Glanz und Elend der Kurtisanen - Honoré de Balzac - E-Book

Glanz und Elend der Kurtisanen E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Der junge Dichter Lucien von Rubempré liebt die Kurtisane Esther. Aber auch der reiche Baron von Nucingen ist von Esther angetan und er hat das Geld, Esther alles zu kaufen. Balzac liefert eine umfassende Studie der Pariser Unterwelt. Nie zuvor fühlte man die dunklen Geschöpfe der Nacht, die Kurtisanen, die Tagediebe, die Schieber und Hehler, die kleinen und großen Verbrecher, aber auch die Polizei und die Justiz so verstanden wie hier. In keinem anderen Werk hat Balzac seine Zeitgenossen so kritisiert und karikiert. Null Papier Verlag

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Honoré de Balzac

Glanz und Elend der Kurtisanen

Honoré de Balzac

Glanz und Elend der Kurtisanen

(Splendeurs et misères des courtisanes)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Felix Paul Greve EV: Insel-Verlag zu Leipzig, 1926 3. Auflage, ISBN 978-3-954183-95-1

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

I. Teil – Von der Lie­be der Dir­nen

II. Teil – Was alte Her­ren sich die Lie­be kos­ten las­sen

III. Teil – Der Weg des Bö­sen

IV. Teil – Vau­trins letz­te Ver­kör­pe­rung

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Zum Buch

Der jun­ge Dich­ter Lu­ci­en von Ru­bem­pré liebt die Kur­ti­sa­ne Esther. Aber auch der rei­che Baron von Nu­cin­gen ist von Esther an­ge­tan und er hat das Geld, Esther al­les zu kau­fen.

Balzac lie­fert eine um­fas­sen­de Stu­die der Pa­ri­ser Un­ter­welt. Nie zu­vor fühl­te man die dunklen Ge­schöp­fe der Nacht, die Kur­ti­sa­nen, die Ta­ge­die­be, die Schie­ber und Heh­ler, die klei­nen und großen Ver­bre­cher, aber auch die Po­li­zei und die Jus­tiz so ver­stan­den wie hier.

In kei­nem an­de­ren Werk hat Balzac sei­ne Zeit­ge­nos­sen so kri­ti­siert und ka­ri­kiert.

I. Teil – Von der Liebe der Dirnen

Beim letz­ten Opern­ball des Jah­res 1824 fiel meh­re­ren Mas­ken die Schön­heit ei­nes jun­gen Man­nes auf, der in den Gän­gen und im Foy­er auf und ab ging; und zwar in der Hal­tung ei­nes Men­schen, der eine durch un­vor­her­ge­se­he­ne Um­stän­de in ih­rem Hau­se zu­rück­ge­hal­te­ne Frau sucht. Das Ge­heim­nis die­ses bald ei­li­gen, bald läs­si­gen Schritts ist nur al­ten Frau­en und ei­ni­gen aus­ge­dien­ten Pflas­ter­tre­tern be­kannt. Bei je­nem un­ge­heu­ren Stell­dich­ein be­ob­ach­tet die Mas­se die Mas­se nur we­nig; die In­ter­es­sen sind lei­den­schaft­lich, selbst der Mü­ßig­gang ist be­schäf­tigt. Der jun­ge Dan­dy wur­de von sei­ner un­ru­hi­gen Su­che so sehr in An­spruch ge­nom­men, dass er sei­nen Er­folg gar nicht be­merk­te: die spöt­tisch be­wun­dern­den Rufe ge­wis­ser Mas­ken, das ernst­haf­te Er­stau­nen, die bei­ßen­den ›laz­zi‹,1 die sü­ßes­ten Wor­te hör­te und sah er nicht. Ob­gleich sei­ne Schön­heit ihn un­ter die Aus­nah­me­per­so­nen ein­reih­te, die den Opern­ball be­su­chen, um dort ein Aben­teu­er zu ver­fol­gen, und die es er­war­te­ten, wie man zu Leb­zei­ten Fras­ca­tis einen Glücks­fall beim Rou­let­te er­war­te­te, so schi­en er doch sei­nes Abends si­cher wie ein Bür­ger; er muss­te der Held ei­nes je­ner Mys­te­ri­en sein, die sich un­ter drei Per­so­nen ab­spie­len, je­ner Mys­te­ri­en, aus de­nen der gan­ze Opern­ball be­steht und die nur de­nen be­kannt sind, die eine Rol­le dar­in ha­ben; denn für jun­ge Frau­en, die hin­ge­hen, um sa­gen zu kön­nen: ›Ich habe es ge­se­hen‹, für Pro­vin­zia­len, für un­er­fah­re­ne jun­ge Leu­te und Frem­de muss die Oper an die­sen Aben­den der Palast der Er­mü­dung und der Lang­wei­le sein. Für sie ist die­se schwar­ze, lang­sa­me und ge­dräng­te Mas­se, die kommt und geht, sich schlän­gelt und wen­det und wie­der wen­det, hin­auf und hin­ab steigt und sich mit nichts ver­glei­chen lässt als mit Amei­sen auf ih­rem Hau­fen, eben­so­we­nig ver­ständ­lich, wie die Bör­se ei­nem bre­to­ni­schen Bau­ern ver­ständ­lich ist, der nichts vom Da­sein der Staats­pa­pie­re weiß. Mit sel­te­nen Aus­nah­men tra­gen die Män­ner in Pa­ris kei­ne Mas­ke; ein Mann im Do­mi­no macht einen lä­cher­li­chen Ein­druck. Da­rin zeigt sich das Ge­nie der Na­ti­on. Leu­te, die ihr Glück ver­ber­gen wol­len, kön­nen auf den Opern­ball ge­hen, ohne er­kannt zu wer­den, und die Mas­ken, die un­be­dingt ge­zwun­gen sind, ein­zu­tre­ten, ver­las­sen ihn als­bald wie­der.2 Eins der amüsan­tes­ten Schau­spie­le bie­tet das Ge­drän­ge, das, so­wie der Ball er­öff­net wird, beim Ein­gang die Flut der Ge­hen­den im Kampf mit de­nen, die kom­men, her­vor­ruft. Mas­kier­te Män­ner sind also ent­we­der ei­fer­süch­ti­ge Gat­ten, die ihre Frau­en be­ob­ach­ten wol­len, oder Gat­ten, die ein ga­lan­tes Aben­teu­er ha­ben und sich von ih­ren Frau­en nicht be­ob­ach­ten las­sen wol­len: bei­de Si­tua­tio­nen for­dern glei­cher­ma­ßen den Spott her­aus. Nun folg­te dem jun­gen Mann, ohne dass er es merk­te, ei­nem Mör­der gleich, eine kur­ze, di­cke Mas­ke, die wie eine Ton­ne in sich selbst zu­rück­zu­lau­fen schi­en. Für je­den Stamm­gast der Oper glich die­ser Do­mi­no ei­nem Ver­wal­tungs­be­am­ten, ei­nem Geld­wechs­ler, ei­nem Ban­kier, ei­nem No­tar, kurz, ir­gend­ei­nem Bür­ger, der sei­ne Un­ge­treue in Ver­dacht hat; denn in der höchs­ten Ge­sell­schaft läuft nie­mand de­mü­ti­gen­den Be­wei­sen nach. Schon hat­ten sich meh­re­re Mas­ken la­chend die­se miss­ge­stal­te­te Per­sön­lich­keit ge­zeigt; an­de­re hat­ten ihn an­ge­spro­chen, ein paar jun­ge Leu­te hat­ten sich über ihn lus­tig ge­macht. Sei­ne Schul­ter­brei­te und sei­ne Hal­tung aber deu­te­ten auf eine aus­ge­spro­che­ne Ver­ach­tung für die­se be­deu­tungs­lo­sen Pfei­le; er folg­te dem jun­gen Man­ne, wo­hin der ihn führ­te, wie ein ver­folg­ter Eber da­hin­läuft und sich we­der um die Ku­geln küm­mert, die sei­ne Ohren um­pfei­fen, noch um die Hun­de, die hin­ter ihm bel­len. Ob­wohl es auf den ers­ten Blick hät­te schei­nen kön­nen, dass die Su­che nach dem Ge­nuss und die Be­sorg­nis das­sel­be Ko­stüm, je­nes be­rühm­te ve­ne­zia­ni­sche schwar­ze Ge­wand, an­ge­legt hät­ten, und ob­wohl auf dem Opern­ball al­les durch­ein­an­der wogt, so fin­den, ken­nen und be­ob­ach­ten sich doch die ver­schie­de­nen Krei­se, aus de­nen die Pa­ri­ser Ge­sell­schaft be­steht. Ein­zel­ne Ein­ge­weih­te ha­ben so schar­fum­ris­se­ne Be­grif­fe, dass ih­nen die­ses wir­re Buch der In­ter­es­sen les­bar wird wie ein amüsan­ter Ro­man. Für die Stamm­gäs­te konn­te die­ser Mann sich also nicht der Gunst ei­ner Frau er­freu­en; er hät­te un­fehl­bar ir­gend­ein ver­ab­re­de­tes Kenn­zei­chen ge­tra­gen, ein ro­tes, wei­ßes oder grü­nes, wie es ein von lan­ger Hand vor­be­rei­te­tes Glück ver­rät. Han­del­te es sich um eine Ra­che? Ein paar Mü­ßig­gän­ger ka­men, als sie die­se Mas­ke ei­nem von Frau­en­gunst be­glück­ten Mann so dicht fol­gen sa­hen, auf das schö­ne Ge­sicht zu­rück, dem der Ge­nuss sei­ne gött­li­che Au­reo­le auf­ge­setzt hat­te. Der jun­ge Mann in­ter­es­sier­te: je län­ger er so hin und her schritt, umso mehr Neu­gier weck­te er. Al­les deu­te­te üb­ri­gens an ihm auf die Ge­wohn­hei­ten ei­nes ele­gan­ten Le­bens. Nach ei­nem Ge­setz, das un­se­rem Zeit­al­ter ver­häng­nis­voll ei­gen ist, be­steht, sei es im Mora­li­schen, sei es im Phy­si­schen, kaum ein Un­ter­schied zwi­schen dem vor­nehms­ten, dem bes­ter­zo­ge­nen Sohn ei­nes Her­zogs und Pairs und ei­nem rei­zen­den Bur­schen, den mit­ten in Pa­ris noch eben das Elend mit sei­nen eher­nen Hän­den dros­sel­te. Ju­gend und Schön­heit kön­nen tie­fe Ab­grün­de ver­ber­gen; bei ihm wie bei vie­len jun­gen Leu­ten, die in Pa­ris eine Rol­le spie­len wol­len, ohne das für ihre An­sprü­che nö­ti­ge Ka­pi­tal zu be­sit­zen, und die mit je­dem Tage al­les für al­les aufs Spiel set­zen, in­dem sie dem Got­te op­fern, dem in die­ser kö­nig­li­chen Stadt am meis­ten ge­schmei­chelt wird: dem Zu­fall. Nichts­de­sto­we­ni­ger wa­ren sei­ne Klei­dung und sei­ne Ma­nie­ren ein­wand­frei; er be­weg­te sich auf dem klas­si­schen Par­kett des Foy­ers wie ein Stamm­gast der Oper. Wer hat noch nicht be­merkt, dass es dort wie in al­len Zo­nen von Pa­ris ein Auf­tre­ten gibt, das of­fen­bart, wer man ist, was man tut, wo­her man kommt und was man will?

»Was für ein hüb­scher jun­ger Mann! Hier kann man sich um­dre­hen und ihn an­se­hen«, sag­te eine Mas­ke, in der die Stamm­gäs­te des Balls eine an­stän­di­ge Frau er­kann­ten. »Sie ent­sin­nen sich sei­ner nicht?« ant­wor­te­te der Herr, der ihr den Arm reich­te. »Und doch hat Frau du Châte­let ihn Ih­nen vor­ge­stellt …« »Wie! das ist der Apo­the­kers­sohn, in den sie sich ver­narrt hat­te und der Jour­na­list wur­de, der Lieb­ha­ber des Fräu­lein Cora­lie?« »Ich glaub­te, er wäre zu tief ge­fal­len, um je wie­der in die Höhe zu kom­men, und ich ver­ste­he nicht, wie er in der Pa­ri­ser Ge­sell­schaft wie­der auf­tre­ten kann?« sag­te der Graf Six­tus du Châte­let. »Er sieht aus wie ein Prinz«, sag­te die Mas­ke; »und nicht die Schau­spie­le­rin, mit der er leb­te, wird ihn so ver­wan­delt ha­ben; mei­ne Cou­si­ne, die ihn ent­deckt hat­te, hat ihn nicht her­aus­zu­put­zen ver­stan­den; ich möch­te wohl die Ge­lieb­te die­ses Sar­gi­no ken­nen. Sa­gen Sie mir et­was aus sei­nem Le­ben, was mich in­stand setzt, ihn zu be­un­ru­hi­gen.«

Die­ses Paar, das dem jun­gen Man­ne flüs­ternd folg­te, wur­de eben jetzt von der breit­schult­ri­gen Mas­ke scharf be­ob­ach­tet.

