Gezeitenmord - Dennis Jürgensen - E-Book
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Gezeitenmord E-Book

Dennis Jürgensen

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Beschreibung

Mord im Watt auf der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland. Der Start der neuen dänischen Bestsellerreihe. Bei einem Spaziergang im Watt machen der Lehrer Lasse und sein elfjähriger Schüler Villads im dichten Nebel einen grausamen Fund: Im festen Sand des Meeresgrundes steckt die Leiche eines Mannes.  Es ist Lykke Teits erster eigener Fall – endlich darf sie die Ermittlungen in einem Mordfall leiten. Dass sie den Toten kannte und er sich verfolgt fühlte, verschweigt sie. Da die Leiche im Watt auf der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland gefunden wurde, wird ihr Rudi Lehmann aus Flensburg zur Seite gestellt. Die beiden sehr ungleichen Ermittler verstehen sich auf Anhieb. Ihre Untersuchungen konzentrieren sich auf das kleine Dorf Melum, in dem jeder jeden kennt. Lykke und Rudi ermitteln nicht nur in diesem Mordfall: Villads ist seit dem Fund der Leiche spurlos verschwunden. Es ist nicht das erste vermisste Kind im Dorf. Wer weiß was? Und konnte sich Villads wie sein Lehrer vor der einsetzenden Flut an Land retten? Die neue Reihe um die beiden sympathischen Ermittlerfiguren beginnt so spannend, dass man diesem Roman bereits mit der ersten Seite rettungslos verfällt. Reinlesen und nicht mehr aufhören können!

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Seitenzahl: 413

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Dennis Jürgensen

Gezeitenmord

Teit und Lehmann ermitteln

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Dennis Jürgensen

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Time and tide wait for no man …

– altes englisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

1

Der Nebel zog wie ein lautloses, leibhaftiges Monster vom Meer auf. Er hatte gesehen, wie die Front sich näherte, und gedacht, sie könnten das Festland problemlos erreichen, doch innerhalb weniger Augenblicke verschluckten weiße Leere und eisige Kälte die ausgedehnten Sandflächen. Die gezackten Konturen des Horizonts verwischten, der Deich verschwand in der Ferne.

Eigentlich hätten sie gar nicht so weit draußen im Watt sein sollen, aber der Junge hatte ständig neue, weiter entfernt liegende Gegenstände gefunden, und Lasse hatte die zahlreichen Vogelschwärme beobachtet, die sich in der riesigen Speisekammer der Natur bedienten. Es hatte allerdings auch etwas Verlockendes, auf dem Meeresgrund hinauszugehen, als könnte man bis England laufen, würden die Gezeiten es zulassen.

Und genau das taten sie nicht.

Trotz des Nebels befanden sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr, glaubte er. Er prüfte immer den Tidenkalender, bevor er hinausging. Es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis die Flut kam. Er war hier bestimmt hundertmal gewesen, normalerweise jedoch allein, ohne die Verantwortung für jemand anderen. Als die letzten Reste der Welt in einem grau wirbelnden Nichts verschwanden, sah er sich um und stellte fest, dass es überall gleich aussah.

»Villads!«

»Ich bin hier drüben.«

Der Junge antwortete sofort. Er klang verhältnismäßig nah, aber die Entfernung war unmöglich einzuschätzen. Er könnte zehn Meter von ihm entfernt sein, fünfundzwanzig Meter oder noch wesentlich weiter.

»Du brauchst nicht nervös zu werden«, rief er. »Es ist nur Nebel, aber wir müssen jetzt sofort zurückgehen.«

»Ich hab keine Angst. Ich bin schon mal im Nebel gewesen.«

»Bleib ruhig. Ich komme.«

»Ich bin elf Jahre alt, Lasse, keine fünf.«

Die Stimme klang nun noch weiter entfernt.

Lasse meinte, drei, vier Meter entfernt einige Seegrasbüschel erkennen zu können, das war aber auch alles. Dort endete sein Universum. Die Welt war auf einen Umkreis von maximal zehn Metern reduziert. Scheinbar. Die Seegrasbüschel verloren sich im Nebel und kamen ihm in seiner Fantasie wie sich windende Fangarme eines Wesens vor, das außerhalb seines Blickfeldes lauerte.

»Ich komme jetzt zu dir!«

Sekunden später war auch das Seegras verschwunden. Von seinen Stiefelspitzen sah er nur noch knapp einen Meter weit. Es war der dichteste Nebel, den er je erlebt hatte. Er ging über ein Feld mit Tausenden von leeren Schalen toter Scheidenmuscheln. Sie knackten wie dünnes Eis. Eine splitternde, hässliche Melodie, die alles übertönte.

»Villads?«

»-ch -ier drüben –«

Lasse blieb stehen.

»Was?«

»Ich bin hier drüben.«

»Wo? Rede mit mir!«

»Bei einem alten Eisengestell. Es ist im Sand versunken.«

Die Stimme klang noch weiter entfernt, oder bildete er es sich nur ein?

Lasse hörte ihn ein paarmal husten und stapfte von dem Muschelgürtel auf reinen Sand. Der Nebel war hier nicht ganz so dicht. Zwei große Steine warteten wie schwarze Körper darauf, überschwemmt zu werden – wie alles hier draußen. Er sah auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde er hier, wo er stand, den Boden nicht mehr berühren können. Bis zum Strand würden sie mindestens eine Viertelstunde brauchen, wenn sie rasch gingen und den direkten Weg nahmen. Es reichte nicht, sich vom Wasser zu entfernen, wenn man die Küste nicht sehen konnte. Die Priele konnten täuschen, Erhöhungen im Meeresboden umfließen und einen in die falsche Richtung dirigieren. In weiter Ferne war ein Nebelhorn zu hören, ein beinahe spöttisches Geräusch. Es konnte aus Højer kommen, vielleicht aber auch aus südlicher Richtung. Möglicherweise von der anderen Seite des Rickelsbüller Koog. Er war so gut wie vollkommen desorientiert.

»Villads?«

»Hier.«

»Was machst du denn da? Wieso antwortest du nicht?«

»Hier ist irgendetwas.«

Die Antwort kam aus einer vollkommen unerwarteten Richtung. Lasse drehte sich um.

»Du darfst nirgendwo hingehen. Ich komme zu dir.«

»Ich bleibe stehen, aber ich habe etwas gefunden. Es sieht … merkwürdig aus.«

Der Junge klang beunruhigt und gleichzeitig abgelenkt, als kämen die Worte automatisch, weil er sich auf etwas ganz anderes konzentrierte.

»Zähl laut bis hundert, damit ich dich finden kann«, forderte Lasse ihn auf. »Hast du verstanden?«

»Warte mal … also, da ist etwas im …«

Auch Lasse sah etwas, das nicht da sein sollte.

Das Meer.

Es floss in kleinen, glucksenden Rinnsalen um seine Stiefel. Das konnte nicht sein. Noch nicht. Er hielt die Hand dicht vors Gesicht und schauderte. Die Uhr ging nicht! Der Sekundenzeiger stand still. Es war ein Erbstück seines Vaters. Sie musste aufgezogen werden, was er pflichtschuldig jeden Morgen tat, auch heute, aber vielleicht hatte das Salz im Wind den Stillstand verursacht. Oder ihre Lebenszeit war vorbei.

Plötzlich hörte er einen Schrei. Lasse zuckte zusammen. Der Schrei des Jungen setzte ihn in Bewegung.

»Villads! Was ist los? Rede mit mir!«

»Beeil dich! Ich glaube, ich habe einen Toten gefunden!«

Der Junge hatte eine lebhafte Fantasie.

»Das ist nicht komisch. Du bleibst jetzt dort stehen und zählst laut! Es ist ernst, verstehst du? Wir müssen zurück, jetzt sofort! Die Flut kommt!«

»Es stimmt aber, Lasse! Hier liegt jemand im Sand! Beeil dich! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun …«

Lasse spürte, wie ihm das Blut aus seinem kalten Gesicht wich. Es war kein Scherz. Es klang wie echte Angst.

