Theorie des Gehens - Honoré de Balzac - E-Book

Theorie des Gehens E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Balzacs Essay zur Theorie des Gehens, erstmals 1833 publiziert, zählt zu den bis heute kaum bekannten Schlüsseltexten seines Hauptwerks Die menschliche Komödie. In diesem formal einzigartigen und originellen Text bestimmt der junge Erfolgsautor seinen historisch-anthropologischen Zugriff auf die Gesellschaft seiner Epoche, als deren »Sekretär« er sich hier erstmals bezeichnet. Ausgehend von Beobachtungen an Spaziergängern auf den Pariser Boulevards, entwirft er ein »Gesetzbuch der Gangarten«, dessen Axiome zielsicher vom äußeren auf das innere Leben schließen. Die Gangart eines Menschen gilt als »Physiognomie des Körpers«, die das »Denken im Vollzug« und mit ihm alle menschlichen Tugenden und Laster, Arbeitsgewohnheiten und Krankheiten enthüllt. Auf zugleich unterhaltsame und gelehrte Weise verknüpft Balzac in seinem Essay die Demonstration seiner Methode mit wissenschaftlichen und philosophischen Reflexionen zur Praxis des Beobachtens und der Lage der Humanwissenschaften im Allgemeinen.

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Honoré de BALZAC

Theorie des GEHENS

Herausgegeben, aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Andreas Mayer

FRIEDENAUER PRESSE

Honoré de Balzac

,Druck nach einer Zeichnung von Achille Devéria,mit der Inschrift ›et nunc et semper …‹, ca. 1825.

INHALT

Theorie des Gehens

Anmerkungen

ANHANG

Fragmente und Skizzen zur Theorie des Gehens

Anmerkungen

Eine Stunde aus meinem Leben

Anmerkungen

Nachwort

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Dank

THEORIE DES GEHENS

Worauf, wenn nicht auf ein elektrisches Fluidum, lässt sich jene Wunderkraft zurückführen, mit der der Wille so majestätisch den Blick regiert, um all das zu zerschmettern, was sich den Geboten des Genies widersetzt, oder mit der er, all unseren Heucheleien zum Trotz, durch die Hülle des Menschen dringt?

Geschichte der Ideen von Louis Lambert1

Beim gegenwärtigen Stand menschlicher Erkenntnis stellt diese Theorie nach meinem Dafürhalten die allerneueste Wissenschaft dar und sollte mithin unsere Neugierde vorzugsweise beschäftigen. Sie ist so gut wie unberührt. Ich hoffe die effiziente Ursache2 dieser kostbaren wissenschaftlichen Jungfräulichkeit anhand einiger Beobachtungen aufzeigen zu können, die für die Geschichte des menschlichen Geistes von Nutzen sind. Einer Kuriosität dieser Art zu begegnen war bereits zu Rabelais’ Zeiten eine äußerst schwierige Angelegenheit; doch mag es in der heutigen Zeit noch mehr Mühe bereiten, ihre Existenz zu erklären: Müsste denn nicht alles, Laster wie Tugenden, um sie herum im Schlaf gelegen haben? In dieser Hinsicht hätte Perrault in seinem Dornröschen – ohne ein Ballanche zu sein3 – unwissentlich einen Mythos geschaffen.4 Bewundernswürdiges Privileg jener Männer, deren Genie ganz und gar Naivität ist! Ihre Werke sind fein geschliffene Diamanten, deren Facetten die Ideen aller Epochen widerspiegeln und erstrahlen lassen. Hat nicht Lautour-Mézeray,5 ein Mann von Geist, der sich wie kein anderer auf das restlose Ausmelken eines Gedankens versteht,6 im Gestiefelten Kater den Mythos der Reklame aufgespürt, dieser modernen Großmacht, die mit Dingen spekuliert, deren Gegenwert man in den Kassen der Bank von Frankreich nie und nimmer finden wird, nämlich mit all dem, was noch an Geist im einfältigsten Publikum der Welt, an Leichtgläubigkeit in der ungläubigsten aller Epochen, an Mitgefühl im Innersten des selbstsüchtigsten Jahrhunderts steckt?

Doch muss es nicht in einer Epoche, in der jeden Morgen unzählige Gehirne erwachen, die nach Ideen gieren, weil sie den Geldwert einer Idee abzuwägen wissen; und die es eilig haben auf Ideenjagd zu gehen, weil ja jeder neue Umstand des irdischen Lebens eine ihm eigentümliche Idee hervorbringt; als ein wenig verdienstvoll gelten, auf einem so ausgetretenen Pflaster wie Paris eine Gangart7 zu finden, der sich noch ein Plättchen Gold abringen ließe? Das klingt überheblich; aber bitte verzeihen Sie dem Autor seinen Hochmut: ja noch mehr? gestehen Sie ihm zu, dass er berechtigt ist. Ist es in der Tat nicht wirklich ganz außergewöhnlich festzustellen, dass, seit der Mensch geht, sich niemand je die Frage gestellt hat, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er besser gehen könnte, was er beim Gehen tut, ob es kein Mittel gäbe, seinen Gang zu reglementieren, zu verändern, zu analysieren: Fragen, die alle philosophischen, psychologischen und politischen Systeme betreffen, mit denen sich die Welt seit jeher beschäftigt hat.