»Lie­ber Herr Char­don«, sag­te der Prä­fekt der Cha­ren­te, in­dem er den Dan­dy am Arm nahm, »er­lau­ben Sie mir, Ih­nen je­man­den vor­zu­stel­len, der sei­ne Be­kannt­schaft mit Ih­nen wie­der an­knüp­fen möch­te …« »Lie­ber Graf Châte­let«, er­wi­der­te der jun­ge Mann, »eben­die­se Dame hat mich ge­lehrt, wie lä­cher­lich der Name war, den Sie mir ge­ben. Eine Ver­ord­nung des Kö­nigs hat mir den mei­ner Vor­fah­ren müt­ter­li­cher­seits, der Ru­bem­prés, ver­lie­hen. Wenn auch die Zei­tun­gen die­se Tat­sa­che ge­mel­det ha­ben, so geht sie doch nur eine so dürf­ti­ge Per­sön­lich­keit an, dass ich nicht er­rö­te, sie mei­nen Freun­den, mei­nen Fein­den und den Gleich­gül­ti­gen ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen: Sie wer­den sich rech­nen, wor­un­ter Sie wol­len; aber ich bin über­zeugt, Sie wer­den nicht eine Maß­re­gel miss­bil­li­gen, die Ihre Frau mir an­riet, als sie nur erst eine Frau von Bar­ge­ton war.«

Die­ser hüb­sche Sta­chel, über den die Mar­qui­se lä­cheln muss­te, ver­ur­sach­te dem Prä­fek­ten ein ner­vö­ses Zit­tern.

»Sie wer­den ihr sa­gen«, füg­te Lu­ci­en hin­zu, »dass ich jetzt den ro­ten Schild mit dem wü­ten­den Sil­bers­tier im grü­nen Fel­de füh­re.« »Dem Sil­bers­tier …« wie­der­hol­te Châte­let. »Die Frau Mar­qui­se wird Ih­nen er­klä­ren, wes­halb die­ses alte Wap­pen­schild et­was Bes­se­res ist als der Kam­mer­herrn­schlüs­sel und die gol­de­nen Bie­nen des Kai­ser­reichs, die sich in dem Ihren be­fin­den, und zwar zur großen Verzweif­lung der Frau Châte­let, ge­bor­nen Nè­gre­pe­lis­se d’Espard …« sag­te Lu­ci­en leb­haft. »Da Sie mich er­kannt ha­ben, kann ich Sie nicht mehr be­un­ru­hi­gen; und ich könn­te Ih­nen nicht er­klä­ren, wie sehr Sie mich be­un­ru­hi­gen«, sag­te die Mar­qui­se d’Espard mit lei­ser Stim­me zu ihm, ganz er­staunt über die Un­ver­schämt­heit und Si­cher­heit, die die­ser einst von ihr ver­ach­te­te Mann sich er­wor­ben hat­te. »Er­lau­ben Sie also, gnä­di­ge Frau, dass ich mich nicht der ein­zi­gen Mög­lich­keit be­rau­be, Ihre Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen; las­sen Sie mich in die­sem ge­heim­nis­vol­len Halb­schat­ten«, sag­te er mit dem Lä­cheln ei­nes Man­nes, der ein si­che­res Glück nicht ge­fähr­den will. Die Mar­qui­se konn­te eine klei­ne, her­be Be­we­gung nicht un­ter­drücken, als sie sich, nach ei­nem eng­li­schen Aus­druck, von Lu­ciens Schär­fe so ›ge­schnit­ten‹ sah. »Ich ma­che Ih­nen mein Kom­pli­ment zu Ihrem Stan­des­wech­sel«, sag­te der Graf du Châte­let zu Lu­ci­en. »Ich neh­me es an, wie Sie es ge­ben«, er­wi­der­te Lu­ci­en, in­dem er die Mar­qui­se mit un­end­li­cher An­mut grüß­te. »Der Geck!« sag­te der Graf lei­se zu Frau d’Espard, »end­lich hat er sei­ne Vor­fah­ren er­obert!« »Bei jun­gen Leu­ten deu­tet die Ge­cke­rei, wenn sie sich ge­gen uns wen­det, fast im­mer auf ein sehr hoch ste­hen­des Glück; denn un­ter Ih­nen deu­tet sie auf Un­glück. Des­halb möch­te ich die­je­ni­ge un­se­rer Freun­din­nen ken­nen, die die­sen schö­nen Vo­gel in ih­ren Schutz auf­ge­nom­men hat; viel­leicht sähe ich dann eine Mög­lich­keit, mich heu­te Abend zu amü­sie­ren. Mein an­ony­mer Brief ist zwei­fel­los eine von ei­ner Ri­va­lin vor­be­rei­te­te Bos­heit, denn es ist von die­sem jun­gen Mann dar­in die Rede; sei­ne Un­ver­schämt­heit wird ihm dik­tiert wor­den sein: spio­nie­ren Sie ihm nach. Ich will den Arm des Her­zogs von Na­varr­eins neh­men; Sie wer­den mich schon wie­der­fin­den kön­nen.«

In dem Au­gen­blick, als Frau d’Espard ih­ren Ver­wand­ten an­re­den woll­te, trat die ge­heim­nis­vol­le Mas­ke zwi­schen sie und den Her­zog, um ihr ins Ohr zu sa­gen: »Lu­ci­en liebt Sie; er hat den Brief ge­schrie­ben; Ihr Prä­fekt ist sein größ­ter Feind; konn­te er sich vor ihm er­klä­ren?«

Der Un­be­kann­te ging und ließ Frau d’Espard in dop­pel­ter Über­ra­schung zu­rück. Die Mar­qui­se kann­te kei­nen Men­schen auf der Welt, der im­stan­de ge­we­sen wäre, die Rol­le die­ser Mas­ke zu spie­len; sie fürch­te­te eine Fal­le, setz­te und ver­steck­te sich.

Der Graf Six­tus du Châte­let, des­sen ehr­gei­zi­ges ›du‹ Lu­ci­en mit ei­ner Ab­sicht­lich­keit un­ter­drückt hat­te, die nach lan­ge er­träum­ter Ra­che roch, folg­te dem wun­der­ba­ren Dan­dy aus ei­ni­ger Fer­ne; bald traf er auf einen jun­gen Mann, dem er sein Herz aus­schüt­ten zu kön­nen ver­mein­te. »Nun, Ras­ti­gnac, ha­ben Sie Lu­ci­en ge­se­hen? Er hat sich ge­häu­tet.« »Wenn ich ein eben­so hüb­scher Jun­ge wäre wie er, wäre ich noch rei­cher als er«, er­wi­der­te der jun­ge Le­be­mann in leich­tem, aber fei­nem Ton, der eine at­ti­sche Spöt­te­rei ver­riet. »Nein«, sag­te ihm die di­cke Mas­ke ins Ohr, und durch den Ton, mit dem sie das eine Wort aus­sprach, gab sie ihm tau­send Spöt­te­rei­en für sei­ne eine zu­rück. Ras­ti­gnac, der nicht der Mann dazu war, eine Be­lei­di­gung hin­un­ter­zu­schlu­cken, stand da wie vom Blitz ge­trof­fen und ließ sich von ei­ner Ei­sen­hand, die ab­zu­schüt­teln ihm un­mög­lich war, in die Ni­sche ei­nes Fens­ters füh­ren. »Sie jun­ger Hahn aus Mama Vau­quers Hüh­ner­stall, Sie, dem es an Herz fehl­te, die Mil­lio­nen des Papa Tail­le­fer zu pa­cken, als der größ­te Teil der Ar­beit schon ge­tan war, er­fah­ren Sie zu Ih­rer per­sön­li­chen Si­cher­heit dies: wenn Sie sich ge­gen Lu­ci­en nicht wie ge­gen einen Bru­der ver­hal­ten, den Sie lie­ben, so sind Sie in un­se­rer Hand, ohne dass wir in Ih­rer wä­ren. Schwei­gen und Er­ge­ben­heit! Sonst mi­sche ich mich in Ihr Spiel ein und sto­ße Ih­nen die Ke­gel um. Lu­ci­en von Ru­bem­pré steht im Schutz der größ­ten Macht von heu­te, der Kir­che. Wäh­len Sie zwi­schen Le­ben und Tod. Ihre Ant­wort?«

Ras­ti­gnac schwin­del­te es wie einen Men­schen, der im Wal­de ein­ge­schla­fen ist und an der Sei­te ei­ner aus­ge­hun­ger­ten Lö­win er­wacht. Er fürch­te­te sich, und er hat­te kei­ne Zeu­gen: in sol­chen Fäl­len über­las­sen sich die mu­tigs­ten Män­ner der Furcht. »Nur er kann wis­sen … und wa­gen …« sag­te er halb­laut vor sich hin. Die Mas­ke drück­te ihm die Hand, um ihn zu ver­hin­dern, dass er sei­nen Satz aus­sprach. »Han­deln Sie, als wäre er es«, sag­te sie. Ras­ti­gnac tat, was ein Mil­lio­när auf der Land­stra­ße täte, wenn er einen Räu­ber auf sich an­schla­gen sähe: er ka­pi­tu­lier­te.

»Mein lie­ber Graf«, sag­te er zu du Châte­let, als er zu ihm zu­rück­kehr­te, »wenn Ih­nen an Ih­rer Stel­lung liegt, so be­han­deln Sie Lu­ci­en von Ru­bem­pré wie einen Men­schen, den Sie ei­nes Ta­ges viel hö­her ge­stellt se­hen wer­den, als Sie es sind.«

Die Mas­ke ließ sich eine un­merk­li­che Ges­te der Be­frie­di­gung ent­schlüp­fen und nahm die Spur Lu­ciens wie­der auf.

»Mein Lie­ber, Sie ha­ben Ihre Mei­nung über ihn gar schnell ge­än­dert«, er­wi­der­te der mit Recht er­staun­te Prä­fekt. »Genau so schnell wie die, wel­che im Zen­trum sit­zen und mit der Rech­ten ab­stim­men«, ant­wor­te­te Ras­ti­gnac die­sem Prä­fekt-De­pu­tier­ten, des­sen Stim­me seit ei­ni­gen Ta­gen im Mi­nis­te­ri­um fehl­te. »Gibt es heu­te noch Mei­nun­gen? Es gibt nur noch In­ter­es­sen«, fiel Des Lu­peaulx, der sie hör­te, ein; »um was han­delt es sich?« »Um den Herrn von Ru­bem­pré, den Ras­ti­gnac als eine Per­sön­lich­keit aus­ge­ben will«, sag­te der De­pu­tier­te zu dem Ge­ne­ral­se­kre­tär. »Mein lie­ber Graf«, er­wi­der­te Des Lu­peaulx mit ernst­haf­ter Mie­ne, »Herr von Ru­bem­pré ist ein jun­ger Mann von höchs­tem Ver­dienst; und er hat so gute Stüt­zen, dass ich mich glück­lich schät­zen wür­de, wenn ich mei­ne Be­kannt­schaft mit ihm wie­der an­knüp­fen könn­te.« »Da wird er gleich in das We­s­pen­nest der Wüst­lin­ge un­se­rer Zeit hin­ein­ge­ra­ten«, sag­te Ras­ti­gnac.

Die drei Teil­neh­mer des Ge­sprächs wand­ten sich ei­nem Win­kel zu, in dem ein paar Schön­geis­ter, mehr oder min­der be­rühm­te Leu­te, und ei­ni­ge Ele­gants stan­den. Die­se Her­ren teil­ten sich ihre Beo­b­ach­tun­gen, ihre Wit­ze und ihre Bos­hei­ten mit, in­dem sie ver­such­ten, sich zu amü­sie­ren, oder in­dem sie auf ein Ver­gnü­gen war­te­ten. In die­ser so wun­der­lich zu­sam­men­ge­setz­ten Grup­pe be­fan­den sich auch Leu­te, zu de­nen Lu­ci­en Be­zie­hun­gen ge­habt hat­te und un­ter de­ren schein­bar gu­tem Ver­hält­nis zu ihm sich schlim­me Diens­te ver­bar­gen.

»Nun, Lu­ci­en, mein Kind, mein Lieb­chen, da sind Sie ja wie­der aus­ge­stopft und aus­staf­fiert. Wo­her kom­men wir? Sind wir end­lich mit Hil­fe der Ge­schen­ke aus Flo­ri­nes Bou­doir wie­der in den Sat­tel ge­kom­men? Bra­vo, mein Jun­ge!« sag­te Blon­det, in­dem er Fi­nots Arm losließ, um Lu­ci­en ver­trau­lich um die Hüf­ten zu fas­sen und ans Herz zu drücken.

