Mordslust Pur - Su Turhan - E-Book
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Mordslust Pur E-Book

Su Turhan

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Beschreibung

Mordslust oder Lustmord – das ist hier die Frage! »Genickbruch vermutlich. Sieht aus, als hätte ihn der Täter mit beiden Händen gepackt und mit einem kräftigen Ruck ins Himmelreich oder in die Hölle befördert. Zack, und tot.« Ein schrecklicher Anblick bietet sich Kommissar Zeki Demirbilek und seinem Migra-Team. In unmittelbarer Nähe zur Münchner Erotikmesse wird eine Leiche gefunden, in seinem Mund ein neuer Dildo, in der Hose eine noch vibrierende Penispumpe. Faserspuren an den Handgelenken des Opfers weisen darauf hin, dass der Mann vor seinem Tod gefesselt war. Womöglich wurde er mit einem Bondageseil oder einem Tuch erwürgt, doch die Spur auf der Erotikmesse bleibt kalt.  Vielversprechender wird es auf dem Laptop des Opfers, der sich bei einer neuartigen Dating-App angemeldet hat. Ist hier der Täter zu finden?  Viel Trubel in der Soko Migra: Isabel Vierkant, die gute Seele des Teams, lernt jetzt sogar Türkisch. Und Zeki quälen neben dem verzwickten Fall Albträume. Was er noch nicht ahnt: Tatsächlich schwebt einer seiner Liebsten in höchster Lebensgefahr!  Der sechste Fall für Kommissar Pascha und sein bayerisch-türkisches Team! »Spannend, humorvoll und kurzweilig kommen die Ermittlungen und menschlichen Irrungen zwischen Bier und Cay Tee daher. Und der treue Demirbilek-Fan wünscht sich am Ende nur, dass Su Turhan die Ideen nicht so schnell ausgehen.« Münchner Merkur

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Su Turhan

Mordslust Pur

Band 6

Krimi

 

Über das Buch

Mordslust oder Lustmord – das ist hier die Frage!

 

»Genickbruch vermutlich. Sieht aus, als hätte ihn der Täter mit beiden Händen gepackt und mit einem kräftigen Ruck ins Himmelreich oder in die Hölle befördert. Zack, und tot.«

Ein schrecklicher Anblick bietet sich Kommissar Zeki Demirbilek und seinem Migra-Team. In unmittelbarer Nähe zur Münchner Erotikmesse wird eine Leiche gefunden, in seinem Mund ein neuer Dildo, in der Hose eine noch vibrierende Penispumpe. Faserspuren an den Handgelenken des Opfers weisen darauf hin, dass der Mann vor seinem Tod gefesselt war. Womöglich wurde er mit einem Bondageseil oder einem Tuch erwürgt, doch die Spur auf der Erotikmesse bleibt kalt.

Vielversprechender wird es auf dem Laptop des Opfers, der sich bei einer neuartigen Dating-App angemeldet hat. Ist hier der Täter zu finden?

Viel Trubel in der Soko Migra: Isabel Vierkant, die gute Seele des Teams, lernt jetzt sogar Türkisch. Und Zeki quälen neben dem verzwickten Fall Albträume. Was er noch nicht ahnt: Tatsächlich schwebt einer seiner Liebsten in höchster Lebensgefahr!

 

Der sechste Fall für Kommissar Pascha und sein bayerisch-türkisches Team!

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Zitat

Widmung

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Der Autor Su Turhan

BAND 1

BAND 2

BAND 3

BAND 4

BAND 5

BAND 7

BAND 8

Impressum

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Piper Verlag GmbH, München

Copyright © 2024 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2024

 

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © Victor Moussa/ Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

 

Made in Germany

ISBN: 978-3-98679-052-3

 

 

 

Zitat

Nur içinde yatsın.

Möge sie in Lichtern liegen.

Türkischer Trauerspruch

Widmung

Für meine Geschwister Özlem und Ayhan

1

Dreh dich um, zeig dein Gesicht!, schrie Zeki Demirbilek dem Wanderer zu und peitschte die vier Hengste, die schnaubten und galoppierten, als läge es an ihnen, die Welt vor dem Untergang zu retten. Zeki lief der Schweiß über das Gesicht. Er hockte auf dem Bock einer Kutsche und trieb das Gespann auf dem nicht enden wollenden Weg den Hügel hinauf. Doch der Abstand zu dem Verfolgten verminderte sich nicht. Die Entfernung blieb gleich, egal, welches Tempo er mit den Pferden einschlug.

Dön! Yüzünü göster!, wiederholte er auf Türkisch.

Der Wanderer reagierte nicht. Zeki blickte über ihn hinweg zum Gipfel. Der Mann in der Kutte vor ihm war riesenhaft gewachsen, die Silhouette zeichnete sich gegen die brennende Sonne ab. Die Kapuze über dem Kopf hüpfte bei jedem Schritt ein Stück nach oben. Blinzelnd neigte er den Kopf und versuchte mit wachsender Verzweiflung, das Alter des Mannes zu schätzen. Dem Gang nach war er weder ein Greis noch ein Erwachsener, kein Jugendlicher und kein Kind. Er hatte immense Kraft in den Beinen und bewältigte mühelos den steilen Pfad.

Die Gewissheit, die Zeki sodann überkam, schmerzte. Niemals würde er mit der Kutsche oben auf der Prinzeninsel, den adalar, ankommen, würde nicht die traumhafte Aussicht über das Marmarameer auf die Bosporusmetropole genießen. Er sah nach hinten zum Meer, um wenigstens einen flüchtigen Blick auf Istanbul zu werfen. Was er sah, ließ ihn erstarren. Der Wanderer schritt nicht mehr vor ihm, er stand als Riese im Meer, aus seinen Augenhöhlen funkelte ein gleißend roter Strahl. Drohend hielt er den Wanderstab wie ein Schwert über die Millionenmetropole, in der Zeki das Licht der Welt erblickt hatte.

Zeki schluckte, als ihm bewusst wurde, dass sich die Skyline von Sultanahmet verändert hatte. Statt der Hagia Sophia erstreckte sich an demselben Platz Münchens olympische Anlage. Sein Blick folgte dem Stab, den der Riese mit dem Sog eines Taifuns über das Bauwerk schwingen ließ. Wie ein Zahnstocher brach der Olympiaturm entzwei. Entsetzt suchte Zeki nach der Blauen Moschee. Er erkannte Istanbuls beeindruckendes Bauwerk nicht wieder, da statt der Minarette die zwei Türme der Frauenkirche in den Himmel ragten. Durch den Luftzug beim Zurückschwingen des Stabes legte der Riese Münchens Wahrzeichen in Schutt und Asche.

Schnell wandte Zeki den Kopf nach vorne, um dem furchtbaren Anblick seiner zerstörten Heimatorte zu entgehen. Er hatte mit der Kutsche keinen Zentimeter gutgemacht, war dem Wanderer, der nun wieder vor ihm den Hügel hochstieg, den zu fassen doch seine Aufgabe war, keinen Deut näher gekommen. Könnte er wenigstens sein Gesicht sehen, Augenfarbe und Nasenform, die Wangenknochen, zumindest das Profil, um zu erahnen, wen er jagte.

In dem Augenblick, als er fester peitschte, die Hengste anfeuerte, um das Letzte an Tempo aus ihnen herauszuholen, weil er erkannte, wie die Kapuze des Gejagten nach hinten abrutschte, wie der Mann ansetzte, den Kopf zu drehen, er endlich sein Gesicht sehen würde, spürte er, wie ihn jemand in die Seite stieß.

