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Spicy Dragonshifter-Romantasy in einer Welt voller mythischer Kreaturen, politischer Intrigen und einem Love-Triangle zwischen Mensch und Fae-Göttern. Ein einziger Anruf kann dein ganzes Leben ändern. Morgan hat ihr Leben den Büchern gewidmet und arbeitet in einer besonderen Bibliothek – eine, deren Geheimnisse sich in dunkler Nacht verbergen. Denn die Ausleihen und Rückgaben finden ausschließlich nachts statt, in einem Zeitraum, wenn Morgan sich ausdrücklich nicht auf dem Gelände aufhalten darf. Als sie eines Nachts einen Anruf erhält, dass ein unschätzbar wertvolles Werk verschwunden ist, schlägt sie alle Warnungen und Regeln in den Wind. Schließlich könnte sie gefeuert werden, wenn das Buch nicht wieder auftaucht – und die Stimme des unbekannten Anrufers klang einfach zu verführerisch. In der Bibliothek enthüllt sie endlich das Geheimnis: ein Portal, das direkt in eine Welt führt, von der sie bisher nur zu träumen wagte – die Welt der Fae. Und einer ihrer Götter, Drager, sieht in Morgan die einzige Chance, das gestohlene Buch zurückzubekommen und einen Verrat aufzudecken. Kurzerhand nimmt er sie mit in sein magisches Reich und bald schon ist Morgan sich gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt in ihre eigene Welt zurückkehren will. Denn nicht nur Lord Drager ist höllisch sexy, auch zu seinem Drachenbruder Zahak spürt sie eine Verbindung, die sie sich nicht erklären kann ... Dich erwarten diese Tropes: - Fated Mates - Forced Proximity - Touch Her and Die - Strangers to Lovers - Omegaverse Vibes - und definitiv kein Slowburn!»Keiner schreibt Fantasy-Romane wie Jaymin Eve. Sie ist die Schöpferin all meiner liebsten Book Boyfriends! Ihre Charaktere sind bezaubernd, und ihre Geschichten fesseln mich bis zur letzten Seite ...« Leia Stone, Bestsellerautorin von The Last Dragon King Von Jaymin Eve auf Deutsch erschienen: - Gilded Wings. Fallen Fae Gods 1 - Crimson Skies. Fallen Fae Gods 2
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Seitenzahl: 488
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jaymin Eve
Roman
Aus dem australischen Englisch von Liliana Ozeryanska
Knaur eBooks
Ein einziger Anruf kann dein ganzes Leben ändern.
Morgan hat ihr Leben den Büchern gewidmet und arbeitet in einer besonderen Bibliothek – eine, deren Ausleihbetrieb ausschließlich nachts stattfindet, wenn Morgan sich ausdrücklich nicht auf dem Gelände aufhalten darf.
Als sie eines Nachts einen Anruf erhält, dass ein wertvolles Werk verschwunden ist, schlägt sie alle Warnungen in den Wind, um nicht gefeuert zu werden – und die Stimme des unbekannten Anrufers klang einfach zu verführerisch.
In der Bibliothek enthüllt sie endlich das Geheimnis: ein Portal in die Welt der Fae.
Und einer ihrer Götter, Drager, sieht in Morgan die einzige Chance, das gestohlene Buch zurückzubekommen und einen Verrat aufzudecken. Kurzerhand nimmt er sie mit in sein magisches Reich und bald ist Morgan sich gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt in ihre eigene Welt zurückkehren will. Denn nicht nur Lord Drager ist höllisch sexy, auch zu seinem Drachenbruder Zahak spürt sie eine Verbindung, die sie sich nicht erklären kann ...
Spicy Dragonshifter-Romantasy in einer Welt voller mythischer Kreaturen, politischer Intrigen und einem Love-Triangle zwischen Mensch und Fae-Göttern.
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Karte
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
apitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Nachwort
Für diejenigen, die Alice schon immer in den Kaninchenbau folgen wollten und sich eine nicht jugendfreie Version mit Drachen und Göttern gewünscht haben.
PS: Nicht das Häschen streicheln.
Der Stapel zurückgegebener Bücher wackelte gefährlich, und ich schaffte es gerade so, ihn vorm Umkippen zu bewahren, indem ich die herausstehenden Ecken wieder ordentlich übereinanderschob.
»Heilige Seekuh, Morgan, das war knapp«, schimpfte Lexie. Meine beste Freundin und einzige weitere Angestellte der Dragerfield Private Library stolperte mit einem ebenso großen Stapel in den Armen in meine Richtung. »Du weißt doch, wie wütend Simon wird, wenn wir eines seiner wertvollen Exemplare beschädigen.«
Oh ja, das wusste ich. Viel zu gut. Simon war der Verwalter des Dragerfield Anwesens. Ein stattlicher Mann mit dunkler Haut, ohne auch nur eine Falte, die Aufschluss über sein Alter geben könnte. Doch einige grauen Strähnen, die sich durch sein dunkles Haar zogen, ließen vermuten, dass er älter war als ich und meine zarten fünfundzwanzig Jahre. Er war stets in einem schwarzen Anzug und mit einem schweren Gehstock anzutreffen, den er uns gerne mal gegen das Schienbein pfefferte, wenn er auch nur die kleinste Delle in einem Buchrücken entdeckte. Glücklicherweise tauchte er hier nur selten auf.
Das heißt, wenn wir nicht gerade Mist bauten. Irgendwie schien er es immer zu spüren, wenn wir mal weniger als die höchste Vorsicht im Umgang mit den Büchern walten ließen.
Lexie setzte ihren Stapel so vorsichtig wie möglich auf dem Tisch ab, um die Bücher zu prüfen und einzusortieren oder um sie zu reparieren – je nachdem, in welchem Zustand sie zurückgegeben worden waren. Denn es war vollkommen in Ordnung, wenn Leute, die nicht hier arbeiteten, die Bücher beschädigten. Klar, das war kein Problem. Dann fuhr sie sich über die Stirn. Ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar betonte die umwerfende Knochenstruktur, die sie ihrer japanischen Herkunft zu verdanken hatte. Sie war einige Zentimeter größer als ich mit meinen ein Meter zweiundsiebzig, und mit ihrem Aussehen und ihrer Größe hätte meine beste Freundin problemlos Model sein können.
Stattdessen hatte sie sich für ein ruhiges Leben mit mir entschieden.
Seitdem bestimmten Bücher unseren Alltag, neue und unbezahlbare, antike Wälzer, und ich hätte damit nicht glücklicher sein können. Auf den Beruf war ich durch mein Studium in Englisch und Geschichte gestoßen, und seitdem wusste ich, dass ich nichts anderes machen wollte.
Die Dragerfield Private Library befand sich in einem riesigen Gebäude am Rande von Lewiston, im US-Bundesstaat Maine. Ursprünglich kam ich aus Portland, also hatte sich für mich durch den Umzug nicht viel geändert. Allerdings hatte er etwas Distanz zwischen mich und meine Eltern gebracht, die mich mit ihrer Art erdrückten. Sie waren alles, was ich an Familie hatte, und ich hatte sie lieb, doch ein eigenes Heim und Privatsphäre waren längst überfällig gewesen. Da konnten mich selbst die enttäuschten Seufzer meiner Mutter nicht umstimmen.
»Wir gehen heute Abend aber schon noch was trinken?«, fragte Lexie, als wir die Bücher sortierten.
In den zwei Jahren, in denen wir hier bereits arbeiteten, hatten wir das Sortieren zu einer Kunstform erhoben. Vorderseite checken, Rückseite, dann Buchrücken und Bindung, schließlich öffnen, um sicherzugehen, dass keine Seiten lose waren. Wenn alles in Ordnung war, wanderte das Buch auf den Stapel zum Einsortieren. War es beschädigt, wurde es repariert.
»Aber so was von«, bestätigte ich, ohne aufzuschauen. »Die neue Bar hat jetzt geöffnet. Die Meeresfrüchte da sollen einfach nur himmlisch sein.«
Lexie strahlte mich an, als würde allein der Gedanke an ein leckeres Essen ihre Laune heben. Damit war sie nicht allein. Meine Kurven waren der Beweis dafür, dass ich Essen liebte.
»Ich will all die Knoblauchshrimps, die sie haben.« Bei dem Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen. »Und Püree und dicke Fritten. Ich kann es kaum erwarten.« Es war kurz vor Feierabend, und ich war bereits am Verhungern.
»Hör bloß auf!«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf mich. »Du weißt, dass ich nicht fluche, aber ich werde schon ein paar blumige Worte finden, wenn du nicht aufhörst, über Shrimps und Knoblauch und Püree zu reden, während wir noch hier drin festsitzen.«
Lexie war die Königin der blumigen Nicht-Flüche, und ich wagte es nicht, ihre Drohung anzuzweifeln.
»Lass uns das hier zu Ende bringen, dann können wir zehn Minuten früher abhauen«, sagte ich und beeilte mich.