An­do­che Fi­not war der Be­sit­zer ei­ner Zeit­schrift, an der Lu­ci­en fast un­ent­gelt­lich mit­ge­ar­bei­tet hat­te und die Blon­det durch sei­ne Ar­ti­kel, sei­ne klu­gen Ratschlä­ge und die Tie­fe sei­ner Ge­sichts­punk­te reich mach­te. Fi­not und Blon­det per­so­ni­fi­zier­ten Ber­trand und Ra­ton,3 doch mit dem Un­ter­schied, dass La­fon­tai­nes Ka­ter schließ­lich merkt, wie er be­tro­gen wird, wäh­rend Blon­det, ob­wohl er wuss­te, dass er be­tro­gen wur­de, Fi­not wei­ter­dien­te. Die­ser glän­zen­de Kon­dot­tie­re der Fe­der soll­te noch lan­ge Skla­ve blei­ben. Fi­not ver­barg un­ter schwer­fäl­li­gen For­men, un­ter der Schläf­rig­keit ei­ner un­ver­schäm­ten Dumm­heit, die etwa so am Geist ge­rie­ben wor­den war, wie ein Hand­lan­ger sein Brot an Knob­lauch reibt, einen bru­ta­len Wil­len. Er ver­stand das, was er auf den Fel­dern des wüs­ten Le­bens, wie es Li­te­ra­ten und Po­li­ti­ker füh­ren, mäh­te, die Ide­en und die Ta­ler, auch in die Scheu­er zu brin­gen. Blon­det hat­te zu sei­nem Un­glück sei­ne gan­ze Kraft in den Sold sei­ner Las­ter und sei­ner Träg­heit ge­stellt. Da ihn im­mer von Neu­em die Not über­fiel, so ge­hör­te er zu dem ar­men Ge­schlecht der her­vor­ra­gen­den Leu­te, die für das Glück an­de­rer al­les ver­mö­gen, nichts aber für ihr ei­ge­nes Glück: zum Ge­schlecht der Al­add­ins, die sich ihre Lam­pe ab­bor­gen las­sen. Das Ur­teil die­ser wun­der­vol­len Rat­ge­ber ist scharf­sin­nig und tref­fend, wenn es nicht vom per­sön­li­chen In­ter­es­se hin und her ge­zerrt wird. Bei ih­nen han­delt der Kopf und nicht der Arm. Da­her das Lo­cke­re ih­rer Sit­ten, da­her der Ta­del, mit dem min­der­wer­ti­ge Geis­ter sie über­häu­fen. Blon­det teil­te sei­ne Bör­se mit dem Ka­me­ra­den, den er am Abend zu­vor ver­wun­det hat­te; er speis­te, trank und schlief mit dem zu­sam­men, den er am fol­gen­den Tage um­brin­gen woll­te. Sei­ne amüsan­ten Pa­ra­do­xe recht­fer­tig­ten al­les. Wie er die gan­ze Welt als einen Scherz nahm, woll­te er nicht ernst ge­nom­men wer­den. Er war jung, be­liebt, fast be­rühmt und glück­lich, und also dach­te er nicht wie Fi­not dar­an, sich das für den Be­jahr­ten nö­ti­ge Ver­mö­gen zu er­wer­ben.

Es ge­hör­te für Lu­ci­en viel­leicht der schwie­rigs­te Mut dazu, um in die­sem Au­gen­blick Blon­det zu schnei­den, wie er so­eben Frau d’Espard und Châte­let ge­schnit­ten hat­te. Zu sei­nem Un­glück hemm­te bei ihm die Ge­nuss­sucht der Ei­tel­keit die Ent­fal­tung des Ehr­gei­zes, der si­cher­lich der Aus­gangs­punkt vie­ler großen Din­ge ist. Sei­ne Ei­tel­keit hat­te in je­nem ers­ten Waf­fen­gang tri­um­phiert; er hat­te sich vor zwei Leu­ten, die ihn einst in sei­ner Ar­mut und sei­nem Elend ver­ach­tet hat­ten, reich, glück­lich und ge­ring­schät­zig ge­zeigt; aber konn­te ein Dich­ter gleich ei­nem er­grau­ten Di­plo­ma­ten zwei so­ge­nann­ten Freun­den die Spit­ze bie­ten, die ihn in sei­nem Elend auf­ge­nom­men, die wäh­rend der Tage sei­ner Not ihr Bett mit ihm ge­teilt hat­ten? Fi­not, Blon­det und er hat­ten sich ge­mein­sam weg­ge­wor­fen; sie hat­ten sich in Or­gi­en ge­wälzt, die nicht nur das Geld ih­rer Gläu­bi­ger auf­fra­ßen. Gleich je­nen Sol­da­ten, die ih­ren Mut nicht am rech­ten Ort an­zu­brin­gen wis­sen, tat Lu­ci­en jetzt das, was sehr vie­le Leu­te in Pa­ris tun: er kom­pro­mit­tier­te sich von Neu­em, in­dem er Fi­nots Hän­de­druck an­nahm und sich ge­gen Blon­dets Lieb­ko­sung nicht wehr­te. Wer sich je mit dem Jour­na­lis­mus be­fasst hat oder noch be­fasst, sieht sich in der grau­sa­men Not­wen­dig­keit, Leu­te, die er ver­ach­tet, be­grü­ßen, sei­nen bes­ten Fein­den zu­lä­cheln, mit den übel­rie­chends­ten Ge­mein­hei­ten pak­tie­ren und, wenn er sei­ne An­grei­fer mit ih­rer ei­ge­nen Mün­ze be­zah­len will, sich die Fin­ger be­schmut­zen zu müs­sen. Man ge­wöhnt sich dar­an, zu­zu­se­hen; wenn Schlim­mes ge­schieht, es ge­sche­hen zu las­sen; man bil­ligt es erst, man tut es schließ­lich selbst. Auf die Dau­er wird die See­le, die durch schmäh­li­che und dau­ern­de Kom­pro­mis­se un­abläs­sig be­fleckt wird, klei­ner, die Sprung­fe­der ed­ler Ge­dan­ken ver­ros­tet, die An­geln der Bana­li­tät nut­zen sich ab und dre­hen sich von sel­ber. Al­zes­ten wer­den zu Philin­ten; Cha­rak­tere er­schlaf­fen, Ta­len­te wer­den zu Ba­stard­be­ga­bun­gen, der Glau­be an schö­ne Wer­ke ent­fliegt. Wer einst auf die be­schrie­be­nen Blät­ter stolz sein woll­te, ver­schwen­det sei­ne Kraft auf trau­ri­ge Ar­ti­kel, die sein Ge­wis­sen ihm frü­her oder spä­ter als eben­so viel schlim­me Hand­lun­gen vor­wirft. Man war ge­kom­men, wie es bei Lous­teau, bei Ver­nou ging, um ein großer Schrift­stel­ler zu wer­den, und man er­kennt in sich selbst den ohn­mäch­ti­gen Li­bel­lis­ten. Des­halb kann man jene, bei de­nen der Cha­rak­ter auf der Höhe ih­res Tal­ents steht, nie­mals ge­nug lo­ben: die d’Ar­thez, die si­che­ren Fu­ßes durch die Klip­pen des li­te­ra­ri­schen Le­bens zu schrei­ten wis­sen, Lu­ci­en wuss­te auf Blon­dets Schmei­che­lei­en nichts zu er­wi­dern, denn des­sen Geist übte auf ihn eine un­wi­der­steh­li­che Ver­füh­rung aus, er be­wahr­te noch im­mer die Ge­walt des Wüst­lings über sei­nen Schü­ler, und au­ßer­dem nahm er durch sei­ne Liai­son mit der Grä­fin von Mont­cor­net in der Ge­sell­schaft eine gute Stel­lung ein.

»Ha­ben Sie einen On­kel be­erbt?« frag­te Fi­not mit spöt­ti­scher Mie­ne. »Ich habe wie Sie be­gon­nen, die Dum­men sys­te­ma­tisch zu schröp­fen«, er­wi­der­te Lu­ci­en im glei­chen Ton. »Hät­te der Herr eine Zeit­schrift, ir­gend­ein Jour­nal?« frag­te An­do­che Fi­not mit der un­ver­schäm­ten Selbst­zu­frie­den­heit, die der Aus­beu­ten­de dem Aus­ge­beu­te­ten ge­gen­über ent­fal­tet. »Ich habe Bes­se­res«, ver­setz­te Lu­ci­en, des­sen durch die ge­spiel­te Über­le­gen­heit des Che­fre­dak­teurs ver­wun­de­te Ei­tel­keit ihm den Geist sei­ner neu­en Stel­lung zu­rück­gab. »Und was ha­ben Sie, mein Lie­ber? …« »Ich habe eine Par­tei.« »Es gibt eine Par­tei Lu­ci­en?« frag­te Ver­nou lä­chelnd. »Fi­not, da hat dich die­ser Bur­sche in Schat­ten ge­stellt, ich habe es dir vor­her­ge­sagt, Lu­ci­en hat Ta­lent, du hast ihn nicht rich­tig be­han­delt, du hast ihn ge­rä­dert. Be­reue, gro­ber Töl­pel!« rief Blon­det.

