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Sinai ist Malerin, Mitte dreißig und lebt in Berlin. Seit einem Jahr ist sie mit dem Ingenieur Marek zusammen und verbringt immer mehr Zeit auf seinem alten Weingut in der Pfalz. Bald geraten Sinai und Marek in ein erstes Gewitter: Marek stört sich plötzlich an Sinais lässigem Umgang mit ihrem Aussehen. Sinai hingegen findet Mareks Perfektionismus anstrengend und beginnt, von anderen Männern zu träumen. Derweil gestalten beide ihr Leben, reisen, genießen und arbeiten. Sinai ist mit einer anstehenden Einzelausstellung beschäftigt, die lang schlummernde Erinnerungen in ihr wachruft. Und Marek, dessen Arbeitsvertrag bei einem Rennwagenhersteller ausläuft, bewirbt sich in Warschau. Wird es Sinai und Marek gelingen, ihre Krise zu überwinden? Und können sie einander überhaupt so lieben, wie sie es sich erträumen?
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Seitenzahl: 376
Xóchil A. Schütz
Alleine zu sein ist ja saubequem. Wenn es mich nicht irgendwann zu traurig gemacht hätte, wäre ich immer alleine geblieben. Jetzt bin ich nicht mehr alleine, und jetzt ist es auch nicht mehr bequem, denn Marek, den ich mir zum Nicht-mehr-alleine-Sein ausgesucht habe, mag Frauen, die sich für ihn Arbeit machen.
Am Ende machen alle Männer Arbeit. Wenn man sie nicht lieben würde, wären Männer für Frauen keine gute Investition.
Aber die Liebe ist ja etwas Süßes, Bedeutendes, sie hat das Talent, ein verfranstes, verwaschenes Leben farbig, klar und passend zu machen. Und zur Liebe gehören die zwei Körper, die das Schönste überhaupt zusammen machen – Liebe. Und jetzt bin ich seit einem Jahr mit Marek zusammen, und anstatt mich göttlich ins Glück zu rücken (mich entzückend zu ruckeln und zu rucken), schläft er, trinkt er, raucht er. Gibt’s doch gar nicht! Für Langeweile bin ich zu jung und zu besessen.
Nachts träume ich von anderen Männern. Und tags meckert Marek. Dass ich zwei Kilo zugenommen habe – er tut dabei so, als seien es zwanzig –, dass ich mir die Beine nicht täglich frisch und komplett für ihn rasiere und dass ich nicht nur im Röckchen und Blüschen durchs Haus springe, sondern Jeans trage. Es ist unglaublich. Es ist Marek. Perfektionist vor dem Herrn, aber selbst nicht perfekt.
Erstes Kapitel
Er spielt mit seinen großen Händen an mir herum, fährt mir durchs Haar, den Rücken hinunter, an den Schultern entlang – schnell, leicht, besessen.
Ich lächele die ganze Zeit und biege mich und winde mich. Ich tippele ein wenig vor, zurück, zur Seite, und er sagt leise irgendwelche schönen Dinge in mein Haar und lacht dabei sehr froh.
Wir stehen in der Kirche, gemeinsam mit hundert Bekannten, von denen die meisten wissen, dass wir beide anderweitig gebunden sind, und ich denke, ich sollte vorsichtig sein, aber Karmell sorgt sich gar nicht, er spielt, und Spiel ist seine Natur; und meine auch, das spüre ich.
Ich reibe mich am riesigen Karmell, der wahrscheinlich nur einen Meter neunzig groß ist, aber ich bin ja klein, und für mich ist Karmell ein riesiges Tier, das es glücklich macht, mich an sich zu ziehen, an mir zu riechen, und vor allem, mich zu berühren.
Ich strahle ihn irgendwann glücklich an.
»Du bist schwanger von mir«, sagt er strahlend.
»Was?«, sage ich.
Wir haben nicht zusammen geschlafen.
»Du bist schwanger von mir«, sagt Karmell noch einmal. »Ich sehe das. Ich seh das sofort, Sinai.«
Wir stehen weiter in der dämmrigen, warmen Kirche und warten auf den Beginn der Zeremonie.
Habe ich mit Karmell geschlafen? Vorhin? Gestern? Bin ich betrunken und habe ich es vergessen?
Nachher kommt Marek. Ich werde heute Abend mit ihm schlafen. Und wenn ich dann ein Kind bekomme, dann könnte es auch von Marek sein.
Die Zeremonie beginnt, und wir haben hier eine Aufgabe: Wir müssen aus einem heiligen Werk vortragen.
Karmell ist wundervoll gekleidet. Er hat es geschafft, sich nebenbei ein kostbares Gewand überzustreifen.
Ich stehe in einer schlichten, schwarzen Leinenhose und einem langärmeligen, schwarzen Shirt neben ihm. Ich fühle mich underdressed und ziehe mich schnell um, was im allgemeinen Aufruhr zu Beginn der Zeremonie nicht auffällt.
Ich merke, dass irgendetwas an der Situation nicht stimmt. Aber Karmell strahlt, und sein hoher Körper ist geschmeidig und warm, und seine Hände sind mir treu, und so schiebe ich die Ungereimtheiten weg und denke: Wir sind Mann und Frau, aber begegnen uns wie Kinder: unvoreingenommen, völlig natürlich.
Dann wache ich auf.
Draußen ist es schon hell.
Ich kuschele mich in die Decke und zurück in meinen Traum.
Irgendwann schleiche ich ins Bad. Auf der Toilette sitzend lege ich meine Hände seitlich an meine Oberschenkel. An ihnen befindet sich Fleisch. Nicht viel, aber Fleisch. Und ich weiß, dass Marek an Frauenkörpern kein Fleisch mag. »Mach doch mal Sport«, sagt er mir öfter. Oder: »Du futterst ganz schön viel.«
In der Küche sehe ich, dass kein Brot da ist und auch kein Kuchen. Aber im Kühlschrank ist Milch, und auf ihm liegen Nektarinen.
Ich setze Milch auf und suche Grieß. Ich esse morgens gern gekochtes Getreide. Das hat mir Ludwig beigebracht, der das in Asien kennengelernt hat.
Ich stelle fest, dass ich nur noch einen winzigen Rest Grieß habe. Seit ich fast immer bei Marek bin, ist mein eigener Haushalt zusammengeschrumpft: Ich achte nicht mehr darauf, Nahrungsmittel nachzukaufen.
Zwei Nektarinen sind weich und reif. Ich wasche sie ab und schneide sie in die Milch, als sie siedet.
Marek legt Nektarinen in den Kühlschrank, er mag sie nur, wenn sie kalt und hart sind. Ich mag sie süß und saftig und warm. Und ich mag auch dahin in Urlaub fahren, wo es süß und saftig und warm ist, in den Süden.