Lexies Lächeln wurde noch breiter, und gemeinsam gaben wir Gas.
Die meisten Bücher in meinem Stapel waren neuere Werke, doch ganz unten waren zwei Wälzer, die mehr Aufmerksamkeit erforderten. Als ich danach griff, durchzuckte mich ein kleiner Stromschlag, doch das war ich von diesen alten Dingern bereits gewohnt. Diese private Bibliothek gehörte irgendeinem anonymen Milliardär, und wer auch immer sich hier Bücher auslieh, tat das nachts, wenn Lexie und ich längst gegangen waren. Dem Aussehen nach zu urteilen, gehörte vieles aus der Sammlung eigentlich ins Museum, so rar und besonders waren die Bücher, und ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass ihrer uralten Dichtkunst etwas Magisches innewohnte.
Das erste Mal, als ich so einen Energiestoß bekam, wäre ich vor Schreck fast an die Decke gesprungen und fürchtete schon, dass es im Gebäude ein Problem mit der Elektrik geben könnte. Doch es waren bloß die Bücher. Normalerweise bekam ich nur von den alten Exemplaren einen Schlag, aber manchmal hatten es auch die neueren Bücher in sich.
Glücklicherweise waren diese beiden Bücher, geschrieben in einer Sprache, die mir nicht bekannt vorkam, in perfektem Zustand zurückgebracht worden, also machte ich mich auf den Weg in den oberen Teil der Bibliothek, um sie einzusortieren. Die Bibliothek erstreckte sich über drei Stockwerke, und die Bücherregale schlangen sich entlang der Galerien im zweiten und dritten Stock, mit Blick auf den riesigen Ballsaal im Erdgeschoss. Von dort aus ragten diese unglaublichen weißen handgemeißelten Steinsäulen nach oben bis hoch zur Decke.
Lexie und ich hatten uns schon oft ausgemalt, wie vor vielen Jahren auf dem marmornen Boden des Saals Bälle abgehalten wurden, und vermuteten, dass die Galerie erst später hinzugebaut wurde, um all die Bücher beherbergen zu können. Seit wir hier arbeiteten, hatte es hier keine Bälle gegeben, denn das Gebäude wurde lediglich als Bibliothek genutzt, und ich fragte mich, warum man nicht auch den Ballsaal umgebaut hat, um Platz für noch mehr Bücherregale zu schaffen. Denn konnte man jemals zu viel Bücherregale haben?
Blöde Frage.
Natürlich nicht.
Die winzige Wohnung, die Lexie und ich uns teilten, war mit Regalen vollgestellt, und in jedem freien Winkel und jeder Ritze waren Bücher. Wie gesagt, Bücher bestimmten unseren Alltag.
Nachdem ich mehrmals zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk hin- und hergelaufen war, taten mir Waden und Arme weh, und ich beschloss im Geiste, dass ich mir drei Cocktails und eine doppelte Portion Knoblauchshrimps verdient hatte. Es war ja auch Freitag. Und niemand ging freitags auf Diät. Das war etwas für Montage.
»Los, Morgs«, rief mir Lexie zu. »Wir müssen endlich raus hier und rein in die neue Bar. Die Knoblauchshrimps rufen nach mir.«
»Ich bin gleich da«, rief ich ihr zu und blickte über die Galerie im dritten Stock zu Lexie hinab, die bereits mit geschulterter Tasche im Ballsaal stand. »Ich muss noch ein letztes Buch einsortieren.«
Sie winkte mir zu, um mir zu verstehen zu geben, dass sie mich gehört hatte. Die offene Bauweise der Bibliothek erlaubte es uns, uns selbst über Stockwerke hinweg problemlos verständigen zu können.
Dann setzte ich mich wieder in Bewegung und machte mich auf den Weg zu der Abteilung für die besonderen Exemplare. Es war der entfernteste Bereich im dritten Stockwerk, und man benötigte einen speziellen Schlüssel, um ihn überhaupt betreten zu können. Weder Lexie noch ich besaßen so einen Schlüssel. Doch es gab ein kleines Fach, über das ich das Buch zurückgeben konnte. Simon würde sich darum kümmern, es richtig einzusortieren.
Ich hatte nie hinterfragt, warum das so war, denn ich konnte meinen Job genauso gut erledigen, ohne den Bereich jemals betreten zu müssen. Am Montag würde das Fach leer sein. Das war es jedes Mal.
Als ich mich gerade zum Gehen abwandte, hörte ich eine ungewöhnliche, tiefe Frauenstimme. »Danke, Mensch.«
Ich fuhr herum und betrachtete die verschlossene Tür und das Fach in ihrer Mitte. Langsam beugte ich mich vor, um hineinzuspähen. Auf der anderen Seite war es dunkel, und nichts deutete darauf hin, dass sich jemand hinter der Tür befand.
Was zur Hölle?
Anscheinend verursachten gruselige Ecken und extremer Hunger wohl Halluzinationen.
Es war an der Zeit, dass ich hier rauskam.
Nach diesem verdammt seltsamen Vorfall ging ich schneller als sonst zum Ausgang und hielt Ausschau nach Hinweisen, dass irgendetwas anders war. Sosehr ich mich auch auf das Wochenende freute, es war gleichzeitig irgendwie schwer, die Bücher für zwei ganze Tage ohne Aufsicht zu lassen. Ich würde es niemals laut zugeben, doch jedes Mal, wenn ich die Bibliothek montags wieder betrat, fühlte es sich für mich an wie Heimkommen.
Eines Tages würde ich mich bestimmt fragen, warum ich so viel Herzblut in die Arbeit hier steckte, schließlich verdiente ich nur etwas mehr als den Mindestlohn und konnte mir die kleine Wohnung mit Lexie gerade so leisten. Einen solchen Ort würde ich niemals mein Eigen nennen können, egal, wie sehr ich ihn als Zuhause betrachtete.
Aber ich konnte davon träumen … und vielleicht würde die Energie der Bücher ja eines Tages auf mich abfärben, und ich würde endlich die sechs Richtigen im Lotto tippen.
Unten angekommen ging ich zum Mitarbeitereingang, schnappte mir meinen Mantel und meine Tasche aus der Ablage und schaltete die Lichter in der gesamten Bibliothek aus. Ich streifte mir den Mantel über, um mich vor der Dezemberkälte zu schützen, verließ das Gebäude und schloss hinter mir die Tür ab.
Der Haupteingang befand sich auf der anderen Seite des Anwesens, doch niemand schien die riesigen vergoldeten Flügeltüren jemals zu nutzen. Ein weiterer Bereich der Bibliothek, der ungenutzt blieb.
Beim Rausgehen erfasste der Wind meine langen goldbraunen Wellen und peitschte sie mir ins Gesicht, bis ich es schaffte, sie einzufangen und zusammenzubinden. Als ich den schwarzen abgenutzten Jeep erreichte, den Lexie und ich uns ebenfalls teilten, lief bereits die Heizung. Während ich die Hände aneinanderrieb, um mich aufzuwärmen, warf ich einen letzten Blick auf das alte Gebäude. Es gab keine Fenster, nur die beiden Türen – den Mitarbeitereingang und die große goldene Flügeltür. Die Außenwände waren geformt wie die eines Stadions, mit kleinen Türmchen und eingemeißelten Bildern, die die unterschiedlichsten Schlachtszenen in der weißen Mauer des dreihundert Jahre alten Gebäudes darstellten.
Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen, als mir Simon das Alter des Anwesens verraten hatte. In Maine gab man sich größte Mühe, historische Gebäude zu schützen, doch aufgrund des Wetters war von den meisten nicht mehr übrig als Gemäuer. Die Dragerfield Library war hingegen nahezu makellos. Sie war so besonders, ohnegleichen, und ich war mir sicher, dass auch meine Begeisterung für Geschichte Teil dessen war, warum ich meinen Job so liebte.
»Sieh dir das Gebäude ruhig noch mal an«, sagte Lexie lächelnd, während sie den Jeep startete. »Ich weiß doch, dass dir die Bibliothek am Wochenende fehlt.«
Sie kannte mich besser als jeder andere Mensch, inklusive meiner Eltern, die es mir mit ihrer überneugierigen Art nicht gerade leicht gemacht hatten, meine Gedanken mit ihnen zu teilen. Die einzige Möglichkeit, mit ihnen klarzukommen, war, sie auf Distanz zu halten. Anderenfalls würden sie versuchen, jeden Aspekt meines Lebens zu kontrollieren. Eine schmerzhafte Lektion, für die ich Jahre gebraucht hatte, um sie zu lernen. Der subtile Narzissmus meiner Mutter, Dianne Starrer, hatte mich in meinem bisherigen Leben beinahe jeder Chance und jeder Freundschaft beraubt.