Blon­det war schlau wie ein Bi­sam und sah also in Lu­ciens Ges­te, Ton und Mie­ne mehr als ein Ge­heim­nis; in­dem er ihn auf­hei­ter­te, ver­stand er es, ihm mit eben­die­sen Wor­ten die Kinn­ket­te des Zü­gels straf­fer zu fas­sen. Er woll­te wis­sen, wes­halb Lu­ci­en nach Pa­ris zu­rück­ge­kehrt war, woll­te sei­ne Plä­ne und sei­ne Exis­tenz­mit­tel er­for­schen. »Auf die Knie vor ei­ner Über­le­gen­heit, die du nie­mals ha­ben wirst, wenn du auch Fi­not4 bist!« fuhr er fort. »Nimm den Herrn, und zwar auf der Stel­le, in die Zahl der ganz Star­ken auf, de­nen die Zu­kunft ge­hört; er ist ei­ner von uns! Er ist geist­reich und schön: muss er nicht durch dein Qui­bus­cun­que vi­is Er­folg ha­ben? Da steht er in sei­ner gu­ten Mai­län­der Rüs­tung, den ge­wal­ti­gen Dolch halb ge­zückt und sein Pa­nier ge­hisst! Tau­send Wet­ter, Lu­ci­en, wo hast du denn die­se hüb­sche Wes­te ge­stoh­len? Nur die Lie­be kann sol­che Stof­fe aus­fin­dig ma­chen. Ha­ben wir einen Wohn­sitz? Ich muss im Au­gen­blick ge­ra­de die Adres­sen mei­ner Freun­de ken­nen, ich weiß nicht, wo ich schla­fen soll. Fi­not hat mich für heu­te Abend un­ter dem vul­gä­ren Vor­wand ei­nes ga­lan­ten Aben­teu­ers vor die Tür ge­setzt.« »Mein Lie­ber«, er­wi­der­te Lu­ci­en, »ich habe einen Grund­satz in die Pra­xis um­ge­setzt, mit dem man ei­nes ru­hi­gen Le­bens si­cher ist: Fu­ge, late, ta­ce. Ich ver­las­se Sie.« »Aber ich ver­las­se dich nicht, wenn du nicht mir ge­gen­über eine hei­li­ge Schuld tilgst: je­nes klei­ne Sou­per, he?« sag­te Blon­det, der das Wohl­le­ben ein we­nig zu sehr lieb­te und sich be­wir­ten ließ, wenn er ge­ra­de ohne Geld war. »Wel­ches Sou­per?« frag­te Lu­ci­en, wäh­rend ihm eine un­ge­dul­di­ge Ges­te ent­schlüpf­te. »Du ent­sinnst dich nicht? Da­ran er­ken­ne ich, wenn es ei­nem Freund gut geht: er hat kein Ge­dächt­nis mehr.« »Er weiß, was er uns schul­dig ist, ich ver­bür­ge mich für sein Herz«, sag­te Fi­not, in­dem er Blon­dets Scherz auf­griff. »Ras­ti­gnac«, sag­te Blon­det, in­dem er den jun­gen Le­be­mann in dem Au­gen­blick am Arm fass­te, als er das obe­re Ende des Foy­ers er­reich­te und in die Nähe der Säu­le kam, bei der die so­ge­nann­ten Freun­de stan­den, »es han­delt sich um ein Sou­per: Sie wer­den da­bei sein … wenn nicht der Herr«, fuhr er ernst­haft fort, in­dem er auf Lu­ci­en zeig­te, »dar­auf be­steht, eine Ehren­schuld zu leug­nen; er kann es.« »Herr von Ru­bem­pré, da­für bür­ge ich, ist des­sen nicht fä­hig«, sag­te Ras­ti­gnac, der an et­was ganz an­de­res dach­te als eine My­sti­fi­ka­ti­on.5 »Da ist Bi­xiou«, rief Blon­det, »er kommt auch: ohne ihn ist nichts voll­stän­dig. Ohne ihn macht mir der Cham­pa­gner die Zun­ge schwer, und ich fin­de al­les fad, selbst den Pfef­fer der Epi­gram­me.« »Mei­ne Freun­de«, sag­te Bi­xiou, »ich sehe, ihr seid um das Wun­der des Ta­ges ver­sam­melt. Un­ser teu­rer Lu­ci­en er­neu­ert die Me­ta­mor­pho­sen Ovids. Wie die Göt­ter sich, um Frau­en zu ver­füh­ren, in selt­sa­me Ge­mü­se und so wei­ter ver­wan­del­ten, so hat er den Char­don6 ver­wan­delt in einen Edel­mann, um – wen? – zu ver­füh­ren … Karl X.! … Mein klei­ner Lu­ci­en«, sag­te er, in­dem er ihn an ei­nem Knopf sei­nes Rockes fass­te, »ein Jour­na­list, der zum großen Herrn wird, ver­dient eine hüb­sche Kat­zen­mu­sik. An de­ren Stel­le«, sag­te der un­er­bitt­li­che Spöt­ter, in­dem er auf Fi­not und Ver­nou zeig­te, »wür­de ich dich in ih­rem klei­nen Blatt vor­neh­men: du wür­dest ih­nen ei­ni­ge hun­dert Fran­ken ein­brin­gen: zehn Spal­ten gu­ter Wit­ze.« »Bi­xiou«, sag­te Blon­det, »ein Am­phi­tryo ist uns vier­und­zwan­zig Stun­den vor und zwölf Stun­den nach dem Gast­mahl hei­lig: un­ser er­lauch­ter Freund gibt uns ein Sou­per.« »Wie, wie!« fuhr Bi­xiou fort; »aber was ist not­wen­di­ger, als einen großen Mann vor der Ver­ges­sen­heit zu be­wah­ren und die dürf­ti­ge Ari­sto­kra­tie ei­nes ta­lent­vol­len Man­nes mit ei­ner Aus­s­teu­er zu ver­se­hen? Lu­ci­en, du be­sitzt die Ach­tung der Pres­se, de­ren schöns­te Zier­de du ge­we­sen bist, und wir wer­den dich stüt­zen. Fi­not, ein paar Zei­len im Leit­ar­ti­kel! Blon­det, ein ver­fäng­li­ches Ar­ti­kel­chen auf der vier­ten Sei­te dei­nes Blat­tes! Wir wol­len das Er­schei­nen des schöns­ten Bu­ches der Zeit, des ›Bo­gen­schüt­zen Karls IX.‹ mel­den. Wir wol­len Dau­ri­at an­fle­hen, uns bald die ›Mar­gue­ri­ten‹ zu be­sche­ren, jene gött­li­chen So­net­te des fran­zö­si­schen Pe­trar­ka! Er­he­ben wir un­sern Freund auf den Schild des Stem­pel­pa­piers, das einen Ruf schafft oder ver­nich­tet!« »Wenn du ein Sou­per willst«, sag­te Lu­ci­en zu Blon­det, um die­se Trup­pe, die im­mer grö­ßer zu wer­den droh­te, ab­zu­schüt­teln, »so scheint mir, hat­test du es ei­nem al­ten Freund ge­gen­über nicht nö­tig, Hy­per­beln und Pa­ra­beln an­zu­wen­den, als wäre er ein Tropf. Auf mor­gen Abend, bei Loin­tier!« sag­te er leb­haft, als er eine Frau kom­men sah, auf die er zu­eil­te. »Oh! oh! oh!« sag­te Bi­xiou in drei­mal wech­seln­dem Ton und mit spöt­ti­scher Mie­ne, wäh­rend es schi­en, als er­kenn­te er die Mas­ke, der Lu­ci­en ent­ge­gen­ging; »das ver­dient eine Be­stä­ti­gung.« Und er folg­te dem hüb­schen Paar, ging an ihm vor­bei, prüf­te es mit scharf­bli­cken­dem Auge und kehr­te zur großen Be­frie­di­gung all die­ser Nei­der zu­rück, die nur zu gern wis­sen woll­ten, wo­her der Wech­sel in Lu­ciens Ver­mö­gen­sum­stän­den kam. »Mei­ne Freun­de, ihr kennt seit lan­gem das Glück des Herrn von Ru­bem­pré«, sag­te Bi­xiou zu ih­nen: »es ist die alte Rat­te Des Lu­peaulx’.«

Eine der jetzt ver­ges­se­nen Ver­derbt­hei­ten, die je­doch im An­fang die­ses Jahr­hun­derts sehr ver­brei­tet war, be­stand in dem Lu­xus der ›Rat­ten‹. Eine Rat­te – das Wort ist schon ver­al­tet – nann­te man ein Kind von zehn bis elf Jah­ren, eine Sta­tis­tin an ir­gend­ei­nem Thea­ter, vor al­lem an der Oper, die ir­gend­ein Wüst­ling für das Las­ter und die Ge­mein­heit er­zog. Eine Rat­te war eine Art Höl­len­pa­ge, ein weib­li­cher Gas­sen­bu­be, dem man gute Strei­che ver­zieh. Die Rat­te konn­te al­les neh­men, man muss­te ihr miss­trau­en wie ei­nem ge­fähr­li­chen Tier; sie führ­te ein Ele­ment der Lus­tig­keit in das Le­ben ein, wie es in der al­ten Ko­mö­die die Sca­pins, die Sga­na­rel­les und die Fron­tins ta­ten. Die Rat­te war zu teu­er: sie trug we­der Ehre noch Nut­zen noch Ver­gnü­gen ein; die Mode der Rat­ten ver­schwand so voll­stän­dig, dass heu­te nur we­ni­ge Men­schen die­ses in­ti­me De­tail des ele­gan­ten Le­bens vor der Re­stau­ra­ti­on noch kann­ten, bis ein paar Schrift­stel­ler sich der Rat­te als ei­nes neu­en The­mas be­mäch­tig­ten.