Was zum Teufel! hat doch der selige Herr Mariotte8 von der Akademie der Wissenschaften die Wassermenge berechnet, die innerhalb der kleinsten Zeiteinheit unter jedem einzelnen Bogen des Pont Royal hindurchfließt, und dabei die jeweiligen Unterschiede beobachtet, die der Trägheit des Wassers, der Spannweite des Bogens und den atmosphärischen Veränderungen der Jahreszeiten geschuldet sind! Und da sollte es keinem dieser gelehrten Köpfe je eingefallen sein, zu erforschen, zu messen, zu wiegen, zu analysieren, und mithilfe der Binome in Formeln zu fassen, wie viel Fluidum der Mensch durch einen rascheren oder langsameren Gang verliert oder was er an Kraft, Leben, Tun, an jenem unbeschreiblichen gewissen Etwas einsparen könnte, das wir verbrauchen, wenn wir hassen, lieben, uns in der Konversation und in Abschweifungen ergehen! …

O weh! eine Menge von Männern, allesamt ausgezeichnet durch den Umfang ihres Schädels, durch die Schwere und die Windungen ihres Gehirns; in der Mechanik und Mathematik Geschulte schließlich haben Tausende von Theoremen, Sätzen, Lemmata und Korollarien über die eigentümliche Bewegung der Dinge abgeleitet, haben die Gesetze aufgezeigt, nach denen sich die Himmelskörper bewegen, die Gezeiten in all ihrer Launenhaftigkeit erfasst und sie in eine Reihe von Formeln gepfercht, die unbestreitbar die Sicherheit der Schifffahrt gewährleisten; doch niemand, kein Physiologe, kein von Patienten unbehelligter Arzt, kein unbeschäftigter Wissenschaftler, kein Irrer aus der Anstalt von Bicêtre,9 kein über dem Zählen seiner Getreidekörner müde gewordener Statistiker oder irgendein anderes Exemplar der menschlichen Gattung hat je die Gesetze der eigentümlichen Bewegung des Menschen auch nur eines Gedankens für würdig befunden! …

Was! leichter fänden Sie wohl die Abhandlung De pantouflis veterum, die Charles Nodier in seiner pantagruelschen Satire Die Geschichte des böhmischen Königs erwähnt,10 als noch das dünnste Bändchen De re ambulatoria! …

Und dennoch hat schon vor mehr als zweihundert Jahren der Graf Oxenstierna11 den Ausspruch getan:

»Es ist das viele Herumlaufen, das die Soldaten und Höflinge verschleißt!«

Ein fast schon vergessener Mann, der bereits im Ozean jener dreißigtausend Namen von berühmten Männern untergegangen ist, in dem sich mit Müh und Not ein paar hundert Namen über Wasser halten, Champollion,12 hat sein Leben auf das Entziffern der Hieroglyphen verwendet, jenes Übergangs von einer naiv bildhaften Darstellung menschlicher Gedanken zum chaldäischen Alphabet, das von einem Hirten gefunden und von Kaufleuten vervollkommnet worden war; dem nächsten Wechsel von der notierten Lautsprache zum Buchdruck fiel dann das gesprochene Wort unwiderruflich zum Opfer;13 und bei alledem hat niemand je daran gedacht, uns den Schlüssel zu den immerwährenden Hieroglyphen des menschlichen Ganges zu liefern! …

Bei diesem Gedanken ließ ich, nach dem Vorbild Sternes,14 der seinerseits wohl ein wenig Archimedes nachgeahmt hatte, meine Finger knacken, warf meine Mütze in die Luft und rief: »Heureka!« (»Ich hab’s gefunden!«)

Aber warum hat man gerade diese Wissenschaft mit Nichtachtung geehrt? Ist sie nicht ebenso weise, ebenso tiefsinnig, ebenso unseriös und ebenso lächerlich wie alle anderen Wissenschaften auch? Lauert denn nicht etwa ein hübscher kleiner Unsinn, das Fratzenspiel machtloser Dämonen, auf dem Grunde ihrer Schlussfolgerungen? Wird der Mensch hier nicht durchweg einen gar vornehmen Hanswurst abgeben, wie es ihm auch sonst so trefflich gelingt? Wird er nicht auch hier stets einen Herrn Jourdain vorstellen, der Prosa spricht, ohne es zu merken,15 der während er geht keine Ahnung davon hat, welch hochfliegende Fragen sein Gang aufwirft? Warum nur hat der Gang des Menschen den Kürzeren gezogen und weshalb hat man sich lieber mit dem Lauf der Gestirne beschäftigt? Wären wir denn nicht auch hier, ebenso wie in anderen Belangen, glücklich oder unglücklich, je nachdem ob wir (ungeachtet dessen, wie viel jeder Einzelne von uns jeweils von jenem Fluidum mitbekommen hat, das so unpassend Einbildungskraft genannt wird), alles oder nichts über diese neue Wissenschaft wissen?

