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Ermittlungen zwischen der Metropole am Bosporus und der Metropole von Bayern: in einem Herz vereint! Warum machte ihm der Fall der Toten aus Istanbul derart zu schaffen? Ein Mordfall, den er aus Freundschaft zu seinem Istanbuler Kollegen verfolgte? Für ihn, der mit Kapitalverbrechen seinen Lebensunterhalt bestritt, war eine bestialisch zugerichtete Frauenleiche nichts Ungewöhnliches. Wahrscheinlich rührte die Betroffenheit daher, dass die Ermordete ihn an seine Tochter Özlem erinnerte, die seit einigen Monaten in Istanbul lebte. Die brutale Ermordung einer Zahnarzthelferin in Istanbul zieht ihre Spur bis nach München, wo die junge Frau gewohnt hat und die eine Tätowierung hat, die dem Fußballverein 1860 München zuzuordnen ist. Kommissar Zeki Demirbilek hilft den türkischen Kollegen gerne, hat jedoch eigentlich mit der Vereitelung eines Attentats auf einen türkischen Politiker alle Hände voll zu tun. Während Zekis Privatleben verrücktspielt, findet er nach einer Schießerei einen traumatisierten Jungen und nimmt sich seiner an. Als der Fall immer komplizierter wird und Attentäter nach dem Leben des Jungen trachten, entwickelt Zeki mit seinem Team, der Soko Migra, einen raffinierten Plan … Und dann ist da noch sein erster Enkel, sein ganzer Stolz und die Sehnsucht nach seiner Exfrau, die er nach wie vor liebt. Der fünfte Fall für Kommissar Pascha und sein bayerisch-türkisches Team! »Genau der Typ von Kommissar, den man erfinden müsste, wenn es ihn nicht schon gäbe.« Die Welt am Sonntag
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Seitenzahl: 372
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Su Turhan
Getürkt
Band 5
Krimi
Ermittlungen zwischen der Metropole am Bosporus und der Metropole von Bayern: in einem Herz vereint!
Warum machte ihm der Fall der Toten aus Istanbul derart zu schaffen? Ein Mordfall, den er aus Freundschaft zu seinem Istanbuler Kollegen verfolgte? Für ihn, der mit Kapitalverbrechen seinen Lebensunterhalt bestritt, war eine bestialisch zugerichtete Frauenleiche nichts Ungewöhnliches. Wahrscheinlich rührte die Betroffenheit daher, dass die Ermordete ihn an seine Tochter Özlem erinnerte, die seit einigen Monaten in Istanbul lebte.
Die brutale Ermordung einer Zahnarzthelferin in Istanbul zieht ihre Spur bis nach München, wo die junge Frau gewohnt hat und die eine Tätowierung hat, die dem Fußballverein 1860 München zuzuordnen ist. Kommissar Zeki Demirbilek hilft den türkischen Kollegen gerne, hat jedoch eigentlich mit der Vereitelung eines Attentats auf einen türkischen Politiker alle Hände voll zu tun. Während Zekis Privatleben verrücktspielt, findet er nach einer Schießerei einen traumatisierten Jungen und nimmt sich seiner an. Als der Fall immer komplizierter wird und Attentäter nach dem Leben des Jungen trachten, entwickelt Zeki mit seinem Team, der Soko Migra, einen raffinierten Plan …
Und dann ist da noch sein erster Enkel, sein ganzer Stolz und die Sehnsucht nach seiner Exfrau, die er nach wie vor liebt.
Der fünfte Fall für Kommissar Pascha und sein bayerisch-türkisches Team!
Über das Buch
Impressum
Widmung
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
40. KAPITEL
41. KAPITEL
42. KAPITEL
43. KAPITEL
44. KAPITEL
45. KAPITEL
46. KAPITEL
47. KAPITEL
48. KAPITEL
49. KAPITEL
50. KAPITEL
51. KAPITEL
52. KAPITEL
53. KAPITEL
54. KAPITEL
55. KAPITEL
56. KAPITEL
57. KAPITEL
58. KAPITEL
59. KAPITEL
60. KAPITEL
61. KAPITEL
62. KAPITEL
Der Autor Su Turhan
BAND 1
BAND 2
BAND 3
BAND 4
BAND 6
BAND 7
BAND 8
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Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Piper Verlag GmbH, München
Copyright © 2024 by Maximum Verlags GmbH
Hauptstraße 33
27299 Langwedel
www.maximum-verlag.de
1. Auflage 2024
Satz/Layout: Alin Mattfeldt
Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt
Umschlagmotiv: © sebastianroehling/ Shutterstock
E-Book: Mirjam Hecht
Made in Germany
ISBN: 978-3-98679-051-6
Annem ve babam için.
Für meine Eltern.
München mit Istanbul zu vergleichen war in etwa so abwegig wie der Vergleich von Bier mit Rakı. Beide Getränke könnten unterschiedlicher nicht sein, beide aber hatten einen festen Platz im Herzen des Münchner Hauptkommissars, der gerade auf die Isar starrte, dabei jedoch an den Bosporus dachte.
Was für ein Irrsinn, der sich an diesem Vormittag vor ihm abspielte und ihn auf derartige flirrende Gedanken brachte. Der neue Anzug, den er sich nach einem zweistündigen Beratungsgespräch mit dem Herrenausstatter geleistet hatte, zwickte in den Achseln. Mit den Ellbogen auf dem Geländer der Reichenbachbrücke gelehnt, schweifte sein Blick über den Fluss seiner zweiten Heimatstadt.
Es war zu warm, die Sonne gaukelte den Aberhunderten Menschen, die an der Isar fläzten, mit zu hohen Temperaturen Hochsommer vor. Zeki Demirbilek holte eines seiner drei Stofftaschentücher hervor und wischte die Stirn trocken. Das Tuch aus Baumwolle war mit bluttropfenähnlichen Tupfern gesprenkelt, ein ungewöhnliches Design, das ihm auf Anhieb gefallen hatte. Er steckte das Geschenk seines alten Freundes Robert Haueis zu seinem letzten, zweiundvierzigsten Geburtstag zurück in die Hosentasche. Bei der Übergabe hatte ihm der Antiquitätenhändler weisgemacht, das Tuch aus dem Nachlass eines Serienmörders aus Transsilvanien erstanden zu haben. Roberts blühende Fantasie kannte keine Grenzen. Zeki wusste bei seinen Geschichten nie, ob er von ihm auf den Arm genommen wurde oder nicht.
Er blinzelte gegen die Sonne, unsicher, ob er richtig sah. Eine junge Frau in mausgrauem Rock und feinem Jäckchen telefonierte inmitten der Isarauen am Headset und schlüpfte dabei aus ihrem Rock. Der Hitze geschuldet, zog sie sich weiter aus. Offenbar zufrieden mit dem Verlauf des Telefonats, streckte sie, nun in rosafarbener Spitzenunterwäsche und unter Applaus der begeisterten Zuschauer, die Arme gen Himmel. Am Bosporus, da war Zeki sich sicher, würden Ordnungshüter nicht lange auf sich warten lassen, an der Isar dagegen konnte sich die Frau, ohne behelligt zu werden, weiter entkleiden und nackt in den Fluss rennen.
Zeki wandte sich von den frühsommerlichen Kapriolen ab und setzte den Weg zum Präsidium fort. Das Läuten seines Telefons verhieß seinem Gefühl nach nichts Gutes. Es war Jale Cengiz, daher nahm er sofort ab und hielt nach dem kurzen Gespräch ein Taxi auf der Brücke an.