»Wie, soll­te uns Lu­ci­en, nach­dem ihm Cora­lie un­ter dem Lei­be ge­tö­tet wur­de, die Tor­pil­le7 ent­füh­ren?« frag­te Blon­det. Als die Mas­ke mit den ath­le­ti­schen For­men die­sen Na­men hör­te, ent­schlüpf­te ihr eine Be­we­gung, die Ras­ti­gnac sah, ob­wohl sie ver­hal­ten war. »Das ist nicht mög­lich!« er­wi­der­te Fi­not; »die Tor­pil­le hat kei­nen Hel­ler zu ge­ben: sie hat sich, wie mir Na­than sag­te, von Flo­ri­ne tau­send Fran­ken ge­borgt.« »O mei­ne Her­ren, mei­ne Her­ren! …« sag­te Ras­ti­gnac, in­dem er Lu­ci­en ge­gen so ge­häs­si­ge Be­schul­di­gun­gen zu ver­tei­di­gen such­te. »Nun«, rief Ver­nou, »ist denn der aus­ge­hal­te­ne Ge­lieb­te Cora­lies so tu­gend­haft ge­wor­den? …« »O, ge­ra­de die­se tau­send Fran­ken«, sag­te Bi­xiou, »be­wei­sen mir, dass un­ser Freund Lu­ci­en mit der Tor­pil­le zu­sam­men­lebt …« »Wel­chen un­er­setz­li­chen Ver­lust er­lebt die Eli­te der Wis­sen­schaft, der Kunst und der Po­li­tik!« rief Blon­det. »Die Tor­pil­le ist das ein­zi­ge Freu­den­mäd­chen, in dem man das Zeug zu ei­ner schö­nen Kur­ti­sa­ne fand; kein Un­ter­richt hat­te sie ver­dor­ben, sie konn­te we­der le­sen noch schrei­ben: sie hät­te uns ver­stan­den. Wir hät­ten un­se­rer Zeit eine je­ner pracht­vol­len Aspa­si­a­fi­gu­ren ge­schenkt, ohne die es kein großes Jahr­hun­dert gibt. Se­hen Sie doch, wie gut die Du­bar­ry dem acht­zehn­ten Jahr­hun­dert steht, Ni­non de Len­clos dem sieb­zehn­ten, Ma­ri­on de Lor­me dem sech­zehn­ten, Im­pe­ria dem fünf­zehn­ten, Flo­ra der rö­mi­schen Re­pu­blik, die sie zu ih­rer Er­bin mach­te und die mit ih­rem Nach­lass ihre Staats­schuld til­gen konn­te! Was wäre Horaz ohne Ly­dia, Ti­bull ohne De­lia, Ka­tull ohne Les­bia, Pro­perz ohne Cyn­thia, De­me­tri­us ohne La­mia, die noch heu­te sei­nen Ruhm aus­macht?« »Wenn Blon­det im Foy­er der Oper von De­me­tri­us re­det, so scheint das doch ein we­nig zu sehr Leit­ar­ti­kel«, sag­te Bi­xiou sei­nem Nach­bar ins Ohr. »Und was wäre ohne all jene Kö­ni­gin­nen das Kai­ser­reich der Cäsa­ren?« fuhr Blon­det im­mer noch fort; »Lais und Rho­do­pe sind Grie­chen­land und Ägyp­ten. Alle üb­ri­gens sind die Poe­sie der Jahr­hun­der­te, in de­nen sie leb­ten. Die­se Poe­sie, die Na­po­le­on fehlt – denn sei­ne Wit­we, die große Ar­mee, ist ein Ka­ser­nen­scherz –, hat auch der Re­vo­lu­ti­on nicht ge­fehlt, denn sie hat Frau Tal­li­en be­ses­sen. Jetzt, wo es sich in Frank­reich dar­um han­delt, wer auf dem Thron sit­zen soll, steht si­cher­lich ein Thron leer. Wir alle, wir kön­nen eine Kö­ni­gin schaf­fen. Ich selbst hät­te der Tor­pil­le eine Tan­te ge­ge­ben, denn ihre Mut­ter ist zu of­fen­kun­dig auf dem Fel­de der Uneh­re ge­fal­len; du Til­let hät­te ihr ein Ho­tel be­zahlt, Lous­teau einen Wa­gen, Ras­ti­gnac ihre La­kai­en, Des Lu­peaulx einen Koch, Fi­not die Hüte (Fi­not konn­te eine Be­we­gung nicht un­ter­drücken, als er aus nächs­ter Nähe die­sen Stich er­hielt); Ver­nou hät­te für sie Re­kla­me ge­macht, Bi­xiou ihr ihre Wit­ze ge­lie­fert! Die Ari­sto­kra­tie wäre zu un­se­rer Ni­non ge­kom­men, um sich bei ihr zu amü­sie­ren, und die Künst­ler hät­ten wir durch An­dro­hung tod­brin­gen­der Ar­ti­kel zu ihr ge­lockt. Ni­non II. wäre wun­der­bar un­ver­schämt, zer­mal­mend lu­xu­ri­ös ge­wor­den. Sie hät­te An­sich­ten ge­habt. Man hät­te bei ihr ir­gend­ein ver­bo­te­nes dra­ma­ti­sches Meis­ter­werk vor­ge­le­sen, das man im Not­fall ei­gens hät­te ma­chen las­sen. Li­be­ral wäre sie nie ge­wor­den, denn eine Kur­ti­sa­ne ist we­sent­lich mon­ar­chisch ge­sinnt. Ach, welch ein Ver­lust! Sie hät­te ihr gan­zes Jahr­hun­dert um­ar­men müs­sen und liebt einen klei­nen jun­gen Mann! Lu­ci­en wird einen Jagd­hund aus ihr ma­chen.« »Kei­ne der weib­li­chen Groß­mäch­te, die du ge­nannt hast, ist durch die Stra­ße ge­wa­tet«, sag­te Fi­not, »und die­se hüb­sche Rat­te hat sich im Kot ge­wälzt.« »Wie das Sa­men­korn ei­ner Li­lie in ih­rer Dün­ger­er­de«, er­wi­der­te Ver­nou, »ist sie da­durch nur schö­ner ge­wor­den; sie hat ge­blüht. Da­her kommt ihre Über­le­gen­heit. Muss man nicht al­les ken­nen ge­lernt ha­ben, um das La­chen und die Freu­de zu schaf­fen, die sich an al­les hef­ten?« »Er hat recht«, sag­te Lous­teau, der bis­her be­ob­ach­tet hat­te, ohne zu re­den, »die Tor­pil­le ver­steht zu la­chen und la­chen zu ma­chen. Die­se Wis­sen­schaft der großen Schrift­stel­ler und der großen Schau­spie­ler ge­hört nur de­nen, die in alle so­zia­len Tie­fen ein­ge­drun­gen sind. Mit acht­zehn Jah­ren hat die­ses Mäd­chen schon den höchs­ten Wohl­stand, das tiefs­te Elend und Men­schen al­ler Stu­fen ge­kannt. Sie hält et­was wie einen Zau­ber­stab in Hän­den, mit dem sie die bru­ta­len Be­gier­den ent­ket­tet, die bei den Män­nern so ge­walt­sam zu­rück­ge­drängt sind, wenn sie noch ein Herz ha­ben, ob­gleich sie sich mit der Po­li­tik, der Wis­sen­schaft, der Li­te­ra­tur oder der Kunst be­schäf­ti­gen. Es gibt in Pa­ris kei­ne zwei­te Frau, die so wie sie zum Tier sa­gen kann: Komm her­vor! Und das Tier ver­lässt sei­nen Stall und wälzt sich in Aus­schwei­fun­gen: bis an das Kinn setzt sie einen zu Tisch, sie hilft ei­nem trin­ken und rau­chen. Kurz, die­se Frau ist das Salz, das Ra­be­lais8 be­singt und das, auf die Ma­te­rie ge­streut, die Din­ge be­lebt und bis in die Wun­der­re­gio­nen der Kunst er­hebt: ihr Kleid ent­fal­tet un­er­hör­te Pracht, ihre Fin­ger las­sen zur rech­ten Zelt ihre Ge­schmei­de fal­len, wie ihr Mund sein Lä­cheln; sie gibt je­dem Ding den Geist des Au­gen­blicks; ihre Rede glit­zert von ste­chen­den Pfei­len; sie kennt das Ge­heim­nis der Ono­ma­to­pöi­en in den schöns­ten Far­ben, die auch am kräf­tigs­ten ma­len …« »Du ver­geu­dest für fünf Fran­ken Feuil­le­ton«, sag­te Bi­xiou, in­dem er Lous­teau un­ter­brach, »die Tor­pil­le ist un­end­lich viel mehr als all das; ihr alle seid mehr oder min­der ihre Lieb­ha­ber ge­we­sen, aber kei­ner von euch kann be­haup­ten, sie sei sei­ne Ge­lieb­te ge­we­sen; sie kann euch im­mer be­sit­zen, ihr wer­det sie nie be­sit­zen. Ihr erbrecht ihre Tür, ihr habt sie um einen Dienst zu bit­ten …« »Oh! sie ist groß­mü­ti­ger als ein Räu­ber­haupt­mann, der sei­ne Sa­che recht macht, und er­ge­be­ner als der bes­te Schul­ka­me­rad«, sag­te Blon­det; »man kann ihr sei­ne Bör­se und sein Ge­heim­nis an­ver­trau­en. Aber das, wes­we­gen ich sie zur Kö­ni­gin wäh­len wür­de, ist ihre bour­bo­ni­sche Gleich­gül­tig­keit ge­gen den ge­fal­le­nen Günst­ling.« »Sie ist wie ihre Mut­ter viel zu teu­er«, sag­te Des Lu­peaulx. »Die schö­ne Hol­län­de­rin hät­te die Ein­künf­te des Erz­bi­schofs von To­le­do ver­schlun­gen, sie hat zwei No­ta­re auf­ge­zehrt …« »Und Ma­xi­me von Trail­les er­nährt, als er Page war«, sag­te Bi­xiou. »Die Tor­pil­le ist zu teu­er, wie Raf­fa­el, wie Carê­me, wie Taglio­ni, wie La­wrence, wie Boul­le, wie alle ge­nia­len Künst­ler zu teu­er wa­ren …« sag­te Blon­det. »Nie hat Esther so sehr nach ei­ner an­stän­di­gen Frau aus­ge­se­hen«, sag­te jetzt Ras­ti­gnac, in­dem er auf die Mas­ke zeig­te, der Lu­ci­en den Arm ge­reicht hat­te. »Ich wet­te auf Frau von Séri­zy.« »Da ist kein Zwei­fel mög­lich«, rief du Châte­let; »der Wohl­stand des Herrn von Ru­bem­pré ist er­klärt.« »Ach, die Kir­che weiß sich ihre Le­vi­ten aus­zu­wäh­len; was für einen hüb­schen Ge­sandt­schafts­se­kre­tär wird er ab­ge­ben!« sag­te Des Lu­peaulx. »Umso mehr«, fuhr Ras­ti­gnac fort, »als Lu­ci­en ein Mann von Ta­lent ist. Die­se Her­ren ha­ben mehr als einen Be­weis da­für er­lebt«, füg­te er hin­zu, in­dem er Blon­det, Fi­not und Lous­teau an­sah. »Ja, der Bur­sche ist dazu ge­schaf­fen, um es weit zu brin­gen«, sag­te Lous­teau, der vor Ei­fer­sucht barst, »umso mehr, als er das hat, was wir ›Un­ab­hän­gig­keit in den Ide­en‹ nen­nen …« »Du hast ihn zu dem ge­macht, was er ist«, sag­te Ver­nou. »Nun«, ver­setz­te Bi­xiou, in­dem er Des Lu­peaulx an­sah, »ich ap­pel­lie­re an die Erin­ne­run­gen des Herrn Ge­ne­ral­se­kre­tärs und Be­richt­er­stat­ters über die Bitt­schrif­ten; die­se Mas­ke ist die Tor­pil­le, ich wet­te ein Sou­per …« »Ich hal­te die Wet­te«, sag­te du Châte­let, der gern die Wahr­heit wis­sen woll­te. »Auf! Des Lu­peaulx«, sag­te Fi­not, »se­hen Sie zu, dass Sie die Ohren Ih­rer al­ten Rat­te wie­der­er­ken­nen.« »Es ist nicht nö­tig, einen Ver­stoß ge­gen die Mas­ken­frei­heit zu be­ge­hen«, er­wi­der­te Bi­xiou, »die Tor­pil­le und Lu­ci­en wer­den bis zu uns her­kom­men, wenn sie das Foy­er wie­der her­auf­gehn; ich ma­che mich an­hei­schig, euch dann zu be­wei­sen, dass sie es ist.« »Er ist also wie­der übers Was­ser ge­kom­men, un­ser Freund Lu­ci­en?« sag­te Na­than, der sich der Grup­pe an­schloss; »ich glaub­te, er wäre für den Rest sei­ner Tage nach An­goulê­me zu­rück­ge­kehrt. Hat er ir­gend­ein Ge­heim­nis wi­der die Ma­ni­chä­er ent­deckt?« »Er hat ge­tan, was du so bald nicht tun wirst«, er­wi­der­te Ras­ti­gnac, »er hat al­les be­zahlt.« Die di­cke Mas­ke nick­te bei­stim­mend mit dem Kopf. »Wenn ein Mann in sei­nem Al­ter ein or­dent­li­cher Mensch wird, ge­rät er auf Ab­we­ge; er hat kei­ne Kühn­heit mehr, er wird Ren­tier«, ver­setz­te Na­than. »Oh, der wird stets ein großer Herr blei­ben, und er wird in­ner­lich stets eine Höhe der Ge­dan­ken be­sit­zen, die ihn über vie­le so­ge­nann­te über­le­ge­ne Men­schen er­hebt«, gab Ras­ti­gnac zu­rück.

In die­sem Au­gen­blick sa­hen die Jour­na­lis­ten, Dan­dys und Mü­ßig­gän­ger, wie sich etwa Pfer­de­händ­ler ein Pferd an­se­hen, das ver­kauft wer­den soll, prü­fend den rei­zen­den Ge­gen­stand ih­rer Wet­te an. Die­se in der Kennt­nis der Pa­ri­ser Ver­kom­men­hei­ten ge­al­ter­ten Rich­ter, lau­ter Leu­te von über­le­ge­nem Geist, und zwar alle auf ver­schie­de­nem Ge­biet, alle gleich ver­derbt und glei­cher­ma­ßen Ver­füh­rer, alle wahn­sin­ni­gem Ehr­geiz ver­fal­len, dar­an ge­wöhnt, al­les an­zu­neh­men und al­les zu er­ra­ten, hef­te­ten die Au­gen auf eine mas­kier­te Frau, eine Frau, die nur von ih­nen ent­zif­fert wer­den konn­te. Nur sie und noch ein paar Stamm­gäs­te des Opern­balls ver­moch­ten un­ter dem lan­gen Lei­chen­tuch des schwar­zen Do­mi­nos, un­ter der Ka­pu­ze und dem her­ab­hän­gen­den Kra­gen, wie sie alle Frau­en un­er­kenn­bar ma­chen, die Run­dung der For­men, die Be­son­der­hei­ten der Hal­tung und des Schritts, die Be­we­gung der Hüf­ten, die Stel­lung des Kop­fes und all jene Din­ge zu er­ken­nen, die ge­wöhn­li­chen Au­gen am we­nigs­ten wahr­nehm­bar, ih­ren Au­gen aber am leich­tes­ten sicht­bar wa­ren. Trotz die­ser form­lo­sen Hül­le konn­ten sie also das rüh­rends­te Schau­spiel se­hen, das ei­ner von ech­ter Lie­be be­leb­ten Frau. Moch­te es nun die Tor­pil­le, die Her­zo­gin von Mauf­rigneu­se oder Frau von Séri­zy sein, die letz­te oder die ers­te Spros­se der so­zia­len Lei­ter, auf je­den Fall war die­ses Ge­schöpf eine wun­der­ba­re Schöp­fung, eine Vi­si­on glück­li­cher Träu­me. Die­se al­ten jun­gen Leu­te und die­se jun­gen Grei­se hat­ten eine so leb­haf­te Emp­fin­dung, dass sie Lu­ci­en um das er­ha­be­ne Vor­recht der Ver­wand­lung die­ser Frau in eine Göt­tin be­nei­de­ten. Die Mas­ke ging dort, als wäre sie mit Lu­ci­en al­lein; für die­se Frau wa­ren die zehn­tau­send Per­so­nen, war die schwe­re At­mo­sphä­re vol­ler Staub nicht mehr vor­han­den; nein, sie stand un­ter dem Him­mels­ge­wöl­be der Lie­be da, wie Raf­faels Ma­don­nen un­ter ih­rem ova­len Gold­reif ste­hen. Sie fühl­te nicht, wie man sie mit Ell­bo­gen streif­te; die Flam­me ih­res Blicks brach durch die bei­den Lö­cher ih­rer Mas­ke her­vor und ent­zün­de­te sich an Lu­ciens Au­gen, und schließ­lich schi­en das Zit­tern ih­res Kör­pers von der Be­we­gung ih­res Freun­des aus­zu­ge­hen. Wo­her kommt die­se Flam­me, die eine lie­ben­de Frau um­strahlt und sie un­ter al­len an­de­ren aus­zeich­net? Wo­her kommt jene Leich­tig­keit ei­nes Luft­geis­tes, die die Ge­set­ze der Schwe­re zu ver­wan­deln scheint? Ist es die nach au­ßen tre­ten­de See­le? Hat das Glück phy­si­sche Kräf­te? Die Harm­lo­sig­keit ei­ner Jung­frau, die An­mut der Kind­heit ver­rie­ten sich un­ter dem Do­mi­no. Ob­gleich sie ge­trennt ein­her­gin­gen, gli­chen die­se bei­den We­sen je­nen Grup­pen Flo­ras und Ze­phyrs, die von den ge­schick­tes­ten Bild­hau­ern kunst­voll ver­schlun­gen sind; aber es war mehr als Skulp­tur, als die größ­te der Küns­te; Lu­ci­en und sein hüb­scher Do­mi­no er­in­ner­ten an jene mit Blu­men oder Vö­geln be­schäf­tig­ten En­gel, die der Pin­sel Gio­van­ni Bel­li­nis un­ter die Bil­der der Jung­frau-Mut­ter setz­te; Lu­ci­en und die­se Frau ge­hör­ten der Fan­ta­sie an, die über der Kunst steht, wie die Ur­sa­che über der Wir­kung steht.

Als die­se Frau, die al­les ver­gaß, nur noch einen Schritt von der Grup­pe ent­fernt war, rief Bi­xiou: »Esther!« Die Un­glück­li­che wand­te sich leb­haft um, wie je­mand, der sich ru­fen hört, er­kann­te den bos­haf­ten Men­schen und senk­te den Kopf gleich ei­nem Ster­ben­den, der den letz­ten Seuf­zer aus­ge­sto­ßen hat. Ein gel­len­des Ge­läch­ter brach aus, und die Grup­pe zer­stob in der Men­ge wie ein Trupp er­schreck­ter Feld­mäu­se, die am Ran­de des We­ges in ihre Lö­cher schie­ßen. Nur Ras­ti­gnac ent­fern­te sich nicht wei­ter, als er muss­te, da­mit es nicht aus­sah, als flö­he er vor den fun­keln­den Bli­cken Lu­ciens; er konn­te einen zwie­fa­chen, gleich tie­fen, wenn auch ver­schlei­er­ten Schmerz be­wun­dern: zu­nächst die arme Tor­pil­le, die wie vom Blitz ge­trof­fen war; dann die un­ver­ständ­li­che Mas­ke, den ein­zi­gen Men­schen der Grup­pe, der ge­blie­ben war. Esther flüs­ter­te Lu­ci­en in dem Mo­ment, in dem ihr die Knie bra­chen, et­was ins Ohr, und Lu­ci­en ver­schwand mit ihr, in­dem er sie stütz­te. Ras­ti­gnac folg­te dem hüb­schen Paar mit dem Blick, ver­sun­ken in sei­ne Ge­dan­ken.