Armer Mensch des neunzehnten Jahrhunderts! Welche Freuden hast du zu guter Letzt aus der Gewissheit geschöpft, der zufolge du nach Cuvier16 der jüngste Abkömmling in der Abfolge der Arten oder nach Nodiers Ansicht das »progressive Wesen« bist?17 und welche wohl aus dem Nachweis der Tatsache, dass einst Meere die höchsten Berggipfel überfluteten? und welche gar aus der unwiderlegbaren Erkenntnis, die das Prinzip sämtlicher asiatischer Religionen und alles Glück vergangener Zeiten vernichtet, indem sie der Sonne, durch Herschels Stimme, Wärme und Licht abspricht?18 Welchen politischen Ruhezustand hast du aus den in vierzig Jahren Revolution vergossenen Blutströmen herausdestilliert? Armer Mensch! Abhandengekommen sind dir die Marquisen, die Petits Soupers19 und selbst die Académie française; du darfst deine Dienstboten nicht mehr schlagen, und die Cholera hat dich geplagt.20 Wären da nicht Rossini21, die Taglioni22 und Paganini23, würde dir die Unterhaltung abgehen; und dennoch trägst du dich mit dem Gedanken, falls du nicht endlich dem kalten Sinn Einhalt gebietest, der in deinen neuen Institutionen herrscht, Rossini die Hände, der Taglioni die Beine und Paganini seinen Geigenbogen zu brechen. Nach vierzig Jahren Revolution hat Bertrand Barrère24 unlängst die Quintessenz seiner politischen Weisheit folgendermaßen formuliert:

»Stör niemals eine Frau beim Tanzen, um ihr einen Rat zu geben! … «

Diese Sentenz hat man mir gestohlen. Ist sie denn nicht ein wesentlicher Bestandteil der Axiome meiner Theorie?

Sie werden sich fragen, warum so viel Emphase für diese prosaische Wissenschaft, wozu das ganze lärmende Trompetengeschmetter für die Kunst, den Fuß zu heben? Wissen Sie denn etwa nicht, dass sich die Würde einer Sache umgekehrt proportional zu ihrer Nützlichkeit verhält?

So ist diese Wissenschaft denn mein! Als Erster stelle ich hier mein Banner auf, gerade so wie Pizarro, als er mit dem Ausruf »Dies gehört dem König von Spanien!« seinen Fuß auf den Boden von Amerika setzte.25 Er hätte jedoch wohl gut daran getan, noch eine Proklamation zur Amtsausübung der Ärzte anzuhängen.26

In der Tat hat vor mir allerdings bereits Lavater27 gesagt, alles im Menschen sei homogen und darum müsse sein Gang zumindest genauso beredt sein wie seine Physiognomie; der Gang ist die Physiognomie des Körpers. Doch war dies die ganz offensichtliche Schlussfolgerung aus seinem ersten Lehrsatz: Alles in uns entspricht einer inneren Ursache. Mitgerissen von dem gewaltigen Lauf einer Wissenschaft, welche die Beobachtung jedes einzelnen Ausdrucks des menschlichen Denkens zu einer eigenständigen Kunst erhebt, war es ihm nicht möglich, die Theorie des Gehens zu entwickeln, die in seinem großartigen und sehr weitschweifigen Werk nur wenig Raum einnimmt. Daher gilt es die Probleme, die in dieser Sache zu klären sind, erst noch in aller Ausführlichkeit zu studieren ebenso wie die Verbindungen, die diesen Teil der Lebenskraft mit dem Ganzen unseres individuellen, sozialen und nationalen Lebens zusammenschließen.

… Et vera incessu

Patuit dea …

Durch ihren Gang offenbarte sich

als wahrhaft die Göttin.28

Dieses Versfragment Vergils wie im Übrigen auch eine ähnliche Zeile bei Homer,29 die ich aber aus Angst, der Pedanterie gescholten zu werden, nicht zitieren mag, bezeugen die große Bedeutung, welche die Alten dem Gang beimaßen. Wer von uns armen Schülern, denen man Altgriechisch eingepeitscht hat, weiß denn nicht, dass Demosthenes dem Nikobul vorgeworfen hat, er gehe auf ungehobelte Weise, und damit dessen Gang als Beispiel für schlechte Umgangsformen und unziemliches Benehmen einer frechen Redeweise gleichstellte?30

La Bruyère hat über dieses Thema ein paar denkwürdige Zeilen geschrieben; doch haben diese Zeilen keinerlei wissenschaftlichen Wert und zeigen schlicht einen Umstand an, der sich tausendfach in dieser Kunst antreffen lässt: »Bei bestimmten Frauen findet man eine künstliche Größe, die an die Augenbewegungen, an eine Kopfhaltung, an einen gewissen Gang gebunden ist«31 usw.

