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Journalisten? Hohle Schwätzer und vorlaute Kläffer! Zeitungsmacher? Elende Opportunisten! Kritiker? Perfide Ignoranten! Für Balzac waren Presseleute so ziemlich das Letzte. In seinem Bestiarium der Pariser Journaille, hier erstmals ins Deutsche übersetzt, wagt der Autor einen satirischen Rundumschlag – respektlos, böse und herrlich einseitig.
Die Herren von der schreibenden Zunft haben in Balzacs Augen samt und sonders etwas maliziös Wankelmütiges, sind offen korrupt oder von eherner Prinzipienlosigkeit. Angelehnt an die zoologische Artenbestimmung knöpft er sich in seiner Typenlehre nun sämtliche Gestalten der Pressewelt vor: den Leitartikler, den Vulgarisator, das Faktotum, den Lobhudler, den Monothematiker, den Sektierer, den Mann fürs Grobe und was sonst alles über die Flure von Zeitungsredaktionen kreucht und fleucht. Die kritische Inventur des modernen Journalismus ist ein origineller Sidekick in der aktuellen Debatte um die Rolle der Medien. Ergänzt wird die heitere Philippika durch Balzacs Appell an Schriftsteller, ihr Urheberrecht zu verteidigen.
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Seitenzahl: 273
HONORÉ DE BALZAC
Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken
Die schrägen Typen der Journaille
Herausgegeben
und aus dem Französischen übersetzt
von Rudolf von Bitter
MANESSE VERLAG
ZÜRICH
TYPENLEHRE DER PARISER PRESSE
(Monographie de la presse parisienne)
Mit einer synoptischen Tafel
der Klasse der Schriftsteller
HINWEIS FÜR RAUBDRUCKER
Nachdem sich das Volk der Schriftsteller (wie das der Schausteller) in einem Verband zum Schutz seines Eigentums zusammengeschlossen hat, musste dabei herauskommen, was in Frankreich bei vielen Institutionen herauskommt, nämlich ein Widerspruch zwischen Absicht und Ergebnis: Geistiges Eigentum wird mehr denn je gestohlen. Und da Frankreich mittlerweile genauso belgisch ist wie Brüssel,1 sehen wir Verleger, die wir noch dem allgemeingültigen Recht unterstehen, uns genötigt, schlicht zu erklären:
– dass Die Typenlehre der Pariser Presse unser Eigentum ist,– dass deren Registrierung ordnungsgemäß erfolgt und– dass jede anderweitige Veröffentlichung dieses Werks bestraft wird, weil ein Nachdruck im Namen des Autors ausdrücklich untersagt ist.Wir haben gehört, wie Victor Hugo mit der ihm eigenen Beredsamkeit einen Gedanken durchspielte, dessen Wiedergabe wir wie folgt riskieren:
Frankreich hat zwei Gesichter. So außerordentlich militärisch es sich zu Zeiten des Krieges aufführt, so machtvoll gibt es sich im Frieden kraft seiner Ideen. Die Feder und das Schwert sind seine bevorzugten Waffen. Frankreich ist erfinderisch, denn es verfügt über geistige Fähigkeiten; es ist künstlerisch, denn die Kunst ergänzt die Literatur; es treibt Handel, stellt her, baut an, weil eine Nation ihre Erzeugnisse hervorbringen muss wie eine Seidenraupe ihren Kokon. Doch auf diesen drei Gebieten hat es Rivalen, die ihm zurzeit noch überlegen sind, obwohl seine Armeen fünfzehn Jahre gegen die ganze Welt gekämpft haben und es dank der Macht seiner Gedanken die moralische Vorherrschaft hält.
Die Engländer haben eine reizende Redewendung für die Notwendigkeit, von sich selbst zu reden: Offenbar habe jemand, sagen sie, «seine Trompeter verloren».
Victor Hugo sprach für Frankreich.
Ist es nicht ein Jammer, dass die derzeitige Regierung mit ihrer Achtlosigkeit gegenüber der Literatur unseren großen Dichter so weit gebracht hat auszusprechen, was in Europa allenfalls gedacht werden durfte?
Wenn Frankreichs Federn eine solche Macht haben, ist es Zeit, das Volk der Schriftsteller (wie das der Schausteller) kritisch zu erfassen.
Und muss man nicht an die Spitze dieses Volkes die Ordnungen Publizist und Kritiker stellen, die mit ihren Gattungen und Arten die Pariser Presse ausmachen, diese gewaltige Macht, deren Niedergang durch die Unfähigkeit der Regierung regelmäßig hinausgezögert wird?
Grundsatz
Man richtet die Presse zugrunde, wie man eine Gesellschaft zugrunde richtet: indem man ihr alle Freiheit lässt.
Für diese Abhandlung vom Zweihänder in Gesellschaft haben wir unsere Aufmerksamkeit besonders jenem Bereich gewidmet, dem die Zoologie ihre Typenlehre über Ringelwürmer, Mollusken und Maden verdankt und dem es an eigenartigen Wesensformen gar nicht mangeln kann. Wir hoffen, dass dieses Stück sozialer Naturgeschichte in anderen Ländern mit einigem Vergnügen gelesen wird, zumal seine kräftige Bildsprache einer Ikonografie2 alle Ehre machen dürfte.