»Wo­her hat sie die­sen Na­men der Tor­pil­le?« frag­te ihn eine düs­te­re Stim­me, die ihn bis ins In­ners­te traf, denn sie war nicht mehr ver­stellt. »Er ist es, und er ist wie­der ent­kom­men …« sag­te Ras­ti­gnac vor sich hin. »Schweig, oder ich brin­ge dich um«, er­wi­der­te die Mas­ke, in­dem sie eine an­de­re Stim­me an­nahm. »Ich bin mit dir zu­frie­den; du hast dein Wort ge­hal­ten, und also hast du mehr als einen Arm zu dei­nem Dienst. Blei­be hin­fort stumm wie das Grab; aber ehe du ver­stummst, ant­wor­te auf mei­ne Fra­ge.« »Nun, die­ses Mäd­chen ist so reiz­voll, dass sie dem Kai­ser Na­po­le­on den Kopf be­nom­men hät­te und dass sie selbst ei­nem, der noch schwe­rer zu ver­füh­ren ist, den Kopf be­neh­men wür­de: dir!« er­wi­der­te Ras­ti­gnac, in­dem er fort­ging. »Ei­nen Au­gen­blick!« sag­te die Mas­ke. »Ich will dir zei­gen, dass du mich nie­mals ir­gend­wo ge­se­hen zu ha­ben brauchst.«

Der Frem­de nahm die Mas­ke ab; Ras­ti­gnac zö­ger­te einen Au­gen­blick, da er nichts von der scheuß­li­chen Per­sön­lich­keit er­blick­te, die er ehe­mals im Hau­se Vau­quer ge­kannt hat­te. »Der Teu­fel hat es Ih­nen er­mög­licht, sich ganz zu ver­wan­deln, nur die Au­gen nicht, die man nie­mals ver­ges­sen könn­te«, sag­te er. Die Hand aus Ei­sen drück­te ihm den Arm, um ihm ewi­ges Schwei­gen zu emp­feh­len.

Um drei Uhr mor­gens fan­den Des Lu­peaulx und Fi­not den ele­gan­ten Ras­ti­gnac noch im­mer an der­sel­ben Stel­le; er lehn­te an der Säu­le, wo ihn die furcht­ba­re Mas­ke ver­las­sen hat­te. Ras­ti­gnac hat­te vor sich selbst ge­beich­tet: er war in ei­ner Per­son Pries­ter und Sün­der, Rich­ter und An­ge­klag­ter ge­we­sen. Er ließ sich zum Früh­stück da­von­füh­ren, und als er nach Hau­se kam, war er voll­stän­dig be­rauscht, aber schweig­sam.

Die Rue de Lan­gla­de ver­un­ziert mit den an­sto­ßen­den Stra­ßen das Palais Roy­al und die Rue de Ri­vo­li. Die­ser Teil ei­nes der glän­zends­ten Pa­ri­ser Vier­tel wird noch lan­ge den Ma­kel tra­gen, den ihm die Keh­richt­hü­gel des al­ten Pa­ris auf­ge­drückt ha­ben, auf de­nen ehe­mals Müh­len stan­den. Die­se en­gen, düs­tern und ko­ti­gen Stra­ßen, in de­nen In­dus­tri­en ge­trie­ben wer­den, die we­nig für ihre äu­ße­re Er­schei­nung sor­gen, neh­men nachts eine ge­heim­nis­vol­le und kon­trast­rei­che Phy­sio­gno­mie9 an. Wenn man von dem licht­rei­chen Pflas­ter der Rue Saint-Ho­noré, der Rue Neu­ve des Pe­tits Champs und der Rue de Ri­che­lieu kommt, in de­nen sich eine nie eb­ben­de Men­ge drängt und in de­nen die Meis­ter­wer­ke der In­dus­trie, der Mode und der Küns­te glän­zen, so muss je­der, dem das abend­li­che Pa­ris un­be­kannt ist, von ei­ner trau­ri­gen Angst er­grif­fen wer­den, so­bald er in das Ge­wirr der klei­nen Stra­ßen ge­rät, das die­sen bis zum Him­mel hin­auf­ge­spie­gel­ten Glanz um­schließt. Dich­ter Schat­ten folgt auf die Strö­me von Gas­licht. Von Zeit zu Zelt wirft eine blei­che La­ter­ne ihr un­ge­wis­ses, rau­chi­ges Licht, das ge­wis­se schwar­ze Sack­gas­sen nicht mehr be­leuch­tet. Sel­ten sieht man einen Men­schen ge­hen, und der geht schnell. Die Lä­den sind ge­schlos­sen, und wenn ei­ner ge­öff­net ist, so macht er einen ver­däch­ti­gen Ein­druck; es ist eine dunkle, un­sau­be­re Knei­pe oder ein Wä­sche­la­den, in dem man Eau de Co­lo­gne ver­kauft. Eine un­ge­sun­de Käl­te legt ei­nem den feuch­ten Man­tel auf die Schul­tern. Es kom­men we­nig Wa­gen durch. Es gibt un­heim­li­che Win­kel, un­ter de­nen sich die Rue de Lan­gla­de, die Mün­dung der Saint-Guil­lau­me-Pas­sa­ge und ein paar Stra­ßen­e­cken aus­zeich­nen. Die Ge­mein­de­ver­wal­tung hat bis­lang we­nig tun kön­nen, um die­ses große Aus­satz­spi­tal aus­zu­spü­len; denn seit lan­gem hat hier die Pro­sti­tu­ti­on ihr Haupt­quar­tier auf­ge­schla­gen. Vi­el­leicht ist es ein Glück für die Welt von Pa­ris, wenn man die­sen Gas­sen ih­ren Ko­tan­blick lässt. Wenn man bei Tage durch­kommt, so kann man sich nicht vor­stel­len, was bei Nacht aus all die­sen Stra­ßen wird; sie wer­den durch­streift von wun­der­li­chen We­sen, die kei­ner Welt an­ge­hö­ren; halb­nack­te wei­ße Ge­stal­ten ste­hen an den Mau­ern hin; der Schat­ten ist be­lebt. Zwi­schen dem Haus­ge­mäu­er und den Vor­über­ge­hen­den glei­ten Klei­der, die ge­hen und re­den. Ge­wis­se an­ge­lehn­te Tü­ren bre­chen jäh in schal­len­des Ge­läch­ter aus. Wor­te fal­len ei­nem ins Ohr, die, wie Ra­be­lais sagt, ge­fro­ren wa­ren und jetzt schmel­zen. Aus dem Pflas­ter tö­nen Re­frains her­auf. Es ist kein va­ges Geräusch, es be­deu­tet ir­gen­det­was; wenn es hei­ser wird, so ist es eine mensch­li­che Stim­me; aber wenn es ei­nem Sin­gen gleicht, so hat es nichts Men­sch­li­ches mehr und nä­hert sich ei­nem Zi­schen. Oft wird plötz­lich ge­pfif­fen. End­lich ha­ben die Stie­fel­ab­sät­ze ir­gen­det­was Her­aus­for­dern­des und Spöt­ti­sches. Ei­nen schwin­delt bei die­sem Ge­samtein­druck der Din­ge. Dort sind die at­mo­sphä­ri­schen Ver­hält­nis­se ver­wan­delt: man schwitzt im Win­ter und friert im Som­mer. Aber wel­ches Wet­ter auch herr­sche, die­se selt­sa­me Na­tur bie­tet stets das­sel­be Schau­spiel dar: hier lebt die fan­tas­ti­sche Welt des Ber­li­ners Hoff­mann. Der am rech­ne­rischs­ten ver­an­lag­te Kas­sie­rer fin­det hier nichts Wirk­li­ches mehr, wenn er die Stra­ße­nen­gen hin­ter sich hat, die zu den an­stän­di­gen Stra­ßen füh­ren, wo es Passan­ten, Lä­den und Lam­pen gibt. Wäh­le­ri­scher oder scham­haf­ter als Kö­ni­ge und Kö­ni­gin­nen ver­gan­ge­ner Zei­ten, die sich nie fürch­te­ten, sich mit den Kur­ti­sa­nen zu be­schäf­ti­gen, wagt die mo­der­ne Ver­wal­tung oder Po­li­tik es nicht mehr, die­ser Wun­de der großen Städ­te ins Ge­sicht zu se­hen. Si­cher­lich müs­sen sich die Maß­re­geln mit den Zei­ten wan­deln, und sol­che, die das In­di­vi­du­um und sei­ne Frei­heit an­grei­fen, sind hei­kel; aber viel­leicht soll­te man sich in den rein ma­te­ri­el­len Din­gen, in Be­zug auf Licht, Luft und Lo­ka­le, weit­her­zig und kühn zei­gen. Der Mora­list, der Künst­ler und der wei­se Ver­wal­ter wer­den die al­ten Holz­ga­le­ri­en des Palais Roy­al zu­rück­er­seh­nen, wo sich die­se Schäf­lein dräng­ten, die im­mer da­hin kom­men wer­den, wo­hin die Spa­zier­gän­ger ge­hen: und ist es nicht bes­ser, wenn die Spa­zier­gän­ger da­hin ge­hen, wo sie sich be­fin­den? Was ist ge­sche­hen? Heu­te sind die glän­zends­ten Tei­le der Bou­le­vards, ist die­se Zau­ber­pro­me­na­de am Abend der Fa­mi­lie ent­zo­gen. Die Po­li­zei hat die Aus­kunfts­mit­tel nicht zu be­nut­zen ver­stan­den, die ihr in die­ser Hin­sicht ei­ni­ge Durch­gän­ge bo­ten, so­dass sie die öf­fent­li­che Stra­ße hät­te ret­ten kön­nen.

Das auf dem Opern­ball von ei­nem Wort ge­bro­che­ne Mäd­chen wohn­te seit ei­nem oder zwei Mo­na­ten in der Rue de Lan­gla­de, in ei­nem Hau­se von ge­mei­nem Äu­ße­ren. Die­ser Bau, der sich an die Mau­er ei­nes un­ge­heu­ren Hau­ses an­lehnt, ist schlecht stu­ckiert, ohne Tie­fe und von fa­bel­haf­ter Höhe; er be­zieht sein Licht von der Stra­ße und hat nicht ge­rin­ge Ähn­lich­keit mit ei­ner Hüh­ner­stie­ge. In je­dem Stock­werk liegt eine Woh­nung von zwei Zim­mern. Eine schma­le Trep­pe führt hin­auf, die an die Mau­er an­ge­klebt ist und wun­der­lich be­leuch­tet wird durch Fens­ter­klap­pen; die ge­ben au­ßen den Gang des Ge­win­des an, und je­der Trep­pen­ab­satz wird mar­kiert durch eine Ab­fluss­rin­ne, eine der scheuß­lichs­ten Ei­gen­tüm­lich­kel­ten von Pa­ris. La­den und Zwi­schen­stock ge­hör­ten ehe­mals ei­nem Blech­schmied; der Be­sit­zer des Hau­ses wohn­te im ers­ten Stock; die vier an­de­ren Stock­wer­ke hat­ten sehr an­stän­di­ge Gri­set­ten inne, die vom Wirt und der Schlie­ße­rin al­ler­lei Rück­sich­ten und Ge­fäl­lig­kei­ten be­an­spru­chen konn­ten, weil es schwer war, ein so son­der­bar ge­bau­tes und ge­le­ge­nes Haus zu ver­mie­ten. Der Cha­rak­ter die­ses Vier­tels fin­det sei­ne Er­klä­rung eben im Vor­han­den­sein ei­ner großen Men­ge sol­cher Häu­ser, die der Han­del nicht will und die nur von ver­leug­ne­ten, an­rü­chi­gen oder wür­de­lo­sen In­dus­tri­en aus­ge­beu­tet wer­den kön­nen.