Nachdem ich all dies als Zeugnis für mein aufrichtiges Bemühen angeführt habe, der Vergangenheit Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, durchstöbern Sie ruhig die Bibliografien, schmökern Sie in den Bibliothekskatalogen und Manuskripten;32 Sie werden, abgesehen vielleicht von einem frisch abgekratzten Palimpsest, am Ende nichts als diese Fragmente finden, die sich nicht weiter um die Wissenschaft als solche bekümmern. Wohl gibt es Abhandlungen über den Tanz und die Mimik; wohl gibt es die Abhandlung Von der Bewegung der Tiere von Borelli;33 des Weiteren ein paar Fachaufsätze von Medizinern, die jüngst von dem wissenschaftlichen Stillschweigen zu unseren bedeutsamsten Lebensvorgängen aufgeschreckt worden sind;34 doch ganz nach Borellis Manier haben sie weniger nach Ursachen geforscht als bloß Tatsachen konstatiert: In dieser Materie ist es offensichtlich schwierig, nicht zu Borelli zurückzukehren, es sei denn, man ist Gott höchstpersönlich. Also nichts Physiologisches, Psychologisches, Transzendentes,35 nichts peripatetisch Philosophisches, rein gar nichts! Darum gäbe ich alles, was ich je gesagt oder geschrieben habe, für die schäbigste Geldschnecke her,36 verkaufte jedoch selbst nicht gegen einen goldenen Globus diese neue Theorie, die so bildhübsch ist wie alles Neue. Eine neue Idee ist mehr als eine Welt; sie gebiert eine ganze Welt, vom Rest ganz zu schweigen. Ein neuer Gedanke! welch ein Reichtum für den Maler, den Musiker, den Dichter!

Damit endet meine Vorrede. Ich fange an.

Eine Idee hat drei Lebensalter. Gelingt es Ihnen, ihr in der ersten fruchtbaren Wärme ihrer Empfängnis Ausdruck zu verleihen, werden Sie Ihre Idee rasch in einem Wurf aufs Papier bringen, der mehr oder weniger glücklich ausfällt, aber zweifelsohne vom Schwunge Pindars beseelt ist. So Daguerre, als er sich zwanzig Tage lang einschloss, um sein bewundernswertes Gemälde der Insel St. Helena zu malen, ein Bild ganz im Geiste Dantes.37

Wenn Sie aber dieses erste Glück der geistigen Zeugung nicht erfassen und der erhabene Paroxysmus des stimulierten Intellekts gar nichts in ebendem Augenblick produziert, da die Geburtswehen den Wonnen der zerebralen Übererregtheit weichen, dann stürzen Sie jäh in ein Schlamassel von zahllosen Schwierigkeiten: Alles versinkt, alles bricht in sich zusammen; Ihre Sinne werden stumpf; der Stoff löst sich auf; Ihre Gedanken ermüden Sie. Die Peitsche Ludwigs XIV., mit der Sie eben noch Ihre Ideen herumkommandiert haben, ist jenen fantastischen Kreaturen selbst in die Hände gefallen; nun sind es Ihre eigenen Ideen, die Sie unterjochen, Sie müde hetzen, Ihnen schallende Ohrfeigen verpassen und denen Sie zu trotzen haben. So sehen wir die Dichter, die Maler, die Musiker spazieren gehen und auf den Boulevards herumflanieren, um einen Spazierstock feilschen und mit alten Truhen handeln, sich in tausend flüchtigen Liebhabereien verlieren, wo sie ihre Idee zurücklassen, so wie man einer Geliebten den Laufpass gibt, deren Liebe und Eifersucht das ihr gebührende Ausmaß übersteigt.

Dann bricht das letzte Lebensalter der Idee an. Sie ist auf fruchtbaren Boden gefallen, hat Wurzeln in Ihrer Seele geschlagen; sie ist in ihr herangereift; und dann, eines Abends oder Morgens, wenn der Dichter sein Halstuch löst, der Maler noch gähnend seine Glieder streckt, der Musiker gerade dabei ist, seine Lampe zu löschen, während er sich noch an eine herrliche Koloratur erinnert, einen schlanken Frauenfuß vor Augen hat oder ihm eine dieser vagen, ungreifbaren Sachen in den Sinn kommt, mit denen man sich beim Einschlafen oder Aufwachen beschäftigt, da gibt sich ihnen plötzlich ihre Idee zu erkennen, in der ganzen Anmut ihrer frischen Triebe, in voller Blüte, die kokette und üppige Idee, von verschwenderischer Pracht, so schön wie eine hinreißend schöne Frau, schön wie ein Pferd ohne Fehl und Makel! In diesem Augenblick schlägt der Maler seine Daunendecke zurück, sofern er eine hat, und ruft:

»Genug! Ich werde mein Bild malen!«

Dem Dichter war nur eine einzige Idee in den Sinn gekommen, und schon sieht er seinen Namen auf der Titelseite seines Werkes prangen.

»Wehe dem Jahrhundert!«, ruft er aus und schleudert einen seiner Stiefel quer durch das Zimmer.38

Das ist die Theorie des Ganges unserer Ideen.

Ohne hier den ehrgeizigen Anspruch dieses pathologischen Forschungsprogramms, dessen systematische Ausarbeitung ich den Dubois und Maygriers des Gehirns überlasse,39 einer Rechtfertigung unterziehen zu wollen, erkläre ich, dass mich die Theorie des Gehens mit allen Freuden der ersten Empfängnis überschüttet hat, der Liebe zur Idee; sodann aber mit allen Sorgen, die ein verwöhntes Kind bereiten kann, dessen Erziehung einen teuer zu stehen kommt und die nichts als dessen Untugenden vervollkommnet.