ALLGEMEINE EIGENSCHAFTEN
Das Wichtigste am Charakter jener beiden Ordnungen Publizist und Kritiker ist, dass sie keinen haben. Die Exemplare der Gattung Publizist mit eigenem Ressort(machen Sie es dabei wie die Regierung, kommen Sie bei gegebenem Anlass darauf zurück), die sich irgendetwas in der Art bewahrt haben sollten, besitzen aber auch nicht einen Hauch davon. Sonst genügten sie in einem ganz wesentlichen Punkt nicht den Bedingungen der französischen Politik, die sich jeder Bewertung entzieht und sich, bar allen Sinns, wie sie ist, der Philosophie anempfiehlt. Allerdings sind innerhalb der Ordnung der Publizisten einige Individuen bemerkt worden, die immer dasselbe schreiben und stets denselben Artikel wiederholen, weil ihnen sonst nichts einfällt, und die darum im Ansehen stehen, Charakter zu haben. Es sind Besessene, deren harmloser Wahn den gläubigen Abonnenten einlullt und den selbstdenkenden Abonnenten belustigt. Sollten Fremde sich darüber wundern, müssen sie sich unseren Nationalcharakter vor Augen halten, der bei Mensch und Amt dieselbe Wirkung zeitigt. In Frankreich findet das Publikum Leute mit Überzeugungen langweilig und geistig bewegliche Menschen charakterlos. Dieses Dilemma, dem die Exemplare unserer beiden Ordnungen ständig ausgesetzt sind, macht ihre Lage höchst prekär. Wenn ein geistreicher Autor wie eine schmierige Fliege von Zeitung zu Zeitung wechselt, sich also nacheinander royalistisch, regierungstreu, liberal und dann wieder regierungstreu gibt und insgeheim für alle Blätter gleichzeitig weiterschreibt, so sagt man von ihm: «Das ist ein Mann ohne Haltung!» Wenn sich einer zum liberalen Kuckuck, zum humanitären Kuckuck oder zum Oppositionskuckuck macht und seine Melodie nicht variiert, so sagt man von ihm: «Der ist langweilig.» So finden sich die geistreichsten Exemplare letztlich bei den Nihilogen und bei den Monothematikern. Diese zwei Gattungen entziehen sich dem drohenden Dilemma, indem sie unlesbar schreiben. (Darauf kommen wir, wie die Regierung, später zurück.)
Was ihre äußere Erscheinung angeht, so fehlt es diesen Geschöpfen ganz allgemein an Wohlgestalt, obwohl sie sich mittels Lithografie und Gips, mit Statuetten und falschen Haarteilen zu Charakterköpfen stilisieren. Fast alle entbehren jener Umgangsformen, die die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ihrem Verkehr in den Salons verdankten, wo sie gefeiert wurden. Die heutigen leben isoliert dank ihrer Einbildung und kennen einander kaum aus Angst vor schlechtem Umgang. Ihr Einzelgängertum hindert aber nicht alle Exemplare, neidisch auf die Stellung, das Talent, das Glück und die persönlichen Vorteile ihrer Artgenossen zu blicken. Das heißt, dass ihr wildes Verlangen nach Gleichmacherei just daher rührt, dass sie untereinander die verletzendsten Ungleichheiten anerkennen.
1 Belgien war zu Balzacs Zeit das Zentrum des Raubdrucks.
2 Ursprünglich die klassische Porträtkunde der Antike.
Erste Ordnung
DER PUBLIZIST
Acht Gattungen:
a) Der Journalist
b) Der Politiker
c) Der Pamphletist
d) Der Nihiloge (auch: Vulgarisator)
e) Der Publizist mit eigenem Ressort
f) Der Monothematiker
g) Der Übersetzer
h) Der Autor mit Überzeugungen
Publizist3 – dieses Wort, das früher große Autoren wie Grotius, Pufendorf, Bodin, Montesquieu, Bentham, Mably, Savary, Smith und Rousseau4 vorbehalten war – ist nunmehr zur Bezeichnung all jener Schreiberlinge geworden, die Politik machen. Aus dem einstigen erhabenen Vermittler, Propheten und guten Hirten der Gedanken ist heute ein Mann geworden, der sich mit dem Treibholz der Aktualität abgibt. Bildet sich auf den politischen Organen ein Pickel, kratzt der Publizist ihn auf, knetet ihn, drückt ihn aus und zapft daraus ein Buch, das nicht selten eine Irreführung ist.
Die Publizistik war einmal ein großer konzentrischer Spiegel. Die Publizisten von heute haben ihn in Stücke zerlegt, und jeder von ihnen hat eins davon, um damit in den Augen der Masse zu glänzen. Anhand dieser verschiedenen Scherben ergeben sich folgende Gattungen:
3 Zu Balzacs Zeit Bezeichnung für politische Journalisten.
4 Alle hier und im Folgenden genannten Personen werden im Namenverzeichnis des Anhangs erklärt.
a) Der Journalist
Fünf Arten:
Der geschäftsführende Chefredakteur-Eigentümer-Direktor Der Tenor Der Schreiber von Hintergrundartikeln Das Faktotum Die KämmerlingeErste Art:Der geschäftsführende Chefredakteur-Eigentümer-Direktor
Diese possierliche Spezies ist der Graf Gernegroß5 des Journalismus. Als Publizist dessen, was er nicht schreibt – wie die anderen die Publizisten dessen sind, was sie zu viel schreiben –, hat diese Gestalt, mit jeweils immer einem der Gesichter ihrer vier Funktionen, etwas vom Besitzer, vom Krämer, vom Spekulanten an sich, und da er zu nichts taugt, erweist er sich als geeignet für alles. Aus diesem ehrgeizigen Eigentümer machen Redakteure einen ungeheuer wichtigen Mann, der entweder Präfekt oder Staatsrat, Steuerverwalter oder Theaterintendant werden will und es irgendwann auch werden wird, sofern er Verstand genug hat, zu bleiben, was er ist: Portier des Ruhms, Sprachrohr der Spekulation und Maskottchen der Wählerschaft. Nach Belieben winkt er die Artikel durch oder lässt sie im Stehsatz Wurzeln schlagen. Er kann ein Buch, eine Sache, einen Mann durchsetzen, und ebenso gut kann er den Mann, die Sache, das Buch, je nachdem, ruinieren.
