Gezwisterliebe - Ursula Ott - E-Book

Gezwisterliebe E-Book

Ursula Ott

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Beschreibung

Was sich liebt, das nervt sich.

»Ich hab die Eltern gepflegt, während du dich aus dem Staub gemacht hast!«, »Du warst doch eh immer das Lieblingskind!«, »Du hast leicht reden, du durftest ja auch studieren!«. Solche und ähnliche Sätze fallen, wenn es unaufgearbeitete Konflikte zwischen Geschwistern gibt.

Geschwisterbeziehungen sind die längsten – und oft auch kompliziertesten – Beziehungen unseres Lebens. Auch in vermeintlich intakten Familiengeschichten finden sich kleine und große Traumata, unausgesprochene Verletzungen und mitunter herbe Enttäuschungen, die tiefer sitzen, als wir es zugeben wollen. Das Problem dabei ist: Je älter wir und unsere Geschwister werden, umso stärker manifestieren sich Rollenbilder und Verhaltensmuster, die in der kurzen Zeit des gemeinsamen Aufwachsens entstanden – und heute gar nicht mehr stimmen müssen. Denn: In den prägenden Jahren unserer Kindheit und Jugend sind wir noch keine voll ausgebildeten, erwachsenen Persönlichkeiten. Wir ändern uns im Laufe unseres Lebens. Jede und jeder geht seinen Weg und nimmt die eigenen Verletzungen als Schwelbrände unter der Oberfläche mit. Und wenn dann die Eltern sterben, brechen die Wunden auf und es kommt nicht selten zum offenen Konflikt. Doch das muss nicht sein.

Die Journalistin, Bestsellerautorin und Schwester Ursula Ott erkundet in ihrem neuen Buch die vielen Spielarten der »Gezwisterliebe«, lässt Expert*innen und Betroffene zu Wort kommen und zeigt auf, welche Wege es geben kann, um selbst aus verfahrensten Situationen auszubrechen und gemeinsam ein neues, besseres Kapitel in der Geschwisterbeziehung aufzuschlagen.

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Seitenzahl: 193

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Zum Buch

Geschwisterbeziehungen sind die längsten – und oft auch kompliziertesten – Beziehungen unseres Lebens. Auch in vermeintlich intakten Familiengeschichten finden sich unausgesprochene Kränkungen und mitunter herbe Enttäuschungen, die tiefer sitzen, als wir es zugeben wollen. Und die brechen oft dann auf, wenn das Leben kompliziert wird: Mama wird pflegebedürftig, Papa stirbt, das Elternhaus muss ausgeräumt werden. Gerade jetzt wäre es wichtig, dass Geschwister zusammenhalten – doch allzu oft werden alte Rollen und Verhaltensmuster aus der Zeit des gemeinsamen Aufwachsens wiederbelebt. Es kommt zum offenen, erbitterten Streit.

Doch das muss nicht sein. Die alten Rollen müssen heute gar nicht mehr stimmen. In den prägenden Jahren unserer Kindheit und Jugend sind wir noch keine voll ausgebildeten, erwachsenen Persönlichkeiten. Wir ändern uns im Laufe unseres Lebens. Und heute können wir auch Ressourcen wertschätzen, die nur Geschwister haben: Wir haben uns – oft gegen eine schweigende und überforderte Elterngeneration – nicht nur bekämpft, sondern auch gegenseitig gestärkt.

Die Journalistin, Bestsellerautorin und Schwester Ursula Ott erkundet in ihrem neuen Buch die vielen Spielarten der »Gezwisterliebe«, lässt Psychologen, Sozialforscher und Juristinnen zu Wort kommen und viele erwachsene Geschwister. Sie zeigt auf, welche Wege es geben kann, sich gemeinsam mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und zu versöhnen.