»Ich komme!«, schrie er. »Zähl weiter!«

Das Kommando war überflüssig. Villads hatte bereits die vierzig erreicht und zählte mit lauter, schriller Stimme weiter. Lasse lief, so schnell er konnte. Die Furcht schien ihn über den Sand zu tragen, in dem die kleinen rinnenden Bäche immer breiter wurden und zu größeren Pfützen zusammenflossen.

»Fang von vorn an, wenn du bei hundert bist. Du darfst nicht aufhören, bevor du mich siehst!«

Er rannte wie ein Hahn, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Das Fernglas hämmerte gegen sein Schlüsselbein. Er spürte, wie er in Panik geriet, blieb stehen und drehte sich einmal um sich selbst, wie nach einer Karussellfahrt. Der Nebel schien wie ein Lappen in seinem Gesicht zu kleben. Und je mehr das Wasser ihm zwischen die Füße rann, desto tiefer kroch die Angst ihm unter die Haut.

Villads zählte noch immer, und Lasse lief jetzt kontrollierter weiter. Plötzlich erkannte er die Konturen einer kleinen Gestalt. Erleichterung überkam ihn. Zumindest, was dieses Problem anbetraf, denn als er den Jungen deutlicher sah, bemerkte er seinen verstörten Blick. Mit einem ausgestreckten, zitternden Arm zeigte er auf etwas, als würde er nicht wagen, näher heranzugehen.

»Er hat eben etwas gesagt … da war so ein Geräusch im Sand … ich glaube, er lebt …«

Angst löste Lasses Gefühl der Erleichterung ab.

»Was hast du …?«

Villads stand hinter einem eingesunkenen Seezeichen aus abgeblättertem grünem Metall und zeigte auf eine Stelle im Sand. Um Atem ringend ging Lasse um das Hindernis herum und blickte auf ein Gesicht, das ihn vom Meeresboden aus anstarrte. Im ersten Moment glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können, als müsse es sich um eine Illusion handeln, eine gestrandete Qualle, von denen es hier viele gab, aber irgendetwas war falsch. Größe und Form passten, aber Farbe und Textur ähnelten keineswegs einer Qualle.

Es war schwierig, im Nebel Details zu erkennen. Lasse ging in die Hocke und beugte sich vor. Es sah wirklich aus, als würde ihn ein Gesicht aus dem Sand anstarren. Er sah die Andeutung von zwei ovalen Punkten, die Spitze einer Nase und einen Umriss, der einem halb geöffneten Mund ähnelte.

Lasse ging durch den Kopf, dass das menschliche Gehirn versucht, in abstrakten Dingen wiedererkennbare Muster zu finden, so, wie man im Sommer auf einer Wiese im Gras liegen und in den treibenden Wolken Tiere und Fantasiefiguren erkennen kann. Diese Erscheinung war jedoch so markant, dass sie sich nicht ignorieren ließ. Vorsichtig legte er die Fingerspitzen auf den Umriss und kratzte so viel Sand weg, dass sich zwei Augen, eine deutlich gebogene Nase und ein Mund mit aufgesprungenen Lippen zeigten. Ein schrilles Seufzen stieg von dem Bild auf. Lasse schnappte nach Luft, seine Hand zuckte zurück, als wäre er gebissen worden. Er verlor das Gleichgewicht und setzte sich auf den Hintern.

»Er lebt!«, schrie Villads.

Lasse war blitzschnell wieder auf den Beinen, sein Puls raste, aber er blieb stehen.

»Beruhige dich, Villads, er ist tot. Der Meeresboden gibt Geräusche von sich, wenn man ein bisschen darin gräbt.«

Klang er überzeugt? Er hoffte es, denn er war es nicht.

Lasse ging noch einmal in die Hocke, schaltete die Taschenlampe seines Smartphones ein und richtete sie auf das Gesicht. Es handelte sich um einen Mann, der bereits einige Zeit tot war. Jetzt war er sicher. Das linke Auge war aufgerissen, das rechte nur leicht geöffnet. Die matten Häutchen über der Iris waren milchig, eingetrocknet und von einer feinen Schicht Sand bedeckt. Lasse stand auf. Villads kam langsam näher und griff nach seiner Hand. Das hatte er noch nie getan.

»Was ist passiert, was glaubst du?«

Lasse sah das Gesicht beunruhigt an. In den Nebelschwaden sah es aus, als würde es leben, doch das war eine Täuschung. Sein Verstand schrie, sie müssten sich beeilen, wenn sie nicht selbst hier draußen ihr Leben beenden wollten, aber fasziniert von dem Fund blieb er dennoch stehen.

»Glaubst du, die Flut hat ihn überrascht?««

»Ich weiß es nicht, aber wir können jedenfalls nichts für ihn tun. Wir müssen sofort zurück.«

»Er kann doch nicht hier liegen bleiben?«

Lasse war ratlos. Wenn sie den Mann ohne Markierung zurückließen, riskierten sie, dass die Unterströme das Gesicht vollkommen mit Sand bedeckten und die Polizei den Toten nie finden würde, aber bleiben konnten sie auf keinen Fall. Die Flut hatte diese Stelle bisher nicht erreicht, weil sie auf einer niedrigen Sandbank standen, die allerdings bereits von Wasser umgeben war. Kleine Wassertentakel krochen wie eifrige Finger auf sie zu.

Lasse blickte auf das Seezeichen. Es war aus Metall, mindestens vier Meter lang und hatte sich tief in den Meeresboden gebohrt. Diese Markierung würde sich nicht bewegen.

Irgendwer hustete im Nebel.

»Da kommt jemand«, flüsterte Villads.

Schritte platschten hinter dem Seezeichen. Ein Schatten wuchs aus dem Dunst, ein großer Mann. Er hatte kein Gesicht. Es verschwand in den Nebelschwaden. Wie eine Schlange wirbelte eine lange Kette durch die Luft.

»Pass auf!«, schrie Villads und sprang beiseite.

Die Glieder der Schlange zischten, bevor sie zubiss. Der Schlag traf Lasse wie ein lähmender Schuss und schleuderte ihn rücklings zu Boden.

Inhaltsverzeichnis

2

Lykke erwachte vom Klingeln ihres Telefons. Ruckartig setzte sie sich im Bett auf. Sie hatte das Gefühl, an diesem Morgen schon einmal aufgestanden zu sein, aber das war offenbar ein Traum gewesen. Es war Viertel vor neun, und sie hatte den Wecker mehrmals überhört. Schon wieder.

Sie wälzte sich aus dem Bett und griff nach dem hartnäckigen Telefon auf dem Nachttisch.

»Hallo?«

»Guten Morgen. Hier ist Thomas.«

»Ja, habe ich gesehen.«

Eigentlich hatte sie ihn in den Kontakten gelöscht, das Telefon zeigte jetzt nur noch die Nummer an, die sie aber natürlich kannte.

»Wie geht’s?«

»Gut.«

»Ich vermisse dich.«

Sie trat ans Fenster und ließ das Rollo mit einem Knall hochschnellen. Es nieselte.

»Was ist mit deiner Frau?«

»Das … das ist nicht dasselbe. Wir zwei sind doch etwas Besonderes …«

»Nicht jetzt, Thomas. Ich habe es eilig, und wenn ich zu spät komme, habe ich ein Problem.«

»Deine Kollegen sortieren doch ohnehin den ganzen Tag nur ihre Zehen.«

Früher hatte sie seinen Humor gemocht, bis ihr klar wurde, dass er immer wieder dieselben blöden Scherze machte.

»Wenn du so früh am Tag schon Witze reißen musst, kannst du dir dann nicht mal einen neuen ausdenken?«

»Sorry, ich … aber ich denke jeden Tag an uns.«

»Soweit ich mich erinnern kann, wolltest du die Scheidung.«

Kräftig unterstützt von deiner Mutter, fügte sie in Gedanken hinzu und ging ins Badezimmer.

»Hast du …? Hast du …?«

Er stotterte wie eine Langspielplatte, die einen Sprung hat.

Jetzt kommt gleich: Warst du dort?