Dieser Rattenfänger jeder Zeitung tritt als ihre Seele auf, und natürlich berät sich jede Regierung mit ihm. Daher seine Bedeutung. Weil er gezwungenermaßen auch mit den Autoren spricht, kommt er mit Gedanken in Berührung, scheint über Weitblick zu verfügen und gibt sich das Ansehen einer echten Persönlichkeit. Entweder ist er stark, oder er ist geschickt, und sein innerster Antrieb ist eine Tänzerin, eine Schauspielerin oder eine Sängerin, manchmal auch seine Ehefrau, die verborgene wahre Macht der Zeitung.
Grundsatz
Alle Blätter haben als Steuerruder, ganz wie früher die Monarchie, einen Unterrock aus Krinoline.
Es hat nur einen einzigen (bereits verstorbenen) Zeitungsdirektor im eigentlichen Sinne gegeben. Dieser Mann war gebildet, er war klug, er war witzig; also schrieb er nie etwas. Die Redakteure kamen jeden Morgen zu ihm, um sich die Ausrichtung der zu verfassenden Artikel kundtun zu lassen. Diese Persönlichkeit war frei von Ehrgeiz: Er machte Männer zu Senatoren, Ministern, Akademiemitgliedern, Professoren, Botschaftern und schuf so eine Dynastie, ohne etwas für sich selbst zu wollen; er lehnte den Besuch eines Königs ab, alles, sogar das Kreuz der Ehrenlegion. Als alter Mann war er leidenschaftlich; als Journalist hatte er nicht immer die Meinung seines Blatts in petto. Alle Zeitungen von heute mitsamt ihren Redakteuren und Eignern gäben nicht einmal das Kleingeld ab für diesen Kopf.
Um Direktor-Chefredakteur-Eigentümer-Geschäftsführer einer Zeitung zu werden, genügt es nicht, außer Ausbildung und Kenntnissen ein paar Hunderttausend Franc und Protektion im Rücken zu haben: Es bedarf dazu noch günstiger Umstände, eines rücksichtslosen Willens und einer Art theatralischer Begabung, woran es Leuten von Talent häufig mangelt. Deshalb gibt es in Paris viele, die ihren eigenen Machtverlust erlebt haben. Die Zeitungswelt hat ihre glücklosen Hernando Cortés6 wie die Börse ihre Exmillionäre. Aus dem Verhältnis unternommener Versuche zum Mangel an Erfolg erklärt sich die schrecklich hohe Anzahl trister Mienen, die sich zur Promenade auf dem Boulevard sehen lassen. Seit 1830 sind nicht weniger als fünfzig Zeitungen im Kampf um die Leser eingegangen, was einem verlorenen Kapital von etwa zehn Millionen entspricht. Wir sahen, wir sehen noch immer Zeitungen, die in Paris mit dem Vorsatz gegründet werden, die alten zu verdrängen, indem sie in allen Belangen unter dem Niveau der Blätter liegen, die ausgestochen werden sollen. Der Exdirektor-Chefredakteur-Eigentümer-Geschäftsführer ist kein Mensch mehr, auch kein Ding, er ist der verachtete Schatten eines Fötus der Geltungssucht.
Es gibt drei Unterarten des Eigentümer-Direktor-Chefredakteurs:
– den Ehrgeizigen– den Geschäftsmann– das VollblutDer Ehrgeizige gründet eine Zeitung, weil er sich für ein politisches System einsetzen will, von dessen Sieg er etwas hätte oder weil er Politiker werden will, indem er anderen Angst einflößt. Der Geschäftsmann sieht in einer Zeitung eine Kapitalanlage, die sich ihm in Form von Einfluss, Vergnügungen und manchmal Geld verzinst. Das Vollblut ist einer, der sich zur Geschäftsführung und zu jener Machtausübung berufen fühlt, die sich gerne der Intelligenz bedient, ohne dabei die Gewinne seiner Zeitung zu verschmähen. Die beiden anderen machen aus ihrem Blatt ein Mittel zum Zweck, während es für das Vollblut Schicksal ist, sein Heim, seine Lebensfreude, sein Reich: Die anderen werden zu Persönlichkeiten, das Vollblut lebt und stirbt als Journalist.
Die Zeitungseigentümer-Chefredakteur-Direktor-Geschäftsführer sind gierige Routiniers. Wie die Regierung, die sie angreifen, haben sie und ihre Blätter Angst vor Veränderungen, und oft gehen sie daran zugrunde, dass sie weder die notwendigen Ausgaben getätigt haben noch mit dem Fortschritt der Aufklärung mithalten.
Grundsatz
Jede Zeitung, die ihre Abonnentenzahl nicht steigert, wie hoch diese auch sei, befindet sich im Niedergang.
Um sich dauerhaft zu halten, muss eine Zeitung aus einer Gruppe talentierter Leute bestehen, sie muss Schule machen. Wehe den Zeitungen, die sich auf nur ein einziges Talent verlassen!
Ist der Direktor eifersüchtig auf die Talente, derer er bedarf, umgibt er sich zumeist mit Mittelmäßigen, die ihm schmeicheln und mit denen seine Zeitung billig wird. Auch die bestgemachte Zeitung von Paris lässt sich so zugrunde richten.