»Sie haben geschnarcht, Chef«, sagte Isabel Vierkant am Steuer des Dienstwagens zu ihm. »Schlecht geschlafen letzte Nacht?«

»Hm«, brummte er. »Bin ich eingedöst?«

»Nicht schlimm«, erwiderte sie. »Dauert noch, bis wir am Tatort sind.«

Der türkischstämmige Hauptkommissar umklammerte die blauen und gelben Steine der Gebetskette und ließ das Plastik über den Handrücken gleiten. Aufgeschreckt von seinem Albtraum, dachte er darüber nach, wie er mit den Geschehnissen der letzten Wochen fertigwerden sollte.

Schlechtes Gewissen lastete auf seiner Seele, als hätte er einen Mörder überführt und entwischen lassen, wegen einer Unachtsamkeit, einer Dummheit, zu der er durchaus fähig war, wenn seine Gefühle außer Rand und Band gerieten. Er kam auch bei diesem Versuch, Herr über das Vergangene zu werden, zu verstehen und zu ergründen, warum sein Leben aus den Fugen geraten war, auf keine Lösung. Blinden Auges hatte er eine Entscheidung getroffen. Gesehen hatte er nur sich und seine Bedürfnisse. Er hatte die Beziehung zu Derya Tavuk beendet, weil er glaubte, dass sie ihn unter Druck setzte. In seinem tiefsten Inneren wusste er aber, das sie die Letzte war, die ihn nicht akzeptierte, wie er war. Mit drastischen Worten hatte sie ihm zum Abschied gesagt, wie sehr sie ihn in ihr Herz geschlossen hatte, aus dem er wie ein Gefangener ausgebrochen war.

Mit einem Mal kroch süßlicher Duft in seine Nase. Er wandte sich der Oberkommissarin zu. Er schmunzelte, weil er überlegte, was er alles für die Beamtin tun würde. Lügen und betrügen würde er für sie, sich prügeln und schießen, um sie zu beschützen und in seinem Team zu halten. Ohne Vierkant wäre er ein Münchner Kommissar. Mit ihr an der Seite war er kein Geringerer als Hauptkommissar Zeki Demirbilek, Leiter des Sonderdezernats Migra.

»Blöder geht’s zeitmäßig wirklich nicht«, riss Vierkant ihn aus den Gedanken. Den süßen Duft nach Erdbeere verströmte der Kaugummi, den sie sich in den Mund gesteckt hatte. Ein untrügliches Zeichen, dass die Autofahrt zäh werden würde. Auch dem Kriminalhauptkommissar passte es nicht, sich am späten Nachmittag durch Münchens Innenstadt quälen zu müssen. Dienstfahrten mit dem Wagen waren ihm prinzipiell ein Gräuel.

Sein Blick wanderte zur Blechlawine, die sich vor ihnen bis zum Altstadttunnel hinzog, und zurück zur Oberkommissarin. Er musterte sie, während sie sich auf das Lenken des BMWs konzentrierte.

»Soll ich ans Steuer?«, bot er nach einer Weile an, als er merkte, wie sie mit verklärtem Gesichtsausdruck durch ihre langen schokoladenbraunen Haare strich. Was geht in ihr vor, fragte er sich, irritiert über das stille Genießen, das er in ihrem Gesicht las. In der Regel geizte sie nicht mit Worten über die schändliche Straftat, die es aufzuklären galt, oder drückte ihre Anteilnahme für die Angehörigen des Opfers aus.

»Woran denkst du, Isabel?«, hakte er nach, nachdem er keine Antwort auf seine Frage bekommen hatte. Vielleicht freute sie sich, von der Schreibtischarbeit weg zu sein, konfrontiert zu werden mit Zeugen und Verdächtigen und ihren Aussagen. War ihr nicht klar, überlegte Demirbilek, dass der Fall sie letztlich wieder an den Schreibtisch zurückführte, um Protokolle zu verfassen? Inklusive derjenigen, die sie für ihn schreiben musste?

»Nein, lieber nicht, ich meine das Autofahren«, antwortete sie nun doch und trat ein wenig zu fest in die Bremsen, um in der Sonnenstraße an einer roten Ampel zu halten. »Ehrlich gesagt, kann ich mich gar nicht erinnern, Sie jemals am Steuer gesehen zu haben.«

Demirbilek wusste selbst nicht, wann er das letzte Mal einen Wagen gelenkt hatte. »Wenn du in der Lage bist, gleichzeitig zu reden und uns heil zum Olympiagelände zu bringen, lass hören, was mich erwartet.«

»Darf ich vielleicht doch Blaulicht und Sirene einschalten?«, fragte sie und zauberte dabei einen rötlich schimmernden Kaugummiballon aus dem Mund.

»Warum die Menschen aufscheuchen? Und wie soll ich dich verstehen bei dem Lärm? Cengiz ist bestimmt schon vor Ort, die Spurensicherung hoffentlich auch.«

Vierkant ließ den Kaugummi platzen und zwischen den Lippen verschwinden. Die Ampel schaltete um. Sie gab vorsichtig Gas. Die Autokolonne vor ihnen bewegte sich keine zwei Meter. »Klar ist unsere Jale am Tatort, die Gerichtsmedizinerin ist mit dem Spusitrupp auch schon fleißig bei der Arbeit. Was Sie erwartet, ist eine männliche Leiche, etwa dreißig Jahre alt, dem äußeren Anschein nach ausländisch.«

Der Sonderdezernatsleiter blickte zu der monumentalen Brunnenanlage, die sie gerade im Schneckentempo passierten. Vor dem Beckenrand stand ein altes Paar, das offenbar Futter in das Wasser warf.

»Sag mal, gibt es Fische im Wittelsbacher Brunnen?«, fragte er erstaunt.

Sie schien ihn wieder nicht gehört zu haben, jedenfalls antwortete sie nicht, sondern fuhr mit ihrem Bericht fort: »Die Leiche muss ein fürchterlicher Anblick sein. Mit Pius’ Worten recht unappetitlich, er hat mich angerufen.«

Pius Leipold, Leiter der regulären Mordkommission, hatte im Olympiapark, wo die Leiche gefunden worden war, nichts zu suchen. Und zwar absolut nichts, fand Demirbilek, und hatte damit einen triftigen Grund, nicht mehr über den Ausbruch aus Deryas Herzen zu grübeln. »Gib mir dein Handy«, forderte er Vierkant auf.

»Haben Sie Ihres wieder im Büro liegen lassen?«, schnaubte sie. »Sie müssen doch erreichbar sein, Chef!«

»Das neue Ding mag mich nicht! Und ich hasse es«, maulte er. »An meinem Tatort hat Pius nichts zu suchen. Was ist jetzt mit deinem Handy?«

»Es ist in der Umhängetasche«, sagte sie verunsichert, als sie eine Parklücke entdeckte. Sie stellte den Dienstwagen mit laufendem Motor quer, kaute nervös auf dem Kaugummi weiter und griff nach ihrer Tasche. »Wissen Sie, mir ist es nicht recht, wenn Sie sehen, was ich da alles drin habe.« Sie lachte verlegen. »Kusura bakmayın.«

Demirbilek schmunzelte über ihren bayerischen Einschlag bei der auf Türkisch vorgetragenen Entschuldigung. Vierkant die Angewohnheit auszutreiben, ständig um Verzeihung zu bitten, hatte er aufgegeben. »Ich gehe ins Präsidium und hole meinen elektronischen Sklaventreiber«, beschloss er und öffnete die Beifahrertür. »Fahr du vor, ich komme nach.«

»Soll Sie eine Streife abholen?«

»Wie ich dich kenne, würdest du mir sogar einen Helikopter organisieren«, lächelte er ihr zu. »Mit der U-Bahn bin ich bei dem Verkehr schneller.«

»Und die Monatskarte muss sich ja rentieren«, sinnierte Vierkant ihrem Chef hinterher.

Sie wartete, bis er weit genug weg war, und fixierte das Blaulicht auf dem Dach. Mit eingeschalteter Sirene zwängte sie sich weiter durch den Straßenverkehr.

