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Cleo ist völlig verzweifelt, als ihre beste Freundin Anja ermordet aufgefunden wird. Ausgerechnet Anja - die lebensfrohe, bei allen beliebte Anja! Trost findet Cleo bei der geheimnisvollen Katharina, einer Bekannten von Anja. Die Mädchen verbringen mehr und mehr Zeit miteinander. Doch Cleo ahnt nicht, dass Katharina nur ein einziges, aberwitziges Ziel verfolgt...
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Seitenzahl: 223
Die Autorin
Zara Kavkahat nach dem Studium der Theaterwissenschaftviele Jahre als Redakteurin beim Kinderfernsehen gearbeitet.Als sie dann selbst Kinder bekam, fing sie mit dem Schreiben anund kann seitdem nicht mehr damit aufhören.Zara Kavka lebt mit ihrer Familie in München.
Titel
Zara Kavka
Giftkuss
Impressum
Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80177-3www.arena-verlag.de www.arena-thriller.defacebook.com/arenathrillerMitreden unter forum.arena-verlag.de
Zitat
Freundschaft ist etwasjenseits von Liebe(Henry Miller)
Prolog
Sabrina öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus. Wie immer strömte ihr der Geruch von Essen, Müll und Putzmitteln entgegen. Meist deprimierte sie dieser Geruch, aber heute nicht. Heute war Sabrina glücklich. Daher versuchte sie erst gar nicht, ob der Aufzug funktionierte, sondern rückte den Gurt ihrer Reisetasche auf der Schulter zurecht und machte sich zu Fuß auf den Weg in den siebten Stock. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und bei jedem Schritt wuchs die Vorfreude.
Als Erstes erzähle ich ihr von Silvie, die sich auf der Hinfahrt im Bus einfach neben mich gesetzt hat, obwohl es noch andere freie Plätze gegeben hätte. Laura wird vor Freude quietschen! Jetzt habe ich richtige Freunde.
Dritter Stock. Sie achtete darauf, mit der linken Hand nicht die Dreckstellen des Geländers zu berühren. Wie schön sich das Holzgeländer in der Jugendherberge angefühlt hatte. Es war von oben bis unten makellos und blank poliert – herrlich. Davon erzähle ich ihr auch und vom Zoo und diesem riesigen Baumhaus. Das wird ihr gefallen!
Fünfter Stock. Gleich hatte sie es geschafft. Laura und sie waren noch nie eine Nacht getrennt gewesen und jetzt waren es gleich vier.
Sechster Stock. Der Riemen der Tasche schnitt tiefer in ihre Schulter und sie musste ihren Schritt verlangsamen. Der Geruch war mit jeder Etage schlimmer geworden und sie begann zu ahnen, woher er kam. Und wennschon! Mein Leben hat sich verändert, komplett. Ein, zwei Tage aufräumen, dann ist alles wieder gut.
Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche, steckte ihn ins Schlüsselloch und öffnete die Tür. Reflexartig hielt sie sich die Nase zu und trat einen Schritt zurück. Noch nie hatte sie einen so penetranten Gestank gerochen. Sie horchte. Wenn sie nach Hause kam, empfing Laura sie immer mit einem Freudenquietscher – selbst wenn sie nur eine Stunde einkaufen gewesen war. Jetzt hörte sie nur das Dröhnen des Fernsehers.
»Laura?«
Stille.
Mit einem heftigen Ruck ließ sie ihre Reisetasche fallen und stieg über die Tüten und Kisten im Flur, nahm im Vorbeigehen schemenhaft das Chaos in der Küche und im Wohnzimmer ihre Mutter wahr, die unbeweglich in ihrem Sessel saß und auf den Bildschirm glotzte. Am Ende des Flurs betrat sie das Zimmer ihrer kleinen Schwester und erstarrte.
Was sie da sah, durfte nicht sein. Entsetzt legte sie die Hände vor den Mund. Die kleine Laura lag zusammengerollt auf ihrem Bett, die Augen starr in die Mitte des Zimmers gerichtet. Sabrina löste sich aus ihrer Starre, rannte zum Fenster und öffnete es. Dann kniete sie sich neben Laura und schüttelte sie.
»Laura, Laura, La3ura…!«
Immer wieder schrie sie ihren Namen, schüttelte sie, drückte sie an sich. Es musste ein Albtraum sein, ein Irrtum, ein dummes Versehen!