Wenn ein Mann einen Schatz findet, gilt sein zweiter Gedanke der Frage, durch welchen Zufall er ihn entdeckt hat. Hier also mein Bericht, wo ich der Theorie des Gehens zuerst über den Weg lief und warum niemand vor mir ihrer je gewahr wurde …

Ein Mann verfiel in Irrsinn, weil er zu viel über den Vorgang des Öffnens und Schließens einer Tür grübelte.40 Er unternahm es, den Ausgang menschlicher Auseinandersetzungen mit dieser Bewegung zu vergleichen, die in beiden Fällen vollkommen identisch ist, wenngleich sie jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. In der benachbarten Zelle befand sich ein anderer Irrsinniger, der herauszufinden suchte, ob das Ei vor der Henne da gewesen war oder die Henne vor dem Ei.41 So befragten alle beide Gott, der eine anhand seiner Tür, der andere mittels seiner Henne, doch ohne Erfolg.

Ein Irrer ist ein Mensch, der einen Abgrund sieht und hineinstürzt. Der Wissenschaftler hört ihn fallen, nimmt seinen Messstab, misst die Tiefe, steigt auf einer Leiter hinunter, kommt wieder herauf und reibt sich die Hände, nachdem er der Welt verkündet hat: »Dieser Abgrund ist eintausendachthundertundzwei Fuß tief, die Temperatur auf seinem Grunde ist um zwei Grad wärmer als die unserer Atmosphäre.« Dann lebt er im Kreise seiner Familie. Der Irre bleibt in seiner Zelle. Alle beide sterben sie. Gott allein weiß, ob der Irrsinnige oder der Wissenschaftler der Wahrheit näher gekommen ist. Empedokles war der erste Naturforscher, der diese beiden Positionen gleichzeitig einnahm.42

Es gibt nicht eine einzige unserer Bewegungen, nicht eine einzige unserer Handlungen, die nicht ein Abgrund wäre, in dem selbst der klügste Mann seinen Verstand zu verlieren drohte und der dem Wissenschaftler Gelegenheit böte, seinen Messstab hervorzuziehen und sich an der Vermessung des Unendlichen zu versuchen. Noch im dünnsten Grashalm steckt ein Stückchen Unendlichkeit.

Im Folgenden werde ich mich stets zwischen dem Messstab des Wissenschaftlers und dem Taumel des Irren bewegen. Ich muss daher aufrichtig einen jeden warnen, der mich lesen will: Es erfordert ein gutes Maß an Furchtlosigkeit, sich zwischen diesen beiden Asymptoten aufzuhalten. Diese Theorie konnte nur von einem Mann erdacht werden, der verwegen genug ist, sich dem Irrsinn ohne Furcht und der Wissenschaft ohne Angst zu nähern.

Vorausschickend möchte ich noch anzeigen, wie trivial das allererste Ereignis war, das mich allmählich, auf dem Wege zahlreicher Schlussfolgerungen, zu diesem lycophronischen Spaß veranlasst hat.43 Nur wer erkannt hat, dass die Erde mit Abgründen gepflastert, von Irren zertrampelt und von Wissenschaftlern vermessen ist, wird mir die scheinbare Unsinnigkeit meiner Betrachtungen nachsehen. Ich ergreife hier das Wort im Namen jener Leute, die es gewohnt sind, tiefe Weisheiten in einem herabfallenden Blatt, Probleme riesenhaften Ausmaßes im aufsteigenden Rauch, Theorien in den Schwingungen des Lichts, Gedanken im Gestein und die erschreckendste aller Bewegungen in der Regungslosigkeit zu finden. Ich platziere mich an genau dem Punkt, wo die Wissenschaft an den Wahnsinn grenzt, und kann keine Schutzgeländer anbringen. Nun fahren Sie fort.

1830 kehrte ich aus der herrlichen Touraine zurück, wo die Frauen nicht so schnell altern wie in anderen Gegenden.44 Ich befand mich mitten auf dem großen Hof der Messageries, in der Rue Notre-Dame-des-Victoires, und wartete auf eine Droschke, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, dass ich kurz darauf vor der Wahl stehen sollte, entweder nichtiges Zeug zusammenzuschreiben oder unsterbliche Entdeckungen zu machen. Unter allen Kurtisanen ist die Idee diejenige, die ihren Launen auf die allerunverschämteste Weise frönt: Sie schlägt ihr Bett, mit beispielloser Kühnheit, am Wegesrand auf; legt sich an einem Bordstein zur Ruhe; heftet ihr Nest, der Schwalbe gleich, an ein Fenstersims; und noch bevor Amor seinen Pfeil zücken kann, hat sie schon einen Riesen empfangen, gelegt, ausgebrütet und genährt. Papin wollte nur eben nachsehen, ob seine Suppe Fettaugen hatte, als er ein über seinem dampfenden Kochtopf flatterndes Papierblatt gewahrte und so eine Revolution in der Welt der Industrie auslöste.45 Fust erfand den Buchdruck beim Betrachten der Hufabdrücke seines Pferdes, bevor er es bestieg.46 Die Einfaltspinsel heißen derartige Gedankenblitze Zufälle, ohne zu bedenken, dass der Zufall sich bei den Trotteln niemals einstellt.