»Warst du dort?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Hör auf, Thomas. Wir haben das hundertmal besprochen, du gehst damit auf deine Weise um, ich auf meine. Deshalb hat es mit uns auch nicht funktioniert. Wir sind zu verschieden.«

»Daran hat es doch nicht nur gelegen.«

»Auch daran.«

»Hast du mich denn nie geliebt?«

Das hatte sie, aber statt zu antworten, klappte sie den Toilettendeckel hinunter und setzte sich. Sie musste pinkeln, wollte es aber nicht tun, während sie mit ihm telefonierte. Er begann mit einem seiner beiden Lieblingsthemen.

»Ich begreife nicht, wie du nicht hingehen kannst, wenn du … Bedeutet es dir denn gar nichts?«

»Es ist ein Stein. Ich habe keine Beziehung zu einem Stein.«

»Es ist ein Symbol.«

»Ach ja?«

»Dir ist es egal. Du hast nur dich und deine Arbeit im Kopf. So war es schon am day one, auch da …«

Lykke unterbrach ihn gereizt:

»Halt endlich die Klappe! Was bildest du dir eigentlich ein, mich anzurufen und mir Vorhaltungen zu machen? Was glaubst du, wer du bist? Nur weil du nicht einen einzigen selbstständigen Gedanken in der Birne hast und alles tust, was deine Mutter dir sagt!«

»Jetzt hör aber auf!«

»Liebend gern. Tschüs.«

Sie beendete das Gespräch, warf das Telefon auf die Waschmaschine und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

 

Es klingelte zweimal, während sie unter der Dusche stand, und ein drittes Mal, als sie sich am Küchentisch eine Hose anzog, während sie ein Käsebrot hinunterschlang. Diesmal war es nicht ihr Exmann, sondern der Ermittlungsleiter Hans Odín. Hastig schluckte sie ihr Brot hinunter.

»Hallo?«

»Wo bleibst du, Teit? Du bist für den Tagesdienst eingeteilt, nicht für die Nachtschicht.«

»Entschuldigung, ich …«

»Bist du etwa noch zu Hause?«

»Ich bin auf dem Weg.«

»Was ist los mit dir? Gehst du zu spät ins Bett? Wenn du Karriere machen willst, dann rate ich zum Erwerb eines Weckers.«

»Ich beeile mich ja.«

»Du kommst in mein Büro, sobald du … wenn du irgendwann … solltest du eines Tages auftauchen, hast du verstanden?«

»Ja, bis gleich.«

»Das bezweifle ich.«

Er beendete das Gespräch.

»Shit.«

Lykke schmiss das Telefon auf den Küchentisch. Es traf die Kante und fiel auf den Boden, die hintere Abdeckung sprang ab. Ihr war das Telefon schon so oft hinuntergefallen, dass das Display mit Eisblumen überzogen war.

Nach drei Jahren in der Abteilung für Gewaltkriminalität hatte sie kein eigenes Büro – das stand ihr als Kriminalassistentin nicht zu –, aber ihren eigenen Schreibtisch. Man hatte sie bei einer Reihe von Routineaufgaben eingesetzt, allerdings war sie auch bei zwei Morden an den Ermittlungen beteiligt gewesen. Nicht im Trikot des Mannschaftskapitäns, sondern eher als Wasserträgerin, aber sie war ehrgeizig und ambitioniert; Odíns Gardinenpredigt war daher eher kollegial gemeint. Er hatte sie immer wieder aufgemuntert, wenn ihre Stimmung zeitweilig auf den Boden eines pechschwarzen Schachtes gesunken war. Und er hatte sie gelobt, vor allem nach der Aufklärung des Mordes an einem Gärtner des Kongens Have.

Hans Odín war ein Alphatier, temperamentvoll und ungeduldig, im Grunde genommen aber ganz in Ordnung, ein anständiger und untadeliger Chef. Nie hätte er auf einer Weihnachtsfeier einen so plumpen Annäherungsversuch unternommen wie dieser Idiot aus der Verwaltung.

 

Sie griff nach ihrer Jacke, schloss die Wohnungstür ab und sprang die Treppe hinunter. Ihr Telefon piepste. Eine SMS, wider Erwarten weder von Odín noch von Thomas, der immer das letzte Wort haben musste. Sondern von BL.

Lykke, Hilfe! Große Probleme. Kenne ein sehr hässliches Geheimnis. Konnte die Polizei nicht anrufen, hätte es aber tun sollen. Er weiß, wer ich bin. Die Schachtel ist meine Garantie. Wenn mir etwas passiert, ist sie versteckt

BL. Bjarke Laumann. Sie hatten sich im The Irish Pub kennengelernt, als sie nach einer anstrengenden Woche mit drei Freundinnen in der Stadt gewesen war. Sie war schon angetrunken, als er plötzlich an der Bar stand und ihr quer durch das Lokal voller lärmender und trinkender Gäste zuprostete. Auf dem Großbildschirm lief ein Fußballspiel, das die meisten Gäste verfolgten, trotzdem ließen sie sich nicht aus den Augen. Der Lärm und die Hitze in der Kneipe waren enorm. Als sie Drinks für ihre Freundinnen holte, wechselten sie ein paar Worte. Ihr gefielen seine Augen, und außerdem hatte sie Lust, daher nahm sie ihn mit nach Hause, was sie normalerweise nie tat. Es endete damit, dass er drei Tage bei ihr wohnte, bis sie in seinen Stiefeln mehrere Tütchen mit Koks entdeckte. Er behauptete, es sei Pulver für einen Luftentfeuchter. Daraufhin fragte sie ihn, ob er sie für dämlich halte, und zeigte ihm ihre Polizeimarke. Er wurde leichenblass und entschuldigte sich mehrfach. Bjarke Laumann war ein kräftiger Mann, muskulös, aber kein Gewalttäter. Ein kleinkrimineller Pusher mit einem Hang zum Zocken, wie sie später herausfand, aber sie mochte ihn, daher hatte sie die Angelegenheit nicht weiter verfolgt.

Das war jetzt zwei Jahre her.

»Bjarke, du Idiot«, flüsterte sie auf der leeren Treppe. »In was bist du jetzt wieder reingeraten?«

Eigentlich sollte sie emotional nicht weiter berührt sein, doch die Nachricht beunruhigte sie. Ein anderer Dealer hatte bei einem Verhör erzählt, Bjarke Laumann würde den falschen Leuten Geld schulden, daher sei er untergetaucht.

Auf der Straße fiel ihr ein, dass ihr Auto in der Werkstatt war. Also das Fahrrad. Sie ging zum Fahrradständer, wo es normalerweise stand. Normalerweise war das Stichwort …

Inhaltsverzeichnis

3

»Viertel vor zehn!«

Hans Odín starrte ungläubig auf seine Uhr.

»Bist du nach Køge gezogen, Teit? Ich dachte, du wohnst in der Saxogade?«

»Dannebrogsgade.«

Der Ermittlungsleiter machte ein gequältes Gesicht hinter seinem Schreibtisch, der immer von Papierstapeln überquoll. Die Stapel sollten zeigen, wie beschäftigt er war, allerdings waren es alles abgeschlossene Fälle. Außerdem arbeitete er längst nicht mehr mit Papier, sondern nur noch mit dem Computer.

»Das kann doch nicht so lange dauern, auch wenn du verschlafen hast … wieder einmal. Bist du auf Händen hierhergelaufen?«

»Mein Wagen ist in der Werkstatt, und als ich aus der Tür kam, war mein Fahrrad verschwunden.«

»Also bist du zu Fuß gegangen?«

»Ja.«

»Wieso hast du nicht einen von diesen Scheiß-E-Scootern genommen, die überall im Weg rumstehen?«

Auch wenn es nicht so klang, respektierte Odín sie. Er hatte ihre Hartnäckigkeit gelobt, ihre Sorgfalt bei Details und dass sie nichts dem Zufall überließ. Daher war Lykke auch der Meinung, dass sie nach drei Jahren in der Abteilung bereit war, die Ermittlungen in einem Mordfall zu leiten, aber so funktionierte das System nicht. Ihr Chef war weder sexistisch noch nepotistisch – auch wenn seine beiden Söhne bei der Polizei arbeiteten –, aber Hans Odín musste die Regeln befolgen, und dies war am einfachsten, wenn er stets ein wenig mürrisch wirkte. Eigentlich schade, denn er war ein durchaus attraktiver Mann mit dichten schwarzen Haaren, doch Lykke hatte ihn nie lächeln sehen, auch nicht, als er mit einem der höchsten dänischen Orden ausgezeichnet wurde. Vermutlich konnte er lächeln, aber wahrscheinlich hatte er Angst um sein Image. Im Polizeipräsidium hielt sich das Gerücht, Odín sei ein großer Dirty Harry-Fan.