Nach einer rasanten Fahrt den Nockherberg hoch sprang er an der Tegernseer Landstraße aus dem Wagen und eilte in den ersten Stock eines Drogeriefachmarktes. Mit nervösem Blick durchsuchte er das Regal von oben bis unten. »Mist! Das darf nicht sein«, flehte er vor sich hin.
Schiere Verzweiflung wich sodann purer Angst, Schuld am Hungertod seines Enkelkindes zu sein. Jale hatte ihm am Telefon eine klare Anweisung gegeben. Er vergewisserte sich nochmals und trat einen Schritt zurück, um einen besseren Überblick zu haben. Die Auswahl an Babynahrung überforderte ihn.
»Was suchen Sie denn?«, hörte er eine Frauenstimme, die engelsgleich in seinen Ohren summte. War das die vage Chance, den Enkel doch noch zu retten?
»Hirse mit Reis. Memo isst nichts anderes«, wandte er sich Hilfe suchend an die Verkäuferin im weißen Kittel. Die anthroposophische Firmenphilosophie des Unternehmens schürte in ihm die Hoffnung, an einen guten Menschen geraten zu sein.
»Klingt wie Nemo, süßer Name«, erwiderte die Verkäuferin freundlich und durchstöberte ihrerseits die Regalreihen.
»Abkürzung von Mehmet. Sechs Monate ist der Bursche. Er hat Fußballerwaden«, erklärte Zeki und verfolgte, wie der Engel mit Bedacht für ihn suchte.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich die Verkäuferin, als sie das unterste Fach erreichte. »Scheint aus zu sein.«
»Wie aus?«
»Ist gerade der Renner bei den Kleinen«, schob sie mit sanfter Stimme nach. »Lassen Sie Ihren Sohn ruhig etwas anderes probieren. Das wird ihm sicher nicht schaden«, riet sie ihm und trollte sich weiter in die Fotoabteilung.
Bevor der Hauptkommissar das Missverständnis hinsichtlich der Vaterschaft aufklären konnte, hörte er eine Frauenstimme in einer ganz anderen Stimmlage. Wo ein Engel ist, konnte der Teufel nicht weit sein.
»Können Sie ein Stück zur Seite gehen?«, tönte eine Mittvierzigerin mit porscheähnlichem Kinderwagen. »Das Rumgetue von euch Vätern ist nicht auszuhalten. Hier, nehmen Sie das, da ist auch Hirse drin. Schmeckt genauso. Ich esse selbst nichts anderes.«
Das Gläschen wanderte in Zekis Hand, gleichzeitig schrillte das Telefon. Er bedankte sich bei der Frau mit einem Lächeln und trat beiseite.
»Ja, was gibt es?«, meldete er sich am Telefon, obwohl Memos Brüllattacke im Hintergrund die Frage überflüssig machte.
»Wann kommst du?«, drängte Jale. »Der Kleine hat echt Hunger.«
»Reis mit Hirse ist aus.«
»Verdammt!«, entfuhr es der besorgten Mutter, die mit ihrem Aufschrei den brüllenden Sohn übertönte.
»Soll ich in ein anderes Geschäft fahren?«
»Nein, bring irgendetwas mit. Hauptsache, es geht schnell.«
Erleichtert über die neue Anweisung, ließ er das Gläschen in die Sakkotasche gleiten. Eiligst trabte er zwei Treppenstufen auf einmal nach unten, zwängte sich, ohne an die Bezahlung seines Einkaufes zu denken, an den Kassenschlangen vorbei und sprang in das Taxi, das mit Warnblinkern auf ihn wartete.
Wenige Minuten später bezahlte Zeki den Fahrer und eilte die Treppenstufen in den zweiten Stock hinauf. Die Mutter saß mit ausgestreckten Beinen, auf denen das schlafende Baby lag, auf dem Küchenboden und wog es sanft hin und her.
»Machst du es warm, bitte?«, flüsterte Jale.
»Wie? Warm?«
Jale lächelte über den überforderten Großvater. »Mit ein wenig heißem Wasser.«
Zeki beäugte das Gläschen mit unappetitlicher Nahrung. »Da passt kein Wasser hinein!«
Der Vater des Kindes, Zekis Sohn Aydin, war vor ein paar Tagen nach Istanbul gereist, um dort mit seiner Jazzband Konzerte zu geben. Bis dahin hatte er mit viel Liebe die väterlichen Pflichten wahrgenommen. Wie hätte der Großvater ahnen können, in die missliche Lage zu geraten, selbst Brei aufzuwärmen und Windeln zu wechseln?
»Mit dem Wasserkocher geht es am schnellsten. Das heiße Wasser in einen Topf geben, den Deckel vom Gläschen abmachen und hineinstellen«, instruierte die Oberkommissarin in Mutterschutz ihren Chef. Als Mitarbeiterin des Sonderdezernats Migra genoss sie die vertauschten Rollen.
»Warum sagst du das nicht gleich, Jale! Memo kommt sicher um vor Hunger. Willst du ihn nicht wecken?«, beschwerte sich der besorgte Großvater.
Nachdem Jale ihren Sohn gefüttert und mit einer neuen Windel versorgt hatte, brachte sie ihn in das Zimmer, in dem sie mit Aydin in der Wohnung ihres Vorgesetzten lebte, und legte ihn in die Wiege.
Zeki hantierte mit çay-Kesseln an der Spüle und empfing Jale mit einem aufmunternden Lächeln.
»Ich besorge heute noch einen Vorrat für Memo. In Ordnung?«
»Das wäre schön. Aber nur Gläschen, sonst nichts, vor allem nicht noch ein Paar Fußballschuhe.«
»Mütter!«, beschwerte sich Zeki. »Je eher Memo sich an Stollen gewöhnt …«
»Der Kleine kann ja noch nicht einmal laufen«, unterbrach Jale ihn. »Ich wiederhole: keine Fußballschuhe! Keine Schienbeinschoner! Kein Trainingsanzug! Mit den verschieden großen Trikots vom Fenerbahçe und FC Bayern kommt dein Enkelkind die nächsten Jahre wunderbar über die Runden. Bitte! Ich schicke dir eine Nachricht mit der Einkaufsliste auf das Handy. Windeln gehen auch aus.«
Der ungewöhnlich junge Großvater schüttelte den Kopf und kramte aus der Schublade des Küchentisches Papier und Stift. »Bei Aydin funktioniert das mit Mail und SMS. Ich mag das nicht, weißt du doch von der Arbeit.«
Unvermittelt hielt Jale ihren Chef, der beinahe auch ihr Schwiegervater geworden wäre, am Handgelenk fest, als dieser zurück zur Spüle gehen wollte. Sie bemühte sich um ein freundliches Gesicht, in der Hoffnung, damit ihre Unsicherheit zu verbergen. Zeki erwiderte das Lächeln mit einem sanften Kuss auf ihre Stirn. Jale las in seinem Gesicht die tiefe Zuneigung und seinen Willen, alles zu tun, damit sein Enkel und sie gut versorgt waren. Bevor sie seine Wange mit der Hand berührte, schluckte sie schwer. Die Worte musste sie aus dem Mund zwingen.