Ich befand mich also inmitten jenes Platzes, auf dem die Bewegung herrscht, und beobachtete unbeschwert die verschiedenen kleinen Szenen, die sich dort abspielten, als plötzlich ein Reisender von der hinteren Plattform einer Kutsche ins Fallen geriet, so wie ein aufgeschreckter Frosch, der ins Wasser hüpft. Doch im Moment des Stürzens konnte der Mann seinen Fall auf den Boden dadurch abwenden, dass er seine Hände gegen die Außenwand eines Ladens, neben dem die Kutsche angehalten hatte, ausstreckte und sich dort leicht abstützte. Als ich dies sah, fragte ich mich nach dem Grund. Ein Wissenschaftler hätte wohl geantwortet: »Weil er im Begriff war, sein Gleichgewicht zu verlieren.« Wie aber kommt es, dass der Mensch mit den Kutschen das Privileg teilt, sein Gleichgewicht zu verlieren? Ist ein mit Intelligenz begabtes Wesen nicht in höchster Weise lächerlich, wenn es, aus welchem Grund auch immer, am Boden liegt? Darum lacht das Volk, das am Sturz eines Pferdes Anteil nimmt, stets, sobald ein Mensch hinfällt.

Dieser Mann war ein einfacher Arbeiter, einer dieser frohgesinnten Vorstädter, eine Art Figaro ohne Mandoline und ohne Haarnetz, gutgelaunt selbst noch beim Aussteigen aus der Kutsche, wo doch alle Welt mürrisch wird. Er vermeinte, in der stets anwesenden Menge von Flaneuren, welche die eintreffenden Postkutschen in Augenschein nehmen, einen seiner Freunde zu erkennen, und trat auf ihn zu, um ihm einen Schlag auf die Schulter zu versetzen, nach der Art jener Landjunker ohne viel Benimm, die Ihnen, während Sie gerade in zärtlichen Träumen an Ihre Herzallerliebste schwelgen, auf die Schenkel hauen und Ihnen zurufen: »Na, sind wir auf der Pirsch? …«

In dieser Situation machte nun, aufgrund einer jener Vorhersehungen, die ein Geheimnis zwischen Mensch und Gott bleiben müssen, der Freund des Reisenden ein oder zwei Schritte. Mein Vorstädter fiel, die Hand ausgestreckt, nach vorn zur Wand, an der er sich abstützte; doch erst nachdem er die gesamte Entfernung von der Wand bis zur Höhe, die er im aufrechten Stand mit seinem Kopf erreichte, durchmessen hatte, einen Abstand, den ich mit wissenschaftlicher Präzision mit einem Winkel von neunzig Grad angeben würde. Unter dem Einfluss des Gewichtes seiner Hand war der Arbeiter sozusagen in zwei Hälften zusammengeklappt. Er richtete sich mit gedunsenem und geröteten Gesicht wieder auf, nicht so sehr aus Zorn als aufgrund der unerwarteten Anstrengung.

»Da haben wir«, sagte ich zu mir, »ein Phänomen, das niemand beachtet und das mehr als einen Gelehrten aus seinem gewohnten Revier scheuchen müsste.«47

In diesem Augenblick erinnerte ich mich einer anderen Begebenheit, deren Umstände so gewöhnlich waren, dass ich ihre Ursache noch nie herausgeschält hatte, obwohl sie wundersame Überraschungen birgt. Diese Tatsache bestätigte die Idee, die mich gerade so lebhaft beschäftigte, jene Idee, der die Wissenschaft der Nichtigkeiten heute meine Theorie des Gehens zu verdanken hat.

Diese Erinnerung fällt in die glücklichen Tage meiner Kindheit, in jene Zeit köstlicher Torheiten, wo eine jede Frau uns eine Virginie ist, die wir ebenso tugendhaft lieben wie einst Paul. Später widerfahren uns zahllose Schiffbrüche, bei denen unsere Illusionen, wie im Werk von Bernardin de Saint-Pierre, untergehen; und ans Ufer schleppen wir nur noch eine Leiche.48

In jenen Tagen war das keusche und reine Gefühl, welches ich für meine Schwester hegte, durch kein anderes getrübt und lachend gingen wir beide gemeinsam durchs Leben. Ich hatte drei- oder vierhundert Francs in Münzen in das Nähkästchen getan,49 worin meine Schwester ihre Nadeln, Zwirne und all die kleinen Utensilien aufbewahrte, die für das Handwerk eines jungen, seinem Wesen entsprechend stickenden, nähenden, fädelnden und häkelnden Mädchens unentbehrlich sind.50 Nichtsahnend wollte sie ihr sonst so leichtes Handwerkskästchen aufheben; aber es gelang ihr nicht beim ersten Anlauf, und so hatte sie für das Wegbewegen des Kästchens von seinem Platz eine größere Menge an Kraft und Willen aufzuwenden. Fern jeder Absicht, meine Schwester bloßzustellen, sei es mir dennoch gestattet zu schildern, mit welcher Hast sie das Kästchen öffnete, so groß war ihre Neugierde zu erfahren, wodurch es so schwer geworden war. Ich bat sie daraufhin, das Geld für mich zu verwahren. Mein Verhalten in dieser Sache barg ein Geheimnis und ich muss wohl nicht hinzufügen, dass ich nun gezwungen war, es ihr anzuvertrauen. Ganz gegen meinen Willen nahm ich das Geld wieder heraus, ohne es ihr mitzuteilen. Und zwei Stunden später, als sie ihr Kästchen wieder nehmen wollte, da hob sie es mit einem Ruck fast über ihren Kopf, mit einer Bewegung voller Naivität, die uns in ein großes Gelächter ausbrechen ließ, und ebendiesem herzhaften Lachen ist es wohl zuzuschreiben, dass jene physiologische Beobachtung sich mir so tief ins Gedächtnis eingeprägt hat.