Zweite Art:Der Tenor
Den Quark, der sich täglich am Kopf einer Zeitung zu befinden hat und ohne den die Intelligenz der Abonnenten mangels Nahrung abnähme, bezeichnet man als Aufmacher. Der Verfasser des Aufmachers gilt als Tenor der Zeitung, denn er ist – oder bildet sich zumindest ein, es zu sein – tonangebend und bringt die Abonnenten wie der Tenor in der Oper die Abendeinnahmen. In diesem Metier ist es schwierig, sich nicht verbiegen zu lassen und mittelmäßig zu werden. Hier der Grund:
Abgesehen von Nuancen gibt es für die Aufmacher nur zwei Schablonen: die Oppositionsschablone und die Regierungsschablone. Daneben existiert durchaus auch noch eine dritte Schablone, aber wir werden sehen, warum sie selten Anwendung findet. Was auch immer die Regierung sagt oder tut, der für die oppositionellen Aufmacher zuständige Redakteur muss widersprechen, tadeln, nörgeln, Ratschläge erteilen. Was auch immer die Regierung sagt oder tut, der für die regierungstreuen Aufmacher zuständige Redakteur ist gehalten, sie darin zu bestärken. Hier ständige Ablehnung, dort ständige Zustimmung, einmal abgesehen vom Ton, der die Prosa jeder Parteiströmung färbt, denn innerhalb jeder Partei gibt es weitere Unterparteien. Nach einigen Jahren haben die Schreiber beider Seiten Schwielen am Verstand; sie haben sich eine bestimmte Sichtweise zu eigen gemacht und zehren von einer gewissen Menge an vorgefertigten Sätzen.
Ist ein Mann, der in diese Tretmühle geraten ist, zufällig ein herausragender Kopf, dann befreit er sich davon; bleibt er, landet er im Mittelmaß. Allerdings gibt es allen Anlass zu vermuten, dass die Verfasser von Aufmachern von Haus aus mittelmäßig sind und noch mittelmäßiger werden über dieser öden und sterilen Arbeit, bei der sie viel weniger damit beschäftigt sind, eigene Gedanken auszudrücken als vielmehr die der Mehrheit ihrer Abonnenten. Wissen Sie, welche Art Menschen in einer Masse die Mehrheit bildet?
Diese Quarkschläger brillieren also in der Kunst, nichts zu sein als eine weiße Leinwand, auf der sich die Gedanken ihres Abonnenten wie chinesische Schatten abzeichnen. Der Tenor einer Zeitung treibt mit seinem Abonnenten ein lustiges Spiel. Zu jedem Ereignis bildet sich der Abonnent seine Meinung und schläft mit dem Gedanken ein: «Morgen werde ich sehen, was meine Zeitung dazu sagt.» Der Aufmacher, der nichts anderes ist als der andauernde Enträtselungsversuch der Abonnentenmeinung, überrascht diesen am nächsten Morgen angenehm, indem er ihm die eigenen Gedanken zum Frühstück serviert. Und der Abonnent honoriert dieses Ich meine was, was du dann auch meinst mit zwölf oder fünfzehn Franc pro Quartal.
Stil wäre ein Missgriff bei diesen Saucen, in die man die Ereignisse tunken muss, um die Leser bei der Stange zu halten, die dann sehen, wo es langgeht. Aber wer wäre denn imstande, jährlich sechshundert Kolumnen zu schreiben, die eines Jean-Jacques, Bossuet oder Montesquieu würdig wären, voller Sinn und Vernunft, kraftvoll und anschaulich? … Außerdem durchströmt die Aufmacher ein genauso konventioneller Phrasenfluss wie die konventionellen Reden auf der Tribüne. Niemand getraut sich, die Dinge beim Namen zu nennen. Weder die Opposition noch die Regierung schreiben Geschichte. Die Presse ist nicht so frei, wie es sich das französische und ausländische Publikum im Nachhall des Begriffs der Pressefreiheit vorstellt. Es gibt Sachverhalte, die man unmöglich benennen kann, und auch bei Fakten ist eine gewisse Zurückhaltung geboten. So war das von Pascal so sehr stigmatisierte Jesuitentum7 durchaus weniger scheinheilig als die Presse. Zu ihrer Schande ist die Presse nur frei im Umgang mit den Schwachen und Vereinzelten.
Was den Autor von Aufmachern zugrunde richtet, ist sein Inkognito: Der Aufmacher bleibt unsigniert. Der Tenor der Presse ist in Wirklichkeit der condottiere8 des Mittelalters. Wir haben miterlebt, wie Monsieur Thiers während der Koalition die Feuerkraft von fünf Aufmachern in Sold nahm und lenkte.9
Der Aufmacher klingt stolz; sein Autor glaubt, er spreche zu Europa, und er glaubt, Europa höre auf ihn. Stirbt einer der Tenöre, kann kein Mensch etwas mit dem Namen des bekannten Publizisten anfangen, den alle Blätter beweinen.
Die Genialität oder, wenn Sie es damit schon bewenden lassen wollen, der Verstand besteht in der Politik darin, alle Seiten eines Sachverhalts im Auge zu behalten, die Tragweite eines Vorkommnisses, das Vorkommnis bereits anhand seiner Ursachen vorherzusehen und Schlüsse zum Nutzen der nationalen Politik zu ziehen; allerdings würde ein Autor, der seine Aufmacher nach dieser dritten Schablone schüfe, die Abonnenten seiner Zeitung in die Flucht schlagen. Je mehr eine Redaktion auf Pitt oder Montesquieu macht, desto weniger Erfolg hat sie (siehe auch unter Nihiloge). Das würde nur von denen verstanden, denen die Fakten genügen und die keiner Zeitung bedürfen. Das Blatt mit den meisten Abonnenten ist also das, das der Masse am ähnlichsten ist: Urteilen Sie selbst!
