. Große alte Schlafzimmermöbel füllten den Raum. Sie hatte sich noch nicht ganz umgesehen, da stand Frau Kußmann schon wieder in der Tür.