»Ich habe mich verspätet, weil ich die SMS eines Bekannten bekommen habe. Es klang, als handele es sich um irgendetwas Kriminelles.«

»Sicher. Sehen wir zu, dass wir weiterkommen, bevor die Sonne untergeht.«

Der Ermittlungsleiter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Hände über einem Bauch gefaltet, der preisgab: Ich esse zu viel und bewege mich zu wenig.

»Was weißt du über Südjütland, Teit?«

Sie hielt es für einen Witz, der den »Anschiss« entschärfen sollte.

»Eine Halbinsel, die an Deutschland anschließt, außerdem servieren sie dort Burger mit brauner Soße.«

»Noch mehr?«

»Aarhus ist die Stadt des Lächelns.«

»Was ist mit dem Wattenmeer?«

»Dort unten passiert vermutlich nicht allzu viel, abgesehen von der Schwarzen Sonne, diesem Naturphänomen der Starenschwärme.«

»Und Mord.«

»Lässt sich wahrscheinlich auch in der Gegend nicht vermeiden, aber vermutlich kümmern sich doch die Kollegen von der Polizei Südjütlands darum?«

»Nicht in diesem Fall. Darum kümmerst du dich.«

Er wippte auf seinem Stuhl nach vorn und reichte ihr einige Blätter Papier über den Schreibtisch. Lykke zögerte. Er raschelte ungeduldig.

»Komm schon, greif zu. Du beschwerst dich doch ständig, dass du nicht Kriminalkommissarin spielen darfst. Jetzt hast du die Chance.«

Sie nahm ihm die Papiere aus der Hand. Das erste Blatt zeigte die Kopie einer Landkarte von Südwestjütland. Ein rotes Kreuz war auf der dänisch-deutschen Grenzlinie in die Nordsee eingezeichnet. Die Position war mit zwei Zahlen für den Längen- und Breitengrad markiert. Das zweite Blatt war ein Formularvordruck mit Stempel und Unterschrift der Polizei Südjütlands.

»Warum soll ich nach Jütland fahren, wenn die örtlichen …«

»Kannst du dich an den Fall Rosa Molberg erinnern?«

»Natürlich.«

»Es war eine der größten Suchaktionen der jüngeren Vergangenheit, aber die örtliche Polizei hat sie nicht gefunden. Und jetzt haben sie erneut einen Fall, bei dem jemand verschwunden ist. Derselbe Ort oder jedenfalls in demselben Dorf. Diesmal ist es kein sechsjähriges Mädchen, sondern ein elfjähriger Junge. Die Vorgehensweise der Polizei im Molberg-Fall war so inkompetent, dass die Polizei von Südjütland dem örtlichen Ermittlungsleiter einen Förderschullehrer zur Seite stellen musste, damit sich die Dummheit nicht wiederholt. Du weißt ja, die Presse liebt so etwas. Aber darum geht es nicht, sondern um einen Mordfall, auch das noch. Im Wattenmeer wurde ein toter Mann gefunden. Lies.«

Er zeigte auf das Blatt in ihrer Hand.

Lykke las die ersten Zeilen:

ANFORDERUNGSERSUCHEN DER POLIZEI SÜDJÜTLANDS, ABTEILUNG ESBJERG, BETR. ASSISTENZ DES KOPENHAGENER POLIZEIHAUPTQUARTIERS IN VERBINDUNG MIT DEN ERMITTLUNGEN IN EINEM FALL VON GEWALTKRIMINALITÄT.

 

ART/ARTEN DES VERBRECHENS: Mord, gewaltsamer Überfall und Kidnapping

DATUM FUND DES TOTEN: 17. Oktober d.J.

IDENTIFIKATION DES TOTEN: nicht bestätigt

NAME DES TOTEN: Laumann, Bjarke (vermutlich, aufgrund der Papiere, die bei dem Leichnam gefunden wurden)

ERMITTLUNGSLEITUNG VOR ORT: Mogens Krogh, Polizei Esbjerg

Es stand noch mehr da, doch Lykke las nach Bjarke Laumanns Namen nicht weiter. Sie hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte. Heute war der 19. Oktober. Die SMS war zwei Tage nach dem Tod des Mannes abgeschickt worden. Sie hatte den Notruf einer Leiche erhalten.

Odín sah sie nachdenklich an.

»Geht’s dir nicht gut?«

»Nur ein wenig morgendliche Übelkeit.«

Er hob eine Augenbraue und öffnete den Mund, sagte aber nichts. Wie die meisten Männer glaubte er, dass sie ihre Tage habe oder schwanger sei, das wusste sie. Es waren also No-Go-Themen.

»Bjarke Laumann war Dealer, Einbrecher, Hehler und Hochstapler. Er stammte eigentlich hier aus Kopenhagen und wurde gesucht. Im Archiv gibt es mehrere Akten über ihn. Du sollst den Mord aufklären, die örtliche Polizei konzentriert sich auf den verschwundenen Jungen. Übernimmst du den Fall, oder soll ich Lorentsen schicken?«

Lykke versteckte die Papiere hinter ihrem Rücken.

»Wann fahre ich?«

»Frag die Dänische Staatsbahn. Wie du siehst, ist die Leichenschau morgen früh um neun Uhr im Krankenhaus von Esbjerg.«

»Weißt du …« Lykke suchte nach Worten. »Kennst du die näheren Umstände des Mordes? Wurde er erschossen oder erstochen …?

»Ich weiß nur, was auf dem Anforderungsersuchen steht, aber selbst wenn ich dich allein losschicke, musst du nicht glauben, dass du die Ermittlungen allein leitest.«

»Ist schon klar. Die Polizei von Südjütland bestimmt, wo’s langgeht.«

»Nein, das machst du, und du hast die Befugnis, Befehle zu erteilen. Also, wenn dir einer dieser Landpolypen dumm kommt, dann ruft ihr ihn zur Ordnung. Dieser Mogens Krogh kann ein ziemlich dicker Brocken sein, aber das hilft ihm diesmal nicht. Ihr seid die Ranghöheren. So läuft das in diesem Fall. Befehl von oben.«

Lykke stutzte.

»Was meinst du mir ›ihr‹?«

Odín sah von seinem Computer auf, als hätte er sich bereits wieder den Aufgaben des Tages zugewandt, nachdem er den Fall delegiert hatte.

»Sagte ich das nicht?«

»Nein, was immer du mir auch sagen wolltest.«

Der Ermittlungsleiter stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch auf.

»Die Umstände dieses Falles sind ein wenig speziell. Der Fundort ist das rote Kreuz auf der Karte. Laumann wurde im Grenzgebiet gefunden. Das bedeutet, dass die Deutschen ihren eigenen Ermittler schicken, mit dem du zusammenarbeiten wirst. Ihr beiden übernehmt die Leitung, die örtlichen Bauernärsche haben sich nach euch zu richten, verstanden?«

»Ich kann kein Deutsch.«

»Bist du nicht zur Schule gegangen?«

»Das ist viele … jedenfalls eine ganze Weile her.«

»Inzwischen können sie da unten vermutlich auch Englisch. Schließlich wissen sie, wer den letzten Krieg gewonnen hat.«

»Bist du jemals in Deutschland in einem Museum gewesen? Die einzigen englischen Wörter sind SHOP und TOILET.«

Odín griff zu seinem Mobiltelefon.

»Okay, dann rufe ich Lorentsen an.«

»Du kannst deine Mutter anrufen.« Lykke ging zur Tür. »Ich gehe jetzt nach Hause und packe. Danke, Hans.«

»Dank dir selbst. Du hast es verdient … und Lykke?«

Sie drehte sich um. Odín sah beinahe freundlich aus.