Nur Lexie nicht. Sie blieb immer an meiner Seite. Seit dem ersten Jahr auf dem College bis jetzt hatte sie mich nie aufgegeben, und nur dank ihrer moralischen Unterstützung hatte ich es geschafft, mich aus diesem Leben, in dem ich mich so lange gefangen fühlte, zu befreien. Es gab niemand Wichtigeren in meinem Leben, und dass ich jetzt unabhängig leben konnte, mit meinem eigenen Geld und meinen eigenen Entscheidungen, verblüffte mich manchmal immer noch.
»Wohin hat es deine Gedanken verschlagen?«, fragte sie, als sie den Wagen die sechs Kilometer lange Zufahrtsstraße zu den Toren lenkte. Die Tore waren nie verschlossen, doch es kam auch nie jemand vorbei. Zumindest nicht, während wir arbeiteten. Diejenigen, die sich in der Nacht Bücher ausliehen, mussten hier ja irgendwie herkommen. Deshalb vermutete ich, dass es nur am Tag so leer war.
»Hab bloß an zu Hause gedacht«, erklärte ich ihr und entspannte mich, als die Wärme der Heizung die Kälte des Winters vertrieb. »Darüber, wie viel Glück ich hatte, aus dieser toxischen Situation herauszukommen. Und dass ich es ohne dich nicht geschafft hätte. Du bist die beste Freundin, die ich mir je hätte wünschen können.«
Ein trauriges Lächeln erschien auf Lexies feinen Gesichtszügen. »Ich kenne mich mit familiärem Trauma aus. Meine Eltern sind immer beschäftigt, ständig in Übersee, sodass ich mich buchstäblich selbst großziehen musste. Es ist, als hätten du und ich gegenteilige Leben geführt, und deshalb haben wir einander gebraucht.«
Das war nicht zu leugnen. Sie hatte sich meiner Mutter entgegengesetzt, als ich es nicht konnte, und sie war die mutigste Person, die ich kannte. Nicht nur das. Stark, wunderschön und unglaublich lieb. Eines Tages würde sie ein wundervoller Mann mir wegschnappen, und ich würde meine Wing Woman verlieren. Aber wir würden für immer beste Freundinnen bleiben. Wir waren dazu bestimmt.
»Sollen wir direkt zum Pattie’s?«, fragte Lexie. »Unsere Uniform wird doch wohl schick genug sein für die Bar, oder?«
An den schwarzen Hosen und weißen Blusen, die wir zum Arbeiten trugen, war nichts auszusetzen.
»Auf jeden Fall«, stimmte ich zu und spürte, wie sich meine Laune wieder besserte. »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Magen noch viel länger aufs Essen warten kann. Außerdem wird sich sowieso niemand dafür interessieren, wie wir aussehen.«
Lexie schnaubte. »Verarschst du mich, Süße? Mit deinen Marilyn-Monroe-Kurven, deinen goldbraunen Wellen und blauen Augen wirst du immer alle Blicke auf dich ziehen. Ob du nun eine weiße Bluse trägst oder einen Kartoffelsack. Steh dazu!«
Jetzt war ich es, die lachend schnaubte. »Sagt die Frau mit den Wangenknochen, für die andere töten würden, den straffen Möpsen, die den Rücken nicht kaputt machen, und einer so makellosen Haut, dass es mir manchmal wehtut, dich direkt anzusehen. Ist klar. Steh du dazu, dass du heiß bist, und lass uns endlich unsere Shrimps genießen.«
Niemand sonst gab uns solche Komplimente. Aber das war okay, denn wir waren unsere eigenen Cheerleader.
Lexies Mundwinkel zuckten kurz, und dann brachen wir in Gelächter aus. Wir beruhigten uns erst wieder, als die Lichter der Stadt in Sicht kamen – die Bibliothek befand sich gut fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt, auf rauem Terrain.
»Echt, ich glaube, es liegt eher am Mangel an guten Männern, als daran, dass wir keine Hotties sind«, sinnierte Lexie. »Wir haben Vorzüge an all den richtigen Stellen, wir sind belesen und extrem gebildet. Die sind das Problem, nicht wir.«
Ich widersprach nicht, denn sie hatte teilweise recht. Wenn es um sie ging, war es ein die-Problem. Aber was mich betraf … Für mich war es nie einfach, mit einer anderen Person zu klicken. Ich ging auf Dates. Ich hatte Sex. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob ich nicht vielleicht auf Frauen stehen würde. Aber als ich selbst nach einem Date und einem Kuss mit der hübschen Surferin aus Kalifornien nichts gefühlt hatte, wusste ich, dass ich nicht bloß verwirrt war.
Ich war anders. Mein Herz und auch meine Seele fanden in den Menschen, auf die ich traf, einfach nicht das, wonach ich suchte. Bis auf Lexie schien es kein passendes Puzzlestück zu meinen Ecken und Kanten zu geben. Vielleicht war meine Erziehung und das daraus resultierende Trauma schuld. Doch was auch immer der Grund war, es lag an mir.
Immerhin hatte ich meine Bücher.
Die konnten genauso befriedigend sein. Deshalb bevorzugte ich sie eher aus der feurigen Abteilung, passend zu meiner nicht zu verachtenden Sammlung an Vibratoren.
Ich hatte meine Bedürfnisse, und nur weil sie niemand erfüllen konnte, würde ich sicherlich nicht auf meinen Spaß verzichten.
Das Essen in Pattie’s Bar & Grill übertraf alle Erwartungen. Als wir endlich mit dem einzigen Uber der Stadt zu Hause angekommen waren – wir hatten es etwas mit den Cocktails übertrieben –, war ich fix und fertig und wollte einfach nur ins Bett kriechen. Unsere kleine Wohnung war Teil eines zweistöckigen Gebäudes, nicht weit von der Hauptstraße entfernt. Darin gab es acht Wohnungen mit genau dem gleichen Grundriss. Die Bewohner bekamen wir allerdings selten zu Gesicht. Die meisten von ihnen arbeiteten nachts oder auf Fischkuttern und waren selten mal zu Hause.
Unsere Wohnung lag im Erdgeschoss, und nach nur drei Versuchen hatten wir es geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu schieben und hineinzustolpern.
Wortwörtlich.
Lexie stolperte über die Schwelle und ich über sie, sodass wir beide auf dem dicken Teppich im Eingang landeten.
»Aua«, stöhnte ich. »Was zur Hölle? Ich glaube, ich hab mir die Pussy verstaucht.«
Lexie brach in hysterisches Gelächter aus und kriegte sich kaum ein. »Das hättest du gerne, Süße. Das wäre dann wohl das Spannendste, das deine Pussy seit Jahren erlebt hätte.«
Wenn das bloß nur ein Witz gewesen wäre. Ich wollte beleidigt sein, doch ich konnte nicht aufhören, darüber zu lachen, auch wenn es mich etwas verletzte. »Bitte, schick mir jemanden, der meine Pussy zerstört«, flehte ich das Universum an. »Is… ist das denn wir...wirklich zu viel v...verlangt?« Lachend und betrunken lallte und stotterte ich herum, und als ich den Satz endlich beendet hatte, kreischten wir beide vor Lachen, so richtig wie betrunkene Hühner.
Das war der beste Abend, den ich seit Langem gehabt hatte.
Lexie zog sich wieder auf die Beine, und ich folgte ihr. Ich schaffte es sogar, die Tür zu schließen und den Riegel vorzuschieben. Wir stolperten in unser kleines Wohnzimmer mit den drei wild zusammengewürfelten Sofas und dem kleinen Fernseher, den wir nur selten mal anschalteten. Gleich daneben war die Küche, die mit ihrer eckförmigen Konstruktion die Illusion erzeugen sollte, dass wir mehr Platz hatten, als tatsächlich der Fall war.
Dort machte ich einen Zwischenstopp, um etwas Wasser zu trinken. Ich bereute bereits den Kater, der mich am nächsten Morgen erwartete.
Ich musste viel trinken, um überhaupt angetrunken zu sein, doch wenn ich den gewünschten Zustand erreichte, bezahlte ich am nächsten Morgen oft teuer dafür. Ein ganzes Aquarium leer zu trinken, war ein ums andere Mal meine einzige Rettung.
»Mindestens zwei Gläser!«, rief mir Lexie zu, bevor sie im Bad verschwand.
Einen Moment später hörte ich das Wasser laufen und wusste, dass sie eine Weile dadrin sein würde. Wenn jemand keinen Gedanken ans Wassersparen verschwendete, dann war es meine beste Freundin. Ich badete lieber, aber in unserer Wohnung war kaum Platz für eine Dusche, geschweige denn für etwas so Luxuriöses wie eine Badewanne.
Als ich das zweite Glas Wasser an die Lippen setzte, hörte ich ein Klingeln, und es war fast schon peinlich, wie lange ich brauchte, um zu realisieren, dass es von meinem Handy kam. Ich fischte es aus meiner Tasche und kniff verwundert die Augen zusammen, als ich sah, dass es die Nummer der Bibliothek war.
Was zur Hölle?