»Laura, jetzt sag was. Ich bin’s, Sabrina!«
Endlich hielt sie inne und legte ihre Schwester behutsam hin, um sie nicht zu verletzen – obwohl sie wusste, dass sie bereits tot war.
Berlin, Silvie, der Zoo… In ihrem Magen formte sich ein dicker Klumpen und plötzlich wurde ihr schlecht. Sie sprang auf, rannte ins Bad und übergab sich in die verdreckte Kloschüssel.
Mama! Sie richtete sich auf. Alles begann, sich zu drehen, und sie stützte sich am Spülbecken ab. Dann lief sie ins Wohnzimmer und schrie.
»Mama! Was ist passiert?«
Doch ihre Mutter schien sich in einer anderen Welt zu befinden. Schmerzhaft langsam löste sie ihren Blick vom Bildschirm und drehte den Kopf.
»Du? Wo warst du so lange?«
»Was ist passiert?« Sabrina brüllte jetzt und ihre Mutter verzog gequält das Gesicht.
»Schrei nicht so. Was soll passiert sein?«
»Laura ist…«
Und weil sie dieses eine kleine Wort nicht aussprechen konnte, drehte ihre Mutter den Kopf wieder zurück zum Fernseher, als schaute sie eine spannende Sendung, von der sie keine Sekunde verpassen durfte.
»Laura liegt tot auf ihrem Bett.«
Ihre Mutter reagierte nicht.
Sabrina rannte ins Wohnzimmer, stellte sich vor ihre Mutter und schüttelte sie ebenso hart wie zuvor ihre Schwester. Dabei merkte sie, wie anders sie sich anfühlte. Ihr Körper bewegte sich keinen Millimeter, so dick und wuchtig war er. Erschrocken ließ sie von ihr ab.
»Laura ist tot, hörst du mich?«, schrie sie ihre Verzweiflung heraus.
»Laura ist tot?«, fragte die Mutter. »Aber warum denn?«
»Hast du ihr die Medikamente gegeben?«
»Medikamente?«
»Und Frau Bertels? Ich hatte sie extra gebeten, nach euch zu schauen.«
»Es hat geklingelt, ja, aber ich habe niemanden reingelassen.«
Sabrina griff nach dem Din-A4-Blatt, das unter den Chipstüten und Pizzakartons hervorschaute.
»Ich hab dir alles zurechtgelegt. Die Medikamente, das Essen, alles. Und hier…«
Sie hielt ihr das Papier unter die Nase.
»Diesen Zettel hatte ich dir geschrieben. Du hast mir versprochen, dass du dich um sie kümmerst.« Ihre Stimme überschlug sich.
»Ja… stimmt.« Ihre Mutter legte sich den Zettel auf den Schoß, schaute verträumt auf ihn herab und strich ihn mit der rechten Hand immer wieder glatt, von unten nach oben.
»Mama, sprich mit mir. WAS IST PASSIERT?«
Ihre Mutter fing an zu weinen.
»Mama!«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. »Erst bist du tagelang weg und jetzt schreist du mich an.«
Mitleid mischte sich mit Sabrinas Wut, eine Kombination, die ihr vertraut war.
»Hast du Laura vergessen?«
»Ich dachte, du hättest sie mitgenommen.«
»Nicht weinen, Mama, nicht weinen.«
Sabrina trat zur Seite, damit ihre Mutter wieder freien Blick auf den Fernseher hatte. Nur so würde sie sich beruhigen, sie konnte ihre Mutter einfach nicht weinen sehen. Das konnte sie noch nie.
1. Kapitel
Katharina blickte auf die Uhr. Noch zwei Minuten, darauf konnte sie sich verlassen. Er war immer pünktlich. Als Vorstandsmitglied eines großen Versicherungsunternehmens hatte er das schnell gelernt.
Und tatsächlich: Um genau 18.45 Uhr verließ er das Haus für seine große Runde. Etwa zweieinhalb Stunden war er freitags unterwegs, eine todsichere Angelegenheit, schon seit Jahren.
Katharina schloss kurz die Augen und atmete zweimal tief durch. Immer wenn sie ihn sah, wurde ihr schlagartig übel. Der Satz Ich finde dich zum Kotzen war für sie bittere Realität geworden. Doch heute durfte sie keinen Augenblick Schwäche zeigen. Sie beobachtete, wie er das 2000-Euro-Rennrad aus dem Fahrradschuppen holte.