Einmal war ich in den Tropen, das fand ich am schönsten. Diese dicke, feuchte Luft, von der man sich ganz umgeben fühlt. Ich fand sie so schön, dass ich nie die Klimaanlage anmachte, wenn ich einmal in einem Hotel war, in dem es eine Klimaanlage gab.
Marek dagegen will in den Norden reisen – nach Norwegen oder nach Kanada. Und er will auch nicht in Hotels. Erst recht nicht in welche, die billig sind. Marek will ein Ferienhaus mieten, und wenn er das Auto nicht mitnimmt, dann will er vor Ort eines leihen.
Marek weiß überhaupt sehr genau, was er will, und er sagt mir das auch sehr genau. Ich selbst bin eine Träumerin, aber wenn mir einer sehr genau sagt, was er will, und wenn ich sehr genau merke, dass ich das überhaupt nicht will, dann sage ich das auch einmal sehr genau. Aber meistens ist Marek genauer. Er ist der Meister der Genauigkeit. Er bügelt sogar seine Unterhosen, und die Handtücher und die Bettwäsche. So einer ist das, der Marek. Wenn ich ihn nicht lieben und begehren würde, würde ich sagen, er ist ein verzweifelter Spießer, ein fertiger Perfektionist, der mich anstrengt und fordert.
Aber ich liebe und begehre Marek, deshalb schüttele ich meistens nur den Kopf. Anstrengend ist er trotzdem. Und seit ein, zwei Wochen fühle ich mich überfordert. Vielleicht träume ich deshalb von Karmell.
Standard waren mit Marek in letzter Zeit auf jeden Fall solche Szenen:
»Was bist du denn für ein Mann, wenn du es nicht mal schaffst, eine Frau zu ficken, die ein paar Haare an den Beinen hat?!«, brülle ich.
»Darüber diskutiere ich nicht mit dir!«, brüllt Marek zurück. »Mich haben Haare an den Beinen schon immer abgeturnt, das ist einfach so, das ist nicht verhandelbar!«
»Wie?«, rufe ich. »Was passiert denn, wenn ich mir meine Beine nicht rasiere?«
»Dann müssen wir unsere Beziehung auf eine andere Ebene stellen!«
Ich verstehe dann gleich, was Marek meint: Dann gibt es keinen Sex mehr, dann sind wir nicht mehr Mann und Frau, dann wird er sich Sex woanders holen, dann ist es vorbei mit der Liebe.
Ich habe aber überhaupt keine Lust, mir bis ans Ende meines Lebens die Haare an meinen Oberschenkeln wegzumachen. Mir reicht es schon völlig, das an den Unterschenkeln zu tun. Das macht definitiv genug Arbeit. Es ist eben so: Ich liege lieber im Bett und träume, als meine Zeit mit etwas zu verbringen, das mir völlig unnötig scheint. Und bis auf Ludwig gab es in meinem Leben auch keinen Mann, der sich an den Haaren an meinen Oberschenkeln gestört hat.
Ich hatte mit meinen Haaren an den Oberschenkeln fabelhaften Sex mit fabelhaften Männern, warum soll ich also nun meine Oberschenkelbehaarung zeitintensiv entfernen? Warum werde ich mit Sexentzug gestraft und bedroht, wenn ich nicht mache, was Marek will?
Ist er wirklich so ein impotenter Zwerg?, denke ich wütend, dass er sich nicht mehr als Mann fühlt, wenn eine Frau ein paar Haare, ich meine: Härchen an den Beinen hat?
Ich seufze. Wenn Marek nicht anders kann, kann ich ihm den Gefallen auch tun. Vielleicht macht man so etwas aus Liebe.
Das Problem ist nur, dass ich mich mit meiner ganz normalen Oberschenkelbehaarung als Frau fühle. Und ohne Haare – vielleicht nicht, oder nicht ganz. Ich habe dann Angst, Marek will in Wirklichkeit ein Mädchen ficken. Und diese Vorstellung ist mir unangenehm, ich finde sie beängstigend. Schließlich will ich Kinder. Da will ich selbst eine Frau sein, kein Mädchen. Und da kann ich gewiss keinen Mann brauchen, der ein Mädchen ficken will.
Bestimmt tue ich Marek unrecht, und er will gar kein Mädchen ficken. Aber bevor ich mich von ihm schwängern lasse, sollte ich das wohl herausfinden. Da eine meiner besten Freundinnen als Kind missbraucht worden ist, ist mein Misstrauen nicht vom Himmel gefallen. Denn wenn ich Lona beobachte, denke ich manchmal, sie muss sich immer wieder aus der Hölle befreien, in der sie zu ersticken droht.
Ich sollte mit Marek über meine Angst reden. Aber seit gestern bin ich bei mir, in meiner kleinen Wohnung in Berlin. Und er ist in Hof Beeren, in seiner beschaulichen Kleinstadt in der Pfalz. Aber unzufrieden mit unserer Beziehung sind wir momentan beide.
Ich zumindest liebe Sex, ich kann ohne Sex nicht leben. Ich mag es, wenn Hände mich fassen, mit mir spielen, beim Gedanken daran fange ich an zu beben, mein Atem geht schneller, und ein warmes Gefühl drängt in meinem Bauch nach oben, und es fühlt sich gut an, so gut, und es soll weitergehen.
Und wenn ich dann aber an Marek denke, dann denke ich daran, dass wir kaum noch Sex haben. Immer ist er müde. Dann kippt er sich abends ein paar Bier rein und schläft ein. Und wenn wir doch einmal Sex haben, jammert er herum, dass ich stachele oder beim Rasieren ein paar Haare an den Schenkeln vergessen habe. Und dann schüttele ich verzweifelt den Kopf und bleibe unbefriedigt, und er auch.
Natürlich war es mit Marek und mir nicht immer so. Aber irgendwie ist es so geworden.
Gestern rief mich Turid an und weinte fast. Sie sagte, sie sei völlig fertig, weil sie seit zwei Jahren alleine sei. Nicht einmal geknutscht habe sie in dieser Zeit. Da habe ich gedacht, dass meine Probleme doch irgendwie lächerlich sind. Und trotzdem: Ich will nicht weiter in einer unbefriedigenden Beziehung leben.
*
Ich weiß nicht, wieso es so ist oder kam, aber Männer massieren mich gerne. Wenn ich mit meinen Atelierkollegen unterwegs oder auf einer Party bin, dann passiert es öfter, dass ein Mann kommt, ein wenig um mich herumscharwenzelt und plötzlich seine Hände auf meine Schultern legt und sie dort bewegt, und zwar so, dass es mich bewegt.