Noch nie zuvor hatten sie nach Feierabend angerufen. Wenn ich so genau darüber nachdachte, hatten sie eigentlich noch nie bei mir angerufen. Der einzige Grund, warum ich die Telefonnummer erkannte, war von den wenigen Malen, als ich mich krankmelden musste. Es war immer Simon, der ranging und kurz angebunden antwortete, aber er akzeptierte mein Fehlen immer, ohne weitere Fragen zu stellen.
Warum rief mich der mürrische Verwalter jetzt an? War etwas Schlimmes passiert? War die Bibliothek etwa abgebrannt?
Ich wusste zwar, dass es nicht die beste Idee war, nach all den Cocktails einen Anruf von der Arbeit anzunehmen, aber ich würde sowieso nicht schlafen können, wenn ich nicht wusste, was los war. Also wischte ich den grünen Hörer nach oben.
»Hallo?«, sagte ich so zögerlich, dass meine Begrüßung eher wie eine Frage klang.
»Ein Buch fehlt.«
Ich war gerade auf dem Weg zur Couch gewesen, und als ich die tiefe, orgasmuserregende Stimme aus dem Handy hörte, stolperte und fiel ich zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten und stieß mir dabei den Kopf am Beistelltisch. Das war nicht Simon. Nicht einmal annähernd.
Während ich die Verwirrung und den Schmerz verdaute, sprach die Stimme weiter, und ich bekam die nächsten Worte nicht mit. Alles, was ich noch hörte, war: »… sofort, was passiert ist!«
Der Orgasmus-Stimmen-Typ war sauer und ließ seinen Frust an mir aus. Benutzte er irgendeine App, mit der er seine Stimme tiefer klingen lassen konnte? Denn verdammt, ich hatte noch nie eine Stimme wie seine gehört.
Und ich hörte ihm immer noch nicht richtig zu.
»Ich hab mir den Kopf gestoßen«, platzte ich plötzlich heraus und unterbrach damit ein weiteres heißes Knurren. »Gerade eben. Ich habe vielleicht eine Gehirnerschütterung.« Oder war zu betrunken und abgelenkt von der tiefen, rauen Stimme.
»Es fehlt ein Buch aus dem Bereich für besondere Exemplare«, begann er von vorne, diesmal langsamer, vermutlich, um meine scheinbar beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten zu kompensieren. Ich zog mich wieder auf die Beine und zwang mich, ihm wirklich zuzuhören. »Es wurde letzte Nacht zurückgegeben, und du hättest es heute einchecken sollen, aber es ist nicht da.«
Besondere Exemplare … davon hatte ich heute nur ein Buch einsortiert. »Ich habe es durch das Fach eingecheckt, so wie immer«, erklärte ich ihm und fragte mich, ob ich gerade meinen Job verloren hatte. Der Gedanke ließ mich schlagartig um einiges nüchterner werden. »Eine Frau hat sich sogar bei mir bedankt, als ich gegangen bin, was, wenn ich so darüber nachdenke, schon seltsam war. Ich habe noch nie eine Stimme aus dem Bereich für besondere Exemplare gehört, aber es war deutlich, dass sie das Buch bekommen hat. Wofür sonst hätte sie sich sonst bedanken sollen …«
Das Telefonat brach ab, und ich blinzelte, als ich das Display ansah. »Was zur Hölle?«, brachte ich hervor. »Er hat einfach aufgelegt.«
Ich wusste, dass ich manchmal dazu neigte, zu viel zu quatschen, aber das war ein ganz neues Level an Unhöflichkeit. Auf wackligen Beinen wartete ich auf meine Runde unter der Dusche und beschloss, heute Nacht, oder besser das ganze Wochenende, nicht mehr an das Telefonat zu denken.
»Sie gehört ganz dir, Hasenpfötchen«, flötete Lexie, als sie in einer Dampfwolke aus dem Bad trat. Sie war splitterfasernackt, denn so schlief sie am liebsten. Wir hatten einander bereits so oft nackt gesehen, dass das nichts Ungewöhnliches war. »Wir sehen uns morgen.«
»Nacht«, rief ich ihr nach und zwang mich, dabei normal zu klingen.
Lexie war wohl schon zu müde oder noch zu betrunken, um etwas Seltsames in meinen Worten oder an meiner Körpersprache zu bemerken, also gelang es mir, mich ins Bad zu verkriechen, bevor sie etwas mitbekam. Das Wasser war nur lauwarm, und wir hatten hier einen echt beschissenen Wasserdruck, doch es war genug, um den Dreck und das Make-up herunterzuwaschen und mich frisch zu machen, bevor ich ins Bett kroch. Ich trank noch etwas mehr Wasser, direkt aus der Leitung, und ignorierte den Gedanken an das eklige Stadtwasser und das noch ekligere Boilerwasser. Das war immer noch besser als der Kater, der mich sonst am nächsten Tag erwartete.
Nachdem ich im Bad fertig war, mein Gesicht und die Zähne gründlich geschrubbt, kuschelte ich mich in meinem Lieblingspyjama aus Flanell endlich ins Bett und schnappte mir mein Handy, um noch ein paar Kapitel zu lesen. Das Buch war erst vor zwei Tagen erschienen und der dritte Teil eines meiner Lieblingsbücher. Wegen der Arbeit hatte ich immer nur wenige Minuten gehabt, um darin lesen zu können, und es brachte mich langsam um den Verstand, nicht zu wissen, was mit Hannah passiert war, insbesondere nach dem unglaublichen Cliffhanger, mit dem die Autorin den letzten Band beendet hatte.
Als ich die App öffnen wollte, fiel mein Blick auf das Telefonsymbol, und ich musste wieder an diese tiefe Stimme denken, ihren einzigartigen, wirklich einmaligen Klang. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie jemandem begegnet, der eine solche Stimme hatte, so viel war sicher.
War das der mysteriöse Besitzer der Bibliothek, mit dem ich da gesprochen hatte? Dragerfield. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob das der Name des Besitzers war oder die Bibliothek einfach nur so hieß.
Ein Buch fehlt.
Wie war das möglich? Hatte ich etwa eins der besonderen Exemplare übersehen? Oder hatte ich den Band in das falsche Fach gestellt, weil ich es so eilig hatte, aus der Bibliothek rauszukommen? Die Schatten hatten mich irgendwie nervös gemacht, und ich war buchstäblich geflüchtet, nachdem ich es ins Fach gelegt hatte.
Oder hatte das alles mit der seltsamen Frauenstimme zu tun? Hatte die Person etwa das Buch genommen und war der Grund dafür, dass ich jetzt gefeuert wurde? Und noch schlimmer: Würde Lexie dann auch gefeuert werden? Sie würde zu mir halten und vermutlich sowieso kündigen, aber das konnte ich ihr nicht antun. Nicht, wenn wir beide den besten Beruf der Welt hatten.
Insbesondere in dieser kleinen Stadt.
Es gab hier keinen anderen Job, den ich mir für uns beide vorstellen konnte, vor allem, wenn wir auf dem Festland bleiben wollten. Ich weigerte mich zu akzeptieren, dass wir unsere Jobs verlieren würden, nur weil ich es einmal verbockt hatte.
Oder? Es müsste doch einen Weg geben, das mit Mr Sexy-Stimme zu klären.
Mittlerweile ließ die Trunkenheit nach, und ich bewegte mich gefährlich nah am Migräne-Territorium. Wenn ich jetzt nicht genügend trank und ein paar Tabletten zu mir nahm, würde ich am nächsten Morgen jede Sekunde meiner Existenz verfluchen.
Ich zwang mich aus dem Bett und warf mir meinen Bademantel über, um mich gegen die Kälte unseres nicht isolierten Gebäudes zu schützen. Der Heizofen hatte bereits seine besten Jahre hinter sich, und wir waren nicht dafür gemacht, die Kälte ohne ein paar extra Lagen zu überstehen. In der Küche starrte ich wieder auf mein Handy und fluchte über das Gespräch, das sich in Dauerschleife in meinem Kopf abspielte.
Ohne genauer darüber nachzudenken, kippte ich zwei Tabletten und ein weiteres Glas Wasser runter und öffnete die Uber-App. Ich bestellte einen Wagen, noch bevor mein Gehirn realisieren konnte, was ich da gerade tat, und schon schlüpfte ich aus der Wohnung, noch immer in meinem Pyjama und dem Bademantel, und natürlich ohne BH. Wer im BH schlafen ging, musste sich echt professionelle Hilfe suchen.
Als Uber-Fred vor unserem Haus auftauchte und mich aus zusammengekniffenen Augen musterte, hätte ich es mir beinahe anders überlegt und wäre fast wieder zurück ins Haus gelaufen. »Missy?«, fragte er und fuhr das Fenster herunter. »Hast du etwas in der Bar vergessen?«
Fred nannte alle Frauen Missy. Es war eine widerliche Angewohnheit, und wir hatten lange versucht, es ihm abzugewöhnen, doch mussten schließlich aufgeben. Er war zu alt und zu stur, um sich jetzt noch zu ändern.