»Papa, meinst du, der Weihnachtsmann bringt mir ein Fahrrad?«
»Der Weihnachtsmann ist doch kein Geldscheißer. Schlag dir das aus dem Kopf!«
Sie schluckte die Erinnerung und die Übelkeit runter. Sein aufrechter Gang strahlte Selbstsicherheit aus und seine Bewegungen waren zielgerichtet und kraftvoll. Nichts, rein gar nichts ließ den Bruch in seinem Leben erkennen. Wie ein Chamäleon, das die Farbe seiner Umgebung annimmt, hatte er sich seinem neuen Leben angepasst.
Sie spürte einen Schmerz in ihrer rechten Hand und entspannte sich. Ihre Faust hatte sich derart zusammengekrampft, dass der Nagel des kleinen Fingers die Haut verletzt hatte.
Lässig, mit weit gespreizten Ellenbogen, rollte er in der Mitte der Auffahrt hinunter, als wollte er klarmachen, welch enorme Daseinsberechtigung er hatte. Endlich verschwand er hinter dem eisernen Tor.
Sina, die zweite Frau ihres Vaters, hatte Katharina bereits vor einer halben Stunde mit ihrem roten BMW aus der Garage fahren sehen. Zu einem dienstlichen Abendessen, wie sie ihr selbst am letzten Dienstag erzählt hatte. Fehlte nur noch Anja. Auch sie würde gleich kommen, denn wenn sie um 19 Uhr bei Cleo sein wollte, musste sie sich jetzt aufs Fahrrad schwingen.
Katharina betrachtete ihre kleine Wunde und leckte vorsichtig den Dreck weg. Mit der anderen Hand befühlte sie prüfend die Innentasche ihrer Jacke. Das Fläschchen und die Spritze waren noch da. Sie drehte sich nach rechts und schaute über die riesige Rasenfläche und den Pool.
Obwohl sie das Haus nun schon seit fünf Jahren kannte, überwältigte sie der Anblick dieses grenzenlosen Reichtums noch immer. Die makellos polierte Fensterfront des Wohnzimmers und die glatte Wasseroberfläche des Swimmingpools spiegelten die Abendsonne wider. Die Holzliegestühle waren mit Plastikplanen abgedeckt und die Sonnenschirme ordentlich zusammengeschnürt, wie es sich gehörte.
18.53 Uhr. Die Haustür ging auf. Sie beobachtete, wie Anja ihr Fahrrad aus der Garage holte und sich daraufsetzte. Katharina kroch etwas tiefer ins Gebüsch, denn Anja würde über den Rasen fahren. Der Weg durch den Wald war kürzer und sie nahm ihn immer, wenn ihre Eltern nicht da waren. Ihr blonder Pferdeschwanz flatterte im Fahrtwind und ihr knallroter Lippenstift ließ sie selbstbewusst und fröhlich wirken. Einmal so unbeschwert sein wie sie. Wie oft hatte sich Katharina das in den letzten Jahren gewünscht. Heute Nacht würde sie diesem Wunsch ein großes Stück näher sein.
Das Gartentor zum Wald quietschte laut und das Knirschen der Fahrradreifen auf den Steinchen des Waldweges entfernte sich schnell. Erst als Katharina nichts mehr hörte, kroch sie aus ihrem Versteck.
Zunächst entfernte sie alle Spuren, die sie mit ihren Schuhen hinter dem Busch verursacht hatte, dann ging sie barfuß und auf Zehenspitzen über den Rasen. Sie wusste, dass sie übertrieb, denn bei dem gut gepflegten, gerade erst geschnittenen Gras und der trockenen Witterung würden nicht einmal Spezialisten der Spurensicherung Rückschlüsse auf ihre Schuhe ziehen können, aber besser zu viel Vorsicht als zu wenig.
Am Eingang angekommen, zog sie sich erst die Gummihandschuhe an, dann holte sie den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Haustür. Eigentlich ein vertrauter Handgriff, doch heute fühlte sich alles neu an. Kein Wunder. Heute kam sie ja auch nicht zum Putzen, sondern um ihren Vater zu töten.