Nachdem er so wenig darstellt, erfüllt den Autor von Aufmachern ein großer Dünkel: Er hält sich für unentbehrlich! Und er ist es auch: dem Unternehmen in Sachen bedrucktes Papier, das den Spekulanten diese oder jene Summe einbringt. Jawohl, nicht jeder, der es gern wäre, ist ein Autor von Aufmachern! Man muss die jesuitische Rhetorik des Publizierens beherrschen. Hier verurteilt das Gericht einen schlichten klaren Satz und lässt das Geschwafel gelten. Lassen Sie Ihre Gedanken auf Krücken wanken, und die Richter halten Sie für liberal; kommen Sie dagegen geradewegs zur Sache, sind Sie ein Aufwiegler. Sie sagen: «Die Pairs10 haben ihr eigenes Ansehen beschädigt!», und Sie zahlen zehntausend Franc Strafe und sind schuld daran, dass der Geschäftsführer der Zeitung für zwei Monate in Haft kommt.
Fügen Sie aber nach scharfer Kritik an den Beschlüssen des Parlaments noch hinzu:
In Wahrheit stehen wir doch den Institutionen, mit denen unser Land die neue Dynastie umgibt, viel zu nahe, um zu verschweigen, dass wir, wenn wir weiter in dieser Richtung gehen, Einbußen an Ansehen und Ehre gewärtigen müssen usw.
… dann werden Justiz, Kabinett und Thron nicht das Geringste einzuwenden haben.
Es gibt in Paris Meister der Pointe, die zu jedem beliebigen Ereignis schon im Voraus die bedeutendsten Aufmacher schreiben können. Hat sich zum Beispiel über den Ozean der Politik platte Ruhe gebreitet und trifft dann folgende schreckliche Nachricht aus Augsburg ein11 (Augsburg ist für den Journalismus, was Nürnberg für die Kinder ist: ein Markt für Spielartikel):
Wie verlautbart, hat die englische Gesandtschaft anlässlich der Durchreise Lord Willgouds durch Galucho (Brasilien) ein Diner ausgerichtet, zu dem das gesamte diplomatische Corps geladen war, mit Ausnahme des französischen Konsuls. Diese Übergehung ist unter den derzeitigen Umständen bezeichnend.
… dann wirft sich als Erstes die République12 mit folgendem Aufmacher in die Bresche:
Wäre der Geist von Unterwürfigkeit und Korruption nicht die einzige Antriebskraft des derzeitigen Systems, wäre es nicht sein einziges Ziel, Frankreich in den Augen des Auslands zu diskreditieren, dann könnte man tatsächlich staunen über eine so niederträchtige Selbstgefälligkeit, über eine solche Unverschämtheit in der Beschämung, solch einen feigen Mut! Eine Meldung der gestrigen Ausgabe der Augsburger Allgemeinen Zeitung hat unseren vaterländischen Stolz zutiefst verletzt; und bei der Wiedergabe dieser Meldung heute Morgen scheint kein Blatt der Regierung geahnt zu haben, was für einen Sturm der Entrüstung sie bereits im Land entfacht hat. Anlässlich der Durchreise Lord Willgouds durch Galucho (Brasilien) gab die englische Gesandtschaft dieses Ortes ein Bankett zu Ehren des Admirals, und zu diesem Essen für Diplomaten hat man von allen ausländischen Vertretern allein den französischen Konsul nicht eingeladen. «Er war erkrankt», fügt die Allgemeine ironisch hinzu. Oje!, wir wissen nur zu gut, dass die traurigen Gestalten, die Frankreich regieren oder repräsentieren, stets sterbenskrank sind, wenn es darum geht, das Ansehen des Landes zu wahren, dessen Bestimmung sie untergraben. Ganz und gar mit ihren persönlichen Intrigen beschäftigt, mit ihrem peinlich krämerischen Geschachere und ihren skandalösen Gefälligkeiten zugunsten der eigenen Partei, wird die Regierung diese abermalige Beleidigung unter dem Eindruck der nächsten in Vergessenheit geraten lassen, und so ist unser Land wieder einmal gezwungen, diesen unverschämten Affront seines geschätzten Verbündeten, des perfiden Albion, stillschweigend hinzunehmen. […]13
Am Morgen danach entfaltet sich sodann die Dynamik einer Walze vom Gewicht der vierzigtausend Abonnenten, die zu lesen bekommen:
Unter Schmerzen müssen alle mündigen und engagierten Staatsbürger mitansehen, wie sich die Regierung von Tag zu Tag mehr und mehr dem eigenen Volk entfremdet14 und alle bewährten Prinzipien politischer Verlässlichkeit mit Füßen tritt, die unsere Verfassung begründet haben und die ihr als einzige moralisch verbindliche Regeln für die Zukunft garantieren, was jede gesellschaftliche Ordnung braucht, deren Grundlage immer die Zuverlässigkeit der Regierung ist, vor allem bei einem Volk, das wie Frankreich seit jeher an der Spitze der Zivilisation gestanden hat und dessen geballter Einfluss auf der Waagschale des Weltschicksals das Gegengewicht zur absoluten Monarchie bildet, deren Tradition und Organisationsform für ihren Bestand unentbehrlich sind, die allerdings in fatalem, wenngleich natürlichem Gegensatz zum Geist der Freiheit stehen: In diesem Kampf zwischen den rückwärtsgewandten Ideen des Absolutismus und den großmütigen Sympathien, die Frankreich stets erweckt hat, würde eine Regierung, die auf der Höhe ihres edlen Auftrags stünde, folglich mit der nationalen Würde des Landes nicht Schindluder triebe und aus unseren Demütigungen keine Handelsware machte, sich ausnahmslos und unter allen Umständen mit lauter und fester Stimme im Ausland Gehör verschaffen; denn wenn man die Ehre hat, Frankreich zu vertreten, so darf man seinen Mangel an Patriotismus nicht unter einem falschen Anschein von Hochmut verbergen und erklären, diese oder jene Beleidigung sei unseres Zornes unwürdig, wie es heute die Regierung in der Affäre Willgoud tun wird, die, wie wir hoffen, alle jene Gemäßigten auf unsere Seite ziehen wird, die das nationale Ansehen, die Beständigkeit in der Politik, den Anstand der Regierung, eben all die Gefühle über alles stellen, die dem trostlosen System, das uns regiert, so vollständig fehlen, und das, da nunmehr ohne Rückhalt in der öffentlichen Meinung, von allein unter der erdrückenden Bürde seiner eigenen Verwahrlosung zusammenbrechen wird.