»Äh … n…nein«, brachte ich heraus und trat von einem besockten Fuß auf den anderen. »Es gibt einen Notfall bei der Arbeit. Du musst mich zur Bibliothek bringen.«
Das wäre nicht das erste Mal, dass Fred eine von uns zur Bibliothek fahren musste, aber definitiv das erste Mal nach Mitternacht. »Ein Notfall in der Bibliothek?«, wiederholte er langsam und betonte mit seinem Akzent viele der Silben, die eigentlich keine Betonung brauchten. »Das hört sich irgendwie falsch an.«
Damit hatte er nicht unrecht, und doch standen wir hier. »Ich habe ein Buch verlegt«, ergänzte ich, mein Gesicht mittlerweile fast taub vor Kälte. »Wenn ich es nicht rechtzeitig wiederfinde, werde ich gefeuert. Und dann wird Lexie gefeuert. Und dann werden wir auf der Straße leben, und eine von uns muss sich prostituieren, um etwas Geld zu verdienen, und Lexie sieht so viel besser aus als ich, und ich will nicht, dass sie sich das antun muss…«
Dieses Nervös-drauflosschwafeln-Ding wurde langsam echt zum Problem, und ich war mir ziemlich sicher, dass Fred es bereits bereute, dass er mich überhaupt gefragt hatte.
»Steig schon ein«, unterbrach er mich, als ich gerade davon erzählte, wie Lexie und ich gleichzeitig auf dem Strich schwanger sein würden und Nuttenbabys großziehen müssten. »Nur halt endlich die Klappe.«
»Okay, okay«, sagte ich, stolperte auf die Tür zu und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. »Ich verspreche, ich brauche nicht lange, wenn du auf mich warten kannst.«
Fred grunzte und fuhr bereits los, bevor ich die Autotür überhaupt schließen und den Gurt anlegen konnte. »Alter«, schnappte ich nach Luft. »Was ist mit Sicherheit?«
Diesmal fluchte er, und ich war froh, mal nicht Lexies Umschreibungen für Schimpfwörter interpretieren zu müssen. Fred glaubte, ich sei ein scheiß Freak, und er sagte es geradeheraus.
Danach war es still im Auto. Fred schoss durch die leeren Straßen und nahm jede Abkürzung, die er finden konnte, und in wenigen Minuten waren wir auf der Straße Richtung Bibliothek unterwegs. Draußen war es stockdunkel, und nur dank der Scheinwerfer seines Autos schafften wir es, nicht von der Straße abzukommen.
Ich hatte auf dieser Straße noch nie ein anderes Auto gesehen, und diese Nacht war da keine Ausnahme. Irgendwie hatte ich mit mehr Verkehr gerechnet, immerhin wurden die Bücher nachts ausgeliehen, oder?
Das Tor stand wie immer offen. Fred raste hindurch und bremste nicht einmal, als er sich beinahe den Seitenspiegel abfuhr. Den Freak loszuwerden war ihm offenbar wichtiger als sein Auto.
Als wir uns der Bibliothek näherten, musste ich blinzeln, als ich die Beleuchtung sah. Ich hatte die Bibliothek noch nie bei Nacht gesehen und war überrascht, dass sie von allen Seiten beleuchtet war, so, als wären wir inmitten des Times Square. Doch am Eingang parkte nach wie vor kein einziges Auto.
»Das ist ja seltsam«, murmelte Fred, und wir beide lehnten uns vor zur Windschutzscheibe, um das Gebäude besser sehen zu können, als das Auto langsamer wurde. »Feiern die da grad ’ne Party?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Falls ja, wurden wir nicht eingeladen.«
Was ziemlich unhöflich war, wenn man mich fragte. Ich hatte mich ja immer gefragt, warum der Ballsaal nie genutzt wurde, und da veranstalteten diese Ärsche eine Party und sagten uns nicht einmal Bescheid.
Dragerfield. Diese tiefe Stimme. Vielleicht war er ja gerade in der Stadt … und hatte mich deshalb selbst angerufen.
»Willst du noch rein?«, fragte Fred, und ich bemerkte erst jetzt, dass wir nur einige Meter vor dem Eingang angehalten hatten, da, wo er uns normalerweise absetzte. »Wenn ich keine Uber-Anfrage bekomme, dann warte ich zehn Minuten. Sonst musst du hier warten, bis ich wieder frei bin, um dich abzuholen.«
Ich nickte und starrte die Bibliothek weiter an. Seltsam, wie sich diese Nacht entwickelt hatte. »Das ist fair, Fred. Sehr fair sogar. Danke.«
Er grunzte, und als ich mich nicht bewegte, beugte er sich an mir vorbei, um die Tür zu öffnen. »Raus mit dir. Bieg das wieder hin.«
Was für eine nette, großväterliche Figur. Scheinbar ohne andere Wahl stieg ich in meinen Socken und meinem Pyjama aus und schloss sanft die Tür hinter mir. Von hier aus konnte ich zum ersten Mal sehen, dass die große Flügeltür endlich offen stand. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass der Seiteneingang meine beste Option war.
Der Plan war es, rein- und rauszuschlüpfen, das Buch zu finden und es zurückzubringen, bevor der Morgen anbrach.
Vielleicht war die Party ja genau das Richtige, damit nicht auffiel, dass ich da war, bevor ich mein Ziel erreichen konnte.
Es war ein großartiger Plan. Keinerlei Schwachstellen.
Und mit dieser Selbstsicherheit schritt ich zum Seiteneingang.
Bereit, den Tag zu retten.
Reinzukommen war leicht. Der Mitarbeitereingang war zwar verschlossen, doch ich nahm einfach den Extraschlüssel, der unter einem Stein versteckt lag für die frühen Morgenschichten, an denen ich meine Schlüssel vergaß. Leise öffnete ich die Tür und schlüpfte in den dunklen Raum. Niemand war da, und so konnte ich unbemerkt hineingelangen und die Tür hinter mir schließen.
Es war dunkler als sonst, aber ich war hier so oft durchgelaufen, dass ich genau wusste, wo sich alles befand. Meine Schritte waren dank meiner leicht nassen Socken – igitt – leise, und als ich die Treppe ins nächste Stockwerk nahm, fielen ein paar Lichtstrahlen um mich herum, die nur vom Ballsaal kommen konnten.
Die Geräusche, die ich von draußen gehört hatte, waren drinnen natürlich viel lauter. Musik und Gelächter drangen an meine Ohren, gefolgt von dem Raunen angeregter Gespräche. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Takt der Musik die Stufen hinauftänzelte, und mit jedem Schritt wuchs meine Vorfreude darauf, herauszufinden, was unten vor sich ging.
Das war also Dragerfield bei Nacht – ein geheimes Nachtleben, von dem Lexie und ich keine Ahnung hatten –, und während ein Teil von mir wusste, dass es falsch war, ohne Einladung hier zu sein, wollte der andere Teil unbedingt herausfinden, was es mit dieser Seite von meinem Dragerfield auf sich hatte.
Über meine besitzergreifende Einstellung zu der Bibliothek sollte ich mich sicherlich mal mit einem Therapeuten unterhalten.
Als ich den Treppenabsatz erreichte, stellte ich erleichtert fest, dass sich niemand in den oberen Stockwerken aufzuhalten schien. Langsam schlich ich mich an den Rand der Galerie und spähte hinunter. Nachdem ich so lange im Dunkeln herumgelaufen war, brannten meine Augen unangenehm, als das Licht vom Marmorboden reflektiert wurde. Alles, was ich erkennen konnte, waren blitzende Scheinwerfer und ein Saal voller Kleider und Anzüge.
Ich kniff die Augen zusammen, um mich an das Licht zu gewöhnen, doch als ich sie wieder öffnete, blieb der Anblick unverändert: Lichter und Farben und keine Möglichkeit, auszumachen, wer sich da unten aufhielt oder was für eine Art von Party das war. Beinahe so, als sei der Ballsaal von dieser Ebene aus nicht richtig sichtbar. Keine Ahnung, wie das möglich war.
Ich schüttelte den Kopf und beschloss, dass ich mich zuerst um das fehlende Buch kümmern und mich danach meiner Spionagemission widmen würde. Wenn ich das Geschehen nur vom Erdgeschoss aus sehen konnte, würde ich einfach auf meinem Weg nach draußen einen Blick hineinwerfen.
Meine Augen tränten vom Licht, doch das unangenehme Gefühl ließ nach, als ich wieder in der Dunkelheit verschwand. Mit gesenktem Kopf und leisen Schritten ging ich zuerst zu der Kiste mit den zurückgegebenen Büchern. In der Box lagen bereits einige neue Bücher, doch keins davon war eins der besonderen Werke. Prüfend sah ich mich auf dem Tisch um, auch darunter, für den Fall, dass ich ein weiteres besonderes Exemplar übersehen hatte. Nichts. Ich schaltete die Taschenlampe an meinem Handy ein, um im Dunkeln besser sehen zu können, doch der Bereich war sauber.