Allein die Eingangshalle war so groß wie ihre gesamte Wohnung. Es war angenehm kühl und die Mischung aus Holzpolitur, Schuhputzmittel und teurem Parfum flößte ihr wie immer Respekt ein. Sie nahm das Gift und die Spritze aus ihrer Jackentasche, faltete die Jacke ordentlich zusammen und legte sie rechts neben der Eingangstür auf den Boden. Ihre Schuhe stellte sie dazu. Jeder Handgriff saß. Nun durchschritt sie die Eingangshalle, vorbei am weißen Garderobenschrank, an der Ahnengalerie, an der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, vorbei an der angelehnten Wohnzimmertür bis ganz nach hinten zur Küche.
Angesichts dieses perfekt geputzten Raumes stellte sich Zufriedenheit bei ihr ein. Sie mochte saubere Menschen und Anjas Mutter gehörte definitiv dazu. Am Dienstag hatte Katharina die Küche blitzsauber hinterlassen, heute war Freitag und sie sah fast noch genauso aus. Sie öffnete die Kühlschranktür und fand sofort die Milchtüte.
»Anja, du sollst doch nicht von der Minus-L-Milch trinken. Die hab ich für Günther gekauft wegen seiner Laktose-Intoleranz.«
Als Katharina neulich diesen Satz gehört hatte, wusste sie, wie er sterben würde. Sie holte die Milchtüte heraus und drehte den weißen Deckel ab. Erleichtert stellte sie fest, dass sie die Spritze nicht benutzen musste, denn die Milch war bereits angebrochen. Er hätte das Einspritzloch wahrscheinlich nicht entdeckt, aber so war es auf jeden Fall sicherer. Vorsichtig öffnete sie ihr kleines Fläschchen und schüttete das Gift in die Tüte. Es roch stark nach Bittermandel. Sie war aber zuversichtlich, dass er genug getrunken haben würde, bis er merkte, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte ihn schließlich lange genug beobachtet und kannte seine Gewohnheiten.
Während sie die Milchtüte wieder zuschraubte, dachte sie darüber nach, wie einfach alles gewesen war. Kaliumzyanid stand in der Gerichtsmedizin unter »K« im Medizinschrank und der Schlüssel dafür lag in Professor Scholls oberster Schreibtischschublade. Ein Zaubermittel, genau richtig für ihre Zwecke. Sie wiederholte in Gedanken, was sie gelernt hatte: Sobald das Salz auf Magensäure stößt, entsteht giftige Blausäure. Dann dauert es höchstens noch fünf Minuten bis zum Tod durch Ersticken. Die Säure hemmt das Enzym, das für die Sauerstoffzufuhr der Zellen sorgt. Er würde Krämpfe haben, aber nicht lange. Und sie würde es mit ihm gemeinsam durchstehen.
Der Gedanke an seine letzten fünf Minuten löste Panik und Vorfreude zugleich in ihr aus. Was, wenn er sie ein zweites Mal zurückwies? Würde sie das aushalten? Gedankenverloren kratzte sie mit der scharfen Deckelkante des Giftfläschchens an der Handwunde, bis sie wieder blutete. Blödsinn. Im Angesicht des Todes wird er mich um Vergebung anbetteln, was sonst? Die freudige Erwartung ließ ihr Herz höher schlagen.
Sie lehnte sich an den Küchentresen und ging noch einmal alles Schritt für Schritt durch: Der Platz draußen neben dem Küchenfenster ist ideal, von dort kann ich das Haupttor und die Küche einsehen. Sobald er kommt, werde ich alles, was in der Küche passiert, genau beobachten. Beim Todeskampf werde ich bei ihm sein. Und wenn es dann zu Ende ist, hole ich die bereitgestellte Schubkarre aus dem Wald. Mit der gehe ich durch die Bäume am Rand des Grundstücks bis zur Terrasse. Auf die Weise hinterlasse ich keine Spuren. Dann muss er in die Karre, der erste schwierige Part. Im Haus alles säubern, zweimal abschließen, wie Anja. Zurück zum Gartentor geht’s schön bergab und auf dem kurzen Waldweg zum Auto habe ich noch nie jemanden gesehen außer Anja und ihrer Freundin, und die sind heute nicht da. Mit dem Wagen brauche ich fünf Minuten zum Friedhof, ich parke in der Seitengasse direkt an der Friedhofsmauer. Die hohe Hecke schirmt mich ab. Über die Mauer klettern, ein Kinderspiel, die Schippe liegt im Auto. Dann Teichmanns Grab noch tiefer buddeln, nicht viel, aber etwas. Schließlich ihn über die Mauer hieven – der schwierigste Part. Die Tankstelle verdeckt zwar die Sicht, doch es kommt schon mal vor, dass sich jemand dahinter verirrt. Nicht drüber nachdenken, es wird klappen! Rein ins Loch. Sobald der alte Teichmann morgen Vormittag über ihm beerdigt ist, wird ein für alle Mal Schluss sein.