Dieser eine in drei Variationen zusammengedrechselte Satz genügt allmorgendlich der Mehrheit der Franzosen, sich eine Meinung zu allen möglichen Ereignissen zu bilden. Der Tenor, dem er zu verdanken ist, schreibt ihn seit fünf Jahren mit wahrhaft parlamentarischem Mut. Nach dem Triumph vom Juli15 gestand ein alter Tenor der Linken, er habe zwölf Jahre hindurch ein und denselben Artikel geschrieben. Dieser ehrliche Mann ist mittlerweile tot! Sein berühmt gewordenes Eingeständnis mag vielleicht lustig sein, sollte uns aber das Fürchten lehren. Tut ein Maurer nicht immer denselben Schlag mit der Spitzhacke, um das schönste Gebäude zum Einsturz zu bringen?
Die größte der Zeitungen, was das Format betrifft, antwortet wie eine Figur aus Vergils Eklogen16:
Bei aller Bewunderung des Geistes, des Verstandes und vor allem des Anstandes der Oppositionsorgane gestehen wir, nicht recht nachvollziehen zu können, warum sie sich solche Mühe geben, jeden Tag eine neue Beleidigung Frankreichs aufzudecken. Bei einer Partei, die sich selbst ungeniert zum einzigen Wahrer der nationalen Würde erklärt hat, fehlt diesem Ehrgeiz wohl die Logik. […]
Die Verbindung von Monarchie und Freiheit war immer Frankreichs Berufung.17 Wir haben diese Verbindung geschaffen, und wir werden sie gemeinsam mit allen Leuten von Anstand und Vernunft gegen böswillige Umtriebe und umstürzlerisches Gedankengut verteidigen, die unermüdlich die gesellschaftliche Ordnung untergraben. (Preis: fünftausend Franc im Monat).
Dabei würden wir diese ewige Opposition, die an jeder Gemeinsamkeit Anstoß nimmt, die sich von jeder Form von Überlegenheit aufbringen lässt und der das allgemeine Wohlergehen ein Dorn im Auge ist, mit ihren wirkungslosen Auftritten völlig in Ruhe lassen, verdrehte sie nicht Tag für Tag die einfachsten Tatsachen, um sich Munition gegen die Regierung zu verschaffen.
So empört sich die Opposition zum Beispiel seit zwei Tagen über ein diplomatisches Bankett, zu dem ein französischer Generalkonsul nicht eingeladen worden sein soll. Wir, die wir das hohe Ansehen kennen, das Lord Willgouds Höflichkeit genießt, wie auch den edlen Charakter unseres Repräsentanten in Galucho, erklären unbesehen, dass sich die Dinge unmöglich so zugetragen haben können, wie die Opposition es behauptet.
In der Folge dieser schlichten Meldung und ohne weitere Einzelheiten abzuwarten, wiegelt Le National den Norden gegen den Süden auf, den Osten gegen den Westen, an alle Kardinalpunkte legt er Feuer, und das alles wegen einer verloren gegangenen, übersehenen oder abgesagten Einladung. Im Grunde ist die Opposition reichlich naiv, sich so lebhaft für die Belange eines Landes einzusetzen, das von ihr so wenig Notiz nimmt.
Als Le Messager seine Pseudoregierung diskreditiert sieht, antwortet er mit diesen grausamen Zeilen auf die treffliche Augsburger Spitze:
Seit einigen Tagen befassen sich die Zeitungen mit einem von der englischen Gesandtschaft von Galucho zu Ehren des Admirals Willgoud ausgerichteten Diner, von dem, wie es heißt, unser Konsul ausgeschlossen gewesen sei. Zunächst einmal ist Galucho eine abgetakelte, von nichts als drei Fischerhütten umgebene Befestigungsanlage achthundert Kilometer von Pernambuco entfernt. Außerdem führt die englische Admiralität in ihren Registern keinen Admiral des Namens Willgoud.
Und folgendermaßen geht die Gazette de France vor, die zur selben Stunde wie Le Messager ausgeliefert wird:
Wenn man bedenkt, dass die monarchistischen Zeitungen herauszufinden suchen, ob einer unserer Konsuln bei einem Engländer mit oder ohne politische Funktion diniert hat oder nicht, nur um festzustellen, ob der Regierung von Louis-Philippe auch die gebührende Achtung entgegengebracht wird oder nicht, wer teilte da nicht unsere Meinung, dass erneut die Frage nach einer befriedigenden Form der Repräsentation gestellt werden muss? Hätte sich das Land selbst eine Regierung aussuchen dürfen, wäre es dann so weit gekommen? Wäre es 1825 so weit gekommen? Antwortet, Darsteller dieser seit fünfzehn Jahren andauernden Komödie!