Ich liebe es, massiert zu werden, vielleicht steht mir das ins Gesicht geschrieben oder auf den Körper, und manche Männer können das lesen, und die, die sich zutrauen, dass ich mich in ihre Hände begebe und sich das auch wünschen, fangen dann an und fassen mich an.
Karmell ist so ein Mann.
Er ist mit einer hinreißend schönen New Yorkerin verheiratet. So eine New Yorkerin, die jeden Tag ihren Nagellack neu macht, in zarten Designerfetzen über Partys und auf Tanzflächen schwebt und garantiert kein einziges Härchen am Körper hat, während ihre nussbraunen, weichen, leicht gelockten Kopfhaare ihr bis zum Hintern hinunterfallen.
Bella – eigentlich heißt sie Jordan, aber ich nenne sie Bella – wiegt so viel wie drei Fliegen, und neben ihr komme ich mir vor wie ein Sack erdiger Kartoffeln, die gerade aus dem Feld gegraben wurden.
Denn ich trage keine Designerklamotten, die Nägel lackiere ich mir nur selten, und mit den Haaren an meinem Körper nehme ich es schließlich auch nicht genau.
Als Karmell Geburtstag hatte, war ich mit Marek auf seiner Party. Wir standen uns eine Weile gegenüber, von Paar zu Paar. Und ich sah, dass Marek die schöne Bella länger ansah. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er findet sie umwerfend schön. Sie ist auch umwerfend schön. Nur wenn sie isst, sieht sie dämlich aus; dann kaut sie mit weit offenem Mund vor sich hin. Als ich das gesehen habe, war ich froh, dass wenigstens eine einzige Sache an der Bella nicht perfekt ist. Aber ich glaube, ein dämliches Gesicht hat noch keinen Mann beim Ficken gestört, und auch nicht beim Fantasieren.
Auf jeden Fall war ich nach dem Aufeinandertreffen von Bella und Marek frustriert. Ich habe gedacht, dass Marek viel lieber eine Frau wie Bella hätte, weil Bella so überaus gepflegt ist, und weil Marek sich auch so überaus pflegt. Ich habe dann gedacht, vielleicht passen Bella und Marek viel besser zusammen als Marek und ich. Und dann habe ich Angst bekommen, weil ich doch an Marek hänge, weil ich ihn lieb habe, und seine Liebe; weil ich ihn wahrscheinlich liebe. Ich habe dann gedacht, sie kommt mir abhanden, die Liebe von Marek. Und dann war ich eifersüchtig auf Bella, weil Bella alles richtig macht – zumindest in den Augen von Marek, könnte ich wetten. Und ich selber fühle mich dann wie ein Sack mit Kartoffeln, die man noch bürsten muss, bevor man sie schält.
Die Bella dagegen sieht so lecker aus, dass ich selbst gerne einmal an ihr lecken würde, sofort.
Wenn Marek nicht da ist, und ich sehe Karmell, dann fühle ich mich nie wie ein Sack Kartoffeln. Dann fühle ich mich wie eine sinnliche Frau. Wie eine Frau, die normal sein darf, weil sie schon dadurch besonders ist, dass sie eine Frau ist. Irgendwie fühlt sich das toll an. Und Karmell mag meine Kurven. Er fasst sie nicht an, nie, wegen Bella. Aber ich sehe, dass er sie gerne sieht. Und dann fasst er nach meinen Schultern und fängt an, mich zu massieren. Und dann sagt er: »Wir sind ja beide gebunden, aber irgendwie ist das doch schön.«
Und er hat recht, es ist schön und natürlich. Deshalb fühle ich mich auch nicht schuldig.
*
Meine Familie war nichts. Sie war nichts Gutes. Sie war nicht nur nichts Gutes, sie war meine Hölle.
Mein Vater war für mich der »Familienhitler«. So habe ich ihn heimlich genannt.
Mein Opa hieß Adolf. Er war Offizier unter dem anderen Adolf. Und dann kam er aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause und hat meinen Vater verprügelt, der damals ein kleiner Junge war. Und dann hat mein Vater seinen noch kleineren Bruder verprügelt. Und später, als er erwachsen war, hat er dann mich verprügelt, und meinen Bruder.
Mein Vater hatte sich spezialisiert auf Seelenprügel. Er mochte es, uns durch Worte und die Lage seiner Stimme zu vernichten. Wenn irgendetwas an seiner Frau oder uns Kindern nicht war, wie er es gewollt und deshalb für wichtig befunden hat, dann war es so weit.
Unsere Mutter war vielleicht an Vernichtung gewöhnt und hat sich deshalb nicht gewehrt.
Die Mutter ist schon fast vernichtet worden, als sie ein Kind war. Sie erlebte nämlich zu Ende des Krieges mehrere Bombennächte in Berlin, in denen alles brannte, über ihr, unter ihr, um sie herum. Einmal war meine Mutter mit ihrer Mutter auch mitten in einem brennenden Dachstuhl. Denn der Dachstuhl musste gelöscht werden, weil im Keller die kleine Schwester war. Und weil der Mensch überleben und nicht sterben will. Zumindest das Leben will überleben, und der Mensch macht dann mit, er kann in der Regel nicht anders.
Das ist alles sehr lange her. An mich hat damals noch keiner gedacht. Aber vor ein paar Jahren stand ich in Berlin im Mauerpark. Und an diesem Abend gab es dort einen überwältigenden Sonnenuntergang. Es war, als brenne der Himmel. Und da dachte ich plötzlich, ich stehe unter diesem Dach, unter dem damals meine Mutter stand, und es ist Krieg, und alles brennt.
Meine Mutter hat diese Bombennächte nur einmal erwähnt. Und doch war mir an diesem Abend im Park, als würde mich ihre Geschichte heimsuchen, mich benutzen, weil sie nicht anders kann.
Zu meinen Eltern habe ich seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ich habe all die Vernichtung und all das Ertragen irgendwann nicht mehr ertragen. Ich wusste damals, dass jemand sterben muss, die Eltern oder ich, wenn ich mich nicht von ihnen trenne.
Aber Liebe brauchte ich trotzdem. Viel Liebe. Ich brauchte ein Meer voller Liebe. Aber ich habe es nicht gefunden. Und dann habe ich mich mit eimerweise Halbliebe begnügt, die irgendwelche One-Night-Stands und Affären über mir auskippten. Es war so wenig echte Liebe, wie aus meiner Dusche echtes Meerwasser kommt. Aber es war besser als nichts. Und ich habe mich daran gewöhnt. So sehr, dass ich irgendwann Angst vor dem Meer hatte.