Sie schaute auf die Uhr. Noch etwa zwei Stunden. Gerade als sie anfangen wollte, die abschließende Spurenbeseitigung durchzugehen, hörte sie den Schlüssel in der Haustür. Sie erstarrte.
»Hallo? Ist da wer?«, hörte sie jemanden rufen.
Anja. Oh nein! Sie hatte die Tür nicht zweimal abgeschlossen. Panisch schaute sie sich nach einem Versteck um, denn raus konnte sie nicht mehr, das Küchenfenster war von innen mit Kräutern und Blumen vollgestellt und auf die Schnelle nicht zu öffnen.
Die Milch. Da stand noch die Milch neben dem Kühlschrank! Doch lediglich die Gedanken flogen. Ihr Körper blieb starr am selben Fleck, als würde er in alle vier Himmelsrichtungen gleichzeitig gezerrt werden.
Klack-klack-klack. Anjas hochhackige Schuhe erzeugten ein bedrohliches Geräusch auf dem Marmorboden.
»Katharina? Bist du da?«
Die Jacke und die Schuhe! Sie hatte sie erkannt.
»Ja«, antwortete Katharina automatisch und endlich löste sich ihre Starre. Sie griff im Schrank unter dem Spülstein nach dem erstbesten Putzmittel, dem Silberputztuch. Dann öffnete sie die Besteckschublade und begann, einen Kaffeelöffel zu polieren. Anja trat in die Küche.
»Katharina, was machst du denn hier?«
»Silber putzen. Deine Mutter hat mich darum gebeten.« Sie hatte ihre Stimme erstaunlicherweise gut im Griff und doch glaubte sie, für den Bruchteil einer Sekunde Zweifel in Anjas Augen zu sehen. Tatsächlich erwiderte sie etwas zögerlich: »Oh, davon hat sie gar nichts gesagt.«
Aber ihr Gesicht hellte sich rasch wieder auf und sie fügte auf ihre unbeschwerte Weise hinzu: »Na ja, egal. Ich bin gleich wieder weg, hab nur was vergessen.«
»Okay«, antwortete Katharina etwas zu laut, wie sie selbst fand. Geh!, schrie es in ihr. Geh! Und sie versuchte, nicht auf die Milchflasche zu schauen. Warum habe ich die nicht weggeräumt?
Anja öffnete die Kühlschranktür.
»Du wolltest doch um 19 Uhr bei Cleo sein, oder?«, fragte Katharina, während sie wie besessen den Kaffeelöffel mit dem Silberputztuch malträtierte.
»Ja, aber ich hab was oben liegen lassen. Und Durst hab ich auch.«
Anja durchstöberte den Kühlschrank.
»Wie blöd! Gar nix da.«
Mit einem leichten Plopp schloss sie die Tür wieder und sah nun die Milchtüte, griff danach und wollte sie öffnen. Sofort ließ Katharina ihre Putzutensilien fallen und riss Anja die Milchtüte aus der Hand.
»Deine Mutter hat dir verboten, diese Milch zu trinken!«
»Spinnst du?«
Anja stand wie vom Donner gerührt da und schaute Katharina fassungslos an. Katharina umklammerte die Tüte und atmete schwer. Wie sollte sie Anja ihre übertriebene Reaktion erklären?
»Entschuldige«, schickte sie schnell hinterher. »Ich wollte dich nicht so anschnauzen. Aber… diese Milch ist für deinen Stiefvater.«
»Na und? Er ist nicht da, Mama ist nicht da, keiner wird merken, wenn ich was davon getrunken habe.«
Katharina versteckte die Milch hinter ihrem Rücken und versuchte, Anjas Blick standzuhalten. Die Luft knisterte. Sie bemühte sich um einen harmlosen Gesichtsausdruck.
»Was ist denn heute mit dir los?«, fragte Anja und beäugte sie argwöhnisch. Anja kannte sie gut genug, um zu spüren, dass etwas nicht stimmte, da war sich Katharina sicher. Sie muss weg. SOFORT!