Zur Autorin

URSULAOTT, Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin des Magazins chrismon. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitete u. a. als Gerichtsreporterin bei der Frankfurter Rundschau, als Autorin und Kolumnistin bei der Woche, Brigitte und Sonntag aktuell sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. Sie hat zahlreiche Sachbücher über Familie, Kinder und Gesellschaft geschrieben, darunter auch den SPIEGEL-Bestseller »Das Haus meiner Eltern hat viele Räume«, ihr Buch über die Herausforderung, das eigene Elternhaus ausräumen zu müssen. Ursula Ott hat eine ältere Schwester und zwei erwachsene Söhne. Sie lebt in Köln und Frankfurt am Main.

Ursula Ott

Gezwisterliebe

Vom Streiten,

Auseinandersetzen und

Versöhnen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Aus Gründen des Datenschutzes und der Diskretion wurden zahlreiche Personen- und Ortsnamen in diesem Buch von der Autorin konsequent verfremdet, um Rückschlüsse auf die familiäre Situation der Gesprächspartner zu verhindern. Die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, dienen der Anschaulichkeit und sollen in erster Linie den Leserinnen und Lesern das Gefühl vermitteln, mit ihrer jeweiligen Situation nicht allein zu sein. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder deren Geschwistern sind nicht beabsichtigt.

Originalausgabe September 2024

Copyright © 2024 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Getty Images/Peter Dazeley

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT · Herstellung: BB

ISBN 978-3-641-30372-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Inhalt

Warum ich dieses Buch schreibe

Schule des Lebens

Warum es sich lohnt, über seine Brüder und Schwestern nachzudenken. Und warum viele von uns sich nach dem großen »Wir« sehnen

Freiheit, Gleichheit – und war da nicht noch was?

Warum das Thema Geschwister lange vernachlässigt wurde und erst allmählich die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient

Der Mythos vom Streber und der Rebellin

Warum die Theorien über die Geschwisterreihung inzwischen widerlegt sind – und was die Forschung wirklich weiß

Wo ist dein Bruder Abel?

Wie Kain, Abel und Aschenputtel in unserem kollektiven Gedächtnis wohnen. Auf der ganzen Welt prägen uns Geschwister aus Bibel, Koran und der Märchenwelt

Jetzt ist die Zeit

Warum wir Babyboomer jetzt wieder so viel mit unseren Geschwistern zu tun haben. Und warum wir das unbedingt nutzen sollten

»Wenn der hier an die Tür klopft, drehe ich den Schlüssel zweimal rum.«

So zerstritten können Geschwister sein

»Ich wünschte, er stürzt mit dem Flugzeug ab.«

Wie eine Bruderliebe ins krasse Gegenteil umschlagen kann – und jetzt alle nur noch von Ex-Brüdern sprechen

Das ganz normale Familientheater

Warum die große Tragödie zum Glück selten aufgeführt wird – aber doch recht häufig das kleine Drama

Kriegskinder, kalte Elternhäuser und Knaus-Ogino

Die Zeit unserer Kindheit – was war da los in der Welt und was hat das mit unserer Geschwisterbeziehung zu tun?

»Und was hat dir das Wühlen in der Familiengeschichte gebracht?«

Wie das Kriegserbe bis heute Zwist unter Geschwistern schafft – und wie man trotzdem in Kontakt bleiben kann

»Deine Schwester kann aber bis Strophe sieben.«

Warum wir als Geschwister so viel verglichen wurden. Und was »typisch Mama« und »typisch Papa« war

»Warum hast du nicht mit mir geredet?«

Wie man sich trotz einer lieblosen Kindheit in der DDR später im Leben zu einer starken Persönlichkeit entwickeln kann

Von Kartonwänden und Kofferwohnungen

Wer aus der Türkei eingewandert ist oder aus Syrien geflohen ist, ist selten Einzelkind. Von der Geschwisterrolle bei Flucht und Migration

»Der hat als großer Bruder versagt!«

Wie die Kinder in einer Gastarbeiterfamilie streiten. Ums Elternhaus – oder doch eher: Um Wurzeln und Flügel?