Insgeheim freute sich Isabel Vierkant auf die anstehende Ermittlungsarbeit. In den letzten Wochen hielten hauptsächlich ungelöste Altfälle die Abteilung Migra am Laufen. Kapitalverbrechen mit Opfern und Tätern, die einen Migrationshintergrund aufwiesen und dem Sonderdezernatsleiter schwer genug erschienen, waren rar gesät gewesen. Vierkant genoss das Adrenalin in ihrem Körper, das sich bei dem verwegenen Stop-and-go zwischen den Autoschlangen bemerkbar machte. Langsam, Isabel, beruhigte sie sich. Der liebe Gott hört und sieht nicht nur alles, er merkt auch, wie sehr du dich über eine Leiche freust. Das gehört sich nicht!

2

»Komm, Sybille! Warum zeigst du mir das?«, schrie Hauptkommissar Pius Leipold im breitesten Münchnerisch und drehte sich abrupt weg. Die Lederjacke über den Schultern flog zu Boden, Flyer von Ausstellern der Erotikmesse, die nicht weit vom Fundort der Leiche entfernt stattfand, segelten aus der Innentasche. Ohne sich zu scheren, wie sein wohlgenährter Bauch zum Vorschein kam, tupfte er mit dem T-Shirt die verschwitzte Stirn trocken, ehe er Jacke und Flyer aufhob. Dann sah er abermals ungläubig auf das Tablet der Kollegin, die einen Ausschnitt der Tatortfotos heranzoomte. »Was ist denn mit dem geschehen?«

Gerichtsmedizinerin Ferner lächelte über Leipolds Solidarität mit dem bedauernswerten Opfer. »Genickbruch vermutlich. Sieht aus, als hätte ihn der Täter mit beiden Händen gepackt und mit einem kräftigen Ruck ins Himmelreich oder in die Hölle befördert. Zack, und tot.«

Sybille Ferner war eine attraktive, blondhaarige Frau Anfang vierzig. Mittlerweile länger geschieden, als sie verheiratet gewesen war, und hatte in ihrem Berufsleben manche Gewaltopfer untersucht, deren Anblick ein dezentes Würgen verursachten, ähnlich wie beim Wechseln der Windeln ihrer Söhne. Mehr körperliche Reaktion zeigte sie vor Kollegen nicht. Unter keinen Umständen, selbst nicht bei dem sportlichen Mann, dessen Tod sie gerade untersuchte.

»Pius, Pius, wenn das deine Frau sieht! Hast du dich auf der Erotikmesse herumgetrieben?«, tadelte sie den Urmünchner, den sie weniger gut leiden konnte, als sie ihm vormachte.

Männer wie Leipold, zu dick und Frauen gegenüber zu borniert, hatte sie gedanklich auf eine schwarze Liste in Grabmarmor gemeißelt. Beruflich war sie verpflichtet, mit dem Kriminalhauptkommissar zu sprechen. Privat würde sie nicht daran denken, ihm gute Ratschläge zu geben. Dennoch ließ sie sich dazu verleiten, schließlich wollte sie nicht von ihm für dumm verkauft werden. »Die Sexflyer lässt du lieber im Büro.«

»Hör sofort auf, so boshaft zu sein, Sybille«, ärgerte sich Leipold. »Das sind Beweismittel, ist doch klar. Die Mitarbeiter der Firmen werden befragt. Das Opfer muss identifiziert werden.«

Sie schnappte einen Prospekt aus seiner Hand, der mit anschaulichem Bildmaterial für ein Bondage-Event in Salzburg warb. »Machst du eine Dienstreise nach Österreich?«

Leipold holte sich den Prospekt zurück. »Wenn’s der Aufklärung des Falles dient.«

»Natürlich, verstehe schon. Genauso wie die Beweismittel mit deinen Fingerabdrücken darauf. Dich können wir ja als Verdächtigen ausschließen, haben ja den Satz deiner Wurstfinger in der Datenbank hinterlegt«, ließ sie sarkastisch fallen. »Was machst du eigentlich hier? Wird deinem Türken nicht gefallen, dass du dich an seinem Tatort herumtreibst.«

»Das Plastikding in seinem Mund ist doch ein Dildo, oder?«, lenkte er vom Thema ab.

»Ein Fachmann erkennt das sofort«, stachelte sie weiter. »Und was an seinem besten Freund baumelt, kennst du auch?«

Wie einen Segen empfand Leipold das Läuten des Mobiltelefons in der Lederjacke, um sich von Ferners Unterstellungen zu drücken. Er nickte der Gerichtsmedizinerin zu, die ihm, wie er spürte, dermaßen auf die Nerven ging, dass er ihr am liebsten den Hintern versohlt hätte. Überrascht über diese Fantasie kehrte er schnell den leitenden Ermittler hervor: »Jetzt mach weiter mit der Arbeit. Bericht geht direkt an mich. Du weißt ja, wie schwer sich der Zeki mit dem Lesen tut.«

Während er nach dem Telefon in der Jacke suchte, schielte er auf den Prospekt mit den Sonderangeboten einer Ausstellerin, die er befragt hatte. Ein ledernes, knapp geschnittenes Dessous konnte er sich an seiner Ehefrau gut vorstellen. Natürlich würde Elisabeth ihm den Gefallen nie erweisen, etwas derart Sündiges für ihn anzuziehen, seufzte er innerlich, nachdem er den Fußweg weit genug entlanggegangen war, um in Ruhe zu telefonieren.

»Dachte mir, dass du dich meldest, Zeki! Kannst dir den Weg hier raus sparen, habe alles im Griff. Ein Höllenverkehr ist das heute. Massenkarambolage auf dem Frankfurter Ring«, sagte er in den Apparat und hörte eine Weile zu, bis er wutschnaubend rief: »Weißt du was, du Türkenfuzzi, so redest du nicht mit mir! Schleich dich aus der Leitung, du Pascha, du elendiger, ich bin mitten in einer Ermittlung!«

Keinen Deut besser ist es mit ihm geworden, obwohl ihn die Sanftmut hätte ereilen müssen, seit er vor eineinhalb Jahren Großvater geworden war, ärgerte sich Leipold. Was für ein eingebildeter Hansdampf er doch war! Statt sich zu bedanken, dass er ihm die Arbeit abnahm, scheißt er ihn zusammen. Ja, wo sind wir denn? Sind wir in München oder in Istanbul, wo er ihn am liebsten hinverflucht hätte? Soll er verflixt noch mal am Tatort einmarschieren mit seiner Migrantenbrigade, schimpfte er weiter, ohne zu merken, dass er vor lauter Anspannung zu fest am Ring im rechten Ohr zupfte.

Unter Schmerzen drehte er den Kopf zum Tatortzelt an der Böschung, wo sich die Kollegen der Kriminaltechnik und Ferners gerichtsmedizinische Crew zu schaffen machten. Leichen, das wussten alle, waren nicht seins. An einem Tatort mehr als Präsenz zu zeigen war ihm nicht möglich, weil ihm beim Anblick der entstellten Opfer nach kürzester Zeit speiübel wurde. Bei der Vorstellung, in welch grauenhaftem Zustand die Leiche von den Skatern gefunden worden war, spürte er, wie sich das Mittagessen aus deftiger Blutwurst, Sauerkraut und Kartoffelpüree im Magen bemerkbar machte.

Er spähte über den olympischen Park zu der Halle, in der er die ersten Befragungen durchgeführt hatte. Dort, wo die Erotikmesse untergebracht war, gab es Toiletten, und eine solche brauchte er ganz dringend.