Dazu bringt La Presse am folgenden Morgen diese nette Meldung:
In ihrer Fantasielosigkeit, irgendetwas von Belang zustande zu bringen, ist die Opposition jetzt dem Phantasma eines englischen Admirals und einer Stadt erlegen. Wer beschädigt das Ansehen der Presse: die, die sich von Zeitungsenten aus Deutschland hereinlegen lassen und ziellos Gift und Galle spritzen, oder die, die sich der wahren Interessen des Landes redlich annehmen?
La Presse hält sich zugute, die Geschäfte des Landes mit Anstand zu betreiben.
Es sind nun bald siebenundzwanzig Jahre, dass die politische Publizistik Frankreichs dem menschlichen Geist den Dienst erweist, ihn auf diese Art über alle Fragen aufzuklären. Dies also ist die Aufgabe des Aufmachers. Das ist die Freiheit, die mit Blutbädern und so viel verlorenem Wohlstand bezahlt worden ist. Lesen Sie die alten Blätter, und Sie werden immer denselben Admiral Willgoud in unterschiedlicher Ausprägung finden.
Gäbe es keine Zeitungen, welche Berufe übten die politischen Tenöre dann aus? Die Antwort ist die grausamste Satire des derzeitigen Zustandes.
Tenöre werden in zwei unterschiedliche Varietäten unterteilt: den Oppositionstenor und den regierungstreuen Tenor. Die regierungstreuen Schreiber geben sich als gutmütige Jungs aus. Im Allgemeinen geistreich, unterhaltsam und fidel, haben sie etwas Umgängliches; sie gestehen, verwöhnt zu sein wie Diplomaten, und sind zunächst voll Zuversicht.
Die anderen, geziert und aufgeblasen, stellen derart viele Stärken heraus, dass kaum eine drinnen sein kann; sie nennen sich puritanisch und setzen der Obrigkeit zugunsten ihrer Verwandtschaft mächtig zu. (Die Familie Barrot bezieht eine Apanage von etwa 130 000 Franc!) Erfährt ein regierungsfreundlicher Tenor, dass ein Pressevertreter etwas Unerhörtes getan hat, so fragt er: «Ist er dabei wenigstens auf seine Kosten gekommen?» Und vergibt ihm. Der Oppositionstenor dagegen speit Feuer und Flammen, schafft es dabei aber, zum Lobe seiner selbst zu schreiben: «Das gibt es nicht bei uns, wie anständig wir doch sind!» Womit er eigentlich sagen will: «Noch bekommen wir nichts ab.»
Dritte Art:Der Schreiber von Hintergrundartikeln
Dieser Redakteur, der mit besonderen Themen befasst ist, hebt sich von der Phraseologie der Aufmacher ab. Er kann eine eigene Ansicht haben, im Rahmen der übergeordneten Linie des Blatts und dessen, was nicht die Politik im Allgemeinen betrifft – denn da muss er sich immer wieder mit ein paar Sätzen an die Ausrichtung der Zeitung halten. Doch bei der Beschäftigung mit Handels- oder landwirtschaftlichen Fragen und bei der Besprechung von wissenschaftlichen Fachbüchern bewahrt er sich einiges an gedanklicher Aufrichtigkeit. Deshalb hat er auch einen höheren Wert als der Tenor. Er schaut selten in der Redaktion vorbei und kommt auf drei oder vier Artikel im Monat. Der Aufmacher, stets durch die Ereignisse vorbereitet, holt sich sein Futter in der Oper, in den Fluren des Parlaments und beim Diner mit dem Chef des Politikressorts seiner Zeitung (dazu später mehr); indessen erfordert ein Hintergrundartikel die Kenntnis des Buchs, mit dem man sich auseinandersetzt, und der Wissenschaft, von der es handelt; und doch verdient dieser Redakteur nur wenig Geld, und seine Rolle lässt sich mit jener vergleichen, die man im Theater Springer nennt.
In den regierungstreuen Zeitungen haben diese Redakteure eine Zukunft: Sie landen als Generalkonsuln in fernsten Ländern, sie werden Privatsekretäre von Ministern oder Hauslehrer; dagegen bleiben denen von oppositionellen oder antimonarchistischen Zeitungen als Altenteil nur die Akademien der Geistes- oder der politischen Wissenschaften, Aufträge der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres18, einiger Bibliotheken oder Archive, und nur im äußerst unwahrscheinlichen Falle eines Triumphs ihrer Partei kommen sie wirklich zu etwas Richtigem. Den Zeitungen, die anfangen, sich mit Leere zu füllen, fehlt der Hintergrundartikel. Kein Blatt ist reich genug, um gewissenhaftes Talent und ernsthafte Recherchen zu honorieren (siehe die Ordnung der Kritiker).