»Wir sollten uns mal zusammensetzen!«

Du bringst den Römertopf mit, ich die Fotoalben. Wie man ein Geschwistertreffen angehen kann

»Wir haben uns in der Mitte unserer Unsicherheiten getroffen.«

Wie ein Bundeswehroffizier und ein Friedensaktivist wieder zueinanderfanden – und welche Rolle der kleine Bruder dabei spielte

Der Mythos von der absoluten Gerechtigkeit

Warum alle Eltern darauf pochen, Geschwister genau gleich zu behandeln. Und warum das gar nicht möglich ist

Gerecht vererben und gerecht erben

Was der Unterschied zwischen »Equity« und »Equality« ist. Besuch beim Sozialpsychologen Kai J. Jonas

»Und dann haben wir uns helfen lassen.«

Wie drei Schwestern das Lebenswerk der Mutter retten wollen – und sich dabei total übernehmen. Sie haben verstanden: Das schaffen wir nicht alleine

Streiten, Auseinandersetzen und Versöhnen

Wie aus Gezwisterliebe echte Geschwisterliebe werden kann

Geschwisterliebe. Versuch einer Gebrauchsanleitung

Dank

Literaturempfehlungen

Warum ich dieses Buch schreibe

Ein lauer Frühlingsabend in Leipzig, die erste Lesung aus meinem Buch Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. In dem Buch habe ich beschrieben, wie ich mit meiner Schwester zusammen unsere alte Mutter aus dem geliebten Elternhaus in ein Betreutes Wohnprojekt umsiedele. Und wie ich dabei unsere gemeinsame Kindheit aufräume.

Heute ist Buchpremiere. Ich darf bei »Leipzig liest« am Rande der Buchmesse in einem Yogastudio auftreten und anschließend signieren. Die Reihen sind dicht besetzt. Schon mal gutes Karma zwischen den grünen Meditationskissen, denke ich. Ich hatte nicht geahnt, dass das Buch wirklich so viele Menschen interessieren würde. Ich bin aufgeregt. Zwei Frauen in Schwarz fallen mir sofort auf: Eine mit kurzen blonden Haaren, eine mit langem dunklem Zopf. Sie lassen sich nach der Lesung ein Buch signieren. Und während ich noch überlege, was ich mit meinem eigens dafür angeschafften blauen Fineliner schön ordentlich auf Seite drei schreiben könnte, sagt die Ältere von beiden: »Unsere Mutter ist letzte Woche gestorben. Und wir wollen es so machen wie Sie und Ihre Schwester, wir wollen jetzt zusammenhalten, bei allem, was kommt.« Mit meinem Fineliner schreibe ich groß und deutlich in Schönschrift ins Buch »Ihr schafft das«. Und denke an diesem Abend: So ist es. Geschwister halten zusammen.

Ein warmes Gefühl durchströmt mich, wenn ich an meine drei Jahre ältere Schwester denke. Wie sie an meinem Bett saß und mir aus Hanni und Nanni vorlas, wenn ich mir – wieder mal, es kam häufiger vor, als mir lieb war – ein Bein oder einen Arm gebrochen hatte. Ich war der Tollpatsch, sie die Vernünftige. Wenn ich mit dem Stuhl gekippelt und mir den Hinterkopf aufgeschlagen hatte, tröstete sie mich, und wir flohen zur Ablenkung gemeinsam in unsere Traumwelten. Ins Internat zu den englischen Zwillingsschwestern, wo es um Mitternacht wilde Pyjamapartys gab.

Die Hanni-und-Nanni-Welt mit diesen frechen, selbstbewussten Girls hätte in keinem größeren Kontrast zu unserem strengen oberschwäbischen Elternhaus stehen können. Wenn ich mir mal wieder wehgetan hatte, gab es von meinem Vater nicht etwa tröstende Worte. Es gab einen Rüffel, was ich denn jetzt schon wieder angestellt hätte.