3

Mit Übermut im Herzen schaltete Oberkommissarin Vierkant Sirene und Blaulicht aus und riss auf dem Mittleren Ring das Lenkrad herum, um die Ausfahrt zum Olympiagelände nicht zu verpassen. In der einsetzenden Dämmerung erreichte sie das zahlungspflichtige Parkplatzareal und folgte der Beschilderung zum olympischen Stützpunkt.

Auf dem Vorplatz reihten sich Einsatzfahrzeuge aneinander. Sie parkte und betrachtete den Tatort. Von ihrem Standpunkt aus – gegenüber dem Eingang zur Erotikmesse – war die Böschung nicht einzusehen. Der helle Schein der Arbeitsleuchten wies ihr den Ort, wo der Tote gefunden worden war. Luftlinie rund zweihundert Meter, schätzte sie und machte eine Notiz in ihr Büchlein. Dann stieg sie aus dem Wagen und rückte die Umhängetasche zurecht.

»Servus, Pius, alles klar?«, bedachte sie Leipold mit einer kurzen Begrüßung, der gerade die Halle verließ und ihr entgegenschritt. Den verklärten Gesichtsausdruck verstand sie falsch, als sie ihn entsetzt fragte: »Du hast doch nicht etwa mit einer der Frauen …«

»Du bist ja schlimmer als die Ferner!«, unterbrach er sie wütend. »Sag mal, was denkt ihr Weibsbilder von mir? Bin doch kein Akkordfremdgänger! Ich bin glücklich verheiratet!«

»Nichts für ungut, Pius, wirklich«, entschuldigte sie sich schnell. »Was ist dann los? Hat dich der Heilige Geist erwischt?«

»Von wegen. Auf dem Klo war ich! Habe gekotzt, jemand musste das Opfer ja in Augenschein nehmen. Und die Ferner, die Sadotante, hat mich mit Tatortfotos malträtiert.«

»Der Chef wird bald da sein«, sagte sie mitfühlend und schritt weiter zum Eingang.

Aus der Glastür trat eine uniformierte Kollegin und gierte auf die Zigarette in der Hand.

Vierkant erkannte sie. »Grüß dich, Sabine! Du hier?« Sie umarmte die Streifenpolizistin, mit der sie die Polizeiausbildung absolviert hatte.

»Servus, Isa. Schon wieder mal Spätdienst. Ich habe Jale bei den Befragungen unterstützt. Nichts Relevantes bislang.« Sie senkte die Stimme. »Nicht, dass du rot anläufst. Da drin gibt’s Sachen, die hast du noch nicht gesehen.«

»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Vierkant amüsiert. »Ist Jale in der Halle?«

Sabine zündete die Zigarette an und nickte. Gleichzeitig bedeutete sie ihr, sich umzudrehen.

Leipold war ihr nachgekommen und stand breitbeinig hinter ihr. Vierkant kannte den Urmünchner seit Jahren und schätzte ihn als erfahrenen Polizeibeamten, der auf münchnerische Art genauso eigenwillig wie ihr paschahafter Vorgesetzter war.

»Ja, Pius?«, fragte sie ihn ruhig. »Hast du was auf dem Herzen? Du siehst aus, als würdest du mich gleich hochkant ins Olympiastadion schießen wollen.«

»Dein Chef hat mich angerufen«, murrte er und zog sie am Unterarm weg, um unter vier Augen mit ihr zu reden. »Was ist mit ihm? Der ist ja nicht zum Aushalten.«

Vierkant seufzte. »Stimmt, zurzeit ist es nicht einfach mit ihm. Er ist mit seinen Gedanken oft woanders«, gab sie ihm recht. »Aber er hat dich ja wohl nicht angerufen, um mit dir sein Privatleben zu besprechen, oder?«

»Ach was! Hat rumgebrüllt wie ein Obersultan, in welchen Zuständigkeitsbereich der Tote gehört. Kennst ihn ja. Dabei ist die Identität noch gar nicht geklärt. Nur weil er aussieht wie ein Auswärtiger, muss er noch lange keiner sein. Wahrscheinlich hat er einen deutschen Pass.«

Mit einem Lächeln hakte sich Vierkant bei ihm unter. »Ist das am Ende nicht völlig egal, welche Staatsangehörigkeit eine arme Seele hat? Du und der Chef arbeitet doch so schön zusammen.« Sie klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Da hast du ja wieder einen Volltreffer gelandet mit deiner Spürnase. Wie bist du darauf gekommen, dass das Opfer hier auf der Messe gewesen sein konnte?«

»Jahrzehntelange Erfahrung als Mann und Polizeibeamter. Ein Toter mit Dildo im Mund? So schwer war das nicht, Isabel. Danke trotzdem für die netten Worte.«

Vierkant lächelte. »Komm, ich wollte zu Jale, sie befragt die Händler.«

Leipold blieb stehen. »Geh du ruhig, ich habe den Veranstalter einbestellt. Er müsste jeden Moment da sein. Vielleicht weiß er etwas über die arme Seele.«

Vierkant konnte sich den Kommentar nicht verkneifen, der ihr auf der Zunge lag: »Was Interessantes gefunden? Irgendwelche Empfehlungen?«

»Was meinst du?«

»Vom Sortiment her. Werden auf Messen nicht die neuesten Produkte vorgestellt? Du bist schon länger hier, hast du dich nicht über das Angebot informiert?«

»Nicht du auch noch, Isabel!«, stöhnte Leipold.

»Komm, verstehst du keinen Spaß mehr?«, entgegnete sie und ließ ihn mit diesen Worten stehen.

4

Mit geradem Rücken in den Sitz gepresst, ordnete er die langen Haare und steckte die Hörer in die Ohren. Prompt setzte eine gelangweilt wirkende Vorlesestimme ein, ergoss sich plätschernd in sein Gehirn und führte ihn in Orhan Pamuks historisches »Istanbul«.

Es war früher Abend, er würde pünktlich zu Schichtbeginn ankommen, dachte er müde. Nur wenige Fahrgäste befanden sich mit ihm in dem Waggon der U3. Passend zu Pamuks Beschreibungen entdeckte er einen Mann in hellgrauem Anzug, der lieber stand, als sich auf einen der freien Plätze zu setzen. Er schien Türke zu sein, vielleicht Italiener. Der Mann neigte den Kopf zu Boden. Die dunklen Augen zuckten hin und her. Er war wohl in Gedanken vertieft, die ihm zusetzten, bis er ein Stofftaschentuch aus der Anzughose holte und die wulstigen Augenbrauen abtupfte.

Auf der anderen Seite des Waggons erblickte er eine verlebt wirkende Frau mit sonderbarem Hut. Sie kruschte in ihrer Handtasche, schien bester Laune zu sein, suchte und kramte, bis sie einen Lippenstift hervorholte und ein kräftiges Rot auftrug. Er dachte an seine Mutter, die bis zu ihrem Lebensende kein Make-up aufgetragen, kein Parfüm oder Deo benutzt hatte. Er wandte sich von der Frau weg zur Fensterscheibe. Die Leuchtstoffröhren der Tunnelbeleuchtung zogen an ihm vorüber. In der Spiegelung sah er sich, als wäre er sich fremd. Er fuhr sich mit der Hand über den Schnauzbart. Er trug ihn noch nicht lange, er kratzte, war ungewohnt. Eine Bewegung in der Spiegelung ließ ihn den Kopf wenden. Einige Reihen vor ihm saß sich ein Paar auf den Sitzbänken gegenüber. Beide in schwarzer Kleidung, beide kicherten.