»Nichts ist los. Cleo wartet auf dich.«
Anja sah sie unschlüssig an. Katharina bekam Angst, stellte die Milch neben ihr Silberputztuch und nahm das Tuch wieder in die eine, ein Messer in die andere Hand.
»Katharina, wer bist du?«, fragte Anja plötzlich.
Katharina rubbelte die Messerklinge mit dem Silberputztuch, als könnte sie auf diese Weise die letzten zwei Minuten wegschrubben.
»Was meinst du?«
Sie zwang sich, Anja anzusehen.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte Anja leise.
Sie brauchte jetzt eine gute Antwort, doch in Katharinas Kopf rauschte es nur. Sie nahm sich den Griff des Messers vor.
»Kommst du bitte mal mit nach oben?«, fragte Anja. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Eigentlich nicht so gerne, ich muss das Silber putzen.«
»Es dauert nicht lange.«
Widerstrebend legte Katharina das Tuch und das Messer auf den Tisch und folgte Anja aus der Küche. Mit jedem Schritt, den sie sich Anjas Zimmer näherten, wuchs ihre Angst. Jetzt kam nichts Gutes!
»Was wird das?«, fragte sie, bekam aber keine Antwort. Als sie oben waren, beobachtete Katharina, wie Anja aus ihrem Schrank eine Blechdose hervorkramte, den Deckel öffnete und eine Fotografie herausnahm. Abwechselnd betrachtete sie erst das Foto, dann Katharina. So ging das eine Weile hin und her, bis Katharina ihre Gereiztheit nicht mehr unterdrücken konnte und noch einmal fragte, was Anja von ihr wolle.
Anja kam auf sie zu und hielt ihr das Foto hin. »Weißt du, wer das ist?«
Katharina betrachtete die vierköpfige Familie, die ihr aus einer fernen Zeit entgegenlächelte. Ihr wurde schwindelig und sie hielt sich an der Lehne des Schreibtischstuhls fest, der direkt neben ihr stand. Die wenigen Fotos, die sie aus ihrem früheren Leben besessen hatte, hatte sie vor Jahren weggeschmissen. Denn wie um sich selbst zu quälen, hatte sie sie in regelmäßigen Abständen angeschaut und sich hinterher unendlich schlecht gefühlt. Und nun sah sie ihre Schwester seit langer Zeit zum ersten Mal wieder.
»Laura«, flüsterte sie leise und strich sanft mit dem Daumen über das kleine Gesichtchen. Das Bild war an Lauras zweitem Geburtstag aufgenommen worden. Sie waren wie eine ganz normale Familie in den Zoo gegangen. Sogar Mama hatte manchmal gelacht, wie auf diesem Foto. Katharina betrachtete sich selbst, wie sie sich als Neunjährige an die Beine ihrer Mutter gedrückt und zu ihrem Vater hinaufgelächelt hatte. Und der rot karierte Schottenrock mit der großen, silbernen Sicherheitsnadel, wie hatte sie ihn geliebt! Sie erinnerte sich genau, wie ihr Vater dem netten Mann, der sie fotografierte, zugerufen hatte, er solle den Gestank nicht mit aufnehmen. Der Dunst des Nilpferdgeheges war wirklich kaum zu ertragen gewesen. Alle hatten gelacht über den Scherz, sogar die kleine Laura.
»Wer ist das?«
Katharina trat erschrocken einen Schritt zur Seite und drückte das Foto an ihre Brust. Anja war dicht hinter sie getreten und hatte ihr über die Schulter geschaut. Statt einer Antwort stellte sie eine Gegenfrage: »Wo hast du das her?«
»Auf dem Dachboden gefunden. Gestern. Bist du das, die mit den Zöpfen?«
»Auf dem Dachboden?« Wieso hatte sie nie auf dem Dachboden geschaut?
»Ich habe im Schrank nach Kleidern fürs Musical gesucht. Da ist diese Blechdose aus dem oberen Fach gefallen.« Sie sah auf die gelbe Dose in ihren Händen. »Bist du das?«
Katharina nickte. Sie war zu schwach, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
»Komm, setz dich«, bat Anja und drückte Katharina sanft auf den Stuhl. Sie holte sich selbst auch einen aus der anderen Ecke des Zimmers und setzte sich daneben. Die Feindseligkeit war verflogen und sie war wieder die sensible Anja, die Interessierte, die Hilfsbereite, die sogar die Verabredung mit der besten Freundin verschob, sobald jemand sie brauchte. Wenn sie gewusst hätte, wie unpassend das in dieser Situation war!