Um drei Uhr nach­mit­tags hat­te die Pfört­ne­rin, die um zwei Uhr mor­gens ge­se­hen hat­te, wie Fräu­lein Esther ster­bens­krank von ei­nem jun­gen Mann nach Hau­se ge­bracht wur­de, eben mit der Gri­set­te vom obe­ren Stock­werk be­rat­schlagt; das Mäd­chen hat­te ihr, ehe sie in den Wa­gen stieg, um sich zu ei­ner Lust­par­tie zu be­ge­ben, ge­sagt, wie un­ru­hig sie in be­treff Esthers wäre: sie hät­te sie sich nicht rüh­ren hö­ren. Esther schlief ohne Zwei­fel noch; aber die­ser Schlum­mer schi­en ver­däch­tig. Da die Pfört­ne­rin in ih­rer Loge al­lein war, be­dau­er­te sie, nicht hin­auf­stei­gen zu kön­nen, um sich zu er­kun­di­gen, was im vier­ten Stock, wo Fräu­lein Esther wohn­te, vor­ging. In dem Au­gen­blick, als sie sich ent­schloss, die Wa­che in ih­rer Loge, ei­ner Art Ni­sche im Zwi­schen­stock, wo die Mau­er ein we­nig ein­sprang, dem Sohn des Blech­schmieds an­zu­ver­trau­en, hielt ein Fia­ker vor der Tür. Ein Mann, der vom Kopf bis zu den Fü­ßen in einen Man­tel ein­gehüllt war, und zwar in der of­fen­ba­ren Ab­sicht, sein Ko­stüm oder sei­nen Stand zu ver­ber­gen, stieg aus und frag­te nach Fräu­lein Esther. Die Pfört­ne­rin war so­fort voll­kom­men be­ru­higt; das Schwei­gen und die Ruhe bei der Ein­ge­schlos­se­nen schie­nen ihr jetzt ganz er­klär­lich. Als der Be­su­cher die Stu­fen ober­halb der Loge hin­auf­stieg, be­merk­te die Pfört­ne­rin die sil­ber­nen Schnal­len, die sei­ne Schu­he ver­zier­ten; sie glaub­te die Fran­sen des Gür­tels ei­ner Sou­ta­ne zu se­hen; sie ging hin­un­ter und frag­te den Kut­scher, der wort­los Ant­wort gab, und die Pfört­ne­rin be­griff aber­mals. Der Pries­ter poch­te, er­hielt kei­ne Ant­wort, hör­te lei­ses Stöh­nen und er­brach die Tür mit ei­nem Schul­ter­hub, und zwar mit ei­ner Kraft, wie sie ihm zwei­fel­los die Wohl­tä­tig­keit ver­lieh, die aber bei je­dem an­de­ren die Ge­wohn­heit ver­ra­ten hät­te. Er eil­te in das zwei­te Zim­mer und sah die arme Esther vor ei­ner hei­li­gen Jung­frau aus far­bi­gem Stuck kni­en; oder bes­ser, sie war dort mit ge­fal­te­ten Hän­den zu­sam­men­ge­bro­chen. Die Gri­set­te lag in den letz­ten Zü­gen. Ein Be­cken mit ver­brann­ter Koh­le er­zähl­te die Ge­schich­te die­ses furcht­ba­ren Mor­gens. Die Ka­pu­ze und der Über­wurf des Do­mi­nos la­gen am Bo­den. Das Bett war nicht be­nutzt. Das arme Ge­schöpf, das im Her­zen von töd­li­cher Wun­de ge­trof­fen war, hat­te ohne Zwei­fel bei der Rück­kehr aus der Oper al­les so ge­las­sen. Ein Ker­zen­docht, der in dem Was­ser, das der Leuch­ter­ein­satz ent­hielt, er­starrt war, be­wies, wie tief Esther in ihre letz­ten Ge­dan­ken ver­sun­ken ge­we­sen war. Ein von Trä­nen be­netz­tes Ta­schen­tuch zeig­te die Auf­rich­tig­keit die­ser Reue ei­ner Mag­da­le­na, de­ren klas­si­sche Hal­tung die der gott­lo­sen Kur­ti­sa­ne war. Die­se un­be­ding­te Reue ent­lock­te dem Pries­ter ein Lä­cheln. In ih­rer Un­ge­schick­lich­keit hat­te sie, als sie ster­ben woll­te, ihre Tür of­fen ge­las­sen, ohne zu be­rech­nen, dass die Luft der bei­den Zim­mer eine grö­ße­re Men­ge von Koh­len ver­lang­te, um je­des At­men un­mög­lich zu ma­chen; das Koh­len­gas hat­te sie nur be­täubt; die fri­sche Luft, die jetzt von der Trep­pe her ein­drang, gab sie all­mäh­lich dem Ge­fühl für ihre Lei­den zu­rück. Der Pries­ter blieb ste­hen; er war in düs­te­re Ge­dan­ken ver­sun­ken, und ohne sich von der gött­li­chen Schön­heit die­ses Mäd­chens rüh­ren zu las­sen, be­ob­ach­te­te er ihre ers­ten Be­we­gun­gen, als wäre sie ir­gend­ein Tier. Sei­ne Au­gen schweif­ten von die­sem zu­sam­men­ge­bro­che­nen Kör­per zu gleich­gül­ti­gen Ge­gen­stän­den hin­über, und zwar schein­bar in vol­ler Gleich­gül­tig­keit. Er sah sich das Mo­bi­li­ar des Zim­mers an, des­sen ro­ter, ge­scheu­er­ter, kal­ter Bo­den von ei­nem schlech­ten, fa­den­schei­ni­gen Tep­pich kaum ver­deckt war. Eine alt­mo­di­sche Bett­stel­le von ge­stri­che­nem Holz, ver­hängt mit Gar­di­nen aus gel­bem Kat­tun mit ro­ten Ro­set­ten; ein ein­zi­ger Ses­sel und zwei Stüh­le, gleich­falls aus ge­stri­che­nem Holz und be­zo­gen mit dem­sel­ben Kat­tun, der auch die Vor­hän­ge der Fens­ter ge­lie­fert hat­te; eine mit Blu­men ge­tüp­fel­te Ta­pe­te, de­ren grau­er Grund von Al­ter und Fett schwarz ge­wor­den war; ein Näh­tisch aus Ma­ha­go­ni; ein mit Kü­chen­ge­rät der ge­wöhn­lichs­ten Art über­la­de­ner Ka­min, zwei an­ge­bro­che­ne Holz­bün­del, ein Stein­ge­sims, auf dem hier und da, un­ter­mischt mit Schmuck und Sche­ren, ein paar Glassa­chen stan­den; ein schmut­zi­ges Näh­kis­sen, wei­ße par­fü­mier­te Hand­schu­he, ein ent­zücken­der Hut, der auf die Was­ser­kan­ne ge­wor­fen war, ein Ter­naux­schal, der das Fens­ter ver­stopf­te, ein ele­gan­tes Kleid, das an ei­nem Na­gel hing, ein klei­nes har­tes Kana­pee ohne Kis­sen; ge­mei­ne Über­schu­he und rei­zen­de Schu­he, Sti­cke­rei­en, die den Neid ei­ner Kö­ni­gin hät­ten er­we­cken kön­nen, Tel­ler aus ge­wöhn­li­chem Por­zel­lan, auf de­nen man die Res­te der letz­ten Mahl­zeit sah, die Stoß­stel­len zeig­ten und Mes­ser und Ga­beln aus Weiß­blech tru­gen, dem Sil­ber des Pa­ri­ser Ar­men; ein Korb voll Kar­tof­feln und schmut­zi­ger Wä­sche, dar­über eine fri­sche Ga­ze­hau­be, und ein schlech­ter, of­fen und ver­las­sen da­ste­hen­der Spie­gel­schrank, auf des­sen Kon­so­len sich Pfand­schei­ne zeig­ten: das war das Ge­samt­bild düs­te­rer und hei­te­rer, elen­der und rei­cher Din­ge, das sich dem Blick dar­bot.

Die­se Spu­ren des Lu­xus un­ter den Scher­ben, die­se Ein­rich­tung, die so gut zu dem Bohê­me­le­ben des Mäd­chens pass­te, das hier in sei­ner wir­ren Un­ter­klei­dung zu­sam­men­ge­bro­chen war, ei­nem in sei­nem Ge­schirr ver­en­de­ten und un­ter der zer­bro­che­nen Deich­sel in sei­ne Lei­nen ver­wi­ckel­ten Pferd ver­gleich­bar: gab die­ses selt­sa­me Schau­spiel dem Pries­ter sei­ne Ge­dan­ken ein? Sag­te er sich, dass die­ses ver­irr­te Ge­schöpf we­nigs­tens selbst­los sein muss­te, um sol­che Ar­mut mit der Lie­be zu ei­nem rei­chen jun­gen Mann zu paa­ren? Schrieb er die Un­ord­nung des Mo­bi­li­ars der Un­ord­nung des Le­bens zu? Empfand er Mit­leid, Schre­cken? Nähr­te sich sein Er­bar­men? Wer ihn ge­se­hen hät­te, wie er mit un­ter­ge­schla­ge­nen Ar­men da­stand, mit sor­gen­vol­ler Stirn, mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen und har­tem Auge, hät­te glau­ben müs­sen, er wäre mit fins­te­ren, ge­häs­si­gen Emp­fin­dun­gen be­schäf­tigt, mit wi­der­spruchs­vol­len Ge­dan­ken, mit un­heim­li­chen Plä­nen. Auf je­den Fall war er un­emp­find­lich für die hüb­schen Run­dun­gen ei­ner Brust, die un­ter der Last des vor­ge­beug­ten Ober­kör­pers fast er­drückt wur­de, und für die ent­zücken­den For­men der kau­ern­den Ve­nus, die un­ter dem schwar­zen Un­ter­rock sicht­bar wa­ren, so straff war die Ster­ben­de in sich zu­sam­men­ge­bro­chen; die Hin­ge­schmiegt­heit die­ses Kop­fes, der, von hin­ten ge­se­hen, dem Blick sei­nen wei­ßen, wei­chen und bieg­sa­men Na­cken dar­bot, die schö­nen Schul­tern in ih­rer kühn ent­hüll­ten Nackt­heit rühr­ten ihn nicht; er hob Esther nicht auf, er schi­en ihr herz­zer­rei­ßen­des At­men, das die Rück­kehr zum Le­ben ver­riet, nicht zu hö­ren: es be­durf­te ei­nes grau­en­haf­ten Schluch­zens und des be­ängs­ti­gen­den Blicks, den ihm dies Mäd­chen zu­warf, da­mit er sie auf­zu­he­ben und zum Bett zu tra­gen ge­ruh­te, was er mit ei­ner Leich­tig­keit tat, die eine fa­bel­haf­te Kraft of­fen­bar­te.

»Lu­ci­en!« sag­te sie mur­melnd. »Die Lie­be kehrt zu­rück, da ist die Frau nicht mehr fern«, sag­te der Pries­ter mit ei­ner ge­wis­sen Bit­ter­keit.

Jetzt er­kann­te das Op­fer Pa­ri­ser Aus­schwei­fun­gen das Kleid sei­nes Ret­ters, und mit dem Lä­cheln des Kin­des, das end­lich die Hand auf et­was lang Er­sehn­tes legt, sag­te sie: »Ich soll also nicht ster­ben, ohne mich mit dem Him­mel ver­söhnt zu ha­ben!« »Sie wer­den Ihre Feh­ler süh­nen kön­nen«, sag­te der Pries­ter, in­dem er ihr die Stirn mit Was­ser be­netz­te und sie an ei­nem Es­sig­känn­chen rie­chen ließ, das er in ei­nem Win­kel fand. »Ich füh­le, wie das Le­ben, statt mich zu ver­las­sen, auf mich ein­strömt«, sag­te sie, als sie die­se Pfle­ger­diens­te von dem Pries­ter er­hielt, in­dem sie ih­rem Dank durch Ges­ten vol­ler Na­tür­lich­keit Aus­druck gab. Die­se reiz­vol­le Pan­to­mi­me, die die Gra­zi­en hät­ten spie­len kön­nen, um zu ver­füh­ren, recht­fer­tig­te den Bein­amen die­ses selt­sa­men Mäd­chens voll­kom­men. »Füh­len Sie sich woh­ler?« frag­te der Geist­li­che, in­dem er ihr ein Glas Zucker­was­ser zu trin­ken gab.

Die­ser Mensch schi­en sol­che merk­wür­di­gen Haus­we­sen zu ken­nen; er wuss­te ge­nau in ih­nen Be­scheid, er war wie zu Hau­se. Die­ses Vor­recht, über­all zu Hau­se zu sein, be­sit­zen nur Kö­ni­ge, Dir­nen und Die­be.