Für die Sommerferien 1973 hatten meine Eltern für uns vier einen Urlaub gebucht, eine Flusskreuzfahrt auf dem Rhein. Ich war am Tag vor der geplanten Reise beim Klettern von einem Baugerüst gefallen und ahnte: schon wieder ein Knochen kaputt. Urlaub gefährdet. Nie werde ich vergessen, wie ich am Vorabend der Abfahrt weinend vor Schmerzen auf dem Klo saß und meine Schwester an die Tür klopfte: »Du hast was gebrochen, oder? Komm, ich sag’s Papa.«

Wir fuhren dann trotzdem mit dem Kreuzfahrtschiff. Auf allen Fotos aus diesem Urlaub ist mein Riesengips zu sehen – von der Schulter bis zum Daumen. Ich hatte mir Ellbogen und Speiche gebrochen. Der vierte Knochenbruch in zehn Jahren. Neben mir auf den Rheinromantik-Fotos vor Burg Goarshausen meine um zwei Köpfe größere Schwester, die uns beiden kunstvolle Föhnfrisuren gestylt hatte. Damit der Blick vom gebrochenen Arm wegging, hin zu den beiden über die Rundbürste geföhnten und mit Mamas Haarspray fixierten Haartollen.

Als ich meiner Schwester heute davon erzähle, kann sie sich erst gar nicht erinnern, dass sie mir die Überbringung der schlechten Botschaft – Knochen gebrochen! – abgenommen hat. Aber sie sagt, sie habe mich auch bewundert damals: Ich war die, die auf Gerüste kletterte. Sie war die, die im ordentlichem Schottenkaro-Faltenrock sitzen blieb und den Eltern gefiel. Man konnte Biggi überall vorzeigen, mit mir wurde es eher peinlich für die Eltern. In meiner Strumpfhose immer Löcher am Knie. Auf der weißen Bluse immer ein Soßenfleck.

An meiner Schwester und mir könnte man die gesamte Geschwisterforschung durchexerzieren, über die in den letzten Jahren so kontrovers gestritten wird: Die Ältere ist die Angepasste, die Jüngere die Rebellin. Dass es so holzschnittartig im Leben dann aber meistens doch nicht läuft, werde ich später in diesem Buch noch anschaulich erklären.

Schwestern müssen zusammenhalten, das war mir immer klar. Als Kinder gegen die Eltern. Später als erwachsene Geschwister in der Fürsorge für die Eltern. Gerade wir Babyboomer, die wir, grob gesagt, in den 60ern und 70ern geboren wurden, sind oft bei strengen Eltern aufgewachsen, die als Kriegskinder Probleme hatten mit Wärme und Empathie. Ich kann mich zum Beispiel an ein Abendessen erinnern, bei dem meine Schwester – sie wird ungefähr fünfzehn Jahre alt gewesen sein – meinen Vater unverblümt fragte, warum er sich gegen Kriegsende freiwillig an die Front melden wollte. Eigentlich war mein Vater, geboren 1930, ein »weißer Jahrgang«. Er musste nicht in den Krieg. Aber er marschierte im April 1945 auf die Veitsburg in Ravensburg, wo die letzten verzweifelten Truppen versammelt wurden. Nur eine gehörige Tracht Prügel seines Vaters hielt ihn letztlich davon ab, als Fünfzehnjähriger sinnlos ins Feuer zu gehen. Er hatte uns oft davon erzählt, ganz so, als ob er dafür gelobt werden wollte. Und wir Töchter, inzwischen selbst in diesem Alter, konnten es einfach nicht verstehen. Freiwillig? In den Krieg?