Im Hintergrund spielten noch immer die Instrumente. Stücke, die ich noch nie gehört hatte, doch das hielt mich nicht davon ab, im Rhythmus mitzuschwingen und zu summen, während ich suchte und mir widerwillig eingestehen musste, dass ich an der Atmosphäre Gefallen fand. Dass diese Wichser einen prächtigen Ball veranstalteten und nicht auf die Idee gekommen waren, uns einzuladen, belegte glatt Platz eins meiner diesjährigen Top Ten der Situationen, die mich abfuckten.
Und das musste einiges heißen, wenn man bedachte, was meine Eltern Anfang des Jahres abgezogen hatten, um mich wieder nach Hause zu kriegen: so zu tun, als könnten sie ohne meine Hilfe weder kochen, putzen noch funktionieren – und das, obwohl sie in ihren Fünfzigern waren und sich bester Gesundheit erfreuten. Sie hatten mir damit einen Riesenschrecken eingejagt, doch ich war standhaft geblieben und hatte sie gebeten, zum Arzt zu gehen, bevor ich irgendwelche Entscheidungen traf. Danach hatte ich komischerweise nichts mehr zu dem Thema gehört.
Auf narzisstische Weise meine Schuldgefühle auszunutzen war etwas, was ich nicht einfach so verzeihen konnte. Nicht mehr. Alte Angewohnheiten waren nur schwer abzulegen, und mein Leben lang war ich darauf konditioniert worden, alles zu tun, was sie wollten. Doch jetzt, da ich ihre Spielchen durchschaute, war es leichter geworden, nicht nachzugeben.
Auf dieser Ebene war nichts zu finden, also machte ich mich auf ins nächste Stockwerk, dahin, wo wir die besonderen Exemplare zurückgaben. Zwar schlich ich immer noch auf leisen Sohlen umher, verzichtete aber auf mein Ninja-Getue. Heute Nacht interessierte sich sowieso niemand für Bücher.
Als ich die Tür mit dem Fach für besondere Bücher erreichte, tat ich etwas, was ich zuvor noch nie versucht hatte. Ich drückte die Türklinke herunter.
Mal ernsthaft, was zur Hölle war heute bitte mit mir los? Ich war keine Regelbrecherin. Ich lebte ein langweiliges Leben und war damit vollkommen zufrieden. Denn langweilig bedeutete sicher, und sicher bedeutete, dass mich niemand manipulieren und für sein eigenes Glück ausnutzen konnte.
Das würde ich nie wieder zulassen.
Als ich die Klinke runterdrückte, war da ein Klick, und die Tür ging auf.
Fuck.
Nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich gedacht, dass der Raum, den Lexie und ich nicht betreten durften, unverschlossen sein könnte.
Hatten die ernsthaft nur darauf gebaut, dass wir uns an die Regeln hielten und so niemals entdecken würden, was sich in diesem Raum befand?
Wie konnten sie sich sicher sein, dass wir nicht einen Blick hineinwerfen würden?
Warum haben wir nie einen Blick hineingeworfen?
Vermutlich weil das ein toller Job war und wir nicht riskieren wollten, ihn zu verlieren. Solange sie uns nicht damit in Gefahr brachten, sollten sie doch ihre geheimen Räume und merkwürdigen Ausleihzeiten haben. Wer war ich schon, dass ich die Reichen und Exzentrischen hinterfragte?
Doch jetzt, da ich sowieso wegen des fehlenden Buches kurz davor war, meinen Job zu verlieren, hatte ich wohl keine andere Wahl, als diesen verbotenen Raum zu betreten und danach zu suchen. Oder?
Zögernd blieb ich an der geöffneten Tür stehen, traute mich nicht, hineinzugehen, und leuchtete stattdessen mit der Taschenlampe meines Handys hinein. Doch von der Schwelle aus konnte ich nichts erkennen, und es sah aus, als sei der Raum leer. Ich wagte einen Schritt hinein, und ein Kribbeln lief über meine Haut, fast so, als hätte ich ein Stromkabel berührt.
»An deiner Stelle würde ich keinen weiteren Schritt machen.«
Ich machte mir fast in die Hose, als mir klar wurde, dass ich nicht alleine hier war. Und noch schlimmer, der Befehl kam von der gleichen tiefen, sexy Stimme, die mich mit dem Anruf überhaupt erst dazu gebracht hatte, hier aufzutauchen. Die gleiche verdammte Stimme.
Würde ich Dragerfield endlich treffen? Von Angesicht zu Angesicht?
Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass die Stimme nicht hinter mir erklang, sondern aus dem Raum kam, den ich beinahe betreten hätte. Ihr tiefer Klang erfüllte die Luft, und es fühlte sich so an, als käme er von überallher.
Aus der Dunkelheit trat ein Riese von einem Mann.
Wirklich, ein Riese.
Im Licht meines Handys sah es so aus, als wäre er mindestens zwei Meter groß, und der Schatten, den er warf, schluckte das Licht beinahe vollständig.
»Fuck«, quiekte ich auf, und mir wurde klar, dass das eine ziemlich gefährliche Situation war – alleine, in der Dunkelheit mit einem Fremden, der fast doppelt so groß und doppelt so breit war wie ich und aussah wie ein Krieger aus uralten Zeiten.
Als ich meine Fassung wiedergefunden hatte, machte ich ein paar Schritte rückwärts zum Lesepult und hoffte, so eine Barriere zwischen mich und was auch immer da gerade aus der Dunkelheit vor mir aufgetaucht war zu bringen – dem Typen, von dem ich dachte, dass er Dragerfield war.
Mit dem Handy leuchtete ich den Weg und schaffte es, mich hinter den Tisch zu stellen, bevor der Riese sich auch nur einen Millimeter bewegt hatte. Nicht, weil ich besonders schnell gewesen wäre, sondern weil er es anscheinend nicht für nötig hielt, mich zu verängstigen, indem er mich jagte.
Zumindest noch nicht.
In meinen zitternden Fingern flackerte das Licht, während ich darauf wartete, dass er aus dem Schatten hervortreten würde. Als er es endlich tat, wurde mein Zittern nur noch schlimmer. Denn in dem Moment, in dem er aus der Tür trat, umspielte ihn ein natürliches Leuchten, und trotz der Dunkelheit konnte ich ihn deutlich sehen.
Heilige Scheiße.
Er war das Licht. Seine bronzefarbene Haut leuchtete, und die Dunkelheit kam nicht einmal ansatzweise dagegen an.
Er trat näher, und ich stellte fest, dass sein goldblondes Haar an den Seiten kurz geschoren und oben länger war. Als ich mir sein Gesicht ansah, musste ich mich zwingen, nichts zu sagen.
Hätte ich die Lippen nicht aufeinandergepresst, keine Ahnung, was für ein Stöhnen mir entglitten wäre, denn sein Gesicht war nicht von dieser Welt.
»Was bist du?« Die Worte platzten einfach aus mir heraus.
Verdammt. Ich hätte fragen müssen, wer er war, aber was erschien hier irgendwie passender.
Das Gesicht dieses Mannes war geprägt von harten Linien und perfekten Kanten, die durch sündhaft volle Lippen abgerundet wurden. Er fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen, und durch das Licht, das von seiner Haut ausging, konnte ich erkennen, dass sie von einem stechenden Grünton waren, mit goldenen Sprenkeln, die zu seiner Iris hin dichter wurden und so hell waren wie keine Augenfarbe, die ich je zuvor gesehen hatte. Er trug eine Rüstung, zu der ein goldener Schild an seiner Brust gehörte, und Gurte, die sich entlang seiner muskulösen Arme schlangen. Seine Oberschenkel waren in eine ähnliche Rüstung gehüllt, die der Linie seiner dunklen Hose folgte und an seinen schweren Kampfstiefeln endete.
Hm, das was war doch ganz passend gewesen.
Er blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen, und ich fuchtelte mit meinem Handy vor mir herum, als wäre es eine Waffe. »Komm nicht näher«, warnte ich ihn. »Ich nehme alles auf und gehe damit zur Polizei.«
Er legte den Kopf schief, als würde er meine Sprache nicht sprechen, auch wenn ich genau wusste, dass er es tat – selbst wenn es in einem Ton war, der Höschen feucht machte und Frauen den Verstand verlieren ließ.
»Du bist die, die hier arbeitet?« Sein Blick wanderte über meinen Körper, und wäre ich nicht so durcheinander gewesen, wäre es mir bestimmt peinlich gewesen, dass ich im Pyjama und Bademantel vor ihm stand.
Aber ich glaube, den Punkt hatten wir längst übersprungen.
Komm schon, Morgan. Reiß dich zusammen. Er hat dich etwas gefragt.
Doch alles, was ich ihm als Antwort bieten konnte, war, übereifrig zu nicken, als sei es eine olympische Sportart.