»Aydin hat sich nicht getraut, es dir zu sagen.« Jale schob sich an ihm vorbei zur Spüle und gab eine Handvoll Teeblätter in den kleineren Kessel. »Er bleibt nach den Konzerten in Istanbul. Es ist besser für ihn, wenn er eine Weile nicht bei uns in München ist.«
Zeki merkte in seiner Verwirrung nicht, wie er zu viel Wasser in den größeren Teekessel laufen ließ. »Ich dachte, ihr habt euch versöhnt? Seit euer Sohn auf der Welt ist, habt ihr nicht mehr gestritten.«
»Ja, dafür haben wir geredet. Viel geredet.«
Statt zwei holte Zeki vier Teegläser aus dem Küchenschrank. »Du hast Aydin doch seinen Seitensprung verziehen. Ihr müsst ja nicht heiraten …«
»Ja, ich habe ihm verziehen. Trotzdem …«
»Memo braucht seinen Vater.«
Jale seufzte. Mit dem Familienoberhaupt über die verkorkste Beziehung mit Aydin zu diskutieren, war sinnlos. Dass sie kurz vor Memos Geburt Trauung und Hochzeitsfeier wegen Aydins Seitensprung abgesagt hatte, war für den Brautvater kein Problem gewesen. Doch was sie ihm jetzt sagen musste, weil es höchste Zeit war und sie es endlich hinter sich bringen wollte, würde ihn zutiefst treffen.
»Du bist der beste und liebevollste dede, der wunderbarste Opa, den sich ein Enkelkind wünschen kann. Ich weiß, wie sehr du den Kleinen liebst, aber Memo und ich ziehen aus.«
»Nein«, entfuhr es Zeki.
Selim Kaymaz, der Leiter der zuständigen Mordkommission, betrachtete den Istanbuler Himmel durch eine bizarre Formation aus Qualm. Der passionierte Pfeifenraucher gehörte mit dem klobigen Ding zwischen den Zähnen einer aussterbenden Spezies an. Bereits ausgelöscht war der Lebensatem der jungen Frau, die unter einem Dornbusch gefunden worden war. Kaymaz pflegte nicht viel Zeit bei den Opfern zu verbringen, dafür hatte er seine geschäftigen Assistenten mit Tablets unter dem Arm.
Kaymaz schob die Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen und spazierte etliche Meter vor dem Polizeiabsperrband auf und ab. Das Gesicht der Frau hatte er eingehender als üblich betrachtet, obgleich Dreck und Erde nicht viel von ihrem Antlitz preisgaben. Die aufgerissenen Augen funkelten in der Sonne. Die Schneidezähne waren in die Unterlippe gebohrt. Trotz Blutspritzer und Dreckkruste um den Mund war das Glänzen eines makellosen Gebisses erkennbar. Vielleicht war sie bei der Flucht gestrauchelt, war in dem unwegsamen Gelände gestürzt oder hatte womöglich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen.
Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre, so schätzte der Istanbuler Kommissar das Alter des dritten Mordopfers in dieser Woche ein. Der menschliche Abschaum schien bei milderen Temperaturen gerne aktiv zu sein. Trotz Allahs schützendem Auge über die Bosporusmetropole fühlte er ein unsichtbares Ungeheuer mordend durch die Stadt stromern.
Kaymaz klopfte seine Pfeife auf dem Handballen aus und suchte nach einem Stöckchen am Boden, um die restliche Asche aus dem Kopf der Bruyèrepfeife zu kratzen. Dabei fiel sein Blick auf die bequemen, meist teuer aussehenden Schuhe der Touristen an der Absperrung. Die zu byzantinischer Zeit erbaute Chora-Kirche, die sie besichtigen wollten, galt unter Historikern und Kunstexperten als ebenso bedeutsam wie die Hagia Sophia. Wie der weitaus größere Prachtbau in Sultanahmet wurde der Sakralbau im Stadtteil Fatih nach der Eroberung Konstantinopels zu einer Moschee erklärt. Das nachträglich an die Kirchenmauern gebaute Minarett gab Zeugnis von dieser Zeit. Jahrhunderte später verlangte nach der Restaurierung die türkische Republik von Touristen und Einheimischen Eintritt. Wie die Hagia Sophia war auch diese Moschee in ein Museum umgewandelt worden.
Kaymaz blies durch die Pfeife die letzten Aschebröckchen in die Istanbuler Maienluft, als sein gewissenhaftester Mitarbeiter zu ihm eilte. Nach dem Gespräch mit ihm beschloss er, sich selbst zu vergewissern. Mit der Pfeife in der Hand stand er vor dem Opfer und bat darum, den Ärmel des bunten Sommerkleides zu lüften. Tatsächlich. Das Tattoo auf der weißen Haut des linken Unterarms war eindeutig das Emblem einer Fußballmannschaft, wie ihm sein Mitarbeiter berichtet hatte. Immerhin eine Spur, die im besten Fall zur Identität des Opfers führte. Es gab sonst keinen Anhaltspunkt, um wen es sich bei der jungen Frau handelte.
Weder eine Handtasche noch sonstige persönliche Dinge waren am Tatort aufgefunden worden. Die Suchtruppe durchkämmte die nähere Umgebung. Befragungen möglicher Zeugen wurden durchgeführt. Kaymaz erwartete jedoch nicht, Hinweise zu finden, die zur Feststellung der Personalien des Opfers oder zur Ergreifung des Täters führten. Stattdessen hoffte er, dass es sich bei der Ermordeten um eine Touristin handelte, die alsbald von einem Angehörigen oder vom Reiseveranstalter als vermisst gemeldet werden würde. Das, so wusste er aus Erfahrung, führte schneller zum Erfolg, als die überquellende Vermisstenliste abzuarbeiten.
Kaymaz wies an, ihm per Mail Fotos vom Tatort und vom Tattoo zu schicken. Er war ein großer Anhänger von Schreibtischarbeit und empfand sich als engsten Freund seines Computers. Wegen des Tattoomotivs nahm er sich vor, seinem Freund Zeki Demirbilek in München zu schreiben; außerdem hatte er in Erinnerung, dass der bayerisch-türkische Amtskollege in dem alten Stadtteil Fatih aufgewachsen war, nicht weit weg von der Kariye Müzesi, wie die Chora-Kirche seit Jahrzehnten hieß.
Er steckte die Pfeife in die Jackentasche und überließ den Rest der Arbeit seinen Assistenten. Sein Fahrer, der neben dem Dienstwagen wartete, trat bei der Rückkehr des Chefs die brennende Zigarette auf dem Boden aus und hielt dem Kommissar die Tür auf.
Kaymaz nahm hinten Platz und wies den Chauffeur an, mit Blaulicht und Sirene ins Büro zu fahren. Bevor die Limousine sich durch den Verkehr zur Stadtautobahn Istanbul Çevre Yolu quälte, um auf dem schnellsten Weg das Goldene Horn zu überqueren, piepste in Kaymaz’ Tasche das allerneuste Smartphone, das auf dem Markt zu haben war. In diesem Sinne war er ein typischer Istanbuler. Der Spagat zwischen den Errungenschaften moderner Technik und altmodischem Rauchwerkzeug wie einer Tabakspfeife störte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Sein gewissenhafter Mitarbeiter hatte ihm bereits die ersten Fotos geschickt. Er öffnete das Mailprogramm und begann mit flinkem Zweidaumensystem seinem Freund Zeki zu schreiben.
Privat, wie er nach der Begrüßungsformel vorausschickte und sich nach seinem Befinden erkundigte.