»Ja?«

»Mach mich stolz. Lös den Fall. Ich will jeden Abend eine Gutenachtgeschichte hören. Du musst mir Bericht erstatten, sodass ich verfolgen kann, wie ihr weiterkommt.«

»Verstanden.«

Inhaltsverzeichnis

4

»Guten Tag, Sie müssen Lykke Teit sein. Freut mich sehr, eine Kollegin der dänischen Polizei kennenzulernen.«

Der Mann, der aus dem parkenden Wohnmobil sprang und mit ausgestreckten Armen auf sie zukam, überrumpelte die in Gedanken versunkene Lykke. Ohne großen Erfolg hatte sie im Zug versucht, ihr Schuldeutsch ein bisschen aufzufrischen, auf ihrem Smartphone hatte sie eine Tabelle mit Adjektivbeugungen aufgerufen, durch die sie allerdings auch nicht klüger geworden war. Nun hoffte sie, dass ihr deutscher Kollege ein bisschen Englisch sprach.

Der Händedruck war herzlich, fest und aufmerksam. Bei den freundlichen grauen Augen des Mannes und seinem breiten Lächeln geriet sie ins Stottern. Das passierte ihr eigentlich eher selten.

»Ich bin … jeg mener, meinen Namen sind … ist Lykke …«

»Das dachte ich mir. Lykke Teit. Die berühmte Kriminalkommissarin aus Kopenhagen. Wer hätte es sonst sein sollen?«, erwiderte er auf Dänisch.

Lykke wusste nicht, was sie antworten sollte. Der Mann brach in ein lautes herzliches Gelächter aus, und sie hatte das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben. Dennoch musste auch sie schmunzeln.

»Entschuldige, Lykke. Wenn es mich überkommt, neige ich zu dummen Witzen. Rudolf Lehmann, Hauptkommissar der Landespolizei Schleswig-Holstein, Polizeidirektion Flensburg. Glücklicherweise spreche ich auch Dänisch, wollen wir ab jetzt dabei bleiben und uns duzen?«

»Klingt nach einer richtig guten Idee«, erwiderte sie erleichtert und schauderte trotz ihrer dicksten Winterjacke. Es wehte ein kalter Wind über den Parkplatz.

Lehmann sah auf die Uhr. »Die Leichenschau beginnt erst um neun.«

Der Kommissar zeigte auf den Campingbus, der neben dem Haupteingang des Krankenhauses von Esbjerg stand.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee? Dann können wir uns noch rasch über den Fall austauschen, bevor wir hineingehen.«

Rudolph Lehmann war ein kräftig gebauter Mann. Durch die dunkelgrüne Jagdjacke und einen australischen Lederhut mit geflochtenem Riemen sah er ein bisschen wie ein Ranger aus, ziemlich cool. Der gepflegte grauweiße Bart trug ebenfalls dazu bei.

»Gern, Rudolph.«

»Meine Freunde nennen mich Rudi.«

Er öffnete die Tür und ließ sie einsteigen. Rudi zwängte sich hinter ihr in das Wohnmobil, das von außen vollkommen normal aussah. Innen allerdings nicht. Vorn gab es einen Tisch mit einer Bank und dem Fahrer- und Beifahrersitz, die sich drehen ließen, sodass vier Personen an dem Tisch Platz fanden. Ganz hinten sah Lykke eine einzelne Schlafkoje, der Rest jedoch war einer gewaltigen Ansammlung von Bildschirmen, Computern und anderer Technik vorbehalten, die von einem drehbaren Stuhl aus bedient werden konnte.

»Eine ziemlich gute Ausrüstung.« Lykke nahm auf der Bank Platz, während der Deutsche in einer kleinen Kochnische Kaffee aufsetzte.

»Ja, nicht wahr? Ich kann mit Polizeieinheiten auf der ganzen Welt kommunizieren. Leider gehört mir der Wagen nicht, er ist Eigentum der Polizei. Wir nutzen ihn vor allem, wenn wir im Ausland behilflich sind. Aber die Technik wird auch im Inland eingesetzt, bei Videoüberwachungen, Abhörmaßnahmen und Verkehrskontrollen.«

»Krass.«

»Es ist beinahe so, als hätte man sein eigenes Batmobil. Nur scharf schießen kann er nicht.«

Er grinste und nahm, leise vor sich hin pfeifend, zwei Becher aus dem Schrank. Lykke lächelte. Sie hatte selten einen Menschen kennengelernt, der ihr so schnell sympathisch war. Nicht dass er in irgendeiner Weise ihr Typ war. Rudi Lehmann war mindestens zwanzig Jahre älter als sie, aber die unbefangene Art des Mannes hatte etwas Entwaffnendes und erinnerte sie zusammen mit seiner physischen Präsenz an einen herzensguten, aber leider verstorbenen Onkel.

Der Kaffee wurde schwungvoll ausgeschenkt. Der Kommissar drehte den Vordersitz um und setzte sich ihr gegenüber. »Na, Lykke, der geheimnisvolle Gast des Tages ist also Bjarke Laumann?«

»Zumindest soweit ich informiert bin. Ich habe nur diese Unterlagen.«

Sie zeigte ihm die Karte und das Hilfeersuchen. Rudi Lehmann blickte mit skeptischer Miene auf die Papiere.

»Wir haben dieselben mangelhaften Informationen. Ich bin gespannt auf unsere Kontaktperson. Mogens Krogh. Ich habe gestern mit ihm telefoniert. Er klang ziemlich großspurig, aber so etwas muss hier in der Gegend nicht allzu viel heißen. Die Einheimischen können verschlossen und trotzdem in Ordnung sein. Nur dass du es weißt. Aber sonderlich entgegenkommend wirkte er nicht, fand ich. Er weigerte sich, mich am Telefon über irgendwelche Details zu informieren.«

»Du weißt also auch nicht, was ›gewaltsamer Überfall‹ und ›Kidnapping‹ zu bedeuten haben?«

»Ich habe ihn gefragt, aber er erklärte, das würde er erläutern, wenn wir uns heute sehen.«

»Das hoffe ich doch.« Sie probierte den Kaffee. »Wir sind die Ranghöheren in diesem Fall, die örtliche Polizei hat mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Ich habe mithilfe des Batmobils ihr internes System überprüft. Es läuft eine größere Suche nach einem elfjährigen Jungen, Villads Geertsen. Er ist seit gestern verschwunden. Das Operative Kommando der Marine, der Heimatschutz und einige Einheimische suchen ihn.«

»Wo kommt er her?«

»Aus einem Dorf namens Melum.«

Lykke richtete sich auf.

»Vor anderthalb Jahren verschwand aus diesem Ort ein sechsjähriges Mädchen. Sie wurde nie gefunden.«

Rudi zog die Brauen zusammen.

»Entführung?«

»Niemand weiß es. Sie war plötzlich fort.«

Der Kommissar pustete in seinen Kaffeebecher.

»Das hört sich nicht gut an. Na, hoffentlich sind wir klüger, wenn der Vormittag vorbei ist.«

»Das hoffe ich auch. Sollte Mogens Krogh bewusst Informationen zurückhalten, werde ich dafür sorgen, dass ihm der Arsch auf Grundeis geht.«

Rudi zeigte ihr einen erhobenen Daumen.

»Krogh erwähnte, dass Bjarke Laumann, also der Tote, kriminell war. Kennst du sein Strafregister?«

Lykke rutschte ein wenig auf der Bank herum und hoffte, nicht rot zu werden.

»Laumann war vor allem ein Einbrecher und Hehler, aber er schlug sich in Kopenhagen auch als Drogendealer durch.«

»Noch etwas?«

»Er hat mehrfach im Gefängnis gesessen, wurde aber nie wegen schwerer Straftaten und schon gar nicht wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt. Wir haben von anderen Kriminellen erfahren, dass er untergetaucht ist, weil er im Kopenhagener Drogenmilieu Schulden hat.

»Vielleicht hat der Gläubiger ihn gefunden und kurzen Prozess gemacht?«

Lykke war sich nicht sicher, ob sie dem Kommissar die SMS zeigen sollte. Sie beschloss, damit bis nach der Leichenschau zu warten, wenn sie ihn ein bisschen besser kannte.

Rudi reckte den Kopf.