Die stark geschminkte Frau lächelte den entspannt schmunzelnden Mann an. Er konnte sich ausmalen, was ihnen durch den Kopf ging, als er beobachtete, wie sie sich zu ihm beugte und ihre Zunge in seinen Mund steckte. Wahrscheinlich hatten sie dasselbe Ziel. Sie, um sich zu vergnügen, er, um zu arbeiten. Als bestätigte die Frau seine Vermutung, nahm sie auf seinem Schoß Platz. Der Mann umfasste ihre Pobacken mit beiden Händen. Ihr langes Haar fiel ihm über die Schultern, als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Verlegen sah er weg und konzentrierte sich wieder auf Orhan Pamuks episches Werk in seinen Ohren. Dem Text war schwer zu folgen. Er schloss die Augen und ließ die fein konstruierten Sätze auf sich wirken.

Zwei Stationen Fahrt lagen noch vor ihm. Er strich sich über den Bart und schleckte mit der Zunge über die Fingerkuppen. Eine Angewohnheit, die er nicht loswurde, seit er festgestellt hatte, dass Feuchtigkeit beim Rollen und Eindrehen von Zigarettenpapier Halt gab. Er rauchte nicht mehr. Der Tick war geblieben. Mit benetzten Fingern war er bei der Verabschiedung durch Nilays Haare gefahren. Durch den schwarzen, langen, unzähmbaren Schopf. Was war sie für eine Augenweide gewesen, eine wunderschöne Frau, die anzusprechen er niemals gewagt hätte.

Mit Frauen hatte er wenig Erfahrung. Mit Männern gar keine, obwohl er eine Zeit lang geglaubt hatte, schwul zu sein. Auf Sexseiten für Homosexuelle hatte er im Internet Fotos und Videos betrachtet. Nach stundenlangem Sichten lutschender und kopulierender Männer hatte er nichts entdeckt, was ihn erregte.

Dennoch passierte an demselben Tag etwas, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er bekam die realen Beine und die rot gefärbten Fußnägel einer Frau zu Gesicht. Allein durch diesen Anblick war er sich sicher, nicht schwul zu sein. Das Begehren hatte die neue Nachbarin aus dem dritten Stock entfacht, die in sein Mietshaus in der Nähe des Josephsplatzes gezogen war. Der heimliche Blick auf die glatt rasierten Beine unter ihrem Rock hatte seine Fantasie angestachelt.

Seine Lippen bewegten sich bei der Einfahrt in die nächste U-Bahn-Station. Er ignorierte Pamuks Worte in seinen Ohren und wiederholte, was er gedacht und zu ihr im Stillen gesagt hatte. Bei der zufälligen Begegnung an der Müllcontaineranlage fragte er sie um Rat wegen eines türkischen Rezeptes. Sie bot ihm Hilfe an, er lud sie zu sich nach Hause ein. Kaum war die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen, kniete sie im Flur nieder und verschaffte ihm Befriedigung.

Die Fantasie mit der neuen Nachbarin erschien ihm realer als die U-Bahn-Gäste und die monotone Stimme des Vorlesers. Istanbul war nicht monoton. Ihn als Neuankömmling hatte die Metropole mit tosender Energie und einer Mischung aus Meeresluft und Abgasgestank empfangen und beflügelt. In seinen Ohren erzählte Pamuk vom alten Istanbul, von den engen, hügeligen Gassen Sultanahmets. Er selbst spazierte in Gedanken, wie vor ein paar Wochen, durch die Straßen von Ortaköy, einem ehemaligen Fischerdorf am Ufer des Bosporus.

Dorthin hatte ihn Nilay bestellt, um sich mit einem kumpir für seine Hilfe zu bedanken. Er war der Einladung gefolgt, obwohl er sich lieber mit ihr in ein Dachrestaurant gesetzt hätte, um sie nach dem gemeinsamen Erlebnis besser kennenzulernen. Er hatte seinen Fotoapparat mitgebracht, doch hatte sie ihn gebeten, keine Fotos von ihr zu machen. Sein Magengrummeln übertönte die Fahrgeräusche der U-Bahn, als er in seiner Erinnerung die Riesenkartoffel befüllte. Zu Käse und Butter in der aufgeklappten Kartoffel hatte er sucuk, Maiskörner und Oliven, gehäuft. Dazu hatte er, wie Nilay es ihm vormachte, etwas Ketchup und viel Mayonnaise gegeben. Nilays mitleidiges Lächeln kam ihm in den Sinn, als er versuchte, mit der Plastikgabel das in Alufolie gewickelte Fast-Food-Gericht in den Mund zu befördern. Ketchup war auf sein T-Shirt getropft. Wie aufmerksam von ihr, hatte er gedacht, als sie ihm Papiertücher reichte. In ihrem Rücken glänzte die Medschidiye-Moschee mit den Minaretten wie ein Versprechen auf eine gemeinsame glückliche Zukunft. Den malerischen Blick über die Meerenge hatte er als Fotografie bereits in seiner Sammlung abgelegt. Nachdem er den Fleck abgewischt hatte, verabschiedete sie sich plötzlich. Bei der kurzen Umarmung war er mit den Fingern vorsichtig durch ihre Haare gefahren. Er hatte ihr ein Unglück erspart, sie aber ließ ihn einfach alleine zurück.

Bald darauf betrat Nilay einen Hauseingang. Er war ihr durch Gassen und Häuserschluchten gefolgt und musste nicht lange warten, bis sie ein Fenster des abbruchreifen Gebäudes öffnete. Sie hatte ein Kissen auf das Fensterbrett gelegt und zu den Hausfassaden gegenüber geschaut, die ihr den Ausblick zum Meer verstellten. Er hatte sich hinter einem Lastwagen versteckt und fotografierte sie, als eine zwischen den Häusern gespannte türkische Fahne an ihrem Gesicht vorbeiwehte. Dabei hatte er nachempfunden, wie einsam sich die junge, freundliche Türkin fühlte. Und trotzdem hast du mich verlassen, hatte er ihr zum Abschied zugeflüstert.

Die U-Bahn hielt mit quietschenden Bremsen. Er befreite sich von Pamuks gebetsmühlenartigen Sehnsuchtsattacken und stieg am Olympiastadion aus. Während hinter ihm der Mann in hellgrauem Anzug ebenfalls den Waggon verließ, überlegte er, was er anstellen könnte, um die neue Nachbarin kennenzulernen. Ob ihre Scham glatt und sauber rasiert war wie die von Nilay? Er würde es herausfinden. Er musste es herausfinden.

5

Die Fußgängerbrücke über den Mittleren Ring zum Olympiagelände hatte Demirbilek von klein auf fasziniert. Er erinnerte sich an den ersten Ausflug an der Hand seiner Mutter hierher. Sie musste ihn festhalten, weil er sich über das Geländer gebeugt hatte, um die Insassen der unter ihnen durchziehenden Fahrzeuge genauer zu sehen. Das Machtwort seines Vaters klang ihm in den Ohren, der damit drohte, ihn nicht mit in den Himmel auf den Olympiaturm mitzunehmen, wenn er nicht auf seine anne hörte.

Im hellgrauen Anzug stand er in der Abenddämmerung mit den Ellbogen auf das Eisengeländer gestützt und beobachtete seit geraumer Zeit den tosenden Verkehr der mehrspurigen Stadtautobahn. Das nicht abreißende Rauschen versetzte ihn in seine Geburtsstadt Istanbul, wo das Lärmen in jedem nur erdenklichen Winkel kein Ende kannte. Als hätte er nichts Besseres zu tun, begann er, die Autos zu zählen, einfach so und ohne Grund. Bei eintausendzweiundvierzig beendete er das Zählen und landete bei der Überlegung, ob er seinem Enkelsohn für die Finanzierung des Führerscheins ein Sparkassenbuch anlegen sollte. Als das Handy in der Sakkotasche vibrierte, machte er sich nicht die Mühe, nachzusehen, wer ihn anrief. Er wusste auch so, dass er zu spät war.