Katharina saß stocksteif neben Anja und versuchte fieberhaft, Laura aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie musste wieder denken können, so schnell wie möglich!
Anja beugte sich zu ihr hinüber. »Ich hab dich nicht erkannt auf dem Bild. Erst eben in der Küche… da dachte ich…«
»Wer hat das Bild noch gesehen?«
»Bis jetzt niemand. Ich wollte es heute Cleo zeigen. Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich hatte es vergessen.«
Gut, dachte Katharina, fand dieses Wort aber im selben Moment falsch, denn sie hatte ja bereits eine Mitwisserin, und das war schon eine zu viel.
»Was macht mein Stiefvater da neben dir?«
Katharina sprang abrupt auf. Sie musste raus hier! Durfte sich nicht ausfragen lassen. Musste nachdenken.
»Ich gehe!«
»Ist er dein Vater?«
»Lass mich in Ruhe!« Katharina wollte das Zimmer verlassen, doch Anja war schneller. Sie stellte sich blitzschnell in die Tür und hielt immer noch die Blechdose fest in ihren Händen. Die beiden Mädchen standen einander gegenüber und beäugten sich.
»Ist er dein Vater?«
»Du hast ja keine Ahnung!«
»Dann erklär’s mir halt.«
»Lass mich durch!«
Doch Anja dachte gar nicht daran, im Gegenteil, sie machte sich noch breiter, indem sie ihre Ellbogen gegen den Türrahmen drückte, und sah Katharina fest in die Augen. Ihr Handy klingelte. Es lag auf dem Schreibtisch, doch sie beachtete es nicht.
»Katharina, ich habe diese Dose auf dem Dachboden gefunden und frage mich seitdem, mit was für einem Menschen ich unter einem Dach lebe. Da stimmt doch was nicht. Weder Mama noch ich wissen etwas von einer anderen Familie. Und du kennst die Antwort. Bitte!«
Katharina schnaubte laut durch die Nase. Dabei kratzte sie mit dem Fingernagel ihres Zeigefingers eine neue Wunde in ihrer linken Handfläche. Doch nicht einmal die Schmerzen beruhigten ihre Gedanken.
»Hier.« Anja hob den Deckel der Blechdose und nahm einen Zeitungsartikel heraus. »Ich les dir mal was vor:
Gießen, 10. Juni 2006
Jugendamt im Visier
Nach neuesten Erkenntnissen im Fall Laura M. ist das Gießener Jugendamt seinen Dienstpflichten nicht ausreichend nachgekommen. Das Gericht prüft, ob der zuständige Mitarbeiter, Tibor Mortzfeld, eine Klage wegen Verletzung des Schutzauftrages bei Kindern und Jugendlichen zu erwarten hat. Der tragische Tod der behinderten Laura M. (der GA berichtete am 5. Juni) hätte verhindert werden können, wenn die Familie häufiger überprüft worden wäre. Das Kind lag drei Tage lang tot in seinem Bett, weil ihm die notwendigen Medikamente nicht verabreicht wurden. Zuvor hatte sich die 17-jährige Schwester, Sabrina M., um das Mädchen gekümmert, doch sie war zu diesem Zeitpunkt auf Klassenfahrt und die Mutter konnte wegen starker Depressionen ihrer Sorgepflicht nicht nachkommen. Ein Nachbar hatte das Jugendamt bereits sechs Monate früher auf die katastrophalen Zustände in der Familie aufmerksam gemacht. »So etwas darf nicht mehr passieren. Dieser Fall bedarf der unbedingten Aufklärung«, so die Familienbeauftragte Andrea Huber.
»Gib das her!« Katharina zerrte Anja den Zeitungsartikel aus der Hand und riss ihn in mehrere Teile.
»Alles Lügen! Die Zustände waren überhaupt nicht katastrophal!«
»Bist du Sabrina?«
»Und wenn?«
»Dann wäre das furchtbar. Deine Schwester ist gestorben, als du nicht da warst und…«
Mit aller Wucht rannte Katharina auf Anja zu und stieß sie hinaus auf den Flur.