Wenn man immer die Eimer über dem Kopf ausgekippt bekommt, dann ist das nur eine halbe Sache, aber dann muss man auch nie schwimmen. Man verlernt das Schwimmen. Vielleicht hatte man es in Wirklichkeit auch nie gelernt.
Und dann, als ich ein paar Jahre älter war und um viele Eimer-Erfahrungen reicher, da wollte ich endlich ans Meer! Ich wollte endlich Liebe, richtige Liebe. Und dann habe ich es nicht hinbekommen. Dann war es entweder so, dass ich ins Meer gehen wollte und gemerkt habe, dass da doch bloß ein Eimer mit moderndem Wasser vor mir steht, der gerade umkippt. Oder ich habe gemerkt: Da ist das Meer. Ein stilles, tiefes Meer. Und dann bin ich am Meer entlanggelaufen, immer wieder, und habe gedacht: Wenn ich da reingehe, komme ich nie mehr raus! Dann kriege ich nie mehr heftig einen frischen Eimer über dem Kopf ausgekippt. Dann ist es vorbei mit dem Spielen. Dann muss ich immer in einem öden, stillen Meer schwimmen.
Ach nee, habe ich da gedacht. Und mich davongemacht. So war das mit mir und der Liebe. Und so war das mit mir und dem Eimersex, den ich dann wieder suchte, eine Zeit lang.
Natürlich wurde mir langweilig. Das Leben mit One-Night-Stands und Affären zu verbringen taugt auf Dauer nichts. Die Muster wiederholen sich, und unter der Dusche kommt man nicht voran, höchstens bis zum nächsten, nassen Kurzglück.
Und jetzt habe ich Marek. Und Marek ist ein Meer.
Ich habe mich auch vor Marek schon in mehrere Meere gestürzt. Ich bin jetzt 35 Jahre alt, da ist so etwas einfach doch passiert.
Einmal bin ich fast ertrunken. Ich war so gut wie tot.
Und ein paar Mal bin ich geschwommen, geschwommen, und nirgends angekommen. Da dachte ich immer: Ich sehe Land! Und dann war es nur eine Welle, die wieder verschwand. Mann, war das deprimierend! Man ist in Liebe, und ist es doch nicht.
Und dann, dann spuckte das Meer mich aus, das viel zu kalte und dunkle Meer, in dem ich gar nicht gefunden hatte, wonach ich auf der Suche gewesen war. Und dann konnte ich wieder in die Einöde wandern und darauf warten, ob ich einen mit einem Eimer traf.
Marek ist mein Sonnenmeer, in dem es auch manchmal stürmt und hagelt und prasselt und wogt. Ganz schön anstrengend ist das. Vor allem, weil ich zwar im richtigen Leben öfter schwimmen gehe, aber in der Liebe nicht daran gewöhnt bin. Dann denke ich plötzlich: War ich blöd! Warum bin ich nicht vor ein paar Jahren in dieses tiefe, stille Meer gestiegen, das ich damals regelmäßig gesehen habe? Natürlich: Weil es mir zu öde war, dieses tiefe, stille Meer.
Wenn man in einer Familie aufgewachsen ist, in der es Krieg und Vernichtung gab, unzählbare Varianten der Erniedrigung, dann läuft man danach nicht in ein stilles, ödes Meer; das hält man gar nicht aus. Man erträgt die Ruhe nicht. Man würde wahnsinnig werden, wenn Ruhe wäre.
Und dann, dann sucht man sich ein Marekmeer, das warm ist, aber auch kalt werden kann, und über dem es heftig stürmt. Man braucht wahrscheinlich die Stürme, auch wenn man es sich kaum eingestehen kann. Aber dann erklärt man sich: Ich brauche den Sturm, um ihn zu zügeln! Genau das, was ich nicht geschafft habe als Kind, das schaffe ich als Erwachsene! Ich nehme den Kampf an!
Dann ist man, wenn man Pech hat, zurück im Familienmuster. Obwohl man es doch gerade besser machen wollte!
Aber manchmal ist auch einfach nur Alltag. Zusammenleben und hoffen. Auf eimerweise Sex. Mitten im Meer. Wie soll das, bitte schön, gehen? Geht das?
Im Moment geht es nicht. Flaute im Marekmeer. Absolute Windstille am Meerbusen.
*
Mareks Schwester Renata hat einen Sohn, der, wie sie sagt, verliebt in mich ist. Ich liebe ihn auch, ich habe ihn lieb. Manchmal hilft Kai mir beim Backen oder beim Kochen. Natürlich hilft er nicht wirklich viel, denn er weiß mit seinen sechs Jahren noch nicht, was man wie macht.
Aber ich zeige es ihm manchmal ein bisschen. Und sonst steht er in meiner Nähe und plappert herum oder spielt liebevoll mit Hüpfi, Mareks Kater. Hüpfi heißt eigentlich nicht Hüpfi, Marek würde nie einen Kater Hüpfi nennen, aber ich nenne ihn Hüpfi, und Kai hat es übernommen.
Ich bin bei Marek in Hof Beeren und Kai ist wieder einmal hier. »Ich mag Hüpfi viel lieber als Pawel«, sagt er. Pawel ist der Nachbarskater, der sich gerne auf unserer Terrasse herumtreibt. »Pawel haut Hüpfi immer. Und Pawel ist ein Räuber. Hüpfi hat immer Angst vor Pawel. Deshalb mag ich Hüpfi lieber.« Und dann sagt Kai: »In der Schule geht es mir auch manchmal so. Der Ralf aus der zweiten Klasse, der schlägt mich manchmal, und er hänselt mich.«
»Oje«, sage ich. »Das darf der nicht!«
Ich muss daran denken, dass ich als Kind einmal von ein paar Jungen gehänselt wurde. Es war in einem Winter, und auf dem Schulweg haben sie mich mit vereisten Schneebällen beworfen und hässliche Dinge zu mir herübergeschrien.
Es hat mir sehr wehgetan, innen und außen, aber ich bin schnell nach Hause gelaufen und habe so getan, als mache mir alles nichts aus.
Kai und ich hören dann Musik und tanzen durch Mareks riesiges Haus. Wir tanzen, als könnten wir fliegen. Einmal alleine und einmal zusammen. Und Kai will mich gar nicht mehr loslassen. Auch nicht, als Renata klingelt, um ihn abzuholen. Renata, die Marek und mich wahrscheinlich nicht sehr mag, denn sie will fast nie hereinkommen und ist meistens distanziert. Aber vielleicht hat sie auch Angst vor uns oder glaubt, sie könnte stören.
Abends erzähle ich Marek, dass Kai unbedingt jede einzelne Ecke im Haus inspizieren wollte, und dass er alles begutacht hat.