Mit schnellen Schritten überquerte er die Brücke und folgte den Veranstaltungsplakaten mit wegweisenden Pfeilen zur Erotikmesse. Bei der einsetzenden Dunkelheit führte ihn sein Weg an der Olympiahalle vorbei. Am Ernst-Curtius-Weg traf er auf Skater und Longboarder, die mit Stirnlampen Kunststücke vollführten. Der lange Fußmarsch begann ihn zu ärgern, als er endlich das Einsatzzelt mit gespenstisch strahlender Beleuchtung an der Böschung neben dem Fußweg entdeckte.

Es war nicht seine Art, derart verspätet an einem Tatort zu erscheinen. Doch heute, spürte er, war das etwas anderes. Er fühlte den Unwillen, in das Gesicht eines Toten zu sehen. Egal, ob es Fremdverschulden oder ein Unfall gewesen war. Das Leben wollte er sehen, nicht den Tod untersuchen. Was ist los mit dir, alter Freund, sprach er in Gedanken zu sich und entdeckte dabei Sybille Ferner, die ihren Tatortkoffer zusammenpackte. Er wischte sich mit den Händen durchs Gesicht und sagte mit Blick auf den Toten neben dem bereitgelegten Leichensack: »Bismillahirrahmanirrahim«. Das tat er immer, wenn Allah und die Arbeit ihn mit einer Leiche konfrontierten.

»Brauchst du mich da unten?«, rief er Ferner zu, als er bereit war, sich des Falles anzunehmen.

»Hast du zehn Semester Medizin studiert oder ich?«, erwiderte sie angestrengt. »Todeszeitpunkt gestern Nacht, mehr erfährst du heute nicht mehr von mir.«

Demirbilek hatte keine Lust, sich einem Kompetenzkampf zu stellen. »Das Plastik im Mund?«, wollte er trotzdem wissen.

»Gibst nie auf, Zeki, so kenne ich dich. Willst du nicht selbst schauen? Letzte Chance, wir sind so gut wie fertig hier.«

»Nein, danke. Foto- und Videodokumentation reichen mir ausnahmsweise. Lass ihn abtransportieren. Also, ich höre?«

Ferner streckte sich in die Höhe und schüttelte die Beine, die wohl vom langen Knien überanstrengt waren. »Nagelneuer Dildo im Mund und elektrische Penispumpe unter der Jogginghose, ebenfalls neu. Das Ding lief noch, als er von dem Skater gefunden wurde. Den Rest lass dir von deinen Edelhiwi erzählen. Mich nervt es, alles zweimal zu berichten! Leipold ermittelt vorne im sündigen Paradies.«

Kurz darauf entdeckte Demirbilek seinen Kollegen am Vorplatz der Halle, die die Erotikmesse beherbergte. Pius Leipold und er waren etwa gleich alt. Mit Anfang vierzig standen sie beide mitten im Beruf und kannten sich seit einigen Jahren. Der Vollblutmünchner stand neben einem protzigen Van, der mit schreiender Lackierung für eine »Lesbenshow« als Highlight der Erotikmesse warb. Mit Zigarillo zwischen den Fingern lachte Leipold im Gespräch mit einem lederbehosten Mann, der eine auf modern designte Lodenjacke trug. Die zwei passen ja hervorragend zusammen, murmelte Demirbilek vor sich hin. Wenn er etwas nicht leiden konnte, waren es Traditionalisten, die vorgaben, mit der Zeit zu gehen. Ihm fiel die Werbekampagne »Lederhose und Laptop« des Freistaates Bayern ein. In den abgebildeten Grinsvisagen hatte er nichts Modernes gelesen. Eher unterstellte er den Trachtenträgern, nicht in der Lage zu sein, den Einschaltknopf des Laptops zu finden. Bitte, Allahım, flehte er gen Abendhimmel, lass mich sanftmütig und gutherzig sein, lass mich Leipold nicht anschreien und zusammenstauchen.

»Pius, du hinterhältiger Tatortdieb, schleichst dich auf der Stelle!«, plärrte er trotz gegenteiliger Absicht den Kollegen an.

»Immer schön ruhig, der Herr Pascha«, rief Leipold zurück. »Wo bleibst du denn?«

Demirbilek ging auf ihn zu. »Was treibst du hier?«

Leipold verabschiedete sich von dem Lodenjackenträger und schritt Demirbilek entgegen. »Willst du dich in der Halle nicht umschauen? Schon interessant, was es so alles gibt, damit Männlein und Weiblein Spaß miteinander haben.«

»Juckt mich nicht, Pius. Mach dich nützlich, wenn du schon da bist. Was ist passiert? Du weißt Bescheid, sagt Ferner, und du hast sie auf die Palme gebracht. Lass das!«

Leipold schnippte Asche vom Zigarillo ab und holte Atem. »Die kann aber auch eine Zicke sein«, rechtfertigte er sich. »Ich wollte nur wissen, was sie schon weiß. Aber unsere Frau Doktor vermutet nicht, kennst sie ja. Mir ist noch ganz schlecht vom Anblick des Toten.« Betroffen schüttelte er den Kopf. »Die Ferner hat Faserspuren am Handgelenk sichergestellt, vielleicht war das Opfer gefesselt. Möglicherweise mit einem Spezialseil für Sadomaso-Spielchen. Ich habe mich kundig gemacht. An den Ständen gibt es die in allen möglichen Varianten. Schwarz, rot, bunt, kurz, lang …«

»Kauf einen Satz für dich und Elisabeth. Die fesselt dich ganz bestimmt! Aber nicht ans Bett, sondern an den Beichtstuhl!«, amüsierte sich Demirbilek über die Vorstellung, wie das gutbürgerliche Ehepaar sich mit Sexspielen vergnügte. »Weitere Spuren?«

Leipold grinste, ohne Demirbileks versteckten Hinweis auf seine eheliche Untreue zu kommentieren. »Dildo und Pumpe waren neuwertig, beides gängige Modelle, glaubt Ferner. Woher sie das weiß, habe ich mich nicht getraut zu fragen. Der kriminaltechnische Bericht folgt, wie immer dauert es bei der Chefin der Laborratten, bis sie was freigibt. Todesursache könnte Genickbruch sein, so, wie er dalag.« Er räusperte sich und lutschte am Zigarillo. »Der Herr eben in dem schicken Lodenjanker ist der Veranstalter der Messe. Heute ist der letzte Tag. Er hat gefragt, ob er die Besucher einlassen darf.«

»Kommt darauf an, wer die Ermittlung leitet. Du hast dich ja offenbar gut verstanden mit ihm«, meinte Demirbilek. »Wissen wir etwas über die Identität des Opfers? Bist ja schon eine Zeit lang hier.«

»Spar dir deinen Sarkasmus, Jale ist dran. Sehr wahrscheinlich war unser Toter ein Messebesucher. Die arme Sau gehört nicht zu dem privaten Sicherheitsunternehmen und nicht zu den Mitarbeitern des Veranstalters. Bislang ist nichts Verwertbares bei den Befragungen herausgekommen.«

»Was ist mit den Wertsachen des Opfers? Geldbeutel, Handy? Ist er bestohlen worden?«

»Mensch, Zeki, hätte ich dir nie und nimmer vorenthalten, weißt doch, wie gut ich dir zuarbeite«, presste Leipold hervor. »Schon sind wir da, wo ich nicht sein wollte. Deine Migra-Mädels behandeln mich nicht besser!«

Demirbilek zuckte mit den Achseln. »Wir haben dich nicht eingeladen, uns bei dem Fall zu unterstützen. Hast du nichts anderes zu tun?«

Leipold verschluckte etwas Rauch und hustete ab, bis er wieder sprechen konnte. »Genug sogar. Der Herkamer kümmert sich um alles, er macht das sehr ordentlich. Kein Wunder, hatte ihn ja lange genug unter meinen Fittichen.«

»Hatte?«

Leipold drückte den Zigarillo aus und bot ihm das geöffnete Etui an. Demirbilek lehnte ab und verfolgte, wie Leipold einen weiteren Zigarillo entflammte. Er paffte nervös und fragte: »Die Chefin hat also nicht mit dir geredet?«

»Ich hatte heute einen Termin bei ihr. Sie hat ihn kurzfristig auf morgen verschoben. Warum?«

Leipold sog und zog und presste den Rauch in die Lungen und entließ eine Dampfwolke wie aus einer Monster-Shisha in die Abendluft.