Bei meinem Versuch, diese beiden Fakten, die trotz ihrer Verschiedenheit auf dieselbe Ursache zurückzuführen waren, miteinander in Einklang zu bringen, verfiel ich bald in eine ähnliche Ratlosigkeit wie der Philosoph in der Zwangsjacke, der in so tiefgründigen Reflexionen über seine Tür steckte.

Ich verglich meinen Reisenden mit einem gefüllten Wasserkrug, den ein neugieriges Mädchen51 vom Brunnen heimträgt. Sie späht nach einem Fenster, bekommt von einem Passanten einen Stoß und lässt Wasser aus ihrem Krug überschwappen. Dieser vage Vergleich schien mir grob den unnützen Verlust an Lebensfluidum auszudrücken, der jenem Mann widerfahren war. Und sodann stürzten tausend Fragen auf mich ein, die in den finsteren Tiefen meines Denkens ein ganz und gar fantastisches Wesen an mich richtete, meine bereits geborene Theorie des Gehens. Weiß Gott, mit einem Schlage begannen sich tausend winzige alltägliche Phänomene, die allesamt unsere menschliche Natur betrafen, um meine erste Reflexion herum zu gruppieren und stiegen als geballte Masse in meinem Gedächtnis auf, gleich einem dieser Fliegenschwärme, die sich beim Geräusch unserer Schritte jäh von einer Frucht am Wegesrand entfernen, aus der sie eben noch den Saft saugten.

So erinnerte ich in einem einzigen Augenblick schlagartig und mit einer außergewöhnlichen visionären Geisteskraft:

das Knacken der Finger sowie das Strecken der Muskeln und auch jene Karpfensprünge, die meine Kameraden und ich uns als geplagte Schüler erlaubten, wie all jene, die bei ihren Studien zu lange ruhig verharren: der Maler in seinem Atelier, der Dichter bei seinen Betrachtungen oder die in ihren Fauteuil versunkene Dame;

die gleich der letzten Umdrehung einer ausgebrannten Sonne ganz jäh abbrechenden Kurzstreckenläufe, zu denen jene Herrschaften neigen, die beim Verlassen ihres eigenen Hauses oder eines Freudenhauses von einem großen Glücksgefühl übermannt werden;

die Ausdünstungen, die durch übermäßige Bewegungen hervorgerufen werden und von so nachhaltiger Wirkung sein können, dass Heinrich der III. sein ganzes Leben in Marie de Clèves verliebt war, nur weil er jenes Kabinett betreten hatte, in dem sie mitten auf einem von Katharina von Medici veranstalteten Ball gerade ihr Hemd wechselte;52

die wilden Schreie, die manche Personen ausstoßen, weil sie von einem unerklärlichen Bewegungsdrang getrieben werden oder sich vielleicht ihrer überschüssigen Energien zu entledigen haben;

das spontane Bedürfnis, irgendetwas zu zertrümmern oder auf irgendjemand einzuschlagen, wie es uns vor allem im Augenblick größter Freude überkommt, die Odry in seiner Rolle als Hufschmied in L’Eginard de campagne so hinreißend aussehen lässt, wenn er mitten in einem Lachanfall seinem Freund Vernet auf die Schulter klopft und ausruft: »Mach, dass du fortkommst, oder ich schlag dich tot!«53

Schließlich blitzten in meinem Geist eine Fülle bereits früher angestellter Beobachtungen auf und marterten diesen so heftig, dass ich so zerstreut wurde wie Monsieur Ampère54 und weder an meine Pakete noch an meinen Wagen denkend nach Hause ging, ganz und gar eingenommen von dem erhellenden und belebenden Prinzip meiner Theorie des Gehens. Ich ging meines Wegs, in tiefer Bewunderung für eine Wissenschaft, von der ich außerstande war zu sagen, welcher Art sie sei, ich schwamm in dieser Wissenschaft wie ein Mann im Meer, der um sich herum das große Wasser zwar sieht, aber doch nicht mehr als einen Tropfen davon in der hohlen Hand aufzufangen vermag.

Meine übermütige Idee erfreute sich ihres ersten Lebensalters.

Allein gestützt auf die Intuition, die uns mehr Eroberungen eingebracht hat als alle Sinus- und Kosinusberechnungen der Wissenschaft, und ohne mich um die erforderlichen Beweise zu scheren noch darum, »was die Leute wohl sagen werden«, kam ich zu dem Schluss, dass der Mensch befähigt ist, mittels sämtlicher durch seine Bewegung verursachten Akte eine bestimmte Menge an Kraft zu verströmen, die irgendeine Wirkung in seiner Tätigkeitssphäre erzeugen müsste.

Welche Erleuchtung brachte doch diese einfache Formel!