»Sie sind spät dran, Hauptkommissar Demirbilek«, sagte Staatsanwalt Sven Landgrün. »Das macht aber nichts«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich selbst war auch nicht pünktlich. Kommen Sie, setzen wir uns. Schön, dass Sie es einrichten konnten.«
Zeki Demirbilek folgte dem Juristen, den er bei dessen Amtsantritt vor einigen Wochen das erste Mal getroffen hatte. Der Kommissar war nicht in der Stimmung, sich zu entschuldigen, obwohl er tatsächlich zehn Minuten zu spät zu der Besprechung unter vier Augen eingetroffen war. Grund dafür war das einseitige Gespräch mit Jale gewesen, das sich in die Länge gezogen hatte. Zu viele brennende Fragen waren seinem Herzen entronnen. Jales ausweichende Antworten hatten die Angst geschürt, sie und sein Enkelkind zu verlieren. Mit Geschrei aus dem Nebenzimmer hatte Memo seine Mutter schließlich aus dem familiären Kreuzverhör erlöst.
Der Kommissar folgte dem promovierten Staatsanwalt zur Sitzecke, ohne sich anmerken zu lassen, den Beginn seiner Ausführungen verpasst zu haben.
Ohne Unterlass öffneten und schlossen sich Landgrüns Lippen. Der italienische Anzug verhalf dem Juristen zu einer gewissen Eleganz. Die Haarfarbe war kaum auszumachen, blond oder braun, tippte Demirbilek aufgrund der Kürze. Das filigrane Strichmuster auf der Krawatte über dem hellblauen Hemd erinnerte ihn an ein Lieblingsstück aus seiner Sammlung Stofftücher. Nur lückenhaft vermochte der Kommissar den salbungsvoll tönenden Worten über abgefangene, verschlüsselte E-Mails zu folgen. Er war abgelenkt durch Landgrüns quadratische digitale Armbanduhr am Handgelenk. Sie zeigte unter der Uhrzeit mit grün leuchtenden Ziffern die Frequenz seines Blutdruckes an. Demirbilek hatte von Cardiouhren gehört, aber bislang keine zu Gesicht bekommen. Irritiert über das Blinken des galoppierenden Pulses, der nicht mit dem sympathischen Tonfall und den behutsam vorgetragenen Erläuterungen einherging, unterbrach er den Staatsanwalt.
»Mit Ihrem Blutdruck stimmt etwas nicht.«
Landgrün verstummte augenblicklich und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick auf die Daten. »Tatsächlich«, stutzte er und stand auf. »Als Ermittler achten Sie natürlich auf Nebensächlichkeiten. Gut zu wissen.«
Demirbilek verfolgte, wie er am Schreibtisch aus einem silbernen Döschen eine Tablette holte und mit kurzen Schlucken aus einem Wasserglas das offenbar blutdrucksenkende Mittel zu sich nahm. Dann zog er den Ärmel seines Anzuges nach oben, betätigte eine Tastenkombination auf der Uhr und kehrte ohne weiteren Kommentar an seinen Platz zurück.
»Sie verstehen, dass wir dem Hinweis nachgehen müssen?«, nahm Landgrün in derselben gefälligen Tonlage wie zuvor das Gespräch wieder auf.
Demirbilek gestand sich zwangsläufig ein, nicht zu wissen, was er meinte. Mit einer Sentenz aus seinem Erfahrungsschatz als Polizeibeamter überspielte er die Unkonzentriertheit. »Jeder gelöste Fall beginnt mit einem Anfangsverdacht.«
Landgrün nickte besonnen. »Sollte sich herausstellen, dass es sich um einen Fall handelt, haben Sie natürlich recht. Sind wir also einer Meinung?«
»Verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, ich sehe mich nicht in der Lage, eine Schlussfolgerung zu ziehen, wie Sie es gerade vorschnell tun. Wollen wir nicht die Fakten noch einmal durchgehen? Sie sagten …« Demirbilek legte eine Pause ein, in der Hoffnung, der Staatsanwalt würde ihm aus der Patsche helfen.
»Aus Ihnen wäre auch ein guter Anwalt geworden, Herr Hauptkommissar«, kam ihm Landgrün entgegen. »Nun schön. Lassen Sie uns die Fakten resümieren. Wenn Sie mitschreiben würden?«
Der Kommissar erschrak über die ungeheuerliche Tragweite der Aufforderung. »Mitschreiben? Ich könnte meine Mitarbeiterin Polizeioberkommissarin Vierkant holen lassen. Ich selbst …«
»Verstehe«, lenkte der Staatsanwalt ein. »Nun gut, fassen wir zusammen. Folgende Fakten habe ich anzubieten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist vom amerikanischen Nachrichtendienst auf verdächtige Mails aufmerksam gemacht worden. Das Bundeskriminalamt hat sich eingeschaltet, weil sich der Adressat in München aufhält. Nach eingehender Analyse der Gefahrenlage hat der Verfassungsschutz Alarm geschlagen. Ich komme gerade von einer diesbezüglichen Besprechung mit dem Innenminister. Möglicherweise ist in unserer Stadt ein Anschlag auf einen türkischen Politiker geplant …«
»Kein deutscher Politiker?«, fragte Demirbilek nach.
»Nein, soweit festgestellt werden konnte, ist die Zielperson kein Deutscher. Die Liste türkischer Politiker und Diplomaten, die in den nächsten Monaten nach München kommen, ist lang. Wir haben zwei internationale Messen in der Stadt …«
»Bald wird ein türkischer Feiertag begangen. In München wird es die eine oder andere Feier geben. Wer weiß, vielleicht lässt sich ein Politiker aus der Türkei hier blicken«, unterbrach Demirbilek ihn erneut. Ihm war die Einladung seiner Exfrau Selma zu eben so einem Festakt eingefallen. »Hat der Verfassungsschutz irgendetwas in dem Zusammenhang fallen lassen?«
»Nein, Herr Hauptkommissar. Von welchem Feiertag sprechen Sie denn?«, hakte er besorgt nach.
»Es geht um den 19. Mai. Ein Mischmasch zur Feier der Jugend, des Sports und zum Gedenken Atatürks. 1919 hat Atatürk von Samsun aus den Befreiungskrieg begonnen«, informierte Demirbilek seinen Vorgesetzten. »Richtig groß feiern Türken den Nationalfeiertag, der ist erst im Oktober.«
»Nun ja, ich sehe, ich habe mich in dieser Angelegenheit für den richtigen Mann entschieden«, schmeichelte Landgrün ihm.
»Liegt etwas aus dem türkischen Generalkonsulat vor?«, wollte Demirbilek genauer wissen.
»Natürlich, der Generalkonsul ist informiert worden.« Der Staatsanwalt griff nach einer Mappe mit Gummizug. »Hier steht alles, was Sie wissen müssen …«
»Und dürfen«, fiel Demirbilek ihm ins Wort.
Mit einem Lächeln deutete Landgrün an, dass er mit dieser Feststellung richtiglag. Der Verfassungsschutz tat sich mit transparenter Informationspolitik naturgemäß schwer. »Derzeit haben wir keine Kenntnisse über den genauen Ort oder Zeitpunkt des möglichen Anschlages. Am besten, Sie nehmen die Akte zum Studium mit. Sehen Sie sich den E-Mail-Verkehr und die Telefonprotokolle bitte genau an. Rückmeldungen gehen direkt an mich.« Landgrün reichte ihm die Mappe. »Die Person, die die verdächtigen Mails erhalten hat, ist ein Produzent von Werbefilmen. Er bereitet gerade einen Spot in der Stadt vor. Laut derzeitigem Ermittlungsstand ist er in der Türkei nicht auffällig geworden, er hat keine Vorstrafen, auf dem Papier ein unbescholtener Landsmann von Ihnen.«
»Ein Münchner?«, erkundigte sich Demirbilek provozierend.