»Chef! Da bist du ja, ich habe dich angerufen«, hörten die Kriminalhauptkommissare plötzlich Jale Cengiz’ Stimme und drehten sich gleichzeitig zu ihr um.

Natürlich meint sie mich, nicht Leipold, der von seinen Mitarbeitern auch so genannt wurde, sagte sich Demirbilek. Er spürte, wie nun doch Lust und Neugier aufkamen, sich des makabren Todesfalles anzunehmen.

Die junge Migra-Beamtin, die nach ihm geschrien hatte, lugte mit schwarzen kurzen Haaren durch die Glastür. Sie trug eine durchlöcherte Jeans und ein eng anliegendes Achselshirt, das ihre Hennatattoos auf den Armen zur Geltung brachte. Das Holster mit der Dienstwaffe lag an der schmalen Taille. Kein Bauchansatz war zu sehen, obwohl sie eine schwere Schwangerschaft und Geburt hinter sich gebracht hatte. Der Büstenhalter schimmerte durch den Stoff, wie er von Weitem sehen konnte. Dass Leipold das ebenfalls zu Gesicht bekam, passte Demirbilek nicht.

»Zieh dir eine Jacke über, Cengiz! Du läufst herum, als würdest du gleich einen Striptease hinlegen. Du bist im Dienst!«, rief er ihr zu. »Was gibt’s?«

Aus der Entfernung konnte Demirbilek nur ahnen, wie die impulsive Beamtin aus Berlin, die mit seinem Sohn Aydin zusammen gewesen war, die Wut über seine Zurechtweisung unterdrückte. Im Privaten hätte sie jetzt dagegen gewettert oder ihn mit türkischen Flüchen bedacht. Im Dienst jedoch hielt sie sich in der Regel an seine Anweisungen, schließlich war er ihr Vorgesetzter.

»Die Jacke ist im Auto, außerdem ist es brutal warm in der Halle, Chef!«, erklärte sie und schob laut hinterher: »Kommst du? Ich habe die Aussage eines Sicherheitsmannes. Da war gestern Abend ein Vorfall mit dem Opfer.«

Inzwischen hatte Leipold den Eingang bereits erreicht. »Ich finde dein Outfit super, Jale. Du siehst aus wie ein sexy Amicop aus den US-Serien.«

»Ach, du Scheiße«, staunte Cengiz. »Warum so freundlich? Hast du wieder etwas ausgefressen? Bist du wieder strafversetzt zur … wie nennst du uns? Migrantenbrigade, oder?«

»Niemals!«, entgegnete Leipold und zwängte sich an ihr vorbei in die Halle.

Nun erreichte auch Demirbilek sie und legte ihr sein Sakko über die Schultern. »Dafür koche ich heute Abend auch Zitronenhuhn. Okay? Für Memo lasse ich das Paprikapulver weg. Er liebt mein Zitronenhuhn, weißt du doch«, versetzte er der staunenden Kollegin, die er aus tiefstem Herzen gernhatte. Nicht nur, weil Jale Cengiz die Mutter seines Enkelsohnes Memo war.

6

In Demirbileks Sakko führte Oberkommissarin Cengiz die Männer durch die Messehalle, vorbei an bunt bestückten Ständen, Werbeaufstellern und emsigen Menschen, die sich auf den abendlichen Ansturm der Besucher vorbereiteten. Das ist eine graue Welt, dachte Demirbilek, trotz der farbenfrohen und fröhlich wirkenden Stimmung, die ihm suspekt vorkam. Wahrscheinlich rührte der Eindruck von dem zerschlissenen Teppichboden her, grau und schmutzig wie das Image der Sexbranche, dem die Händler angehörten.

Er bemerkte eine Frau, die ihn an seine betagte Bäckerin erinnerte. Sie wedelte mit einem Staubfänger Päckchen für eine erotische Tombola sauber. »Keine Nieten, jedes Los ein Gewinn«, war auf einem Banner über den Verkaufstischen zu lesen. Als Trostpreis winkte eine Minitube Gleitmittel, worin der Hauptgewinn bestand, konnte Demirbilek nicht ausmachen. Er hatte Mühe, Cengiz mit ihrem beachtlichen Tempo zu folgen. Beim Vorbeigehen zwinkerte sie einer Dirndlträgerin mit grün gefärbten Haaren zu, die einen Stand mit sexy Überraschungstüten betreute. Zu erwerben gab es Stofftaschen mit Füllungen für ihn und welche, die für sie vorbereitet waren. Die teureren und aufwendiger verzierten Taschen waren für ihn und sie bestückt. Unweigerlich versuchte Demirbilek zu ergründen, womit Paare die Lust am Sex aufrechterhielten.

»Die im scharfen Dirndl ist Tatjana, kommt aus der Ukraine, studiert Architektur«, erklärte Cengiz den Kommissaren, wobei sie zwischen Kleiderständern mit bizarrer Unterwäsche und Nachthemden hindurchtrabte. Eine in die Jahre gekommene Brünette mit Lackkorsett, deren hervorquellende Brüste zu platzen drohten, betreute den Verkaufsstand.

»Und das ist Angelique aus Milbertshofen. Alles Einzelstücke, was auf den Ständern hängt. Entwirft sie selbst«, wurde Demirbilek von Leipold gewissenhaft informiert, der ebenfalls Mühe hatte, mit dem Tempo der vorauseilenden Kollegin mitzuhalten. »Ich habe sie befragt, den armen Kerl kennt sie nicht.«

Demirbilek nickte anerkennend, weil er das Gefühl hatte, sein Kollege erwarte eine wohlmeinende Reaktion für den Fleiß, den er an den Tag legte. Er war gespannt auf die Erklärung, die er ihm für das Engagement bei der Ermittlung nachreichen würde.

Die Gruppe marschierte an der Showbühne vorbei zu den Garderoben. Als die Beamten den von Neonlicht erhellten, betörend nach Kaffee duftenden Raum betraten, erwartete sie eine vielleicht dreißigjährige Frau mit blondierten Haaren. Die Tänzerin saß mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und schminkte sich das Gesicht, während sie ihr Baby stillte.

Die Männer zeigten gute Manieren und blickten zu Boden, während Cengiz auf die Zeugin zuging.

»In einer Stunde werde ich sowieso begafft, sparen Sie sich das Getue«, sagte die Tänzerin, ohne die Augen von ihrem Spiegelbild zu nehmen.

»Soll ich die Kleine halten?«, fragte Cengiz sie, da das Baby gerade mit selig verdrehten Augen zu trinken aufhörte.

»Ja, mein Täubchen, das wäre ganz fein«, bedankte sie sich und wandte sich ihrer Tochter zu: »Mama muss sich hübsch machen, stimmt’s, Sophiechen?« Mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn übergab sie das Baby der Polizeibeamtin.

»Also, was führt uns hierher, Jale?«, fragte Demirbilek.

»Zeigst du es ihm, Duygu?«, bat Cengiz die Mutter, während sie das Baby sanft hin und her wog.

Bei dem Namen runzelte Demirbilek die Stirn. Auf eine Nackttänzerin mit türkischen Wurzeln zu stoßen überraschte ihn. »Türk müsünüz?«, fragte er sie. Ungewollt legte er etwas Abwertendes in die Stimme.