»Katharina! Bleib hier!«
Anja erwischte sie am Saum ihres T-Shirts und hinderte sie daran, die Treppe hinunterzulaufen. Katharina fühlte sich, als zerplatze ihr Kopf. Unbändige Wut überkam sie und sie wollte nur noch eins: raus! Sie packte Anja am Handgelenk und befreite ihr T-Shirt mit einem heftigen Ruck aus ihrem Griff.
»Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!« Die Worte zischte sie, leise, aber äußerst bedrohlich. Entsprechend heftig schreckte Anja zurück, doch Katharina ließ sie nicht los.
»Ich will doch nur reden«, antwortete Anja.
Kurz registrierte Katharina Angst in Anjas Augen, doch da war es schon zu spät. Mit voller Kraft schubste sie Anja von sich, als könnte sie auf diese Weise ihre ganze entsetzliche Vergangenheit wegstoßen.
Anja stolperte auf ihren hochhackigen Schuhen direkt auf den Treppenabsatz zu. Sie versuchte, sich am Geländer festzuhalten, erwischte es aber nicht und kippte… Mit einem lang gezogenen Schrei fiel sie die Steintreppe hinab und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Marmorfußboden. Von einer Sekunde auf die andere war es unerträglich still.
Am Anfang zaghaft, dann immer schneller lief Katharina die Treppe hinunter. Dabei ließ sie Anja nicht aus den Augen. Sie lag mit dem Rücken auf dem Marmorboden und hatte ihre Beine und den Rumpf unnatürlich verdreht. Ihr Gesicht zeigte nach oben und die Augen waren geschlossen.
Bitte beweg dich, BEWEG DICH DOCH!
Anja lag ganz still da, nur die Bauchdecke hob und senkte sich im Rhythmus ihres Atems. Als Katharina unten ankam, bemerkte sie sofort das Blut, das dieselbe Farbe hatte wie Anjas Lippenstift. Schädelbasisbruch! Sie rekapitulierte blitzartig, was sie darüber gelernt hatte: Hirnblutungen, hoher Druck legt die Gehirnfunktionen lahm, erst schwindet das Bewusstsein, dann stelltder Körper die Atmung ein. Das kann Minuten oder Tage dauern. Gebannt beobachtete sie Anjas Atmung und überlegte, was sie tun sollte. Doch als sie immer mehr Blut über den Marmorboden laufen sah, wusste sie, dass jede Hoffnung zwecklos war.
Kurz darauf bewegte sich Anjas Bauchdecke nicht mehr. Und dann, ganz plötzlich, konnte Katharina sich nicht mehr beherrschen. Sie schrie und schrie und schrie und kniete sich neben Anja, nahm deren linke Hand in die ihre und wippte mit dem Oberkörper auf und ab und auf und ab. Nach einer Weile wurden ihre Schreie zu tiefen Schluchzern. Sie schüttelten ihren gesamten Körper. Noch nie hatte Katharina geweint, nicht einmal als Laura gestorben war. Alte, tief vergrabene Erinnerungen drängten mit jedem Schluchzen an die Oberfläche.
Lauras lebloser Körper.
Mamas starre Augen.
Papas Lächeln auf dem Foto.
Das Rennrad.
»Verschwinde, ich habe keine Tochter!«
Irgendwann verblassten die Bilder und am Ende war nur noch Leere. Anjas Hand fühlte sich wie Gummi an und Katharina stieß sie weg. Sie musste verschwinden und die Spuren beseitigen. Und sie brauchte einen neuen Plan. Kaum hatte sie das gedacht, kam ihr eine Idee.
Sie stand auf und blickte auf die Uhr. Draußen tobte ein Gewitter, umso besser. Ihr Vater würde bestimmt irgendwo einkehren und noch später nach Hause kommen als gewöhnlich. Aber besser war es, sich nicht darauf zu verlassen.
Hochkonzentriert ging Katharina an die Arbeit. Zuerst erneuerte sie ihre Gummihandschuhe und bedeckte ihre Haare mit einer Plastikhaube. Dann schüttete sie die Milch in den Spülstein, steckte die leere Tüte ein, putzte Anjas Zimmer, den oberen Flur und die Treppe. Sie hatte vorsorglich die besten Reinigungsmittel mitgebracht, damit sie sicher sein konnte, dass keinerlei Spuren zurückblieben.