»Als wir im Schlafzimmer standen, hat Kai mich plötzlich gefragt, ob er in unser Bett kriechen dürfe«, sage ich. »Er war barfuß und hatte wahrscheinlich keine sehr sauberen Füße. Und er hatte seine Straßenkleidung an. Aber ich hatte das Gefühl, als sei es Kai wichtig, genau jetzt in unser Bett zu kriechen. Und weil ich nicht wusste, ob du das nicht eklig findest, wenn Kai in dein Bett kriecht, habe ich ihm gesagt: ›Ja, mach ruhig. Aber leg dich auf meine Seite.‹ Da ist Kai ins Bett gekrochen, unter meine Decke, und hat gesagt: ›Hier fühle ich mich wohl.‹«
Marek findet es zum Glück nicht schlimm, dass Kai in unserem Bett gelegen hat. Marek ist ja so sauber: Deshalb hatte ich es befürchtet.
Dann denke ich daran, dass Kai ein zartes Geschöpf ist. Und dass Kinder immer auch schlechte Erfahrungen machen. Und dass Erwachsene gut auf sie achtgeben müssen, in der Weise, dass sie ihnen Liebe geben, Beziehung.
Ich denke daran, dass ich das selbst so nicht erlebt habe. Dass ich verängstigt in Betten lag, in Todesangst vor dem Vater und in Todesangst vor einem seltsamen Knistern, das ich nachts immer wieder gehört habe, und von dem ich nicht wusste, woher es kam und was es war.
Und wenn Marek heute keinen Sex will, dann ist das manchmal auch ein Zustand, den ich genieße: dass ich nachts keine Angst haben muss, wenn ich einfach nur schlafen oder geborgen sein will. Aber dann schaue ich Marek manchmal an, der das Essen schlingt und genießt, als sei es sein höchster Genuss. Und dann denke ich: Ich will doch lieber, dass ich sein höchster Genuss bin. Und dann bin ich traurig und auch beleidigt. Obwohl es eben Tage gibt, an denen ich froh bin, wenn Marek mich in Ruhe lässt und ich einfach neben ihm liegen kann und Wärme von ihm bekomme.
Und dann sagt Marek manchmal: »Du beschwerst dich über zu wenig Sex. Aber wenn ich das Gefühl habe, dass du mich als Mama willst, nicht als Mann, dann habe ich doch gar keine Lust auf Sex, dann ist das für mich auch komisch.«
Das verstehe ich, und das finde ich richtig.
Aber oft habe ich eben doch Lust auf Sex.
Und Marek hat gerade zu wenig davon im Angebot.
*
Es hat tagelang gewittert und war kühl. Und der Wind ist ums Haus gerauscht wie ein Meer. Aber jetzt scheint endlich die Sonne in Hof Beeren, und es ist warm und schwül.
Ich ziehe mir Schuhe an, verlasse das Haus und gehe in den Wald. Der Wald ist einsam und licht. Er erstreckt sich über Hügel und Täler. Ich streune gerne stundenlang durch die Natur.
Irgendwann steige ich einen schmalen, steilen Pfad hinauf.
Da sehe ich plötzlich einen Mann.
Ich war schon oft hier im Wald, und ich bin so tief in ihm erst ein Mal auf einen Menschen gestoßen.
Der Mann wirkt kaum älter als ich. Er ist schlank und groß und hat dunkles Haar. Und er hat einen Hund, der ist auch groß und schlank und hat glänzendes, dunkles Haar.
Der Hund sitzt mitten auf dem Weg und schaut mich an. Er sitzt einfach nur da. Und weil er groß ist und nicht mit dem Schwanz wedelt, bekomme ich Angst, an ihm vorbeizugehen.
»Macht der was?«, frage ich den Mann.
»Wahrscheinlich nicht«, sagt er. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen gefüttert.« Dabei grinst er schelmisch, und ich sehe, dass sein Mund schön ist. Ich finde ihn hinreißend. Den Mann und den Mund. Und ich habe gar keine Angst mehr vor dem Hund.
»Na dann«, sage ich froh und gehe an den beiden vorbei. Lieber wäre ich stehen geblieben, um mich dem Mann an die Brust zu werfen.
Auf dem Rückweg sehe ich die beiden plötzlich wieder. Mir pocht das Herz, und meine Knie werden weich. Der Hund jagt jetzt auf mich zu und beginnt, an mir zu schnüffeln. Ich bleibe stehen, denn ich habe doch wieder Angst vor ihm. Als Kind bin ich einmal gebissen worden, wahrscheinlich liegt es daran. Der Mann steht bald zwei Meter von mir entfernt und schaut mich an.
Niemand ist in der Nähe. Nur der Mann, der Hund und ich befinden sich auf dem stillen Weg.
Der Mann ist schön. Ich kann meinen Blick nicht von ihm wenden. Er sieht mich weiter an. Sein Blick ist stark, er saugt mich immer näher zu sich heran.
Ich denke, ich muss weitergehen. Doch ich bleibe stehen.
Am Wegrand steht ein Dornenbusch. Er hat dunkle, glänzende Blätter. Seine tiefroten Beeren schauen mich an, zusammen mit dem Mann. Der tritt einen Schritt an mich heran. Ich trete einen Schritt zurück.
Er verharrt und sieht mir in die Augen. Sein Mund ist weich. Sein Blick klar.
Er geht einen Schritt auf mich zu. Ich trete einen Schritt zurück. So geht das weiter. In Zeitlupe. Dann steht hinter mir ein Baum.
Ich bleibe vor seinem Stamm stehen. Und der Mann bleibt vor mir stehen, zwei Atemzüge von mir entfernt.
Ich habe das Gefühl zu fallen. Mir wird schwindlig, und durch meinen Körper läuft ein Schauder.
Der Mann tritt an mich heran. Ich kann ihn riechen; er riecht gut.
Dann legt er seine Hand an meinen Hals. Er streicht mit seinem Daumen meinen Hals entlang. Ich strecke den Hals; und er drückt ein wenig zu. Genau so stark, dass ich leise aufstöhnen muss vor Begierde, die sich über mich wirft wie ein Netz, in dem ich berauscht gefangen bin.
Ich schaue mich um. Niemand ist da. Nur der Hund sitzt einige Meter von uns entfernt und sieht mich an.
Und der Mann sieht mich an. Er greift mich plötzlich um die Taille, hebt mich an und drückt mich gegen den Baumstamm, der etwas schräg steht, sodass ich leicht nach hinten gelehnt am Stamm liege.
Ich habe plötzlich Angst und beginne zu zittern.
»Mmmm, du bist schön«, flüstert der Mann. Dann sagt er: »Ich muss dich fressen« und bekommt wieder diesen schelmischen Blick.