Der böse Augenaufschlag, den er von der Tänzerin dafür erntete, war nicht zu übersehen. Offenbar fühlte sie sich vom Kommissar kritisiert. »Ein türkischer Vater genügt mir, der mir das Leben zur Hölle macht. Kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Vorhaltungen!«, zischte sie und schob das Top über die Brust. »Nehmen Sie sich ein Beispiel an Jale, die hat mich gefragt, wer sich um mein Baby kümmert, wenn ich auftrete, und nicht, ob ich eine türkische Tochter bin, die auf den falschen Weg geraten ist!«

Demirbilek tauschte einen Blick mit Cengiz, die über die Worte der Tänzerin schmunzelte. Am liebsten hätte er ihr das Baby abgenommen. Er sehnte sich geradezu danach, ihr oder Leipold die Vernehmung zu überlassen und stattdessen mit Memo im Kinderwagen um den Olympiasee spazieren zu gehen.

»Falsch nicht, aber für richtig halte ich das, womit Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten, dennoch nicht. Belassen wir es dabei, ich sehe, wie sehr Sie Ihre Tochter lieben.«

Die Tänzerin drehte sich vom Spiegel weg. Sie kämpfte mit den Tränen, sah zu Cengiz und zurück zum Kommissar. »Ist Jale Ihre Tochter?«, fragte sie ihn mit fester Stimme.

»Nein, aber ich wäre glücklich, wenn es so wäre. Meine Tochter lebt derzeit in Istanbul«, erwiderte er.

Cengiz schien betroffen über Demirbileks offene Worte. Der verstand sehr wohl, weshalb er sich auf eine private Diskussion mit der Tänzerin einließ. Er glaubte fest an Begegnungen im Leben, die, wenn nicht vorherbestimmt, so doch unausweichlich waren. Duygu war eine starke Frau, die als Mutter für das Wohl ihrer Tochter kämpfte. Aufgrund der eigenen Erfahrungen in dem Demirbilek’schen Durcheinander war er interessiert an Lebenswegen deutsch-türkischer Familien. Er hatte großen Respekt, wie die Mutter das Leben meisterte und für ihr Kind sorgte, trotz eines Vaters, der offenbar kein Verständnis für sie und das Baby aufbrachte.

»Sie haben recht, Komiser Bey, belassen wir es dabei«, sagte Duygu und wischte mit dem Handballen die Tränen aus den Augen. »Jale hat mir ein Foto gezeigt. Der Mann war gestern Abend hier in der Garderobe. Keine Ahnung, wie er sich an der Security vorbeigeschlichen hat. Zutritt für Gäste ist verboten. Wir haben recht zudringliche Fans, die mehr als nur ein Selfie als Wichsvorlage mit uns machen wollen.«

Demirbilek räusperte sich über die offenherzige Ausdrucksweise und spürte ein Unwohlsein.

Cengiz meldete sich zu Wort: »Eine Tänzerin hat der Security Bescheid gegeben. Der Sicherheitsmann hat vorhin die Schicht angetreten, ich habe seine Aussage aufgenommen. Er musste das Hausrecht ausüben, weil das Opfer die Garderobe nicht verlassen wollte. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Nach der Rangelei hat sich der Mann beruhigt und sich zum Ausgang führen lassen. So was kommt vor, meinte der Sicherheitsmann, nichts Ungewöhnliches, deshalb hat er keine Meldung gemacht. Die Personalien hat er leider auch nicht aufgenommen.«

»Gibt’s Videoüberwachung am Eingang?«, fragte Demirbilek nach.

»Nix, niente, na ja, wundert einen nicht, oder?«, schmunzelte Cengiz. Mit dem Baby auf dem Arm trat sie in eine Ecke der Garderobe und deutete mit einer Schuhspitze auf den grauen Teppichboden. Ein dreieckiges Plastikstück lag dort. »Ich habe nach Duygus Vernehmung das hier entdeckt. Der Tote könnte es bei der Rangelei verloren haben«, erklärte sie. »Damit die Herren Chefs das persönlich in Augenschein nehmen können, habe ich es liegen gelassen. Spurensicherung ist verständigt. Die Kollegen kommen, wenn sie bei der Böschung fertig sind.«

Mit einem Murren quittierte Leipold Demirbileks Aufforderung, das Beweisstück zu sichern. »Hast du einen Beutel, Jale?«, fragte er sie.

Cengiz verneinte. Die Tänzerin half mit einem verschließbaren Beutel aus. »Habe ich für Sophiechens Windeln immer dabei«, meinte sie und bückte sich, um das Plastikstück aufzuheben.

»Das mache ich«, hielt Leipold sie zurück und stülpte den Beutel um die Finger, um keine Abdrücke auf dem Beweismittel zu hinterlassen.

Duygu hatte sich für ihren Auftritt fertig umgezogen. Leipold unterdrückte den Drang, der Tänzerin zu ihrem gewagten Outfit zu gratulieren. Wie er bei Angeliques Befragung gelernt hatte, trug sie einen Monokini, einen Badeanzug, der viel verhüllte, gleichzeitig wesentliche Partien nackte Haut betonte. Stattdessen fragte er: »Das gehört nicht Ihnen oder einer Ihrer Kolleginnen?«

»Ich spiele nicht Gitarre und die anderen, soviel ich weiß, auch nicht.«

Demirbilek nahm Leipold den Beutel ab und beäugte durch das Plastik das Plektrum, auf dem ein verkratztes Logo zu sehen war. »Wenn der Besitzer nicht mit Handschuhen Gitarre gespielt hat, finden wir etwas, was uns weiterbringt. Danke für Ihre Hilfe«, sagte er an die Tänzerin gewandt, dann nahm er den Geldschein, den er vor dem Streit mit der Zeugin aus der Hosentasche geholt hatte. »Erlauben Sie, bitte? Müsaade eder misiniz?«

Die Tänzerin nickte ihr Einverständnis mit einem versöhnlichen Lächeln. Demirbilek wusste, sie würde seine Geste richtig verstehen, würde den Fünfzigeuroschein, den er dem Baby in den Strampler steckte, nicht als Almosen werten. Es war Brauch in der Türkei, Neugeborene mit Geld, einer Goldmünze oder einem nazar boncuk, einem Amulett, das vor dem bösen Blick schützen soll, auf der Welt zu begrüßen. Zum Abschied gab er dem Baby ein Küsschen auf die Stirn.

»Du, Jale, verhörst den Sicherheitsmann noch mal, frag ihn, ob ihm etwas aufgefallen ist, ob jemand dem Opfer vielleicht gefolgt ist«, befahl er Cengiz, und zu Leipold sagte er: »Du händigst das Beweismittel der Spurensicherung aus. Dann besorgst du mir einen Espresso, wenn es einen gibt. Und schick Isabel in die Gerichtsmedizin, sie soll bei Ferner Dampf machen. Ich will heute noch Ergebnisse, egal, wie spät.«

Mit den Worten verabschiedete er sich bei der Tänzerin und verschwand aus der Garderobe, gefolgt von Leipold und Cengiz, die nichts zu seinen Anweisungen hinzuzufügen hatten.

7

Die Hände in den Taschen des Laborkittels vergraben, brachte Sybille Ferner mit ein paar deftigen Bemerkungen die Kommissarin aus der Fassung. Vierkant atmete durch und ließ sich schniefend auf den Stuhl vor dem Labortisch fallen.

»Wehe, du heulst mir etwas vor, Isabel!«, warnte Ferner sie und reichte ihr aus dem Kleenexspender ein Tuch.

»Ganz bestimmt nicht!«, versicherte Vierkant ihr schnell und schnäuzte sich die Nase. »Der Chef weiß ja, dass du eigen bist, was Arbeitszeiten betrifft. Er wollte mich bestimmt auf die Probe stellen.«

»Dich auf die Probe stellen? Was der immer für Ideen hat!«