»Ah, da haben wir ja den lokalen Arm des Gesetzes.«

Durch die Frontscheibe sah sie, dass ein Streifenwagen direkt vor dem Wohnmobil hielt. Ein übergewichtiger Beamter in Uniform stieg auf der Fahrerseite aus, ein schlanker und jüngerer Kollege folgte auf der Beifahrerseite. Der Fahrer drückte die Mütze auf seine dünnen Haare, blickte unzufrieden auf den Campingbus, zeigte auf das Nummernschild und sagte irgendetwas zu seinem Kollegen. Der zog sein Telefon heraus. Die beiden Männer verschwanden in der Eingangshalle des Krankenhauses.

»Ich glaube, er meldet jetzt den Einmarsch der Deutschen«, verkündete Rudi mit einem Blitzen in den Augen. »Wollen wir los und uns an dem Spaß beteiligen?«

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5

Lykke hatte sich darauf eingestellt, dass Bjarke Laumanns Leiche kein schöner Anblick sein würde, aber es überraschte sie doch, wie er auf dem Obduktionstisch aussah.

Normalerweise nehmen die Mediziner die ersten Untersuchungen eines Toten am Fundort vor, doch das war in diesem Fall nicht möglich gewesen. Deshalb hatten die Kriminaltechniker das Zweitbeste getan und den Körper mit geradezu archäologischer Vorsicht aus dem Watt gegraben und zur gründlichen Analyse ins Krankenhaus von Esbjerg gebracht.

Ein unangenehmes Gefühl hatte Lykke bereits in dem langen Tunnel zur Rechtsmedizinischen Abteilung überkommen. Aus unerklärlichen Gründen waren die Gänge zu diesen Räumen des Todes immer mit Brechreiz erregenden Farben gestrichen, wurden von flimmernden Neonröhren erleuchtet und rochen nach Desinfektionsmitteln. Eine Mischung, bei der sich ihr der Magen umdrehte. Lykke bereute das Brötchen auf dem Esbjerger Bahnhof und den bitteren Kaffee im Wohnmobil. Es machte die Sache auch nicht besser, dass sie mitten in der Nacht aufgestanden war, um am Kopenhagener Hauptbahnhof den frühen Zug nach Esbjerg zu erreichen. Ihrem Magen tat es nicht gut, aus seinem üblichen Tagesrhythmus gerissen zu werden.

Lykke hatte schon früher tote Menschen an Tatorten gesehen, und sie hatte auch bereits an mehreren Obduktionen teilgenommen, doch bei dem Geruch nach Formalin überkam sie jedes Mal wieder ein klaustrophobisches Gefühl. Er drang in die Luftröhre ein und quetschte die Lungen zusammen. So erging es ihr, seit sie als Neunzehnjährige den zweitschwersten Schritt ihres Lebens getan hatte, als sie ihren Vater nach einem verhängnisvollen Verkehrsunfall identifizieren musste.

Sie versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Die beiden Beamten der örtlichen Polizei gingen ein Stück vor ihnen. Die Schritte hallten in dem kahlen Gang wider. Der größere Beamte hustete, das Echo dröhnte zwischen den Wänden. Der kleinere und breitere Polizist sah sich ein paarmal um, sagte etwas zu seinem Kollegen, der nickte und hustete noch einmal, dann beschleunigten sie ihre Schritte.

»Die Eingeborenen sind unruhig und behalten uns im Auge«, flüsterte Rudi Lehmann. »Halt die Glasperlen bereit und lass sie die Führung übernehmen. Wir tun so, als würden sie bestimmen, dann wird’s einfacher. Denk dran, es ist für uns ein Auswärtsspiel.«

Lykke schluckte.

Die Beamten verschwanden durch eine offene Tür, die zum SEKTIONSAAL 2 führte. Als sie eintraten, warteten die Polizisten zusammen mit einem Mann mit zurückgekämmtem Haar, der einen Kittel und eine Brille mit dicken Gläsern trug. In dem fensterlosen Raum stank es intensiv nach Formalin, obwohl eine Entlüftungsanlage leise an der Decke summte. Lykke versuchte, ausschließlich durch die Nase zu atmen. Ihren deutschen Kollegen schien der Geruch offensichtlich nicht zu stören, er grüßte den übergewichtigen Beamten, der sich auf der entgegengesetzten Seite des Obduktionstisches »verschanzte«. Über dem Körper auf dem Tisch lag ein weißes Tuch.

»Mojn, die Herren. Ich vermute, die Leichenschau von Bjarke Laumann findet hier statt. Mein Name ist Rudolph Lehmann, ich bin Hauptkommissar der Landespolizei Schleswig-Holstein, Polizeidirektion Flensburg. Das ist meine Kollegin aus Kopenhagen.«

»Lykke Teit vom Kopenhagener Polizeipräsidium.«

Sie grüßte in die Runde und besonders das feiste Alphatier, bei dem es sich nur um den Ermittlungsleiter Mogens Krogh handeln konnte, vor dem Odín sie gewarnt hatte. Unwilliger Gesichtsausdruck, stechender Blick. Er grüßte mürrisch zurück, als hätte er einen Käfer verschluckt. Der jüngere Beamte, ein schlanker dunkelhaariger Bursche, der nicht schlecht aussah, war hingegen sehr freundlich.

»Jannick Johansen, Polizeiassistent.«

Der Rechtsmediziner Kresten Osmann war ebenfalls ausgesprochen freundlich und hatte einen überraschend herzlichen Händedruck in Anbetracht seiner Profession.

»So, dann sind wir wohl vollzählig«, sagte er und zog mit einem lauten Knall seine Gummihandschuhe an. Lykke schauderte innerlich. »Ich werde damit beginnen …«

»Einen Augenblick, Kresten«, unterbrach ihn Krogh. »Ich will nicht kleinlich sein, aber wollen wir unseren Kollegen nicht die Möglichkeit geben, sich zu legitimieren? Die Presse ist scharf auf den Fall, wir können hier also kein nicht autorisiertes Personal gebrauchen.«

Der Rechtsmediziner sah aus, als hätte er sich verhört. Es war eine Kombination aus Beleidigung und Machtdemonstration, denn wie sollten zwei nicht autorisierte Personen pünktlich zu einer bestimmten Leichenschau erscheinen, von der nur die Polizei Kenntnis hatte? Rudi reagierte mit einem gutmütigen Lächeln.

Er zog seinen Dienstausweis heraus, Lykke tat das Gleiche. Mogens Krogh nahm die Ausweise entgegen. Vor allem Rudolph Lehmanns Legitimation wurde eingehend studiert, obwohl die Informationen und das Foto offensichtlich stimmten. Für Lykke war die peinliche Vorstellung eine willkommene innere Flucht aus dem Sektionssaal.

Krogh gab die Ausweise mit gleichgültiger Miene an Jannick Johansen weiter, der ihnen die Identitätsbescheinigungen zurückgab, ohne selbst darauf zu schauen. Er lächelte Lykke entschuldigend an.

»Dann ist das auch erledigt«, sagte Kresten Osmann ungeduldig und griff nach dem Rand des Tuchs, als ihn Rudi unterbrach.

»Ich möchte wirklich nicht den Paragrafenreiter spielen, aber sollten sich nicht alle Anwesenden ausweisen?«

Die freundliche Stimme war mit einer dünnen Schicht Permafrost überzogen. Der Blick war eiskalt und auf Krogh geheftet. Verschwunden war der nette, freundliche Kriminalkommissar, der Lykke so herzlich empfangen hatte. Rudolph Lehmann ließ sich offensichtlich nicht gern herumschubsen, und schon gar nicht von einem südjütländischen Landpolypen und lokalen Hinterwäldler.

Mogens Kroghs Gesichtsfarbe veränderte sich. Jannick Johansen hingegen zog bereitwillig seinen Dienstausweis hervor und reichte ihn Lykke, der sich die Zehen krümmten. Die Übelkeit war vergessen. Es wurde totenstill im Sektionssaal, während die beiden leitenden Polizisten sich gegenseitig anstarrten. Sie gab dem Polizeiassistenten seinen Ausweis mit einem kleinen Lächeln zurück, während Krogh in den Taschen seiner Jacke und seiner Hose kramte, als würde ihn irgendetwas furchtbar jucken. Rudi sah ihn abwartend an. Krogh räusperte sich. Mit einer schleppenden, ziemlich dünnen Stimme erklärte er:

»Ich versichere, dass ich der Ermittlungsleiter Mogens Krogh bin. Das kann mein Kollege hier bestätigen, nicht wahr, Jannick?«

»Was? Ja, natürlich. Mogens Krogh ist Mogens Krogh.«

Allerdings wurde diese Behauptung noch immer nicht durch einen schriftlichen Beweis bestätigt. Rudi sah den Mann weiter auffordernd an. Lykke warf dem Rechtsmediziner einen Seitenblick zu. Er verhielt sich neutral, aber sie ahnte, dass er sich tief in seinem Inneren amüsierte.