»Du bist die, die mein Buch verloren hat?«
Moment mal. »Ich habe dein verdammtes Buch nicht verloren«, entgegnete ich, und mein Ärger über den Vorwurf dämpfte die Anziehungskraft seiner Stimme ein wenig. »Genau darum bin ich hier. Du hast mir keine Chance gegeben, mich am Telefon zu erklären, sonst hätte ich gesagt, dass ich das Buch definitiv, zu hundertfünfzig Prozent, ohne jeglichen Zweifel, in das Fach an dieser Tür zurückgegeben habe, genauso wie alle anderen besonderen Exemplare.«
»Definitiv, zu hundertfünfzig Prozent«, wiederholte er und klang dabei fast schon amüsiert, obwohl seine Miene noch immer beängstigend düster wirkte.
»Genau«, brachte ich heraus, und meine Hände begannen wieder zu zittern.
»Und dennoch bist du hier und schleichst dich in den Raum, den dir zu betreten ausdrücklich verboten wurde.«
Ironischerweise hatte der Versuch, nicht gefeuert zu werden, mich gerade wohl doch meinen Job gekostet.
Ich ließ das Handy auf den Tisch sinken, und das Licht blendete mich beinahe, doch ich wollte freie Hände haben, für den Fall, dass ich mich verteidigen musste. »Ich war nie wirklich drin. Theoretisch habe ich keine Regel gebrochen.«
Seine Lippen wurden schmal. »Aber das wolltest du. Und für mich gibt es da keinen Unterschied.«
»Bist du Dragerfield?« Ich konnte jetzt auch einfach drauflosfragen, da ich sowieso definitiv gefeuert war. Oder noch schlimmer. »Der, dem die Bibliothek und das Land, auf dem sie steht, gehört?«
Sein Lächeln war düster, und als er seinen Kopf neigte, bemerkte ich etwas, das wie eine dunkle Tätowierung aussah, die gerade so an der Seite seines Halses sichtbar war. »Ich bin Drager. Ein Sonnengott aus dem Reich Risest, und ich nutze dieses irdische Portal, um mich zu stärken. Die Sonne der menschlichen Welt bietet mehr Energie als meine, und in dieser Bibliothek sammle ich ihre Energie, mit der mein Land und meine Fae zu einer unbezwingbaren Macht werden.«
Ich blinzelte ihn an.
Dann noch einmal.
Hatte er gerade wirklich gesagt, dass er ein Sonnengott aus einem anderen Reich wäre?
Renn, Morgan, renn! Sieh zu, dass du da verschwindest, hörte ich Lexies Stimme in meinem Kopf.
Meine Angst davor, meinen Job zu verlieren, wich der neuen Angst, alleine im Dunkeln mit einem Irren zu sein, der sich selbst als Sonnengott bezeichnete. Klar, er leuchtete irgendwie und schien von sich wirklich überzeugt zu sein, aber seine Aussage schien nicht von einem überdimensionalen Ego herzurühren – er glaubte wirklich daran.
Auf meinen besockten Füßen wirbelte ich herum und rannte davon. Der Holzboden ließ mich schlittern und rutschen, und ich wünschte, ich hätte meine Stiefel angehabt anstelle dieser Todesfallen. Doch wer hätte auch damit gerechnet, dass ich nicht einmal eine Stunde, nachdem ich das Haus verlassen hatte, vor einem absoluten Psycho fliehen müsste?
Was hatte er gesagt, wo er herkam? Reset? Wie der Reset-Knopf, den ich am liebsten drücken würde, denn ich fühlte mich wie im falschen Film. Einem, der selbst für die Sci-Fi-Sender zu abgefuckt wäre.
Hinter mir konnte ich nichts hören, doch ich hatte zu große Angst, um mich umzusehen. Denn so kam man im Dunkeln garantiert ins Stolpern, verletzte sich am Kopf und wurde dann vom großen, bösen Monster verspeist.
In diesem Fall handelte es sich bei dem Monster um ein wunderschönes Biest, doch solange das Verspeisen nicht die Art war, die mit Orgasmen einherging, war ich nicht daran interessiert und würde diesen Teil dieses Horrorfilms lieber überspringen.
Als ich die Treppe erreichte, entglitt mir ein Schluchzen. Meine Augen hatten sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich es hinunterschaffte, ohne mich zu verletzen. Adrenalin schoss durch meine Adern, und gerade, als ich von der letzten Stufe auf den Holzboden springen wollte, prallte ich gegen etwas, das sich wie ein Fels anfühlte, und ich wurde zurück auf die Treppe geworfen.
Sekunden, bevor ich auf den Boden krachte, erhaschte ich einen Blick in diese goldgrünen Augen. Wie erwartet war der Rückstoß so heftig, dass mein Kopf gegen die Kante der Stufe schlug – bereits die zweite Verletzung heute Nacht –, und alles wurde dunkel.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich ein schmerzhaftes Pochen, und beim Versuch, die Augen zu öffnen, wurde der Schmerz nur stärker. Als ich es endlich schaffte, erinnerte ich mich auch wieder, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass ich bewusstlos auf dem Boden lag.
Drager hat mich gejagt.Dann ist er irgendwie vor mir aufgetaucht, und ich bin gegen die Treppe zurückgeprallt.
Trotz all meiner Mühen hatte ich es geschafft, meinen ganz persönlichen Dumme-Protagonistin-aus-dem-Horrorfilm-Moment zu kreieren. Lexie wäre stolz auf mich.
Immer mehr meiner Sinne fuhren langsam aus dem Standby hoch, und ich hörte, wie jemand in meiner Nähe hitzig diskutierte. Die erste Stimme gehörte zum Sonnengott – das raue Knurren seiner Worte würde mir für den Rest meines Lebens im Gedächtnis bleiben – mochte es noch so kurz sein. Die andere Stimme klang sehr nach … Lexie?
Was zur Hölle?
Stöhnend setzte ich mich auf. Oder versuchte es zumindest. Ich befand mich nicht mehr auf der harten Treppe, sondern lag auf etwas, was tausendmal weicher war. Die Musik der Party war immer noch gut zu hören und schien hier sogar noch lauter zu sein, also vermutete ich, dass wir im Erdgeschoss waren, in einem der seitlich gelegenen Pausenräume. Hier gab es Betten und Duschen, nicht, dass Lexie und ich sie jemals genutzt hätten.
Keine Ahnung, was das für ein Geräusch gewesen war, das ich da von mir gegeben hatte, als ich mich aufrichtete, aber es lenkte die Aufmerksamkeit der Streitenden, die in der Tür standen, auf mich – eine Beteiligte war eine atemberaubend schöne Frau mit dem vertrauten Pixie Cut und der andere Beteiligte der gefährliche, sündhaft heiße Gott.
»Lexie?«, krächzte ich und schüttelte leicht den Kopf, während ich mich fragte, warum auch von ihr plötzlich ein leichtes Leuchten auszugehen schien. Ich hatte vermutlich wirklich eine Gehirnerschütterung. »Bist du das?«
Sie stürzte zu mir und ließ sich neben meinem Bett auf den Boden fallen. »Morgan! Du steckst echt in verdammt großen Schwierigkeiten. Wie konntest du nachts einfach so ohne mich verschwinden? Dich hätte jemand töten können!«
Ich blinzelte sie an, denn von ihrer blassen Haut ging wirklich ein Leuchten aus. »Du hast gerade verdammt gesagt.«
Das war alles, was ich rausbekam, bevor die Schmerzen in meinem Kopf mich vornübersacken ließen.
»Ich glaube, du wirst etwas Stärkeres brauchen als Ibu«, murmelte Lexie und fuhr mit kühlen Fingern über meine Schläfen. Der Schmerz ebbte bei ihrer Berührung langsam ab.
Das wurde mir alles zu viel.
War irgendwas von dem, was ich heute Nacht erlebt hatte, real? War meine Bibliothek etwa wirklich eine Art übernatürliche Oase, ein Portal zu einer anderen Welt?
An allem war bloß die Gehirnerschütterung schuld, oder?
»Es tut mir so leid, Morgs«, flüsterte Lexie, während sie immer noch mit kühlen Fingern über meinen Kopf strich. »Ich wollte nie, dass du das so herausfindest. Ich wollte dich langsam an die Wahrheit gewöhnen.«
Ich wich zurück und schluckte hart. »Du glaubst auch, dass du eine von denen bist. Eine Göttin aus … Reset?«
»Risest«, korrigierte sie mich mit einem schiefen Lächeln. »Aber nah dran.«
So, wie sie es sagte, klang es fast wie das englische Wort resist, nur mit mehr Betonung auf dem e.