»Wenn Ih­nen wie­der ganz wohl ist«, fuhr der ei­gen­tüm­li­che Pries­ter nach ei­ner Pau­se fort, »wer­den Sie mir sa­gen, wel­che Grün­de Sie zu Ihrem letz­ten Ver­bre­chen, die­sem ver­such­ten Selbst­mord, trie­ben.« »Mei­ne Ge­schich­te ist ganz ein­fach, mein Va­ter«, er­wi­der­te sie. »Vor drei Mo­na­ten leb­te ich noch in der Ei­n­ord­nung, in der ich ge­bo­ren wur­de. Ich war das letz­te und ver­wor­fens­te Ge­schöpf; jetzt bin ich nur noch das un­glück­lichs­te auf der Welt. Er­lau­ben Sie mir, Ih­nen von mei­ner Mut­ter nichts zu er­zäh­len, sie wur­de er­mor­det …« »Und zwar von ei­nem Haupt­mann, in ei­nem ver­däch­ti­gen Hau­se«, sag­te der Pries­ter, in­dem er sein Beicht­kind un­ter­brach. »Ich ken­ne Ihren Ur­sprung und weiß, dass, wenn je ein We­sen Ihres Ge­schlechts für einen schmäh­li­chen Le­bens­wan­del eine Ent­schul­di­gung hat­te, Sie es sind, denn Ih­nen ha­ben die gu­ten Bei­spie­le ge­fehlt.« »Ach, ich bin nicht ein­mal ge­tauft; ich habe in kei­ner Re­li­gi­on Un­ter­wei­sung er­hal­ten.« »So ist also al­les noch wie­der gutz­u­ma­chen«, fuhr der Pries­ter fort, »vor­aus­ge­setzt, dass Ihr Glau­be und Ihre Reue auf­rich­tig und ohne Hin­ter­ge­dan­ken sind.« »Lu­ci­en und Gott fül­len mein Herz aus«, sag­te sie mit rüh­ren­der Nai­vi­tät. »Sie hät­ten sa­gen kön­nen: Gott und Lu­ci­en«, gab der Pries­ter lä­chelnd zu­rück. »Sie er­in­nern mich an den Zweck mei­nes Be­suchs. Las­sen Sie nichts aus, was die­sen jun­gen Mann be­trifft.« »Sie kom­men um sei­net­wil­len?« frag­te sie mit ei­nem Aus­druck der Lie­be, der je­den an­de­ren Pries­ter ge­rührt hät­te. »Oh, er hat al­les ge­ahnt!« »Nein«, er­wi­der­te er, »nicht um Ihren Tod, son­dern um Ihr Le­ben macht man sich Sor­ge. Re­den Sie, er­klä­ren Sie mir Ihre Be­zie­hun­gen.« »Mit ei­nem Wort«, sag­te sie.

Das arme Mäd­chen zit­ter­te bei dem schrof­fen Ton des Geist­li­chen, aber doch als eine Frau, die die Bru­ta­li­tät seit lan­gem nicht mehr über­rasch­te.

»Lu­ci­en ist Lu­ci­en«, fuhr sie fort, »der schöns­te jun­ge Mann und das bes­te al­ler le­ben­den We­sen; aber wenn Sie ihn ken­nen, so muss Ih­nen mei­ne Lie­be sehr na­tür­lich er­schei­nen. Ich habe ihn vor drei Mo­na­ten zu­fäl­lig in der Por­te Saint-Mar­tin10 ge­trof­fen, wo­hin ich an ei­nem Aus­geh­tag ge­gan­gen war; denn im Hau­se der Frau Mey­nar­die, in dem ich leb­te, hat­ten wir einen Tag in der Wo­che frei. Sie be­grei­fen wohl, dass ich mich am fol­gen­den Tag ohne Ur­laub frei mach­te. Die Lie­be war in mein Herz ge­drun­gen und hat­te mich so sehr ver­än­dert, dass ich mich selbst nicht mehr er­kann­te, als ich aus dem Thea­ter kam: mir grau­te vor mir sel­ber. Nie hat Lu­ci­en ir­gen­det­was er­fah­ren dür­fen. Statt ihm zu sa­gen, wo ich leb­te, gab ich ihm die Adres­se die­ser Woh­nung, die da­mals eine mei­ner Freun­din­nen inne hat­te und die sie mir aus Ge­fäl­lig­keit ab­trat. Ich schwö­re Ih­nen auf mein hei­li­ges Wort …« »Sie dür­fen nicht schwö­ren.« »Ist es denn ein Schwur, wenn ich Ih­nen mein hei­li­ges Wort gebe? Nun, seit je­nem Tage habe ich in die­sem Zim­mer wie eine Ver­lo­re­ne ge­ar­bei­tet und für acht­und­zwan­zig Sous das Stück Hem­den ge­näht, um von ehr­li­cher Ar­beit le­ben zu kön­nen. Ei­nen Mo­nat lang habe ich nur Kar­tof­feln ge­ges­sen, um an­stän­dig und Lu­ciens wür­dig zu blei­ben; denn er liebt mich wie die Tu­gend­haf­tes­te der Tu­gend­haf­ten. Ich habe der Po­li­zei mei­ne förm­li­che Er­klä­rung ab­ge­ge­ben, um wie­der in den Be­sitz mei­ner bür­ger­li­chen Rech­te zu ge­lan­gen, und man hat mir zwei Jah­re der Über­wa­chung auf­er­legt. Die­sel­ben, die einen so leicht in die Re­gis­ter der Schmach ein­tra­gen, ma­chen au­ßer­or­dent­li­che Schwie­rig­kei­ten, wenn sie einen strei­chen sol­len. Ich bat den Him­mel nur um eins, dar­um, mei­nen Ent­schluss zu fes­ti­gen. Ich wer­de im April neun­zehn Jah­re alt: in die­sem Al­ter hat man noch Mög­lich­kel­ten. Mir we­nigs­tens scheint es, als wäre ich erst vor drei Mo­na­ten ge­bo­ren wor­den … Ich habe je­den Mor­gen zum lie­ben Gott ge­be­tet und ihn an­ge­fleht, dass Lu­ci­en nie et­was von mei­nem frü­he­ren Le­ben er­fah­ren möch­te. Ich habe mir die Jung­frau ge­kauft, die Sie hier se­hen; ich habe auf mei­ne Art zu ihr ge­be­tet, denn Ge­be­te ken­ne ich nicht; ich kann we­der le­sen noch schrei­ben, ich bin nie in ei­ner Kir­che ge­we­sen und habe mir den lie­ben Gott nur aus Neu­gier bei den Pro­zes­sio­nen an­ge­se­hen.«

»Was sa­gen Sie denn zu der Jung­frau?« »Ich spre­che zu ihr, wie ich zu Lu­ci­en spre­che, in je­nen See­lener­güs­sen, die ihm Trä­nen ent­lo­cken.« »Ach, er weint?« »Vor Freu­de«, sag­te sie leb­haft. »Der arme Jun­ge! Wir ver­ste­hen uns so gut, dass wir nur eine See­le ha­ben! Er ist so zart, so ein­schmei­chelnd, so sanft im Her­zen, in sei­ner Ge­sin­nung und sei­nen Ma­nie­ren! … Er sagt, er sei ein Dich­ter; ich sage, er ist ein Gott … Ver­zei­hen Sie, aber Sie als Pries­ter wis­sen nicht, was die Lie­be ist. Üb­ri­gens ken­nen nur wir die Män­ner ge­nau ge­nug, um einen Lu­ci­en zu wür­di­gen. Ein Lu­ci­en, se­hen Sie, ist eben­so sel­ten wie eine Frau ohne Sün­de; wenn man ihm be­geg­net, kann man nur ihn noch lie­ben: das ist es. Aber ein sol­ches We­sen braucht sei­nes­glei­chen. Ich woll­te also der Lie­be mei­nes Lu­ci­en wür­dig wer­den. Da­her kam mein Un­glück. Ges­tern wur­de ich in der Oper von ein paar jun­gen Leu­ten wie­der­er­kannt, die so we­nig ein Herz ha­ben, wie Ti­ger Mit­leid ken­nen; aber mit ei­nem Ti­ger woll­te ich mich noch ver­stän­di­gen! Der Schlei­er der Un­schuld, den ich trug, ist ge­fal­len; ihr La­chen hat mir Kopf und Herz zer­ris­sen. Glau­ben Sie nicht, Sie hät­ten mich ge­ret­tet; ich wer­de vor Kum­mer ster­ben.« »Ihr Schlei­er der Un­schuld? …« frag­te der Pries­ter. »So ha­ben Sie Lu­ci­en mit äu­ßers­ter Stren­ge be­han­delt?« »O ehr­wür­di­ger Va­ter, wie kön­nen Sie, der Sie ihn ken­nen, eine sol­che Fra­ge stel­len?« er­wi­der­te sie, in­dem sie ihm ein wun­der­ba­res Lä­cheln zu­warf. »Ei­nem Gott leis­tet man kei­nen Wi­der­stand!« »Läs­tern Sie nicht«, sag­te der Geist­li­che mit sanf­ter Stim­me. »Nie­mand kann Gott glei­chen: die Über­trei­bung steht der wah­ren Lie­be schlecht, Sie ha­ben für Ihr Idol noch kei­ne rei­ne und ech­te Lie­be ge­fühlt. Wenn Sie den Wan­del emp­fun­den hät­ten, den durch­ge­macht zu ha­ben Sie sich rüh­men, so hät­ten Sie Tu­gen­den er­wor­ben, wie sie das Erb­teil der Ju­gend sind; Sie hät­ten die Won­nen der Keusch­heit und die Fein­hei­ten der Scham ken­nen ge­lernt, jene bei­den Ruh­mes­ti­tel des jun­gen Mäd­chens. Sie lie­ben nicht.«

Esther mach­te eine Be­we­gung des Schre­ckens, die der Pries­ter sah, die je­doch die Gleich­gül­tig­keit die­ses Beicht­va­ters nicht er­schüt­ter­te. »Ja, Sie lie­ben ihn um Ihret­wil­len und nicht um sei­net­wil­len, we­gen der welt­li­chen Genüs­se, die Sie be­zau­bern, und nicht um der Lie­be sel­ber wil­len. Wenn Sie sich sei­ner so be­mäch­tigt ha­ben, so emp­fan­den Sie nicht je­nes hei­li­ge Zit­tern, wie es ein We­sen ein­flö­ßt, auf das Gott den Stem­pel der an­be­tungs­wür­digs­ten Voll­kom­men­heit ge­drückt hat: ha­ben Sie dar­an ge­dacht, dass Sie ihn durch Ihre ver­gan­ge­ne Un­rein­heit er­nied­ri­gen, dass Sie ein Kind ver­der­ben wol­len durch jene grau­en­haf­ten Ver­zückun­gen, die Ih­nen Ihren glor­rei­chen ge­mei­nen Bein­amen ein­ge­tra­gen ha­ben? Sie sind in sich selbst und in Ih­rer Lei­den­schaft ei­nes Ta­ges in­kon­se­quent ge­we­sen …« »Ei­nes Ta­ges!« wie­der­hol­te sie, in­dem sie die Au­gen hob. »Mit wel­chem Na­men soll man eine Lie­be nen­nen, die nicht ewig ist, die uns mit dem, was wir lie­ben, nicht bis in die Zu­kunft des Chris­ten hin­ein ver­ei­nigt?« »Ach, ich will ka­tho­lisch wer­den!« rief sie mit ei­nem dump­fen und ge­walt­sa­men Ton, der ihr die Gna­de un­se­res Hei­lands er­wor­ben hät­te. »Kann ein Mäd­chen, das we­der die Tau­fe der Kir­che noch die des Wis­sens emp­fan­gen hat, das we­der zu le­sen noch zu schrei­ben noch zu be­ten ver­steht, das kei­nen Schritt zu tun ver­mag, ohne dass das Pflas­ter auf­steht, um sie an­zu­kla­gen, das ein­zig be­mer­kens­wert ist durch das ver­gäng­li­che Vor­recht ei­ner Schön­heit, die viel­leicht mor­gen schon eine Krank­heit ver­nich­tet: kann die­ses ver­derb­te, er­nied­rig­te Ge­schöpf, das sei­ne Er­nied­ri­gung kann­te – ohne die­ses Wis­sen und mit we­ni­ger Lie­be wä­ren Sie eher ent­schuld­bar ge­we­sen –, kann die künf­ti­ge Beu­te des Selbst­mords und der Höl­le Lu­ci­en von Ru­bem­prés Frau wer­den?«

Je­der Satz war ein Dolch­stoß, der im in­ners­ten Her­zen traf. Bei je­dem Satz zeug­ten das im­mer sich stei­gern­de Schluch­zen und die reich­li­chen Trä­nen des ver­zwei­fel­ten Mäd­chens für die Ge­walt, mit der das Licht her­ein­brach in ih­ren Ver­stand, der un­be­lehrt war wie der ei­nes Wil­den, in ihre end­lich er­weck­te See­le, in ihr ei­gent­li­ches We­sen, über das die Ver­derbt­heit eine Schicht ko­ti­gen Ei­ses ge­brei­tet hat­te, die jetzt an der Son­ne des Glau­bens schmolz.