»Der guten Ordnung halber«, fügte Rudi hinzu.

Kroghs Gesichtsfarbe wechselte von bleich zu rot.

»Wenn Sie darauf bestehen, dann müssen Sie warten. Ich habe meinen Ausweis nicht bei mir. Er liegt im Büro.«

Jannick Johansen entfuhr ein spontanes Grunzen. Er räusperte sich. Lykke sah zur Decke. Es war die Standardprozedur und für jeden Beamten der dänischen Polizei gesetzlich vorgeschrieben, dass er seinen Dienstausweis im Dienst immer bei sich zu tragen hatte. Sämtliche Anwesenden im Raum wussten es, Mogens Kroghs Bumerang war ihm selbst in den Nacken geflogen.

»Mir reicht die Bestätigung Ihres Kollegen«, erklärte Rudi.

Er wandte sich an Kresten Osmann.

»Von mir aus können wir mit der Leichenschau beginnen.«

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6

Lykke schluckte und drückte den Rücken durch, als Kresten Osmann das Tuch entfernte und der Körper sich im scharfen Obduktionslicht zeigte. Sie hatte gedacht, sie würde Bjarke Laumann auf der Stelle wiedererkennen, aber dies hier konnte irgendein jüngerer Mann sein. Sie verdrängte ihr Unbehagen und konzentrierte sich darauf, welche Fakten sich von dem Erscheinungsbild der Leiche ableiten ließen.

Sie glich einer Sandskulptur, einem Golem, aber tatsächlich verbarg sich unter dem Sand ein toter Mensch. Ein Mann, mit dem sie gelacht und gegessen hatte, den sie charmant gefunden und mit dem sie geschlafen hatte.

Es gab keinen Zweifel, dass Bjarke Laumanns letzte Augenblicke qualvoll gewesen sein mussten. Er war vollständig bekleidet. Der Kopf und der Rest des Körpers waren mit einer grauen Schicht aus Millionen Sandkörnern überzogen. Das Haar war mittelblond gewesen, hatte aber jetzt die Farbe eines Greises. Das Gesicht war in verzerrten Krämpfen erstarrt, mit eingefallenen Augen und einem offenen Mund voller Sand. Er bedeckte die Zunge und den sichtbaren Teil der Zähne.

»Also, was können wir aus diesem Albtraum schlussfolgern?«, wollte Rudi wissen. »Kennen wir, um damit zu beginnen, mit Sicherheit die Identität des Toten? Lykke, du hast Bjarke Laumann mehrfach in Kopenhagen verhört, oder?«

Sie riss sich von dem sandigen Grauen los.

»Ich glaube schon, dass er es ist«, hörte sie ihre eigene tonlose Stimme. »Es würde helfen, wenn ich sein Gesicht besser sehen könnte. Können Sie den Sand wegwischen?«

Der Rechtsmediziner ging ans Ende des Obduktionstisches, an dem es ein tiefes Spülbecken mit dazugehörigem Duschkopf gab.

»Sicher. Ich muss ihn vor der Obduktion ohnehin säubern und die Kleidung entfernen.«

Osmann drehte das Wasser auf und hielt den Duschkopf über den Kopf der Leiche. Schweigend sahen sie zu, wie der Sand fortgespült wurde und das bleiche Gesicht darunter freigab. Es entstand eine Art Illusion von Leben, als der Strahl auf die Lippen traf und sie vibrieren ließ, als wollte der Leichnam etwas sagen. Der Mund füllte sich mit Wasser, das den Sand herausspülte, die Zähne wurden sauber. Als der ganze Kopf sandfrei war, war Lykke sich bereits sicher, aber dennoch suchte sie auf ihrem Telefon nach einem Polizeifoto aus dem Archiv.

»Es ist Bjarke Laumann.«

Sie zeigte den anderen das Display.

»Was können Sie uns über ihn erzählen?«, fragte Mogens Krogh.

»Er ist ein alter Bekannter der Kopenhagener Polizei, verurteilt wegen Drogenhandels, Hehlerei und Einbruchs. Wir haben eine längere Akte über ihn, aber es gibt keinerlei Beweise, dass er in Gewaltverbrechen verwickelt war.«

»Der Name wird durch eine Versichertenkarte bestätigt, die in seiner Tasche steckte, als er uns gebracht wurde«, warf Kresten Osmann ein und nahm eine versiegelte Tüte der Polizei aus einer Schale. »Bjarke Laumann und eine Adresse in Kopenha…«

Mogens Krogh riss ihm die Tüte aus der Hand. Er studierte die Karte und reichte die Tüte weiter an seinen Assistenten.

»Mach weiter, Kresten.«

Rudi warf Lykke einen Blick zu, sagte aber nichts. Der Rechtsmediziner räusperte sich sichtlich irritiert.

»Die Umstände sind ungewöhnlich. Es musste schnell gehen, um den Körper vor der nächsten Flut zu bergen. Frank Joven, der Chef der Kriminaltechnik, und seine Männer haben die Fundstelle des Leichnams draußen im Watt und die Details der Bergung natürlich fotografiert. Ich werde Ihnen einen Link mit einem Passwort für die Homepage des Instituts zur Verfügung stellen. Im Anschluss an diese Leichenschau werde ich den Rest des Körpers vom Sand befreien und die Obduktion vornehmen. Wie deutlich sichtbar ist, gibt es eine größere Verletzung am Hinterkopf, die von einer unbekannten Schlagwaffe herrührt. Daran ist er vermutlich nicht gestorben, aber er wurde bewusstlos geschlagen.«

»Erzählst du mir gerade, dass er lebendig begraben wurde?«, fragte Krogh mit gerunzelter Stirn.

»Es sieht alles danach aus, aber ich warte mit meinen endgültigen Schlussfolgerungen bis zum Abschluss der Obduktion. Er könnte einen Herzinfarkt oder eine Gehirnblutung bekommen haben, was ich für ihn hoffe.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Rudi wissen.

»Zwei Personen«, antwortete Mogens Krogh.

Lykke wartete darauf, dass er weiterredete, aber der widerwillige Kommissar starrte auf den Leichnam.

»Könnten Sie das ausführen?«

Krogh zog mit einem abweisenden Gesichtsausdruck seine Hose hoch.

»Der Mann ist ein achtundzwanzigjähriger Lehrer, der in Melum wohnt. Er heißt Lasse Espersen. Er hatte einen seiner Schüler, Villads Geertsen, auf der Wattwanderung dabei. Sie wurden von der Flut überrascht, nachdem sie die Leiche gefunden hatten. Der Lehrer wurde festgenommen.«

»Aus welchem Grund?«

»Verdacht auf eine mögliche Entführung.«

»Entführung? Von wem?«

Krogh seufzte, als würde er mit einem retardierten Kind sprechen.

»Von Villads Geertsen. Er ist verschwunden, okay? Seit vorgestern suchen wir ihn. Ich dachte, man hätte Sie gebrieft?«

»Eigentlich war es so gedacht, dass Sie uns auf den neuesten Stand bringen«, erwiderte Rudi. »Darf ich um einen etwas genaueren Bericht bitten?«

»Das Operative Kommando der Marine sucht Villads zusammen mit dem ganzen Dorf und anderen Privatleuten«, erklärte Jannick Johansen eifrig. »Hunderte von Kindern und Erwachsenen haben Scheunen, Keller, leere Gebäude, Wälder, Dünen und Felder durchsucht. Es erinnert an den Fall Rosa Molberg, sie verschwand …«

Jannick hielt inne, sein Vorgesetzter hatte ihm einen grimmigen Blick zugeworfen.