Meine Schwester war viel mutiger als ich. Geschult von einer Generation linker Lehrer, schnitt sie beim Abendessen wieder und wieder das Thema Nationalsozialismus an. »Warum wolltest du in diesen Krieg?« Mit ihrem Geschichtslehrer hatte sie im Stadtarchiv die Nachkriegsgeschichte von Ravensburg recherchiert und Zeitzeugen interviewt. »Warum, Papa, erzählst du so begeistert von der Hitlerjugend, das waren doch keine Pfadfinder?« »Warum habt ihr nichts gemacht, als das Schaufenster von Juwelier Grünstein zerstört wurde?« … Bis meinem Vater mit einem Mal der Geduldsfaden riss und er ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Ich glaube, es war das einzige Mal, dass er handgreiflich wurde. Meine Schwester ertrug es heroisch. Sie verzog keine Miene. Aber ich fing an zu weinen. Ich ertrug nicht, dass meine Schwester ungerecht behandelt wurde.

All diese Szenen schossen mir durch den Kopf, als ich die beiden schwarz gekleideten Schwestern in Leipzig vor mir sah. Das war im Mai 2019. Zwei Dinge sind danach vollkommen anders gekommen, als ich dachte. Mein Buch wurde ein viel größerer Erfolg, als ich mir hätte erträumen können. Ich verstand: Eine ganze Generation von Kriegsenkeln räumt jetzt ihre elterlichen Wohnungen auf, stöbert im Elternhaus und konfrontiert sich selbst mit Dingen aus der eigenen Kindheit. Wie schön. Was mich allerdings zunehmend verstörte: Zu meinen Lesungen kamen nicht so viele liebevolle und zusammengeschweißte Geschwister, wie es die beiden in Leipzig waren. Sondern sehr viel öfter kam eben nur ein Bruder, eine Schwester. Und erzählte mir beim Signieren von Zwist, von Streit, sogar von regelrechtem Krieg mit den Geschwistern. Nicht wenige meiner Gegenüber hatten den Kontakt zu ihren Geschwistern sogar ganz abgebrochen.

Szenenwechsel. Ein schwülwarmer Abend in der Stadtbibliothek Essen, Sommer 2022, die letzten Gäste stehen noch bei einem Glas Weißwein am Büchertisch und ratschen. Ein Mann Anfang sechzig, der mich beim Signieren beobachtet, kommt mir bekannt vor. »Guten Abend, bitte zwei Exemplare, eines für mich und eines für meinen Bruder.« Sehr schön, gleich zwei Bücher – aber woher kenne ich den Mann?

»Das Buch hat mir jetzt schon geholfen«, sagt er. »Wissen Sie, unser Vater ist letztes Jahr – mit 88 und fit bis zum letzten Tag – vom sonntäglichen Mittagsschlaf nicht mehr aufgewacht, wie segensreich.« Aber? Aber, sagt er, da stehe nun das Elternhaus, keine 300 Meter von seinem eigenen entfernt. »Für mich war immer klar, das wird verkauft«, sagt der Mann, »aber mein Bruder in Hamburg – in Hamburg! – kann sich das überhaupt nicht vorstellen. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Meine Frau nennt es mittlerweile das Museum.«

Der Mann redet sich jetzt in Fahrt. Von Kosten für die Wärmedämmung, von Schimmelbildung, Winterdienst und Lüftungsanlage. Man glaube ja gar nicht, wie schnell so ein leer stehendes Haus verfalle. »Ich führe ein mittelständisches Unternehmen mit 250 Angestellten, aber hier bin ich machtlos.« Und genau in dem Moment fällt mir ein, woher ich ihn kenne. Er hat neulich einen wichtigen Wirtschaftspreis gewonnen, es kam in den Abendnachrichten. Ein Gründer. Ein Macher. Einer, der gewohnt ist, dass die Dinge so laufen, wie er es will. Und jetzt ist da dieser Bruder, der einfach das Haus nicht loslassen kann. Und der ihn indirekt zwingt, alle paar Tage in das Haus zu gehen, um zu lüften. »Das ist jedes Mal eine Zumutung.«

Was läuft hier für ein Spiel? Warum kann der große Bruder vom Haus nicht lassen? Wie schafft er es eigentlich, den »Kleinen« mit Hausmeisterdiensten beschäftigt zu halten? Und was ist das überhaupt für ein »Museum« der Kindheit?