»Es ist … ich verstehe nicht …« Ich schüttelte wieder den Kopf. »Wie kannst du von mir erwarten, dass ich glaube, was der Psycho da sagt? Das ist noch weiter hergeholt als die meisten der Geschichten, die wir lesen. Und die sind High Fantasy! Wie kann unsere Bibliothek eine Schwelle zu einer anderen Welt sein, und der Typ da …« – ich zeigte mit dem Kopf in Dragers Richtung, der immer noch im Türrahmen stand und ihn komplett ausfüllte – »…soll ein verdammter Sonnengott sein?« Ich schnaubte. »Oh, und das Beste ist, dass ihr alle zufällig Englisch sprecht?«
Lexies Mundwinkel zuckten stärker, und ich begann zu verstehen, warum sie so überirdisch schön war. Und warum es in ihrem Leben keine Anzeichen der japanischen Kultur gab, mit der sie bei japanischen Eltern hätte aufwachsen müssen. Es gab es keine eindeutigen Hinweise, dass ihre Wurzeln in Japan lagen, bloß ihre Zustimmung, als ich einfach davon ausgegangen war, dass das das Land ihrer Herkunft war. Stellte sich heraus, dass sie einfach Glück hatte, dass ich zu dumm gewesen war, um ihre Lügen und Täuschungen zu durchschauen.
Sie war keine Japanerin. Sie war verdammt noch mal nicht einmal ein Mensch.
»Ich hab da vielleicht … vor einer ganzen Weile … unsere Sprache … in deinen Verstand eingepflanzt«, gab sie zu und sah beschämt aus. »Da ich manchmal in meine Muttersprache wechsle, ohne darüber nachzudenken, dachte ich, es wäre einfacher, wenn es für dich wie Englisch klingen würde. Manchmal antwortest du mir sogar in unserer Sprache, und für dich klingt es immer noch wie Englisch.«
Gewalt war normalerweise nicht meine Art, aber in diesem Moment wollte ich ihr am liebsten eine verpassen. Der Verrat traf mich wie ein Schlag und hinterließ ein widerliches Gefühl. Der Schmerz in meiner Brust war so überwältigend, dass mir die Luft wegblieb, doch ich wusste, dass jetzt nicht die Zeit war, um zusammenzubrechen.
Diese verrückten Kreaturen, oder was auch immer sie waren, bedeuteten für mich nach wie vor Gefahr. Sie zu schlagen würde meinen Tod vermutlich nur beschleunigen, und ich zog es vor, das zu vermeiden.
Also zwang ich mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ihr werdet mir beide so schnell wie möglich alles erklären, und dann will ich nach Hause und so tun, als ob keiner von euch existiert.«
Lexies Lächeln erstarb. »Morgs, bitte. Du bist meine beste Freundin, und nichts kann daran etwas ändern.«
Für mich änderte es einfach alles. Sie hatte mich jahrelang belogen, und jetzt wusste ich nicht, was ich glauben und wem ich vertrauen konnte.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rutschte von ihr weg.
Lexie seufzte, stand auf und drehte sich zu Drager. »Was darf ich ihr erzählen?«
Er zuckte die Schultern. Nicht gerade ein Gott vieler Worte. »So viel, dass sie es versteht, aber nicht genug, dass ich sie töten muss.«
Das war das erste Mal, dass hier jemand etwas sagte, dem ich zustimmen konnte.
Lexie wurde bleich, und mir wurde klar, dass ich mich vorhin geirrt hatte, als ich ihre Diskussion gehört hatte. In meinem noch verwirrten Kopf hatte es sich nach einem hitzigen Gespräch angehört, doch sie hatte ganz klar Angst vor diesem Kerl. Sie war ihm nicht ebenbürtig. Sie war ihm untergeben.
Als sie sich wieder zu mir umdrehte, war ihr Lächeln verschwunden. »Es tut mir leid, dass ich dir die Wahrheit verschwiegen habe, aber ohne Beweise hättest du mir nie geglaubt. Abgesehen davon, dass es für dich viel sicherer war – und immer noch ist –, nichts von alldem zu wissen.«
Das stimmte vielleicht, aber das machte es nicht leichter zu verdauen, dass unsere Freundschaft auf Lügen basierte.
»Mein voller Name ist Lexical Lichtbringer«, seufzte sie. »Ich bin keine Göttin, wie du vorhin vermutet hast. Ich bin eine Fae aus dem Reich Risest. Es gibt nur wenige Götter in Risest, und sie herrschen über uns. Ich komme aus einem Land namens Ocheran, und Drager, der Sonnengott, ist unser Anführer. Als er mich vor vielen Jahren in die menschliche Welt geschickt hat, um dieses Portal zu bewachen, bin ich seinem Befehl ohne zu zögern gefolgt. Wir sind zwar kein unterwürfiges Volk, doch unseren Göttern schlagen wir nichts ab.«
»Aber du bist mit mir aufs College gegangen«, flüsterte ich und schüttelte dabei den Kopf. Der Schmerz war weg, nachdem Lexie ihre Fae-Magie gewirkt hatte. Mir war klar, wie verrückt das klang, aber ich konnte nicht bestreiten, dass ich vorhin eine Gehirnerschütterung gehabt hatte und nun weder über Schmerzen noch über Übelkeit klagen konnte.
Lexie zuckte die Schultern. »Ich war neugierig. Nachdem ich einige Zeit unter Menschen verbracht hatte, wollte ich mich noch weiter anpassen. Das gehörte alles zu meiner Mission, die Bibliothek so gut es ging zu schützen.«
Ich sah an ihr vorbei und bemerkte, dass Drager mich genau beobachtete. »Und du hattest damit kein Problem, dass sie in die Menschenwelt entschwunden ist? Hattest du nicht Angst, dass euer Geheimnis aufgedeckt werden könnte?«
Sein Gesichtsausdruck war kühl. »Lexical kannte die Regeln, und sie ist eine meiner besten und klügsten Kriegerinnen. Sie hat mich angefleht, dich in der Bibliothek arbeiten zu lassen. Ich war von Anfang an dagegen, aber sie hat mir versichert, dass man dir vertrauen könnte. Langweilig. Ohne Ambition. Zufrieden damit, Bücher in Regale einzusortieren.«
Als ich meinen Blick von ihm abwandte und wieder Lexie ansah, bemerkte ich, dass ihre Wangen rot angelaufen waren und dass sie zu Boden sah. »Das ist nicht gerade, wie ich es formuliert habe. Aber mir lag viel daran, dass wir zusammenarbeiten konnten. Dass du bei mir warst, wo ich dich beschützen konnte.«
»Warum?«, blaffte ich sie an. »Warum interessiert es dich? Ich bin doch nur ein niederer Mensch, während ihr ganz klar über irgendeine Art von Energie oder Magie verfügt. Menschen müssen euch ja vorkommen wie Tiere.«
»Nein!«
»Ja.«
Sie antworteten gleichzeitig. Niemand musste raten, wer von den beiden Menschen für eine niedere Spezies hielt.
»Ich sollte gehen«, sagte ich, rutschte an die Bettkante und ließ die Beine baumeln. »Ich glaube kaum, dass ich noch so eine Offenbarung überlebe. Ihr könnt eure magische Bibliothek behalten, wo Fae aus Reset nachts in der Menschenwelt vorbeischneien, sich Bücher ausleihen und ihre Energie aufladen. Ich gehe zurück zu meinen Eltern, wo ich mich so lange von ihnen erdrücken lasse, bis ich vergessen habe, dass das hier jemals passiert ist.«
Lexie stampfte auf. »Auf gar keinen Fall. Ich lasse nicht zu, dass du wieder zu diesen Narzissten zurückgehst. Sie manipulieren dich gezielt, damit du alles tust, was sie wollen.«
Ich stand auf und sah ihr direkt in die Augen. »Da passt der Deckel wohl zum Topf«, keifte ich. »Lexical Verratbringer.«
Sie hob eine Augenbraue. »Manipulation und eine kleine Notlüge sind ja wohl zwei ganz unterschiedliche Dinge.«
»Das weiß ich, verdammt«, schrie ich sie an. »Ich. Weiß das. Verdammt. Aber trotzdem. Du bist eine beschissene Person – Fae, was auch immer –, und das ist alles, was für mich zählt.«
Anscheinend gab es in meinem Leben keine einzige Person, die keine Scheißperson war. Und ich hatte das Gefühl, das sagte mehr über mich als über sie. Ich war das Problem.
Lexie ließ mich vorbei. Sie sah niedergeschlagen aus, doch machte keine Anstalten, mich aufzuhalten. Als ich zur Tür ging, war Drager immer noch da, wo er die ganze Zeit gestanden hatte, und füllte den Türrahmen mit seiner riesigen Gestalt aus.
»Verzeihung«, sagte ich kurz angebunden. »Du bist mir im Weg.«
Aus seiner Brust war ein tiefes Grollen zu hören, und ich hörte, wie Lexie näher trat, aber innehielt, als Drager sie mit einem düsteren Blick maßregelte. Dann wandte er sich mir zu. »Du hast keine Angst vor mir«, stellte er leicht drohend fest. »Warum?«