»Nein, entschuldigen Sie. Ich meinte natürlich türkischer Staatsbürger«, korrigierte sich der Staatsanwalt schnell. »Das war es im Großen und Ganzen. Ich freue mich, Ihre zeitnahe Einschätzung schriftlich zu erhalten. Wahrscheinlich ist es blinder Alarm …«
Entnervt widersprach Demirbilek: »Fakten und Spuren zu bewerten sind mein täglich Brot. Überlassen Sie mir bitte die Einschätzung selbst, Herr Staatsanwalt.«
»Mir kam bereits zu Ohren, dass Sie vor höhergestellten Positionen wenig Achtung zeigen«, schmunzelte Landgrün und schüttelte Demirbilek die Hand, der einen letzten Blick auf die Cardiouhr warf.
Landgrün hatte sie offenbar ausgeschaltet. Statt eines Zeitmessers mit leuchtenden Ziffern prangte ein Block aus schwarzem mattem Nichts am Handgelenk, das ihn an die Kaaba erinnerte. Mit schlechtem Gewissen, die Wallfahrt an den heiligen Ort der Muslime nach Mekka noch nicht angetreten zu sein, malte er sich aus, dass nicht der Herzschlag des Staatsanwaltes stehen geblieben war, sondern sein eigenes Herz zu schlagen aufgehört hatte.
Zu lieben und geliebt zu werden ist des Menschen tiefstes Bedürfnis. Das trifft selbst auf Zeki Demirbileks Kollegen Hauptkommissar Pius Leipold zu. Allerdings war das schwer zu glauben, da der Vollblutmünchner gerade in Rage geraten war und seine eher handfesten Wesenszüge zeigte.
Nach Dienstschluss war der Leiter der regulären Mordkommission auf der Treppe Polizeimeister Detlev Scharf begegnet. Der junge Beamte war etwa gleich groß, allerdings um die Hälfte weniger beleibt als Leipold, der seinen Bierbauch liebevoll Augustinerfriedhof nannte, obwohl er, was die Marke eines Hopfensaftes betraf, nicht wählerisch war. Die über alles geliebte Lederjacke klemmte wegen der sommerlichen Temperaturen unter seinem Arm. Mit hochrotem Kopf baute er sich eine Stufe oberhalb des verdutzten Polizeimeisters auf.
»Was willst du wissen?«, fragte Leipold mit tiefer Stimme, die vermutlich bis an das andere Ende der Isarmetropole zu hören war.
»Eigentlich nichts«, erwiderte Scharf, der seine Idee, den Hauptkommissar anzusprechen, zutiefst bereute. »Wirklich. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.«
»Los jetzt! Spuck’s aus!«
»Man sagt ja nichts, man redet ja bloß«, wartete Scharf mit einer schwer nachvollziehbaren bajuwarischen Weisheit auf.
»Du sagst mir jetzt, was über mich erzählt wird! Aber sofort!«
»Wahrscheinlich habe ich das Gerücht falsch verstanden«, versuchte Scharf, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.
Leipold bestand auf der Beantwortung seiner Frage. Mit einem unsanften Schubser brachte er den Kollegen dazu, sich umzudrehen und die Treppen hinunterzulaufen. Im Innenhof des Präsidiums blickte er sich suchend um. Als er sicher war, dass niemand zuhörte, holte er erneut aus – streng wie ein Oberlehrer auf Klassenfahrt. »Pass auf, Bürscherl. Du hast es mit einem langgedienten Bullen zu tun. Du windiger Hosenpiesler bist vielleicht zwei Jahre bei uns. Was glaubst du, wie ich dir das Leben zur Hölle mache, wenn sich der Mund in deinem Arschgesicht nicht auf der Stelle bewegt und sagt, was geredet wird.«
Polizeimeister Scharf schluckte und schaute sich seinerseits um. »Herr Hauptkommissar, ich bin mir jetzt absolut sicher, dass wir uns in etwas verrannt haben. Nach dem Polizeisport in der Umkleide geht es immer hoch her. Wissen Sie doch.«
»Nichts weiß ich! Seit wann spiele ich denn Handball? So was Hirnrissiges mache ich nicht. Höchstens Fußball! Auf dem Sofa vor dem Fernseher. Also weiter!«
»Wenn es sein muss«, druckste Scharf herum und atmete tief ein. »Ein Kollege will gehört haben, dass einer aus dem Präsidium sich beschneiden lässt. Da haben wir eben spekuliert. Beschnitten sind Moslems, stimmt doch?«
»Was ist mit den Juden? Du Halbdepp von einem Vollakademiker! Weiter im Text!«
»Wir haben eben überlegt, wer das von uns im Präsidium sein könnte, der sich den Schniedel, wie soll ich sagen, kleiner machen lässt.«
»Kleiner? Was soll das denn?«
»Weiß auch nicht genau. Von den Kollegen hat jeder alles dran.«
Leipold schüttelte den Kopf. »Und?«
»Beim Duschen hatte jemand die Idee mit der Wette. Weiß schon gar nicht mehr, wer.«
»Beim Duschen, wo sonst? Bei der Wasserorgie habt ihr warmen Brüder den Leipold Pius als einen Kandidaten auserwählt oder wie?«
Scharf räusperte sich verlegen. »Ehrlich gesagt, haben wir die Wette abgeblasen, weil es am Ende nur einen Kandidaten gab. Deswegen habe ich Sie ja auf der Treppe angesprochen. Wollte einfach nur wissen, ob es stimmt. Pure Neugier. Nichts für ungut, Herr Hauptkommissar.«
»Wie seid ihr Intelligenzbestien auf mich gekommen?«, ließ Leipold nicht locker. Stirnschweiß tropfte auf das zerschlissene Leder seiner Jacke. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg und griff sich an den Ring im rechten Ohr. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass er innerlich um eine Lösung rang und nervös war.
»Weil Sie dem Türken doch so spitzenmäßig zuarbeiten«, erläuterte Scharf kleinlaut.
»Und deshalb verrate ich meinen Gott und desertier zu Zekis Allah?«
»Sehen Sie! Genau das haben alle am Ende auch gesagt. Nie und nimmer würde der Leipold Pius …«
»Schleich dich! Und sag deinen Handballdeppen, dass der liebe Herrgott den Ball zum Fußballspielen vom Himmel runtergeworfen hat«, fiel ihm Leipold ins Wort und blickte dem Polizeimeister nach, wie er davonschlich.
Was in der Gerüchteküche bei den Kollegen gekocht wurde, schmeckte dem wohl münchnerischsten Polizeibeamten der Stadt gar nicht. Auf der anderen Seite gestand er sich ein, selbst schuld an den unsäglichen Spekulationen zu sein. Wie war er auch auf die dumme Idee gekommen, in der Kantine Freund und Kollegen Helmut Herkamer von seiner entzündeten Vorhaut zu erzählen? Wahrscheinlich hatte jemand in der Schlange etwas aufgeschnappt, als ihm Herkamer dringend riet, sich die Vorhaut entfernen zu lassen, und ihn im Scherz darauf hinwies, dass sein Türke als Moslem sicher auch beschnitten sei. Dass die Meinung umging, er würde Hauptkommissar Demirbilek wie ein Assistent zuarbeiten, obwohl sie beide denselben Dienstgrad innehatten, verleidete ihm das Berufsleben ohnehin über alle Maßen. Die Schuld gab er in letzter Konsequenz den umtriebigen Migranten, die mit dem fleißigen Verüben von Kapitalverbrechen Demirbileks Sonderdezernat mit Arbeit versorgten. Wo blieben die Deutschen mit Morden und Totschlägen, mit Raubüberfällen und Entführungen, für die er als Leiter der regulären Mordkommission zuständig war?