Ich rieche noch immer den Mann. Er riecht nach Mann. Er riecht auch nach Gewalt. Nach Naturgewalt, nicht nach böser Gewalt.
Ich schaue in die Baumwipfel, die sich langsam und gleichmäßig über mir bewegen.
Der Mann drückt sich langsam an mich. Ich spüre ihn durch mein Kleid und ringe um Atem.
»Du willst mich«, sagt er.
»Ja«, bricht es aus mir hervor.
Der Mann sieht mich an und genießt, dass ich kaum noch kann.
Er legt eine Hand an meine Brust. Er spielt zart an ihr. Ich wimmere, weil ich fast wahnsinnig werde. Irgendwann schreie ich auf. Der Mann öffnet seine Hose, packt sich aus und schiebt mein Kleid hoch. Er zieht mein Höschen beiseite und dringt in mich ein. Ich schreie. Während er sich in mir bewegt, hält er eine meiner Brustwarzen fest. Er dreht sie zwischen seinen Fingern. Ich bin kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Da zieht er sich aus mir heraus, hebt mich an und dreht mich um.
Ich ringe nach Luft. Er stößt mich rhythmisch, während er mich festhält. Ich spüre seinen Atem und muss wieder schreien, er ist schnell und hart und mein Blut rauscht laut, und ich sehe nichts, fühle nur, werde überwältigt und brülle, und während ich zucke, zuckt der Mann, mich durchläuft eine ganze Welle, und ich atme schwer und laut, und der Mann atmet schwer und laut, und ich lasse mich auf den Waldboden sinken, ins dichte Moos und auf ein paar kleine Kiefernzapfen, und der Hund liegt neben mir und schaut mich an.
Und die hohen Bäume rauschen …
Als mein Atem wieder gleichmäßig geht, als ich plötzlich fast müde werde, bewegt der Hund seine Schnauze plötzlich zu meinem nackten Fuß und beginnt, an ihm zu lecken. Es kitzelt und fährt mir direkt in den Bauch und erregt mich schon wieder.
Der Mann beobachtet es und sagt: »Wir sind ein Team, mein Hund und ich.«
Der Hund leckt nun an und zwischen meinen Zehen, und es macht mich fast wahnsinnig. Ich atme plötzlich wieder schwer, und der Mann greift mir in den Nacken und an den Hals, und dann schiebt er seine große Hand zu meiner linken Brust und umfasst sie. Ich beginne schon wieder zu wimmern. Ich winde mich auf dem Boden, was wegen der Kiefernzapfen sticht, aber ich spüre es kaum, weil mir ist, als sei ich nur noch aus Atem und Rausch und Wahnsinn, einem ganz erstrebenswerten Wahnsinn, der so groß ist, dass ich für immer wahnsinnig bleiben will.
Der Mann legt sich auf mich. Er ist schwer. Das macht mich noch verrückter, weil ich es manchmal mag, völlig machtlos zu sein.
Als er noch einmal in mich dringt, sehe ich den Himmel, über den weiße, schnelle Wolken ziehen, und die Baumwipfel schwingen dunkel und wischen die Wirklichkeit weg, völlig weg, und es gibt eine Wirklichkeit, die viel größer ist als die erste, eine, in der alles vollkommen, reich und unendlich ist. Ich weiß, das ist das Paradies, und mir ist, als könne mich nichts mehr aus ihm vertreiben.
Später laufe ich mit dem Mann und seinem Hund den Waldhügel hinab zu einem kleinen Wasserlauf. Eher torkele ich, so betrunken bin ich von tausend Gefühlen. Ich versuche, meine Füße sicher zu setzen, damit ich nicht stolpere.
Der Mann zieht sich aus und geht ins Wasser. Der Hund springt ihm hinterher. Ich stehe etwas unentschlossen am Ufer, zwischen hohen Bäumen, in grünem Klee.
Dann streife ich mir doch die Sandalen von den Füßen, plansche etwas im Wasser herum und schaue verlegen zu dem Mann, weil ich merke, dass man das, was wir taten, in Wirklichkeit gar nicht machen kann.
Der Mann lächelt. Mir ist, als lese er meine Gedanken. Irgendwann tritt er an mich heran. Er drückt mich zart ans Ufer und hinunter. Er steckt sich in meinen Mund und sieht mir mitten ins Gesicht. Ich ringe nach Luft. Er nimmt meinen Kopf mit beiden Händen und bewegt sich stark in mich hinein, sodass es mich ganz durchfährt. Ich zappele etwas, weil er mich so überrumpelt. Der Mann wird ein wenig sanfter und greift mir ins Haar, ohne aufzuhören, sich in mir ein Zuhause zu schaffen, das tief ist und ihm ganz gehört. Und der Hund beginnt, an meinen Schenkeln zu lecken, immer weiter nach oben.
*
Ja, ich hatte den Impuls, stehen zu bleiben, als ich den Mann auf meinem Rückweg noch einmal gesehen habe. Aber nein. Ich bin doch nicht stehen geblieben. Natürlich bin ich weitergegangen. So macht man das ja, im Wald, und wenn man in einer Beziehung ist.
Aber das Träumen, das stellt sich ein, ganz von alleine. Was wären wir Menschen ohne die Träume?
Zweites Kapitel
Wenn ich alleine in meiner Wohnung in Berlin bin und mir etwas besonders gut geschmeckt hat, lecke ich nach dem Essen den Teller ab. Bei David, meinem Bruder, dürfte ich das nie tun. Er würde erst sehr böse schauen, mir dann eine Moralpredigt halten und dabei noch streng mit dem Kopf wackeln. Bei Marek würde ich das auch nicht machen, dabei isst er oft wie ein Schwein. Er stützt die Ellbogen auf den Tisch, hängt mit dem Mund direkt über dem Teller und schlingt das zumeist feine und teure Essen in sich hinein wie andere einen Döner.
Ich will ihm das manchmal sagen. Aber Marek ist meistens so kontrolliert, dass ich dann wieder denke: Ist doch gut, wenn er wenigstens beim Essen entspannt ist.
Ich hatte oft Männer, die gerne und gut gekocht haben. Marek gehört dazu. Wahrscheinlich kocht er am besten von allen Männern, mit denen ich zusammen war. In seiner fabelhaft ausgestatteten Küche finden sich sicher zwanzig Kochbücher, und aus vielen von ihnen hat Marek für uns schon gekocht. Besonders mag er die kreolische Küche, die leicht, scharf und fruchtig ist, und in der man Fleisch und Fisch in wunderbaren Saucen schmoren lässt. Wenn Marek kocht, ist es jedes Mal ein Festmahl. Ich liebe seine Gerichte, und ich habe am Anfang unserer Beziehung nie gekocht, weil Marek es wunderbar kann, und weil er es gerne macht.