Anruf bei Katharina Mosel, sie ist Fachanwältin für Erbrecht in Köln. Jede Woche hat sie Geschwister an ihrem Tisch sitzen, meist am Freitagnachmittag, weil die Streithansel für die Termine oft aus allen Ecken der Republik zusammenkommen. Mal streiten sie um ein Haus, mal geht es um ein Firmenerbe. Manchmal aber auch nur um diesen einen Ring, den die Mutter angeblich der Gabi versprochen hat, aber die Luise hätte ihn halt auch gern. Die Anwältin, die auch eine Ausbildung in Mediation hat, versucht dann herauszufinden, welche Kindheitsmuster in den Familien jetzt, nach langer Zeit, wieder hervortreten. Durfte der eine studieren, die andere »nur« eine Lehre machen? War das Nesthäkchen immer Papas Liebling, das nach dem Abi dann obendrauf auch noch den alten R4 geschenkt bekam? Und dass Sabine sich in den letzten Jahren so rührend gekümmert hat um Mutti – das war doch kein Opfer! Das hat sie doch gern gemacht, sie hat ja keine Kinder! …

Mir wird klar: Geschwister – das ist ein Riesenthema. Und es reift der Entschluss, ein eigenes Buch darüber zu schreiben. Ein Nachfolgerbuch zu dem Elternthema. Über die unterschiedlichen Räume, die Geschwister in ihren Familien bewohnen. Und über Wege, wie man es schaffen kann, gemeinsam aufzuräumen. In der Kindheit, im Leben. Ich will ein Buch schreiben, das es Geschwistern möglich macht, wirklich erwachsen zu werden. Und in Frieden miteinander zu leben.

Damit Sie wissen, was Sie in diesem Buch erwarten können, will ich einen kurzen Ausblick geben: Als Erstes schauen wir uns an, wie Geschwisterbeziehungen – meist die längsten Beziehungen in unserem Leben – uns für unser späteres Leben prägen. Und warum sie dennoch über Jahrzehnte kaum ernst genommen wurden, weder von der Psychologie – Freud lässt grüßen – noch vom Gesetzgeber. Dabei kennen wir doch alle die Märchen von Brüderlein und Schwesterlein, kennen die biblischen Geschichten vom verlorenen Sohn oder von Kain und Abel. Geschwister sind wichtig, immer! Drum trifft es auch mitten in die Magengrube, wenn wir uns im späteren Leben mit unseren Geschwistern zerstreiten.

Wir treffen Brüder, die über die Pflege der Mutter zu »Ex-Brüdern« wurden. Schwestern, die den Betrieb der Mutter weiterführen wollten und nicht aus ihren alten Kinderrollen herauskamen. Aber auch drei Brüder, die erkannt haben: Du warst zwar immer für die Bundeswehr, ich immer für den Frieden – aber heute treffen wir uns in der Mitte unserer Unsicherheiten. Und schätzen uns als Menschen.

Um aus den alten Sandkastenspielen herauszufinden, lernen wir von Juristinnen und Psychologen. Tauchen ein in die Kindheiten der 60er und 70er Jahre, auch in die von Gastarbeiterkindern und DDR-Geschwistern. Wir finden Ideen für lustige Geschwistertreffen und versöhnliche Briefe nach einer langen Funkstille. Und lassen uns von einem Sozialpsychologen erklären, wie man die letzte große Aufgabe im Leben von Geschwistern friedlich lösen kann: den Streit ums Erbe.