»Ich verstehe nicht ganz«, wandte sich Lykke an die beiden Beamten. »Der Tote wurde von dem Lehrer und seinem Schüler gefunden. Warum wird der Lehrer jetzt verdächtigt, den Schüler entführt zu haben?«

»Lasse Espersen hat erklärt, er sei von einem unbekannten Mann bewusstlos geschlagen worden«, antwortete Jannick Johansen. »Als er wieder zu sich kam, waren der Junge und der Mann verschwunden. Wir sind der Meinung, dass es eigenartig klingt, deshalb haben wir ihn verhaftet, bis alles geklärt ist. Es ist zu seinem eigenen Schutz. Die Menschen in Melum sind ziemlich aufgebracht.«

Mogens Krogh sah noch unwilliger aus, wenn dies überhaupt möglich war.

»Können wir bitte eins nach dem anderen besprechen? Im Moment geht’s hier um die Obduktion, briefen kann ich Sie später.«

»Die eigentliche Obduktion braucht Zeit«, erklärte der Rechtsmediziner. »Und ich ziehe es gewöhnlich vor, dabei allein zu sein. Das Wichtigste war, die Identität des Toten festzustellen.«

Kresten Osmann sah aus, als würde er die Anwesenheit von Mogens Krogh gern auf ein absolutes Minimum beschränken, und Krogh schien mindestens ebenso gern den Raum verlassen zu wollen.

»Wir überlassen dich jetzt deiner Arbeit. Ich erwarte den Bericht spätestens morgen …«

»Augenblick«, unterbrach ihn Rudi. »Es gibt da ein paar Fakten, aus denen wir bereits hier und jetzt schlussfolgern können.«

Mogens Krogh glotzte, als hätte ihm der Deutsche auf die Uniform gespuckt.

»Was?«

»Dieser Mann wog mindestens fünfundachtzig Kilo, als er starb. Nach dem, was ich der Landkarte und den mangelhaften Informationen, die wir bekommen haben, entnehmen konnte, wurde Laumann mindestens einen Kilometer draußen im Watt gefunden. Das bedeutet mehreres.«

Er sah Lykke an, die ebenfalls ihre Überlegungen anstellte.

»Gab es Reifenspuren in der Nähe der Leiche, als sie ausgegraben wurde?«, fragte sie.

»Nein.«

»In der Zwischenzeit war Flut«, erklärte Jannick Johansen. »Die Spuren wären verwischt, wenn es sie gegeben hätte.«

Lykke nickte.

»Guter Punkt, Jannick.«

Krogh warf ihr einen scheelen Blick zu.

»Entweder wurde Bjarke Laumann zum Fundort gefahren, oder er ist selbst dorthin gegangen, freiwillig oder unter Zwang«, fuhr sie fort. »Sonst hätte ihn der Täter tragen oder ziehen müssen – immerhin ein Gewicht von achtzig, neunzig Kilo – über einen Kilometer durch den Sand und ohne dass er dabei von Zeugen beobachtet wurde. Das erscheint mir recht unwahrscheinlich.«

»Die Leiche könnte während der Flut mit einem Boot dorthin gebracht und im Meer versenkt worden sein«, schlug Krogh vor.

»Das ist nicht unmöglich, aber dann hätte der Täter riskiert, dass der Tote abgetrieben wird«, widersprach Rudi. »Und der Täter hätte später noch einmal hinausgehen müssen, um den Körper einzugraben. Das konnte er bei Flut nicht.«

»Die Unterströmungen haben ihn mit Sand bedeckt.«

»Als er gefunden wurde, war er so tief eingegraben, dass so etwas kaum vorstellbar ist, soweit ich es verstanden habe.«

»Warum wählt jemand überhaupt ein so schwieriges Versteck?« Lykke stellte die Frage in den Raum. »Warum hat der Täter die Leiche nicht in einem Wald oder einer Düne vergraben?«

»Ich glaube, weil es draußen im Watt zu einem Streit kam. Es war für den Täter am einfachsten, sein Opfer dort zu verstecken. Er hat die Leiche nur nicht tief genug vergraben.«

»Danke, Rudi. Das war genau meine Pointe.«

Mogens Krogh biss sich beinahe die Zunge ab.

»All right, diese Möglichkeit werde ich in meine Überlegungen einfließen lassen.«

Kresten Osmann klatschte ungeduldig mit den Gummihandschuhen auf seine Schürze.

»Könnten Sie den Stand der Ermittlungen bitte woanders diskutieren? Ich würde gern mit meinem Teil der Arbeit beginnen.«

»Ich gebe Ihnen meine Mailadresse, dann können Sie mir die Ergebnisse zusenden«, sagte Rudi.

Der Kommissar suchte in seinen Taschen, während Mogens Krogh und sein Assistent den Sektionssaal verließen. Rudi wollte offensichtlich Zeit gewinnen, Lykke wartete. Sobald die beiden Beamten verschwunden waren, sah Rudi Osmann vertraulich an.

»Wie lange arbeiten Sie mit diesem Mann schon zusammen?«

»Viel zu lange. Er glüht vor Wut, weil seine Vorgesetzten ihm auf die Finger schauen. Wenn Sie einen guten Rat haben wollen, dann behandeln Sie ihn wie ein faules Ei.«

»Schmeißt man das nicht weg?«, warf Lykke ein.

Die Schritte der Beamten im Gang wurden leiser.

»Mogens Krogh ist im Großen und Ganzen recht tüchtig, aber den Fall Rosa Molberg hat er vollkommen falsch angepackt«, erklärte Osmann. »Ich glaube, er hatte zu Hause Probleme. Bei seiner Frau wurde Brustkrebs diagnostiziert, außerdem hat er einen Sohn, der mit dem Leben nicht zurechtkommt.«

»Was lief bei dem Molberg-Fall schief?«, erkundigte sich Lykke.

»Alles Mögliche. Falsche Dispositionen, Spuren, die vernichtet wurden, Zeugen, die verschwanden, ohne ihren Namen angegeben zu haben, und eine gelöschte Videoüberwachung. Die Polizeiführung forderte einen Kopf, und in der Presse wurde Krogh als inkompetent vorgeführt, aber er kam mit einer Verwarnung davon. Es quält ihn wie ein Albtraum, dass er das kleine Mädchen nicht gefunden hat. Er hat auch eine Tochter. Allerdings muss man auch sagen, dass er nie ein sonderlich einfacher Mann war.«

»Danke für Ihren Rat, Doktor«, verabschiedete sich Rudi. »Hier ist meine Karte. Jetzt lassen wir Sie in Ruhe arbeiten.«

Sie gingen auf die Tür zu.

»Wenn Sie Lasse Espersens Aussagen zu dem Fall hören wollen, er ist noch immer im Krankenhaus. Er hat eine ziemlich üble Verletzung bei dem Überfall davongetragen. Jemand hat ihn angegriffen, und das war kein Kind.«

»Er ist hier im Krankenhaus?«

Osmann wies mit einem Gummizeigefinger zur Decke.

»Im vierten Stock.«

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7

»Endlich«, schnaufte Rudi, als sie den letzten Treppenabsatz zu Fuß erreichten, da der Fahrstuhl eine Störung hatte. »Der vierte Stock fühlt sich an wie der achte. Ich muss mich mehr bewegen.«

Lykke hatte kein Problem, allerdings joggte sie auch.

»Da drüben muss es sein.«

Ein Polizeibeamter blickte aus dem Fenster, die Hände in den Hosentaschen. Als sie auf ihn zugingen, kam er ihnen entgegen.

»Mojn«, grüßte Rudi. »Wir würden gern mit Lasse Espersen sprechen.«

Der Beamte sah sie freundlich, aber bestimmt an.

»Das ist leider nicht möglich. Die Presse hat keinen Zutritt.«

»Damit bin ich sehr einverstanden.« Rudi hielt ihm seinen Dienstausweis hin. »Lehmann, Polizei Flensburg.«

Auch Lykke zückte ihren Ausweis.

»Teit, Polizei Kopenhagen.«

»Flensburg«, fragte der Polizist und stutzte. »Ich dachte, das liegt in Deutschland?«

»Ja, wir haben es euch 1864 weggenommen, aber in der