Mittlerweile bin ich aber immer wieder unzufrieden mit Marek. Ich mag nicht, dass er jeden Tag so viel Geld für Essen ausgibt. Und ich mag nicht jeden Tag essen, als sei Weihnachten oder Ostern – in der Karibik.
Natürlich habe ich mich gefragt, warum ich diesen Luxus nicht einfach genieße. Es ist aber so, dass ich will, dass es allen Wesen erst einmal gut geht, gut genug, dass jeder und jede Schönes erfährt, und wenn jeder und jede jeden Tag äße wie Marek und ich, dann gäbe es bald keine Tiere mehr auf dem Planeten, weil alle weggefressen wären. Ich finde es schön, sich öfter Gutes zu gönnen, aber es muss nicht jeden Tag sein.
Außerdem sehne ich mich mittlerweile nach einfachsten Gerichten. Ich mag manchmal nur Kartoffeln essen, oder Zucchini. Ich will gerade gar keine Geschmackssensation mehr an meinem Gaumen.
Ich mag oft auch Männer, die einfach sind. Es reicht mir, wenn sie ein T-Shirt tragen und eine Jeans, oder gar nichts. Und ich mag es, wenn sie Haare haben, von Haaren kann ich nicht genug haben bei Männern; zumindest von Haaren auf der Brust und dem Rücken, an den Beinen und Armen, unter den Achseln und unter dem Bauchnabel.
Marek hat die Untat begangen, sich vor unserer Beziehung die Haare auf dem Rücken weglasern zu lassen. Ich könnte ihn deshalb schlagen. Wenn ich mir vorstelle, er hätte auch auf dem Rücken das dichte Haar, das er auf der Brust hat, dann wird mir ganz heiß, im Bauch, überall.
Aber wegen Mareks Eitelkeit entgeht mir Sinnlichkeit.
Er raucht. Dann denkt er, dass er stinkt. Was er ja auch tut. Und dann küsst er mich nicht, weil er nicht will, dass ich ihn rieche und schmecke. Ich rieche und schmecke meine Männer aber gerne. Und Marek lässt mich dann nicht.
Genauso, wenn er getrunken hat, und Marek trinkt oft. Dann denkt er, dass er stinkt. Was er ja auch tut. Und dann küsst er mich nicht, weil er nicht will, dass ich ihn rieche und schmecke. Manchmal nimmt er dann ein Mundwasser. Das schmeckt zwar nicht schlecht, aber es schmeckt nicht nach Mann, weil Mundwasser nicht nach Mann schmeckt. Nur Männerspucke schmeckt nach Mann, und Männerhaut und Männersaft. Deswegen mag ich es nicht, wenn Männer mehr als ein bisschen rauchen und trinken, denn dann schmecken sie nicht mehr nach Mann, sondern vergiftet. Und dann will ich sie nicht mehr riechen und schmecken und schlucken.
Marek sagt, er raucht und trinkt, weil es ihn entspannt. Das glaube ich gerne, denn Marek ist meistens angespannt; und nachts träumt er schlecht und knirscht mit den Zähnen. Ich verstehe, dass er sich entspannen will, aber ich bin eine logische Person und denke, er muss die Ursache finden und beheben, anstatt die Symptome zu betäuben.
Wenn er sich kaputtrauchen und kaputttrinken will, dann muss ich ihn lassen, denn es gibt ein Recht darauf, sich kaputtzurauchen und kaputtzutrinken, habe ich kürzlich in der Zeitung gelesen: Das Recht auf Selbstzerstörung darf Menschen nicht genommen werden, das würde die Freiheit des Einzelnen einschränken, und ich sehe das ein, denn Freiheit ist ein hohes Gut, sie ist so wichtig wie Liebe.
Aber wenn Marek mich aus Scham nicht mehr küsst, wenn er raucht und trinkt, dann leide ich doppelt. Unter dem Geruch, der sich natürlich auch in meine Nase drängt, wenn Marek mich nicht küsst, denn er dünstet ihn aus. Und darunter, ungeküsst zu sein. Ungeküsst zu sein ist für mich, wie verlassen zu sein. Ich gehöre an einen Mund. Und wenn ich das denke, dann denke ich, die Liebe ist mir wichtiger als Mareks Recht und Freiheit, sich selbst zu zerstören. Aber wenn Marek damit nicht aufhört, vor allem, wenn er mich nicht küsst, dann muss ich anderswo küssen. Und mich wahrscheinlich von Marek trennen, denn ich will nicht mit Marek zusammen sein und anderswo küssen.
*
Um Mitternacht kommt eine E-Mail von Turid:
Ich habe mich für gleich zum Sex verabredet – mit einem Kollegen aus dem Studio. Das habe ich noch nie gemacht, ich bin sehr gespannt, aber habe ja nichts zu verlieren … Mal sehen. Hoffentlich kommt er auch wirklich – hierher, meine ich. Krass. Ich bin krass, ne?
Hammer, Turid!, schreibe ich zurück. Sehr gut! Saugeil! Ich drück dir die Daumen! Bin neidisch!
*
Am späten Vormittag ruft Turid an. Ich liege noch im Bett und gehe nicht ran, ich habe die ganze Nacht gelesen und bin noch völlig übermüdet. Als ich später zurückrufe, sagt sie:
»Es war halt Sex. Wie Sex ist. Wir hatten auch beide davor was gekifft und getrunken. Da war dann nichts peinlich. Ich hab einfach geredet, und dann hat er mich mitten im Satz geküsst.«
Nach dem Sex ist der Kerl nach Hause gefahren, und Turid war froh, dass sie in Ruhe schlafen konnte. Heute Abend kommt ihr Söhnchen nach Hause, das gerade bei seinem Vater ist.
»Aber Sex ohne Liebe«, sagt Turid, »da fehlt einfach etwas. Da fehlt mindestens die Hälfte. Felix hab ich damals ja geliebt, das war viel besser.«
»Das glaube ich dir sofort«, sage ich. »Aber wenigstens mal wieder Sex gehabt, das ist doch super.«
»Ja«, sagt Turid, »immerhin mal wieder Sex gehabt!«
Jetzt sehne ich mich nach Marek, trotz allem.
*
Meine Liebe zu Marek begann wahrscheinlich in dem Moment, als er mich zum ersten Mal geküsst hat.
Es war ein besonderer Kuss. Und ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass er nach Rauch oder Alkohol geschmeckt hat. Ich weiß nur, er hat gut geschmeckt. Und ich weiß, dass Marek da gar keine Angst hatte, nach Rauch oder Alkohol zu schmecken. Oder wenn er Angst hatte, dann war der Wunsch, mich zu küssen, größer.