Er zündete einen Zigarillo an und sog zur Beruhigung seiner strapazierten Nerven hastig daran, als eine von Demirbileks Mitarbeiterinnen vor ihm auftauchte. Isabel Vierkant war die gute Seele der Migra. Die gebürtige Niederbayerin hatte die langen schokoladenbraunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten.
»Fesch sieht sie aus, unsere Isa! Haben wir heute noch was vor?«, fragte Leipold.
»War das jetzt ein Kompliment oder eine deiner saudummen Sprüche?«, entgegnete Vierkant, während sie in ihrer riesigen Umhängetasche nach etwas suchte.
»Du warst nie so eine Emanzentante. Wollte nur nett sein«, erwiderte Leipold verärgert. Der Zigarillo wanderte halb geraucht zu Boden.
»Tut mir leid, Pius, bin spät dran. Ich bin mit meinem Peter im Biergarten verabredet«, erklärte sie und seufzte erleichtert auf, als sie endlich ein zusammengefaltetes Schreiben fand. »Sag mal, du bist bestimmt mit dem Auto da, oder?«
»Logisch. Warum?«
»Ich bin mit dem Fahrrad zum Dienst gekommen, weil ich mich mit Peter an der Isar treffe. Wir radeln zum Aumeister.« Sie nickte zu dem Schreiben. »Das ist von Selim Kaymaz aus Istanbul. Ich bekomme doch die Mails vom Chef in Kopie. Die Nachricht ist auf Türkisch. »
»Ja und? Seit wann verstehe ich Türkisch?«, entgegnete Leipold noch verärgerter.
»Weiß ich doch«, wiegelte Vierkant ab. »Dafür kann ich ein paar Brocken und das Internet hilft auch. Herr Kaymaz ermittelt wohl in einem Fall und braucht die Hilfe vom Chef, aber mehr privat. Deshalb habe ich sie nicht zu Ende gelesen. Scheint dringend zu sein.«
Leipold verstand. »Geht der Herr Pascha wieder nicht an das Telefon? Und Mails liest er sowieso nicht.«
»Mit dem Auto ist das für dich kein Umweg, wenn du Richtung Sendling nach Hause fährst. Bitte tu mir den Gefallen, sonst komme ich zu spät. Peter ist eh sauer wegen …« Vierkant brach ab.
»Wegen was?«
»Ach nichts. Bringst du ihm das Schreiben vorbei? Ich habe Jale erreicht. Sie ist mit dem Kleinen zu Hause.«
Leipold zögerte. »Nur wenn du mir sagst, was mit dir und Peter los ist. Wir sind doch Freunde.«
Vierkant atmete tief aus. »Peter ist sauer, weil ich erst gegen Ende auf der Geburtstagsfeier seines Vaters zum Siebzigsten aufgetaucht bin.«
»Macht man auch nicht, Isa!«, gab Leipold ihrem Ehemann recht.
»Ja, natürlich. Aber der Chef hatte darauf bestanden, dass alle von der Migra zur Einbruchsserie in die Bayernkaserne zu den Flüchtlingen mitkommen. Er wollte volle Präsenz zeigen, damit klar ist, wie ernst solche Übergriffe genommen werden.«
Der Hauptkommissar räusperte sich hinterfotzig. »Hat sich nicht herausgestellt, dass ein Lausbub aus Syrien Zielwerfen auf Fensterscheiben gespielt hat?«
»Schon, aber … Egal. Jedenfalls ist Peter seitdem komisch. Ich habe das Gefühl, er will heute mit mir über etwas Wichtiges reden.«
Die tiefen Falten auf Leipolds Stirn regten sich. Mit Eheproblemen hatte er Erfahrung und wünschte der Kollegin, dass ihr klärendes Gespräch besser ausging als seines mit Ehefrau Elisabeth, das er vor Kurzem geführt hatte.
Er nahm das Schreiben, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Fahr schon zu und sag dem Peter schöne Grüße.«
Zeki hatte sich fest vorgenommen, nicht auf die gemeinsame Zukunft zu sprechen zu kommen. Der gut besuchte Flaucher-Biergarten erlaubte es ohnehin nicht, die Strategie weiterzuverfolgen, mit der er das Herz seiner Exfrau Selma zurückgewinnen wollte. Selma hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und war nicht alleine zur Verabredung erschienen. Ein viel zu junger und viel zu gut aussehender Dozent der türkischen Privatuniversität, der sie als Direktorin auf Zeit vorstand, saß mit am Biertisch. Zeki übte sich in Langmut und bemühte sich, keinen Fehler zu machen. Vor allem wollte er keine dummen, von Eifersucht getriebenen Äußerungen fallen lassen. Stattdessen steuerte er gerade mit einer launigen Bemerkung über eine von Münchens Sehenswürdigkeiten einen Beitrag zu der schleppenden Unterhaltung bei. »Weißwurschtschüssel wird die Allianz Arena auch genannt«, erläuterte er dem Informatikexperten auf Türkisch.
»Zeki, bitte! Wir wollen ganz sicher nicht über Fußball reden«, blaffte Selma ihn an.
»Aber nein. Ich wollte gerade erklären, dass das, was bei uns in der Türkei sucuk ist, hierzulande die Weißwurst ist. Das ist eine kulturelle Gemeinsamkeit, die eine gewisse Tragweite hat«, rechtfertigte er sich und nippte an dem alkoholfreien Weißbier, das er unter stillem Protest bestellt hatte.
Wie sich erwiesen hatte, war der junge Dozent ein strenggläubiger Moslem, der keinen Alkohol anrührte. Zeki hatte daraus geschlossen, dass er auch kein Schweinefleisch aß und an Spareribs nicht interessiert sein würde. Bevor er sich selbst eine Portion bestellen konnte, auf die er sich den ganzen Tag über gefreut hatte, hatte Selma aus Rücksicht auf ihren Gast zu den weniger einladenden Brathendln gedeutet.
Der nervenaufreibende Ton eines Mobiltelefons störte die Dreierrunde. Der Informatiker entschuldigte sich und stand auf, um abseits das Gespräch anzunehmen.
»Wie geht’s dir?«, fragte Zeki ohne Zeitverlust, als er seine geschiedene Frau endlich für sich alleine hatte. Er labte sich an ihren markanten Gesichtszügen und den schwarzen langen Haaren. »Wie läuft’s in der Uni?«
Selma trank von ihrer Apfelschorle und zog die Augenbrauen zusammen. »Weinschorle wäre mir jetzt lieber«, gab sie zu.
Im Gegensatz zu Zeki, der sich aufgrund seiner Erziehung zu einem Gläubigen mit eigenwilliger Auffassung über religiöse Rechte und Pflichten entwickelt hatte, war Selma in einer Istanbuler Akademikerfamilie ohne jedwede religiöse Vorgaben aufgewachsen.