Vierte Art:Das Faktotum der Zeitung
Neben dem unausweichlichen Aufmacher und dem heute immer seltener werdenden Hintergrundartikel besteht ein Blatt aus einer Menge kleiner Artikel, die als Kurzmeldung, als vermischteMeldungen aus Paris und als Hinweise bezeichnet werden. Diese drei Artikeltypen werden bei einem Schriftsteller (wie Schausteller) bestellt, der direkt dem Geschäftsführer oder Eigentümer untersteht und feste Bezüge erhält, um die fünfhundert Franc im Monat. Ihm obliegt es, alle Pariser Blätter und die der Departements zu lesen und mit der Schere die kleinen Meldungen und Nachrichten auszuschneiden, die sodann die Ausgabe füllen werden, Hinweise nimmt er nach Vorgabe des Geschäftsführers oder Eigentümers auf oder lässt sie weg. Gehalten, über die Seitengestaltung der einzelnen Teile einer Ausgabe zu wachen, hat dieses Faktotum, das aufbleibt, bis die Zeitung in Druck geht, die Befehlsgewalt über jene besondere Form von Hauptfeldwebel unter den Setzern, den man als Umbrecher bezeichnet. Und als Chef vom Dienst ist er von eminenter Bedeutung. Die interessantesten Dinge, die großen und die kleinen Artikel, alles wird zwischen Mitternacht und ein Uhr zu einer Frage der Seitengestaltung, in jener fatalen Stunde der Zeitungen, der Stunde, wenn die politischen Nachrichten, die gegen Abend ins Kraut schießen, nach Kurzmeldungen verlangen.
Die Kurzmeldung wird, wie die schweren Verbrechen, mitten in der Nacht ausgeführt. Der Geschäftsführer, der Tenor, das Faktotum, manchmal ein Parteigänger (siehe unten) – manchmal die Putzfrau, fügen Spaßvögel hinzu – vereinen ihre Geisteskräfte, um die Kurzmeldung zu verfassen, die selten länger als zehn Zeilen ist und oft über zwei nicht hinausreicht.
Die Kurzmeldung der Opposition, bei der es darum geht, einer anderen Zeitung zu widersprechen, oder darum, mit Bezug auf eine Nachricht einen Aufmacher für den nächsten Morgen anzukündigen, thematisiert stets die Günstlingswirtschaft und die Postenvergabe und hat die Wirkung eines Knüppels. Denn die Maxime aller Oppositionszeitungen ist diese:
Grundsatz
Erst draufhauen, dann klären.
Die vermischten Meldungen aus Paris sind in allen Blättern identisch. Lassen Sie die Aufmacher weg und Sie haben buchstäblich nur mehr ein und dieselbe Zeitung vor sich. Daher rührt die tagtägliche Notwendigkeit, gegensätzliche Schlüsse zu ziehen und zwangsläufig auf der einen oder der anderen Seite ins Absurde zu geraten. Und da, bei den vermischten Meldungen aus Paris, gedeihen die Enten.
Bestimmen wir einmal die Herkunft dieses Ausdrucks aus der Zeitungswelt: Der Mann, der in Paris die Festnahme des Verbrechers, den man hinrichten wird, oder den Bericht seiner letzten Augenblicke oder die Kunde eines Sieges oder den Hergang einer außergewöhnlichen Untat ausruft, verkauft für einen Sou das bedruckte Blatt Papier, das er ausruft und das in der Sprache der Drucker als Ente bezeichnet wird. Solche Ausrufer gibt es immer seltener. Nachdem die Spezies eingeschworener Ausrufer unter der alten Monarchie, während der Revolution und im Kaiserreich geglänzt hat, besteht sie heute nur noch aus einigen wenigen versprengten Exemplaren. Die Tageszeitung, die der Kutscher heute auf seinem Bock liest, hat diesem Wirtschaftszweig den Garaus gemacht. Die Schilderung der anomalen, monströsen, unmöglichen und wahren, der möglichen und unwahren Tat, die den Inhalt der Enten bildete, hat in den Zeitungen die Bezeichnung Ente mit umso größerer Berechtigung erhalten, als sie ohne Feder nicht verfasst werden kann und in jede Sauce passt.
Die Ente holt ihren Schwung oft aus den Tiefen der Provinz. Es gibt die sogenannte periodische Ente, eine Albernheit, die alle paar Jahre wieder auftaucht (ein in einer Scheune gefundener Rubens – der Kriegsgefangene in Sibirien etc.). LeConstitutionnel machte unter der Restauration aus der Ente eine politische Waffe. Er brachte seine berühmte Priesterkarikatur, in der es um verweigerte Beerdigungen und um Schikanen gegen liberale Geistliche ging, die es niemals gegeben hat: Der liberale Geistliche ist eine Fiktion.
Die reinrassige Ente hat sich mitunter in atemberaubende Höhen aufgeschwungen, indem sie die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich zog. Es wäre ein Versäumnis, in diesem Zusammenhang unerwähnt zu lassen, dass ein Kaspar Hauser niemals existiert hat, genauso wenig wie Clara Wendel und der Räuber Schubry. Paris, Frankreich und Europa haben diese Enten geglaubt. Napoleon hat einem Mann eine Pension gewährt, der fünf Jahre lang in Le Moniteur falsche Bulletins vom Krieg der Afghanen gegen England19 veröffentlichte. Als der Schwindel aufflog, hatte er damit doch so sehr Napoleons Interessen gedient, dass der ihm diese dreiste Täuschung verzieh.
Zurzeit werden viele Enten aus dem Russischen Reich importiert. Zar Nikolaus bleibt die Ente ebenso wenig erspart wie irgendeinem Franzosen. Seit ein paar Jahren ist an die Stelle des Wortes Ente übrigens das Wort Türke getreten.
Die Aufgaben des Faktotums der Zeitung sind wichtig; in Wahrheit ist er selbst die Zeitung; deshalb sagt er ständig: «Das habe ich nicht zu entscheiden, fragen Sie den und den …»
Sie gehen in der Überzeugung zu Bett, dass Ihr Artikel durchgeht; doch für den Bericht aus den Parlamentskammern hat es zwei Spalten mehr gebraucht, und Ihr Artikel, schon in die Form gebracht, ist abermals für den Sankt-Nimmerleinstag im Stehsatz