Wenn Marek mich heute kaum noch küsst, dann ist seine Angst wohl größer als seine Lust. Das macht mich traurig und unzufrieden. So traurig, dass ich ganz traurig gucke und irgendwie zusammensinke und am liebsten einschlafen will.
Denn Mareks erster Kuss war vielversprechend. Aber das, was er versprochen hat, das hat sich nicht erfüllt, bisher. Die Erotik ist uns flöten gegangen. Sex mit Marek findet kaum statt, und wenn, dann ist er jedes zweite Mal so ermüdend, dass ich mich frage, wann er vorbei ist.
Marek geht es offenbar nicht anders. Als er einmal betrunken war, sagte er, unser Sex sei mechanisch; das kenne er nicht aus anderen Beziehungen. Und er frage sich, ob ich mich überhaupt auf ihn einlasse.
Da habe ich geschluckt. Mich zum ersten Mal gefragt, ob der schlechte Sex auch an mir liegt.
Doch ich begehre Marek. Trotz Nikotin und Alkohol. Trotz seiner Angewohnheit, vor dem Sex, nach dem Sex und überhaupt zweimal täglich zu duschen, sodass ich Marek nie in Reinform rieche, sodass ich den Geruch seines Körpers bis heute nicht kenne, sodass wohl kein einziger Sexuallockstoff es bisher in meine Nase geschafft hat.
Es ist ein Wunder, dass ich Marek begehre; einen Mann, den ich nicht rieche, den ich nur als Duschgel-, Mundwasser-, Saubermann kenne. Fast nur. Denn sein erster Kuss war wild und frei.
Wir saßen in seinem Auto. Ich saß auf der Fahrerseite. Er hat sich zu mir herübergebeugt. Er hat mich umarmt, gegriffen, und seinen weichen, starken Mund auf meinem platziert und meine Lippen geöffnet, mit seinen, und seine weiche, starke Zunge in meinen Mund geschoben, und unsere Zungen haben miteinander gespielt, ernst und schön, aber das habe ich kaum noch gemerkt, denn Marek hat plötzlich mit der Hand nach meinen Brüsten gegriffen, und zusammen mit seinem Mund auf meinem war das so, dass ich laut atmete und stöhnte und dachte, ich verlöre vor Lust die Besinnung. Da hat er gesagt: »Ich wette, du bist eine Frau, die schon kommt, wenn man nur ihre Brüste berührt.«
*
Gregor hat mir heute einmal wieder auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, und ich rufe ihn endlich zurück. Seit ich kaum noch in Berlin bin, müssen meine Freunde oft warten. So ist das wohl bei Fernbeziehungen. Man selbst ist so viel auf der Strecke, dass andere auf der Strecke bleiben. Natürlich erzähle ich Gregor am Telefon von Marek, von seinen Versuchen, mich zu verändern (Marek würde wohl sagen: mich zu verbessern).
Gregor ist da sachlich und sagt, dann müsse Marek eben noch lernen, dass man den Partner nicht groß verändern könne. Das sei doch etwas, das man in Beziehungen über die Jahre lerne.
Dann sagt er: »Vor ein paar Jahren, da warst du so dünn. Das sah nicht mehr gut aus. Du bist doch auch jemand, dem Fleisch steht.«
Da freue ich mich. Mit Gregor war ich in Spandau auf dem Gymnasium. Wir hatten damals wunderbaren Sex, und damals hatte ich mehr auf den Rippen als heute.
Gregor heiratet in sechs Wochen, nach sieben Jahren Beziehung. Seine Frau ist cool. Ich selbst wollte Gregor nicht als Partner. Aber einen Mann, der mir sagt, ich sehe mit ein paar Kilo Fleisch gut aus, weil es sich gut an mir verteile, so einen Mann hätte ich gerne. Stattdessen habe ich den meckernden Marek, der mir sagt, ich solle keine Jeans mehr tragen, nur noch Röcke und Kleider, weil ich darin besser aussähe, nicht so kräftig.
Vor ein paar Tagen habe ich meinen BMI ausgerechnet, also meinen Body Mass Index. Der soll Auskunft darüber geben, ob das eigene Gewicht in Ordnung ist. Mit solch langweiligen Sachen beschäftige ich mich normalerweise nicht. Aber nachdem Marek mir öfter erklärt, ich hätte zugenommen, und dabei ganz betroffen und unzufrieden schaut, habe ich mich nun mit meinem BMI beschäftigt. Er liegt unter zwanzig. Ich bin mehr als im grünen Bereich. Aber Marek sieht rot.
Meinen BMI habe ich das letzte Mal vor fünf Jahren ausgerechnet. Da hatte ich meine Magersuchtsphase und eine fette Depression. Heute habe ich ein normales Gewicht und keine Depression. Marek hat mir aber auch schon empfohlen, mal wieder eine Depression zu bekommen, wenn ich dabei schließlich abnähme.
*
Vorhin war ich schwimmen. Nicht um abzunehmen. Nicht weil ich Sport toll fände. Ich war schwimmen, weil ich plötzlich ganz deprimiert war und Schwimmen bei mir gegen Deprimiertsein hilft. Es hilft so gut, dass ich dann denke, ich sollte viel mehr schwimmen gehen. Ein starker Rücken, Muskeln und zwei Kilo weniger Gewicht wären da nur ein netter Nebeneffekt. Aber Schwimmen hilft eben gegen Deprimiertsein, und wenn ich dann nicht mehr deprimiert bin, habe ich auch keine Lust mehr, schwimmen zu gehen. Dann schlafe und träume ich lieber. Aber wegen Marek muss ich das eventuell ändern. Er wird sonst wahrscheinlich depressiv, wenn ich keinen Sport mache. Und dann ist es mit dem Sex mit Sicherheit ganz vorbei.
Bevor ich schwimmen war, habe ich mich mit Helge getroffen. Helge ist wie Gregor ein alter Schulfreund von mir. Ich habe auch ihm von Marek erzählt, und Helge fand Mareks Gebaren genauso übertrieben und sagte, er selbst sage in der Regel nichts, wenn ihn etwas an einer Frau störe; er sei harmoniebedürftig.
Wahrscheinlich sind Marek und ich einfach anders, und zu viel Harmonie ödet uns an. Helge mag ich zum Beispiel von Herzen. Aber er ist so zurückhaltend und vorsichtig und wirkt dadurch auf mich auch nicht immer attraktiv. Das wäre für mich in einer Beziehung nichts. Ich wünsche mir wohl doch einen Mann, der mir etwas entgegensetzen kann. Aber Marek setzt mir so viel entgegen, dass es mir im Moment nicht mehr guttut.