Sollte der Mensch das Vermögen besitzen, die Wirkung dieses konstant auftretenden Phänomens, das er keines Gedankens würdigt, gezielt einzusetzen? Wäre es ihm möglich, das unsichtbare Fluidum, über das er unwissentlich verfügt, aufzusparen und anzusammeln, wie der Tintenfisch mit seiner Tintenwolke, in der er sich verbirgt? Hat Mesmer, den man in Frankreich als Scharlatan traktiert hat, recht oder unrecht?55

Fortan umfasste der Begriff BEWEGUNG für mich das DENKEN als die reinste Aktivität des Menschen; dann das WORT als Übertragung seiner Gedanken; und schließlich den GANG und die GEBǞRDE als mehr oder weniger von den Leidenschaften beherrschte Umsetzungen des WORTES. Diesem mehr oder weniger intensiven Verströmen von Lebensenergie und der jeweils besonderen Art, wie der Mensch sie einsetzt, entstammen jene Wunderwerke der Berührung, denen wir Paganini, Raffael, Michelangelo, den Gitarristen Huerta,56 die Taglioni, Liszt zu verdanken haben, Künstler, die ihre Seele durch Bewegungen verströmen, deren Geheimnis nur sie allein kennen. Den vielgestaltig wechselnden Gedanken in der Stimme, durch welche die Seele uns am unmittelbarsten berührt, entspringen die Wunder der Beredsamkeit und die himmlischen Zauber der Gesangsmusik. Ist das gesprochene Wort nicht in gewisser Weise die Gangart von Herz und Hirn?

Da ich nun den GANG als Ausdruck der Körperbewegung und die Stimme als Ausdruck der geistigen Bewegung begriff, schien es mir unmöglich, dass man die Bewegung zum Trug gebrauchen könnte. Unter diesem Aspekt musste eine vertiefte Untersuchung des GANGES zu einer vollständigen Wissenschaft führen.

Galt es nicht mathematische Formeln zu finden, um anzugeben, wie viel an Seele eine Sängerin durch ihre Koloraturen verausgabt und welche Menge an Energie wir durch unsere Bewegungen vergeuden? Was wäre das doch für ein Triumph, dem gelehrten Europa eine Arithmetik des moralischen Menschen an den Kopf werfen zu können, welche die Lösungen bedeutender psychologischer Probleme enthielte, wie etwa der folgenden:

Die Kavatine Di tanti palpiti57 verhält sich zum Leben der Pasta58wie 1 zu X.

Verhalten sich die Füße Vestris’59 zu seinem Kopf wie 100 zu 2?

Verhielt sich die Verdauungstätigkeit von Ludwig XVIII. zur Dauer seiner Herrschaft wie 1814 zu 93?

Hätte mein System schon früher existiert und hätte man zwischen 1814 und 93 nach mehr Gleichheit in den Anteilen gesucht, Ludwig XVIII. regierte vielleicht noch heute.

Wie viele Tränen vergoss ich nicht über dem Tohuwabohu meiner Erkenntnisse, aus dem ich bisher nur armselige Erzählungen geschöpft hatte, während daraus eine Physiologie der Menschheit hätte erstehen können! Würde ich wohl imstande sein, die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, nach denen wir mehr oder weniger Kraft von unserem Inneren aus in unsere Extremitäten senden; herauszufinden, wo Gott in uns den Dreh- und Angelpunkt dieser Fähigkeit platziert hat; die Phänomene zu bestimmen, die dieses Vermögen in der Atmosphäre erzeugt, die ein jegliches Lebewesen umgibt?

In der Tat, falls zutreffen sollte, was uns das größte analytische Genie versichert – ich meine jenen Mathematiker, der an den Pforten des Heiligtums Gott am andächtigsten gelauscht hat –, dass nämlich eine an der Mittelmeerküste abgefeuerte Pistolenkugel eine noch an den Gestaden Chinas fühlbare Bewegung auslöst,60 ist es dann nicht wahrscheinlich, dass wir durch einen von uns freigesetzten Überschuss an Kraft entweder die Beschaffenheit der uns umgebenden Atmosphäre verändern oder dass wir, durch die Wirkungen dieser lebendigen, ihren Raum einfordernden Kraft, notgedrungen einen Einfluss auf die mit uns in Berührung stehenden Wesen und Dinge ausüben?

Was schleudert der Künstler wohl in die Luft, wenn er seine Arme schüttelt, nachdem er einen hehren Gedanken geboren hat, der ihn lange Zeit bewegungslos verharren ließ? Wohin verflüchtigt sich die Kraft, die aus der nervösen Frau entweicht, wenn sie nach vergeblichem Warten auf etwas, das sie nicht gern allzu lange ersehnt, ihre zugleich zarten und kräftigen Halswirbelknochen knacken lässt und aufgeregt die Hände ringt?

Woran starb schließlich jener Kraftprotz von der Markthalle, der im Übermut des Rausches bei einer Wette am Hafen ein Fass Wein hob; und der, nachdem die Herren Ärzte vom Hôtel-Dieu ihn säuberlich geöffnet, untersucht und Stück für Stück zerschnipselt hatten, ihre ganze Wissenschaft um ihren Lohn brachte, ihrem Skalpell ein Schnippchen schlug und ihrer Wissbegierde Hohn sprach, da er weder an seinen Muskeln noch an seinen Organen, weder an seinen Sehnen noch an seinem Gehirn die geringste Verletzung erkennen ließ? Vielleicht hat sich Monsieur Dupuytren,61 der doch stets Bescheid weiß, warum der Tod eintritt, zum ersten Mal die Frage gestellt, weshalb in diesem Körper kein Leben mehr war. Der Krug war geleert.