Schule des Lebens

Warum es sich lohnt, über seine Brüder und Schwestern nachzudenken. Und warum viele von uns sich nach dem großen »Wir« sehnen

Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst hieß eine Ausstellung, die 2022/23 in der Kunsthalle Tübingen zu sehen war. Sie war nicht nur sehenswert, weil man gezeigt bekam, wie stark sich das Bild von Geschwistern in der Kunst über die Jahrhunderte verändert hat. Für mich lohnte sich der Besuch auch, weil ich vom Café am Rande der Kunsthalle aus die Besucher und Besucherinnen beobachten konnte. So viele Geschwisterpaare standen vor den Gemälden! Eine Besucherin kritzelte zwei Strichfiguren ins Gästebuch: »Ich, 19 Jahre« stand neben dem Mädchen, »22 Jahre« neben dem Brudermännchen. »Lass uns kämpfen«, sagt der Bruder. »Lass uns umarmen«, die Schwester.

Typisch Geschwister: Sie schwanken ständig zwischen Liebe und Streit, sind mal Komplizen und mal Konkurrenten. So gesehen ist die Geschwisterbeziehung ein ideales Trainingsfeld fürs spätere Leben. Wer mit Geschwistern aufgewachsen ist, hat gelernt, um seine Rechte zu kämpfen, Bündnisse zu schließen und Kompromisse auszuhandeln. Hat gelernt: Es gibt auch andere Bedürfnisse als meine. Und ich muss teilen: Die Schokolade. Das Kinderzimmer. Die Liebe der Eltern. »Empathie und Sozialkompetenz«, so schreibt die Kindertherapeutin Inés Brock-Harder, lerne man am besten von Geschwistern. Was für eine großartige Schule des Lebens. Und sieht man nicht – so gibt Brock-Harder zu bedenken – an einer Gesellschaft wie der chinesischen, die jahrelang nur ein Kind erlaubte, welche Sozialkompetenzen fehlen, wenn Geschwister fehlen?

Doch die viel beschworene Geschwisterlichkeit ist ein hehres Ziel. Eine gelungene Geschwisterbeziehung könne als »wegweisende Zukunftsmetapher für alle« gelten, schreiben die Macherinnen und Macher der Tübinger Ausstellung. Die Sehnsucht nach dem »Wir« – sie wird größer, je individueller und unterschiedlicher unsere kleinen Welten sich ausdifferenzieren.

Denken Sie mal darüber nach: Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist für die meisten von uns die längste in unserem Leben. Länger als die zu unseren Eltern, die im Normalfall weit vor uns sterben. Deutlich länger als die zu unseren Lebenspartnern, die wir im Normalfall erst im Erwachsenenalter kennenlernen. Unsere Geschwister sind die Personen aus unserer Generation, die uns am nächsten sind, niemand sonst auf der Welt hat Erfahrungen gemacht, die unseren so ähnlich sind.

»Familieneigentümlichkeiten«, sagen die Soziologen dazu. Neudeutsch spricht man von Codes. Dass ich – geprägt von der Sparsamkeit meiner Eltern – besonders gern und großzügig Trinkgeld gebe, versteht am besten meine Schwester. Dass wir beide uns gegenseitig schreiben »Heul nicht verpassten Möglichkeiten nach« – das verstehen wir auch, wenn es nur per WhatsApp und nur mit den ersten zwei Worten geschrieben wird – es reicht »Heul nicht…«. Es war das Mantra meines Vaters.

Als ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben, bin ich zuerst einmal bei meiner eigenen Familie auf die Suche gegangen nach solchen »Familieneigentümlichkeiten«. Ich kann dazu nur raten, falls man Geschwister hat: Fragen! Fotos gucken! Darüber reden. Miteinander lachen. Aus vielen kleinen Geschwistergeschichten erklärt sich so manche Marotte, die man heute mit sich rumschleppt. Und es macht ganz nebenbei wirklich Spaß!