»Schick deinen Babyprofessor heim, dann betrinken wir uns«, scherzte Zeki und benetzte die Lippen mit dem gewöhnungsbedürftigen Weißbier.
»Der Kollege ist vor ein paar Stunden in München eingetroffen. Als seine Chefin muss ich ihn wenigstens willkommen heißen«, erwiderte Selma mürrisch. »Er bleibt nur ein paar Wochen.«
»Und du? Wie lange bleibst du?«
»Ich weiß es nicht. Wie oft willst du die Antwort noch hören? Wenn die Probezeit um ist, setze ich mich mit der Leitung zusammen«, nahm Selma ihm den Wind aus den Segeln. »Erzähl mir lieber, wie es unserem Enkelsohn und Jale geht.«
Zeki schluckte seine Verärgerung hinunter. Selma wusste, wie sehr er damit kämpfte, ihr Herz zurückzugewinnen. Obgleich sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, nicht mehr mit ihm zusammen sein zu wollen, war sie vor einigen Wochen aus Istanbul zurückgekehrt und hatte das unerwartete Angebot als Direktorin an der Privatuni in München angenommen. Zeki hatte sich seitdem immer wieder mit ihr getroffen. Die Gelegenheiten aber, mit ihr in Ruhe zu reden, waren rar gewesen. Die Familie, allen voran das erste Enkelkind, vereitelte alle Versuche, mit ihr über die Zukunft zu sprechen.
Zeki blickte in Selmas dunkelbraune Augen und stellte fest, dass er mit der Frau zusammensaß, in die er sich als Zwölfjähriger in Istanbul verliebt hatte. Die Faktenlage genügte ihm, die Hoffnung auf die Liebe seines Lebens nicht aufzugeben.
»Es geht beiden gut«, antwortete er beleidigter, als er klingen wollte. »Du hast dich eine ganze Woche nicht bei dem Kleinen blicken lassen.«
»Das sagt der Richtige! Wer hat seine Fälle all die Jahre in unserer Ehe über die Familie gestellt? Mach du mir keine Vorwürfe, ja!«
Die Worte und Selmas abschätzige Stimme klangen wie ein Todesurteil in Zekis Ohren. Er nahm einen zu großen Schluck von dem kastrierten Bier und blickte, eingeschüchtert von Selmas Ausbruch, umher. Der Biergarten mit den fröhlichen Menschen, die den warmen Maiabend genossen, verschwamm vor seinen Augen. Selbst wenn Selma recht hatte, stand es ihr nicht zu, ihm die Fehler der Vergangenheit an den Kopf zu werfen. Nicht in dem Ton, nicht mit der Schärfe, die alles, was zwischen ihnen gewesen war, zu einer Nichtigkeit werden ließ.
»Was ist mit dir?«, fragte er ernst. »Warum tust du mir weh? Du weißt, wie sehr ich bereue, was passiert ist.« Dann schob er nach, was ihm durch den Sinn ging – der letzte Strohhalm, an dem er sich festzuhalten suchte, um den Kontakt zu Selma nicht zu verlieren: »Hat Aydin mit dir gesprochen?«
Verschämt wischte Selma eine Träne weg, die plötzlich über ihre Wange lief. Sie schüttelte den Kopf. »Wie schaffst du es nur, mich immer wieder zum Weinen zu bringen?«
»Aus Liebe«, entgegnete Zeki und reichte ihr ein Stofftaschentuch. Im selben Augenblick beschloss er, mit Selma zu beratschlagen, wie sie gemeinsam Aydin und Jale davor bewahren konnten, denselben Fehler zu machen, den sie gemacht hatten. Sich zu trennen war für ihn die schlechteste und verdammungswürdigste aller Lösungen.
Da kehrte der Dozent zurück. Selma setzte eine professionelle Miene auf, brachte ihre Gefühle wieder in den Griff und nickte ihrem Gast freundlich zu. Zeki aber spürte leise Wut in sich aufkommen, die ihn antrieb, sich zu besinnen, der zu sein, der er war. Er verabschiedete sich von dem Dozenten, wünschte seiner Exfrau einen schönen Abend und ging. Ihm war danach, alleine zu sein, ein echtes Bier zu trinken und den Abend als misslungen abzuhaken.
Auf dem Weg hinaus blieb er plötzlich stehen. Wie eine wundersame Erscheinung erblickte er inmitten der Biergartengäste Jale, die ihm freudestrahlend zuwinkte. Neben ihr dackelte Pius Leipold, die Hände am Kinderwagen, den er mit Selma ausgesucht und gekauft hatte. Mit einem Mal war all der Druck, eine Lösung für Aydin und Jale zu finden, wie weggeblasen. Ohne zu zögern, kehrte er um und beugte sich zum Dozenten. Nachdem er ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, verdrehte der junge Mann verdutzt die Augen, stand sofort auf und verabschiedete sich von seiner Direktorin.
»Was hast du ihm gesagt?«, fragte Selma, die Jales unerwartetes Erscheinen nicht bemerkt hatte.
»Memo kommt«, freute sich Zeki, als würde der beste Fußballstürmer aller Epochen, Gerd Müller, auftauchen. »Das ist sein erster Besuch im Biergarten.«
»Glaube ich dir nicht! Du bist sicher schon mit ihm zum Nockherberg spaziert«, freute sich Selma und ging Jale und ihrem Enkel entgegen.
Wie nicht anders zu erwarten, meldete sich Pius lautstark quer durch den Biergarten zu Wort: »Servus, Pascha!«
Der ironisch, manchmal auch abschätzig gemeinte Name schmeichelte Zeki mehr, als seinem Münchner Kollegen lieb gewesen wäre. Der türkischstämmige Kommissar legte für sich den ursprünglichen Sinn der Bezeichnung zugrunde. Paşa war historisch gesehen der Titel eines hochdekorierten Offiziers, eine Rangabzeichnung und damit respektvolle Anrede, vergleichbar mit Exzellenz. Mit der ehrfurchtsvollen Bezeichnung tituliert zu werden, hatte Zeki kein Problem.
»Was treibt dich her? Wehe, du bringst Arbeit mit«, rief er seinem Kollegen zu.
»Ach woher«, beruhigte Pius ihn. »Nur ein Schrieb von deinem Spezi aus Istanbul. Ist wohl privat, aber dringend, sagt Isa.« Er überreichte ihm das Schreiben. »Ich war bei dir zu Hause und habe die beiden eingepackt. Bei dem Kaiserwetter hockt man doch nicht in der Küche.«
»Gut gemacht, komm, setz dich«, bot Zeki ihm Platz an. »Weißbier?«
»Ein erstes von vielen, sag ich mal. Zahlst aber du! Wenn du deine Mails nicht liest, musst du eben einen Edelkurier wie mich aushalten.«
Zeki wandte sich schmunzelnd ab und überflog die Nachricht seines Istanbuler Kollegen. Niemandem in der friedlichen Abendstimmung fiel auf, wie sich sein Gesicht für einen Moment verfinsterte.
»Was ist? Doch kein Bier?«, hörte er Pius in seinem Rücken.