Um meine Schwester zu befragen, muss ich reisen, denn sie ist immer unterwegs. Sie meint, das sei so, weil unsere Eltern nie wegwollten aus der oberschwäbischen Enge. Aber sie ist deutlich rastloser als ich. Und überhaupt sind wir ganz schön unterschiedlich. Mal sehen, ob wir diesem Phänomen auf die Spur kommen. Ich setze mich also ins Auto und fahre ins Rothaargebirge, wo sie sich zwei Wochen Gesundheitsurlaub gönnt. Ich warte im Café, sie kommt fünf Minuten zu spät.

Uns beiden fällt ein, dass das in unserer Familie immer so war. Bilder fliegen in meinen Kopf. Die 70er Jahre. Mein Vater und ich sitzen im Auto, der Motor läuft, und wir warten ungeduldig auf meine Schwester. Meine Mutter, die Diplomatin, rennt über die Waschbetonplatten zwischen Haustür und Auto hin und her, um meinen Vater zu beruhigen, der vor Ungeduld schon rote Flecken am Hals bekommt, die immer größer werden. Und um meine Schwester anzuschubsen: »Was machst du denn so lange? Jetzt komm doch bitte.« Endlich steigt meine Schwester ins Auto – sie hatte wahlweise das Gummi mit den zwei roten Holzkugeln für den Pferdeschwanz oder den Lipgloss mit dem Grüne-Apfel-Geschmack nicht gefunden. Die Stimmung im Auto ist auf dem Tiefpunkt. In eisiger Stille fahren wir zu einem unserer Familienausflüge.

Heute können wir darüber lachen. Aber mir wird klar: Diese wahnsinnige Ungeduld, die habe ich ein Leben lang behalten. Ich hasse es, auf jemanden zu warten. Und ich verachte bis heute Frauen, die ewig an ihrem Outfit herumtüddeln. Und meine Schwester findet bis heute, ich könnte mich ein bisschen ordentlicher stylen, bevor ich mich in ein Auto oder eine Bahn setze. Okay, grüner Apfel muss es heute nicht mehr sein, aber ein bisschen Max Mara?

Wie lustig, mir fällt wirklich jetzt erst auf, dass ich bei diesem Thema komplett auf Papa-Seite war. Papa ungeduldig – ich ungeduldig. Wo ich doch lange dachte, Biggi sei die komplette Vatertochter. Darüber muss ich noch nachdenken. Das macht Spaß!

»Geschwister hüten diesen in Geschichten gesammelten Schatz von Erinnerungen als ein Geheimnis eigener Art«, schreibt der Soziologe Tilmann Allert im Katalog der Kunsthalle Tübingen zur eingangs erwähnten Geschwisterausstellung. Mit »Geheimnis« meint er nicht etwa Staatsgeheimnisse oder verbotene Dinge. Er meint Vorgänge in unserer Kindheit, die wir später vergessen, die aber dennoch unser Handeln beeinflussen.

Und doch gibt es so viele erwachsene Geschwister, die diesen Schatz gar nicht feiern können. Die im Gegenteil heillos zerstritten sind. Ich habe für dieses Buch viele Menschen getroffen, darunter auch einen Bruder, der mir seelenruhig gesagt hat: »Wenn meine Schwester morgen an meiner Tür klingelt und fragt: Spendest du mir deine Niere? Ich würde die Tür wieder zumachen.« Diese Geschichte ist besonders erschütternd, ich erzähle sie etwas später in diesem Buch noch ausführlich. Jedenfalls bin ich froh, dass ich viele Wochen nach dem Interview mit diesem einsamen Bruder den Geschwisterforscher Jürg Frick getroffen habe, der genau das Gegenbeispiel erzählte. Von zerstrittenen Geschwistern, die wieder zusammengefunden haben, weil eine hörte, die andere brauche eine Niere. Und die der Schwester nach jahrelanger Funkstille in einem Brief schrieb: Ich spende dir meine Niere.