Zeki atmete durch. »Das ist eher was für dich.«
»Für mich?«, staunte Pius. »Was will denn dein Spezi von mir? Er hat doch dir geschrieben, hat Isa gemeint.«
»Du bist ja ungeduldiger als ich zu meinen besten Zeiten.«
Pius grinste. »Das sagt der jüngste Opa, der mir je untergekommen ist. Wie ist das? Fühlst du schon die Altersweisheit und die Milde eines Großvaters?«
Belustigt schüttelte Zeki den Kopf. »Das hier ist eigentlich nicht zum Lachen. Kaymaz hat ein Mordopfer in Istanbul. Die Identität ist nicht geklärt. Er fragt, ob wir helfen können.«
»Ja, logisch. Und wie?«
»Möglicherweise ist das Opfer Münchnerin. Die junge Frau hat ein Sechziger-Tattoo am Unterarm. Ich dachte, du als …«
»Aber hallo! Richtig gedacht.« Pius entriss ihm das Schreiben. »Zeig mal, vielleicht kenne ich die Arme.«
»Aysels Kündigung kam aus heiterem Himmel. Das war ein schwerer Schlag für uns. Warum fragen Sie nach ihr? Sie hat sich doch nichts zuschulden kommen lassen?«, wollte Doktor Volker Sahner wissen. Demirbilek schätzte den Zahnarzt mit der metallenen Brille auf der knorrigen Nase auf Ende vierzig.
Demirbilek nahm das Porträt aus den Münchner Polizeiakten mit dem Konterfei des Istanbuler Mordopfers wieder an sich. Aysel Sabah war bei Ausschreitungen im Grünwalder Stadion aufgegriffen worden. Das Tattoo auf dem Unterarm war als besonderes körperliches Merkmal erkennungsdienstlich erfasst, wie Leipold festgestellt hatte.
Demirbileks Blick wanderte über eine Reihe Fotos an der Wand. Auf einem war die Zweiundzwanzigjährige mit einem fröhlichen Lächeln zu sehen. Sabah hatte einen Fuß auf einem Zahnarztstuhl und hielt den Bohrer wie einen Colt in der Hand. Die Aufnahme stammte aus Sahners Praxis, die der Kommissar ohne Termin am Morgen aufgesucht hatte. »Das ist Aysel, oder?«
Doktor Sahner drehte sich nicht um. »Ja, sie hat immer solche Späße gemacht.«
»Wie lange war sie bei Ihnen beschäftigt?«
Sahner überlegte gewissenhaft. »Nach ihrer Ausbildung bei mir wechselte sie in eine Praxis nach Schwabing, bis ich sie zurückgeholt habe. Alles in allem etwa fünf Jahre. Sie war die Beste, die ich je hatte. Fachlich hoch kompetent, dabei immer ein Lächeln auf den Lippen. Wenn es mal länger gedauert hat, war Aysel die Erste, die wartende Patienten bei Laune gehalten hat. Alle im Team mochten sie. Deshalb waren wir verblüfft, als sie vor ein paar Monaten nach Istanbul gezogen ist. Aber warum fragen Sie danach?«
»Gleich, Herr Doktor. Wissen Sie, ob Aysel in Istanbul einen festen Freund hat?«
»Darüber weiß ich nichts. Das fragen Sie besser Sylvia Reisig, sie hat mit ihr hier gearbeitet. Die zwei haben sich gut verstanden. Ich gebe Ihnen die Telefonnummer, Sylvia hat sich heute freigenommen.« Er notierte sie auf einen Notizblock und reichte Demirbilek den Zettel. »Und jetzt sagen Sie mir bitte, was mit Aysel ist.«
Der Kommissar entschied sich für eine schnörkellose Formulierung, um das sorgenvolle Nachfragen des Doktors auf die Probe zu stellen. »Aysel Sabah ist Opfer eines Gewaltverbrechens in Istanbul geworden. Sie ist tot.«
»Tot? Nein!«, erwiderte der Zahnarzt mit dünner Stimme.
Demirbilek verfolgte, wie Doktor Sahner die Brille abnahm. Die Abdrücke des Gestells auf der Nasenwurzel glänzten rötlich.
»Scheiß Türken!«, brach es unvermittelt aus dem Arzt heraus. Mit dem Aufschrei brachte er sich in Rage. »Aysel hätte nicht gehen dürfen! Ich wusste es!«
Demirbilek blieb ruhig trotz der Beschimpfung, die er sich nicht erklären konnte. Doktor Sahner senkte den Kopf und begann zu hecheln wie eine Schwangere, die ihre Wehen wegatmete. Offenbar folgte er einer festgelegten Prozedur. Mit drei gleich langen Schritten ging er zum Fenster und öffnete es. Dröhnender Verkehrslärm der Landshuter Allee, einem Teil von Münchens Hauptverkehrsader, drang in das Büro. Demirbilek war gespannt, was als Nächstes passieren würde. Mit einem Sprung aus dem ersten Stock – sei es, um aus einem unerfindlichen Grund zu flüchten oder sich das Leben zu nehmen – rechnete er nicht. Genauso wenig damit, dass der augenscheinlich verwirrte Mediziner den Kopf zum Himmel richtete und sein Stimmorgan bis auf das Äußerste strapazierte, um die Worte »Lieber Herrgott, hilf!« zu brüllen. Danach atmete er durch und drehte sich wieder zum Kommissar um.
»Anordnung meines Therapeuten. Ich brauche das zwei, drei Mal am Tag, wenn mich alles nervt und ankotzt. Kann ich nur empfehlen, probieren Sie es aus«, sagte Sahner nun in aller Ruhe.
Demirbilek dachte über das Angebot nicht nach, er versuchte, gelassen zu bleiben, um sich nicht weiter von Abgründen der menschlichen Seele ablenken zu lassen. »Was wussten Sie?«, fragte er. Innerlich war er ohne Rücksicht auf schreitherapeutische Anordnungen auf einen Gegenausbruch vorbereitet, sollte der Arzt nochmals Türken beleidigen.
»Aysel war naiv und leichtgläubig«, übertönte Sahner den tosenden Berufsverkehr.
»Was hat Aysels Naivität mit Türken zu tun, Doktor Sahner?«
»Entschuldigen Sie. Das war sehr unhöflich. Sie sind ja selbst …«
»Was ich bin, tut nichts zur Sache. Schließen Sie das Fenster, ich verstehe Sie ja kaum.«
Gedankenverloren schloss Sahner das Fenster und blickte hinaus. Demirbilek beobachtete Kummer und Trauer in seinem Gesicht. »Herr Doktor, ich muss Sie drängen. Der leitende Ermittler in Istanbul wartet auf Nachricht von mir. Was meinen Sie damit, dass Aysel naiv und leichtgläubig war?«
Nach lautem Räuspern schritt der Arzt zu seinem Schreibtisch zurück. Er öffnete eine Schublade und zeigte dem Kommissar einen Hochglanzprospekt mit Istanbuls Skyline und glücklichen Menschen, deren perfekte Zähne unnatürlich weiß aus den Mündern glänzten. »Das meine ich mit scheiß Türken. Wir investieren in die Jugendlichen, geben ihnen die bestmögliche Qualifikation und führen sie in den Beruf ein. Aysel ist nicht die erste aus meiner Praxis, die in die sogenannte Heimat zurückgekehrt ist. Ich hatte einen Griechen und eine Serbin, beide haben mich schamlos ausgenutzt.«
Demirbilek überflog den Prospekt und verdrehte die Augen über die kitschige Anmutung, die seiner Erfahrung nach nichts mit den Schmerzen zu tun hatte, die er mit einem Zahnarztbesuch verband. »Ich verstehe, Sie sind enttäuscht von Ihrer Mitarbeiterin, weil sie vermutlich eine besser bezahlte Anstellung angenommen hat. Dennoch: warum naiv?«